PUBLIC SERVICE MEDIA IN EUROPE
ZUR ZUKUNFT
ÖFFENTLICH-RECHTLICHER
MEDIEN IN DER
EUROPÄISCHEN UNION
28 PUBLIC
VALUE TEXTE
INDIVIDUELLER WERT VERTRAUEN SERVICE UNTERHALTUNG WISSEN
VERANTWORTUNG
DIE 5 QUALITÄTSDIMENSIONEN
GESELLSCHAFTSWERT
VIELFALT
ORIENTIERUNG
INTEGRATION
BÜRGERNÄHE KULTUR
INTERNATIONALER WERT
EUROPA-INTEGRATION
GLOBALE PERSPEKTIVE
ÖSTERREICHWERT
IDENTITÄT WERTSCHÖPFUNG FÖDERALISMUS
UNTERNEHMENSWERT INNOVATION TRANSPARENZ KOMPETENZ
Public Value, die gemeinwohlorientierte Qualität der öffentlich-rechtlichen Medienleistung des ORF, wird in insgesamt 18 Kategorien dokumentiert, die zu fünf Qualitätsdimensionen zusammengefasst sind. Mehr dazu auf zukunft.ORF.at.
HERAUSGEBER UND HERSTELLER: Österreichischer Rundfunk, ORF Würzburggasse 30, 1136 Wien
DESIGN:
ORF Marketing & Creation GmbH & Co KG
FÜR DEN INHALT VERANTWORTLICH: ORF-Generaldirektion Public Value
1. Auflage, © ORF 2024 Reaktionen, Hinweise und Kritik bitte an: zukunft@ORF.at
– gedruckt nach der Richtlinie „Druckerzeugnisse” des Österreichischen Umweltzeichens, ORF Druckerei, UW 1237
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EUROPA HAT GEWÄHLT …
… und steht zugleich vor großen Herausforderungen. Neben dem Krieg in der Ukraine, der Klimakrise und einer zunehmenden Segmentierung und Polarisierung seiner Gesellschaften steht auch die Unabhängigkeit der Medien Europas auf dem Prüfstand. Regierungen, die sich auf eine „illiberale Demokratie“ oder einer nicht minder problematische „message control“ berufen, schränken die Pressefreiheit ein. Populistische und nationalistische Parteien attackieren kritische Journalist:innen. Gleichzeitig verbreiten sich über Social-Media-Kanäle Fake News und Hate Speech in bedrohlichem Ausmaß. Dadurch sind auch die öffentlich-rechtlichen Medien Europas gefordert. Wie reagieren sie auf die digitale Transformation? Sind sie in der Lage, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen? Wie begegnen sie den aktuellen Herausforderungen?
Diesen Fragen widmen sich die Autor:innen der Sondernummer der „PUBLIC VALUE TEXTE“. Wissenschafter:innen und Medienexpert:innen aus allen EU-Staaten (und der Schweiz) analysieren dabei die Lage der öffentlich-rechtlichen Medien in ihren Ländern. Von den Problemen Estlands mit dem kulturellen Einfluss des Nachbarlands Russland aufgrund der gemeinsamen Geschichte bis zur Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in Griechenland, von der einzigartigen Finanzsituation in Irland bis zur bedrohten Zukunft in der Schweiz und der Rolle der deutschen Medien in der Europawahl: die Publikation, die in Zusammenarbeit der Public-Value-Abteilungen von ARD, ZDF, SRG und ORF erstellt wurde, zeigt wie vielfältig die Mediensituation in Europa – insbesondere für öffentlich-rechtliche Medien – ist und welche Rolle sie für die Demokratie einnehmen. Die Beiträge spiegeln nicht die Haltung der einzelnen öffentlich-rechtlichen Sender wider, sondern analysieren aus unabhängiger Perspektive, welche Risiken, aber auch Chancen für sie durch die massiven Veränderungen in Medienökonomie und Mediennutzung entstehen. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre substanziellen Beiträge.
Die Sondernummer „The Future of Public Service Media in the European Union” ist in englischer und deutscher Version erschienen und auf zukunft.ORF.at abrufbar. Dort finden Sie auch weitere Zahlen, Daten und Fakten sowie zahlreiche Videostatements und Podcasts zu Medienqualität und Public Value.
KLAUS UNTERBERGER KONRAD MITSCHKA ORF GENERALDIREKTION PUBLIC VALUE
VORWORT
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INHALT
AUSTRIA | ÖSTERREICH GATEKEEPER-VIELFALT UND CONTENT MODERATION IM DIGITALEN KOMMUNIKATIONSRAUM
DR. IN NATASCHA ZEITEL-BANK, UNIVERSITÄT INNSBRUCK 07
BELGIUM | BELGIEN BEWAHRUNG UND ERWEITERUNG DER UNIVERSALITÄT IM ZEITALTER DER PLATTFORMEN
PROF. TIM RAATS, PHD, VRIJE UNIVERSITÄT BRÜSSEL 13
BULGARIA | BULGARIEN ÖFFENTLICH-RECHTLICHE MEDIEN UNTERSTÜTZEN DIE LEBENDIGKEIT DER BULGARISCHEN DEMOKRATIE
PROF. IN DR. IN LILIA RAYCHEVA, THE ST. KLIMENT OCHRIDSKY UNIVERSITÄT SOFIA 19
CROATIA | KROATIEN EINTRETEN FÜR DIE ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN MEDIEN – DIE SÄULE EINES VERANTWORTLICHEN UND VERTRAUENSWÜRDIGEN INFORMATIONS- UND WISSENSDIENSTES
PROF. IN VIKTORIJA CAR, PHD, UNIVERSITÄT SPLIT 24
CYPRUS | ZYPERN ÖFFENTLICH-RECHTLICHE MEDIEN IN ZYPERN: ANPASSUNG AN MÖGLICHKEITEN UND ZIELGRUPPEN
ASS.PROF. IN PASCHALIA LIA SPYRIDOU, PHD, TECHNISCHE UNIVERSITÄT ZYPERN 31
CZECH REPUBLIC | TSCHECHIEN ÖFFENTLICH-RECHTLICHE MEDIEN IN DER TSCHECHISCHEN REPUBLIK UND IHRE ZUKUNFT
PROF. JAN JIRÁK, PHD, METROPOLITAN UNIVERSITÄT PRAG ................................................................ 35
DENMARK | DÄNEMARK DAS DÄNISCHE ÖFFENTLICH-RECHTLICHE FERNSEHEN IM DIGITALEN WANDEL: EINE REIHE VON DILEMMATA
JULIE MÜNTER LASSEN, PHD, UNIVERSITÄT AARHUS ..........................................................................
ESTONIA | ESTLAND DRAUSSEN IST ES KALT. DIE ÖFFENTLICHEN MEDIEN MÜSSEN UNS VOR DEM WINTER SCHÜTZEN UND UNS WARMHALTEN.
ASS.PROF. ANDRES JÕESAAR, PHD. UNIVERSITÄT TALLINN ................................................................. 46
FINLAND | FINLAND AUFBAU UND ERFAHRUNG VON MEDIENVERTRAUEN IN DEN NORDISCHEN LÄNDERN:
DR. IN MINNA HOROWITZ, UNIVERSITÄT HELSINKI & MIKKO GRÖNLUND, MSC, UNIVERSITÄT TURKU & DR. IN KATJA LEHTISAARI, UNIVERSITÄT TAMPERE ............................................................................... 51
FRANCE | FRANKREICH DIE ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN MEDIEN IN FRANKREICH: DIE NOTWENDIGKEIT EINER EUROPÄISCHEN VISION
PAULINE RENAUD, PHD, CITY, UNIVERSITÄT VON LONDON 64
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GERMANY | DEUTSCHLAND
SOUVERÄNITÄT IN DEN MITTELPUNKT STELLEN:
ÖFFENTLICHE MEDIEN IM ZEITALTER DER POSTMODERNEN DEMOKRATIE PASCAL ALBRECHTSKIRCHINGER, ZDF .............................................................................................
GERMANY | DEUTSCHLAND
VERMITTLER MIT LANGEM ATEM
CHRISTIAN FELD, ARD
GREECE | GRIECHENLAND
HELLAS: WAHRHEIT, MUT UND REGIEREN
UNIV.-PROF. IN DR. IN KATHARINE SARIKAKIS, UNIVERSITÄT WIEN
HUNGARY | UNGARN WO LIEGT HIER DER ÖFFENTLICHE NUTZEN?
PROF.DR. GÁBOR POLYÁK EÖTVÖS, LÓRÁND UNIVERSITÄT &
ASS.PROF. IN ÁGNES URBÁN, PHD, CORVINUS UNIVERSITÄT
IRELAND | IRLAND DIE ROLLE DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN MEDIEN IN EUROPA
DR. IN EILEEN CULLOTY, UNIVERSITÄT DUBLIN CITY
ITALY | ITALIEN EINE KOHÄRENTE STIMME FÜR EUROPA: ÖFFENTLICH-RECHTLICHE MEDIEN ALS ANTWORT AUF AKTUELLE HERAUSFORDERUNGEN
LATVIA | LETTLAND DIE VEREINHEITLICHUNG DER LETTISCHEN MEDIEN IM SCHATTEN DES STAATLICHEN SPRACHDISKURSES UND DER AGGRESSION
MG.SC.SOC. RAIVIS VILŪNS & MG.SC.SOC. MĀRTIŅŠ PRIČINS UNIVERSITÄT
LITHUANIA | LITAUEN
DEN DIALOG INMITTEN VON MEINUNGSVERSCHIEDENHEITEN FINDEN: ERKENNTNISSE DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN MEDIEN AUS DEN BALTISCHEN STAATEN
PROF. IN AUKSĖ BALČYTIENĖ PHD, VYTAUTAS-MAGNUS-UNIVERSITÄT ....................................................
LUXEMBOURG | LUXEMBURG WAS SOLLTE DER ÖFFENTLICHE DIENST IM BEREICH DER MEDIEN TUN?
PHILIPPE DUMONG, CONSEIL DE PRESSE LUXEMBURG ......................................................................
MALTA
WELCHE ROLLE SPIELEN PSM IN EINEM DIGITALEN EUROPA DER ZUKUNFT?
DR. IN JOANNA SPITERI, PHD, MALTA BROADCASTING AUTHORITY
NETHERLANDS | NIEDERLANDE
HERAUSFORDERNDE ZEITEN
ASS.PROF.DR. MAURICE VERGEER, UNIVERSITÄT RADBOUD
INHALT
68
75
80
87
BUDAPEST
91
FLAVIA BARCA, MA, MEDIA CONSULTANT 96
VON LETTLAND ................... 105
112
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........................................................ 121
126 5
POLAND | POLEN ÖFFENTLICHER DIENST, KEINE DELIBERATION
PROF.DR. MICHAŁ GŁOWACKI, UNIVERSITÄT WARSCHAU
PORTUGAL
ÖFFENTLICH-RECHTLICHE MEDIEN UND MEDIENKOMPETENZERZIEHUNG IN DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT
DR. JOÃO RICARDO PINTO, UNIVERSITÄT NOVA DE LISBOA ................................................................
ROMANIA | RUMÄNIEN GESTERN PROPAGANDA, HEUTE DESINFORMATION: ERBE DES RUMÄNISCHEN ÖFFENTLICHEN RUNDFUNKS
ASS.PROF. IN DR. IN DANA MUSTATA, UNIVERSITÄT GRONINGEN ............................................................
SLOWENIA | SLOWENIEN VON DER VIELFALT DER BLASEN
KSENIJA HORVAT, RTV SLOWENIEN .................................................................................................
SLOVAKIA | SLOWAKEI DER PSM IN DER SLOWAKEI: HERAUSFORDERUNGEN MEISTERN UND INTEGRITÄT BEWAHREN
DR. IN LUCIA VIROSTKOVA, COMENIUS UNIVERSITÄT
SPAIN | SPANIEN DAS ÖFFENTLICHE FERNSEHEN IN SPANIEN: SPEZIFISCHE MERKMALE EINES MEDIENMODELLS IM EUROPÄISCHEN KONTEXT
PROF. IN DR. IN AURORA LABIO-BERNAL, UNIVERSITÄT VON SEVILLA 161
SWEDEN | SCHWEDEN
DIE EXTREMEN RECHTEN UND DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHE RUNDFUNK: DER FALL SCHWEDEN
JOSEF HIEN, PHD, MID UNIVERSITÄT MITTELSCHWEDEN UND INSTITUT FÜR ZUKUNFTSSTUDIEN, STOCKHOLM & ASS.PROF. DR. LUDVIG NORMAN, UNIVERSITÄT STOCKHOLM 167
SWITZERLAND | SCHWEIZ DIALOGOFFENSIVE
PHILIPP CUENI, EDITO 172
WARUM WIR REGIONALE MEDIEN BRAUCHEN FERNANDO R. OJEA, CIRCOM REGIONAL 177
DIE EBU IN – UND FÜR – EUROPA
DR. IN FLORENCE HARTMANN, EUROPEAN BROADCASTING UNION 179
MEDIENFREIHEIT ALS DEMOKRATISCHER ECKPFEILER: EINE ZUSAMMENFASSUNG DER ARBEIT
DER OSZE-BEAUFTRAGTEN FÜR DIE FREIHEIT DER MEDIEN IM BREITEREN WAHLKONTEXT
TERESA RIBEIRO, FÜNFTE OSZE-BEAUFTRAGTE FÜR DIE FREIHEIT DER MEDIEN 181
TRANSFORMING THE INTERNET: EIN MANIFEST FÜR VERÄNDERUNG
DR. KLAUS UNTERBERGER, ORF & UNIV.-PROF. DR. CHRISTIAN FUCHS, UNIVERSITÄT PADERBORN ...........
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BRATISLAVA
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.........................................................
199 6
188 DATEN
| AUSTRIA | ÖSTERREICH | GATEKEEPER-VIELFALT UND
CONTENT MODERATION IM DIGITALEN KOMMUNIKATIONSRAUM
DR. IN NATASCHA ZEITEL-BANK UNIVERSITÄT INNSBRUCK
„Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.“ Dieses überlieferte Zitat von Mark Twain könnte nicht besser auf die Herausforderungen von Wahrheitsfindung, -aufbereitung und -übermittlung im digitalen Kommunikationsraum passen. Zutreffend ist auch die bekannte Redewendung: „Viele Köche verderben den Brei.“ Beide eignen sich trefflich, um die enorme Geschwindigkeit von Informationsübermittlung bei einer neuen Unübersichtlichkeit von Sendern und Empfängern in einer fragmentierten Medienumwelt zu beschreiben. Im Zentrum des Interesses und damit der folgenden Ausführungen steht somit die Frage: Welche Rolle spielt der öffentliche-rechtliche Rundfunk (ORF) im Hinblick auf Gatekeeper-Vielfalt und Content Moderation im digitalen Kommunikationsraum? Dabei werden folgende Aspekte analysiert:
1. die Identifikation von ´Gatekeepern´, 2. die Art und Transparenz der Inhaltsmoderation von ´Gatekeepern´, auch ´Content Moderation´ genannt, 3. die Auswirkungen der ´Gatekeeper´-Vielfalt auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ORF), 4. die flankierende EU-Gesetzgebung zur Eindämmung der Plattformökonomie mit einem 5. abschließenden Fazit und Ausblick.
Es zeigt sich, dass gerade die ´Gatekeeper´-Vielfalt eine Chance für den ORF als öffentlich-rechtlicher Rundfunk in einer fragmentierten Medienumwelt darstellt, um seine Position als traditionellen ´Gatekeeper´ zu festigen. Der ORF wird seine gesellschaftliche Orientierungsfunktion künftig allerdings vor allem dann behaupten und gestärkt im Wettbewerb um Aufmerksamkeit hervorgehen können, wenn es gelingt, die noch ausstehenden organisationalen bzw. digitalen Anpassungsprozesse zu bewältigen, um gerade die junge Generation für sich zu gewinnen. Flankiert wird diese Entwicklung seitens der europäischen Gesetzgebung vor allem auch mit Blick auf die anstehenden EU-Wahlen.
1. Gatekeeper-Vielfalt im digitalen Kommunikationsraum Übersetzt steht ´Gatekeeper´ für den Torwächter oder Schleusenwärter, der eine wichtige Rolle im Entscheidungsselektionsprozess einnimmt (White, 1950, 383–390). Mit dem Aufkommen des Internet und der neuen partizipativen Möglichkeiten in Form von nutzergenierten Inhalten, sogenanntem ´User-Generated Content´, auch ´User-Created Content´ genannt (OECD,
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2009), haben die traditionellen (Massen-)Medien ihre Monopolfunktion verloren; wir befinden uns somit in einer neuen ´Gatekeeper´-Vielfalt. Das ´Gatekeeping´ und somit die Begrenzung der Informationsmenge durch Auswahl von als kommunikationswürdig erachteten Themen wird durch kollaborative Interaktionsformen auf der Individualebene, aber auch auf der Mesoebene durch die auf Aufmerksamkeitgenerierung fokussierte Plattformökomomie erweitert. So bezeichnet die Europäische Kommission im Jahr 2023 erstmals im Zuge des Gesetzes für digitale Märkte (´Digital Markets Act´) (Amtsblatt der EU, 12.10.2022) sowie des Gesetzes für digitale Dienstleistungen (Digital Services Act´) (Amtsblatt der EU, 27.10.2022) die Betreiber der sehr großen Online-Plattformen und großen Suchmaschinenanbietern (´Very Large Online Plattforms´ - VLOPs und ´Very Large Online Search Engines´- VLOSEs) ebenfalls als Torwächter bzw. ´Gatekeeper´. Auf der individuellen Ebene tritt im digitalen Kommunikationsraum zudem immer wieder ein Perspektivenwechsel zwischen Sender und Empfänger ein: Digitale Inhalte werden nicht nur konsumiert, sondern auch ungefiltert produziert. Das Individuum wird somit zum ´Prosumer´ und ist nach den traditionellen Medien und den sehr großen Plattformen der dritte ´Gatekeeper´ im Bunde. Die genannten Entwicklungen berühren somit alle Ebenen der Inhaltsproduktion bzw. Formen der Interaktion im digitalen Kommunikationsraum: die Makroebene in Form von gesellschaftlich verbindlichen Steuerungsmechanismen im Rahmen der europäischen Gesetzgebung, die organisationale Mesoebene (traditionelle Medien und Plattformen) sowie die individuelle, akteursbezogene Ebene (Mikroebene).
2. Art und Transparenz der Inhaltsmoderation (´Content Moderation´)
Die ökonomisch getriebenen Plattformen als Informationsanbieter und damit Sender verdienen mit dem Erzielen von Aufmerksamkeit. Ziel ist es dabei, das Individuum in Social Media Kanälen über individuell zugeschnittene Inhalte über möglichst lange Zeiträume im ´System´ zu halten. Dies wird auch als ´Rabbit Hole Effect´ bezeichnet (Woolley & Sharif, 2021). Es geht sozusagen um langfristige ´Kundenbindung´ mit Hilfe algorithmischer Steuerung. Bei den VLOPs und VLOSEs stehen bei der Moderation der Inhalte (´Content Moderation´) somit nicht die Qualität von Informationen, die journalistische Sorgfaltspflicht und die Transparenz im Vordergrund, sondern die von Algorithmen gesteuerten, auf die jeweilige Persönlichkeit bezogene Ausspielungen. Das wiederum führt zu verschiedensten Formen der Einflussnahme und Unübersichtlichkeiten auf der Empfängerseite bzw. Individualebene. Es besteht die erhöhte Gefahr des leichtfertigen Konsums von effektgenerierender Desinformation bzw. von strategischer Manipulation auf Empfängerseite, künftig nochmals verstärkt durch Möglichkeiten des Einsatzes von künstlicher Intel-
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ligenz (KI), bspw. von ´Deep Fake´ (Wörterkombination aus ´Deep Learning´ und ´Fake´, saferinternet, o.J.). ´Deepfakes´ sind Fotos, Videos oder Audio-Dateien, die mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz absichtlich verändert werden. Besonders beachtenswert sind diese Entwicklungen bzw. Interaktionen zwischen der individuellen und der Plattform-Mesoebene vor dem Hintergrund, dass für rund zwei Drittel (59 Prozent) aller jungen Menschen in Europa zwischen 15 und 24 Jahren Social Media die wichtigste Nachrichtenquelle darstellt (European Parliament, 2023). Der Zustand multipler Krisen über mittlerweile mehrere Jahre hat zu einem weiteren Effekt in der Medienwirkung geführt: Mehr als ein Drittel der Menschen (36%) vermeiden Informationen. Sie sind aufgrund der Vielfalt und damit verbundenen Unübersichtlichkeiten in Zeiten von ´bad news´ buchstäblich müde geworden, Nachrichten zu konsumieren bzw. sie vermeiden diese gänzlich aufgrund deren deprimierenden Wirkung (´News-Avoiding´) (Reuters Digital News Report 2023, 11, 22; ORF, 2020).
3. Die Auswirkungen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ORF) Während sehr große Plattformen- und Suchmaschinen-Betreiber als ´Gatekeeper´ seitens der Europäischen Kommission erstmals mit Ende 2023 verpflichtet wurden, die Art der durch Algorithmen bestimmten ´Content Moderation´ in einer allgemein zugänglichen Transparenzdatenbank (Europäische Kommission, o.J.) offenzulegen und der ´Prosumer´ als weiterer ´Gatekeeper´ mit ´Information Overload´ und Informationsmüdigkeit zu kämpfen hat, bleibt das Einhalten von Sorgfaltskriterien bei der Informationsgenerierung für Qualitätsmedien ein zentraler Bestandteil des journalistischen Selbstverständnisses. Gerade dies bedeutet für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten wie dem ORF die Chance, als einer der zentralen ´Gatekeeper´ in einem unübersichtlich gewordenen, digitalen bzw. fragmentierten Kommunikationsraum nicht nur erkannt, sondern auch als solcher langfristig in der Gesellschaft anerkannt zu werden. Hierin liegt sicherlich auch eine große Herausforderung. Denn laut Reuters Digital News Report (Kleis Nielsen & Fletcher, 2023, 44) schwankt die Zustimmung zu den ´Public Service Media´ in europäischen Staaten erheblich: In Finnland sehen zwei Drittel der Befragten (60%) den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als wichtig für sich selbst an und fast Dreiviertel aller Befragten (72 Prozent) als wichtig für die Gesellschaft insgesamt. Österreich und damit der ORF bildet hingegen das vorletzte Schlusslicht vor Spanien in der persönlichen Bedeutungseinschätzung mit nur 16 Prozent sowie in der Einschätzung der Bedeutung für die Gesellschaft insgesamt mit rund einem Drittel (29%). Dies mag auch daran liegen, dass viele Menschen zwar erkennen, dass die auf Algorithmen bestehenden Nachrichtenselektion in Social Media nicht perfekt ist; die Auswahl durch ´editorial selection´ aber auch nicht als besser erachtet wird (Reuters Digital News Report, 35). Zu-
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dem lässt sich die junge Generation, die mit Social Media aufgewachsen ist, selbst bei Nachrichten oftmals lieber von Influencern beeindrucken als von Medienschaffenden (Reuters Digital News Report, 10).
Es müssen in Österreich folglich entsprechend sichtbare und vor allem wirksame gesetzliche Weichen in Richtung Entpolitisierung und neue Möglichkeiten der Nutzung von (grenzüberschreitenden) Digitalisierungsprozesse im Medienbereich geschaffen werden. Gleichzeitig heißt es, sich dem Wettbewerb mit privaten Medienanbietern im Bereich Informationsqualität zu stellen. In Deutschland hat der unabhängige ´Rat für die zukünftige Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks´ am 18.01.2024 bereits einen umfangreichen Bericht vorgelegt mit teilweise umwälzenden Vorschlägen. Positiv im Bereich öffentliche Wahrnehmung ist, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk und damit auch der ORF als ein demokratiepolitisch unverzichtbarer Orientierungsanker in der Informationsvielfalt ist. So bestehen sowohl auf der Akteursebene als auch auf der Makroebene der Europäische Union eine Besorgnis über mediale Gefährdungen von verschiedenen Seiten (European Commission, December 2023, 14): Aus europäischer Perspektive sehen 38 Prozent der europäischen Bürger ´false and/or misleading information´ online und offline als ernsthafte Bedrohung für die Demokratie (´most serious threats´) und etwa jeder Fünfte (22 Prozent) sieht sich ´propaganda and false/misleading information´ von einer nicht demokratischen ausländischen Quelle gegenüber ausgesetzt. Gerade in Zeiten von Krisen und Unsicherheiten zeigt sich somit die Verlässlichkeit von öffentlich-rechtlichen Anstalten hinsichtlich einer sorgfältigen ´Content Moderation´. Das Bild auf der Akteursebene scheint allerdings dennoch nicht gefestigt bzw. diffus zu sein (siehe auch Reuters Digital News Report, 33, 35) und schwankt -wie die obigen Ausführungen gezeigt haben- beim ORF zwischen unwichtig für mich und die Gesellschaft und ein wichtiges Bollwerk gegen demokratiedestabilisierende Kräfte im In- und Ausland. Gerade ´News Avoider´ stellen eine wichtige zu mobilisierende Zielgruppe dar, denn diese sind mehr interessiert an „solutions based journalism and less interested in the big stories of the day“ (Reuters Digital News Report, 11).
4. Flankierende EU-Gesetzgebung
Nachvollziehbare Selektion von Information, sorgfältige Prüfung und Ausspielung der Inhalte in verantwortungsbewusster Art und Weise an den Empfänger ist für eine Demokratie von zentraler Bedeutung. Diese demokratiepolitische Erkenntnis wird auch seitens der Europäischen Union mit entsprechender Gesetzgebung vor allem in den letzten Jahren immer wieder hervorgehoben, zuletzt im bereits erwähnten Gesetz für digitale Dienstleistungen (DSA), dem Gesetz für digitale Märkte (DMA),
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dem Gesetz zur Künstlichen Intelligenz (AI-Act) (Europäische Kommission, 21.04.2021, European Commission, 2023, dem Medienfreiheitsgesetz (Media Freedom Act) (European Parliament, 13.03.2024) und dem am 01.04.2024 in Kraft getretene Gesetz für Transparenz und das Targeting politischer Werbung (Amtsblatt der EU, 13.03.2024). Die Europäische Kommission vermittelt somit den Eindruck, entschlossen gegenüber Fehlentwicklungen im digitalen Kommunikationsraum durchgreifen zu wollen: Am 04.03.2024 wurde zum Beispiel eine Geldstrafe in Höhe von 1,8 Milliarden Euro gegen Apple wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens verhängt (European Commission, 04.03.2024); zudem forderte die Europäische Kommission neun große Technologieplattformen zur Erklärung darüber auf, wie sich ihre Praktiken im Bereich der generativen Künstlichen Intelligenz mit dem Gesetz über digitale Dienste vereinbaren lassen (Bing, Google Search, Facebook, Instagram, Snapchat, TikTok, YouTube, X, LinkedIn) (European Commission, 14.03.2024).
Allein diese erhöhten gesetzgeberischen Aktivitäten in den letzten Jahren zeugen von der Notwendigkeit gesetzlicher Flankierungen nicht nur auf nationaler, sondern vor allem auch auf europäischer Ebene. Diese dienen zur rechtlichen Absicherung gegenüber Störungen und Zerstörern von demokratischen Grundwerten aus dem In- und Ausland gerade angesichts wichtiger Wahlen auf allen politischen Ebenen. Und diese flankieren auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in ihrem allgemeinen Auftrag zur wahrheitsgetreuen Informationspflicht.
5. Ausblick
´Gatekeeper´-Vielfalt verbunden mit unkontrollierter bzw. ungeprüfter Moderation von Inhalten und neuartige Tendenzen der Nachrichtenvermeidung unterstreichen mehr denn je die Notwendigkeit von ´Public Service Media´ als Orientierungsanker im ´Informationsdschungel´ (u.a. Reuters Digital News Report 2023, 26; European Parliament, 2023). In der beständigen Sicherung von nachvollziehbarem ´Content´, sozusagen als Gütesiegel in Zeiten der ´Gatekeeper´-Vielfalt in einer fragmentierten Medienumwelt, kann der ORF seine Stärken ausspielen. Dieses Alleinstellungsmerkmal als einzige öffentlich-rechtliche Anstalt in Österreich muss allerdings von der Erfüllung entsprechender (gesetzlicher) Anpassungen (Stichwort: Entpolitisierung, Verschlankung, Digitalisierung) begleitet sein. Nur dann kann nachhaltiges Verständnis und auch Anerkennung in der ganzen Bandbreite der Gesellschaft erhalten bleiben bzw. entstehen. Es muss folglich gelingen, die Menschen und dabei vor allem auch die junge Zielgruppe zu überzeugen, dass ´Public Service Media´ in Zeiten der Gatekeeper-Vielfalt und manipulativer Bestrebungen auf allen Ebenen von zentraler Bedeutung für die Demokratie sind, auch wenn dies nicht einfach erscheinen mag: „There are
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no simple solutions to what is a multifaceted story of disconnection and low engagement in a high-choice digital environment, but our data suggest that less sensationalist, less negative, and more explanatory approaches might help” (Reuters Digital News Report, 24).
Literaturverzeichnis
Amtsblatt der EU (12.10.2022): Verordnung (EU) 2022/1925 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. September 2022 über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor und zur Änderung der Richtlinien (EU) 2019/1937 und (EU) 2020/1828 (Gesetz über digitale Märkte). Abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/ legal-content/DE/TXT/?uri=uriserv:OJ.L_.2022.265.01.0001.01.DEU
Amtsblatt der EU (27.10.2022): Verordnung des Europäischen Parlaments 2022/2065 und des Rates vom 19. Oktober 2022 über einen Binnenmarkt für digitale Dienste und zur Änderung der Richtlinie 2000/31/EG (Gesetz über digitale Dienste). Abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=uriserv%3A OJ.L_.2022.277.01.0001.01.ENG&toc=OJ%3AL%3A2022%3A277%3ATOC
Amtsblatt der EU (13.03.2024): Verordnung (EU) 2024/900 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. März 2024 über die Transparenz und das Targeting politischer Werbung, 2024/900. Abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=OJ:L_202400900 Europäische Kommission (21.04.2021): Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (Gesetz über Künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmer Rechtsakte der Union, Com (2021) 206 final, Brüssel. Abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:e0649735-a372-11eb-9585-01aa75ed71a1.0019.02/ DOC_1&format=PDF Europäische Kommission (o.J.): European Centre for Algorithmic Transparency (ECAT): https://algorithmictransparency.ec.europa.eu/about_en sowie Transparenzdatenbank https://transparency.dsa.ec.europa.eu/ statement
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European Commission (14.03.2024): Presscorner, Daily News 14/03/24, Brussels, Commission opens formal proceedings against AliExpress under the Digital Services Act, Commission sends request for information to LinkedIn on potentially targeted advertising based on sensitive data under Digital Services Act, Commission sends requests for information on generative AI risks to 6 Very Large Online Platforms and 2 Very Large Online Search Engines under the Digital Services Act. Abrufbar unter: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/ detail/en/mex_24_1486
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OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) (12.04.2007): Participative Web: UserCreated Content, Directorate for Science, Technology and Industry), Committee for Information, Computer and Communication Policy, Working Party on the Information Economy, Unclassified DSTI/ICCP/IE(2006)7/ FINAL. Abrufbar unter: https://web-archive.oecd.org/2012-06-15/135484-38393115.pdf ORF (2020): Public Value Jahresstudie, Öffentlich-Rechtliche Qualität im Diskurs, Informationsdeprivation und News-Avoiding, Public Value Generaldirektion. Abrufbar unter: https://zukunft.orf.at/show_content. php?sid=147&pvi_id=2301&pvi_medientyp=t&oti_tag=Studie Rat für die zukünftige Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (18.01.2024): Bericht des Rates für die zukünftige Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Abrufbar unter: https://rundfunkkommission.rlp.de/fileadmin/rundfunkkommission/Dokumente/Zukunftsrat/ZR_Bericht_18.1.2024.pdf
Reuters Digital News Report (2023): Reuters Institute for the Study of Journalism. DOI: 10.60625/risj-p6eshb13. Abrufbar unter: https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/digital-news-report/2023 Saferinternet (o.J.): Deepfake. Abrufbar unter: https://www.saferinternet.at/faq/informationskompetenz/ was-ist-ein-deepfake White, D.M. (1950): The Gate Keeper: A Case Study in the Selection of News. In: Journalism Quarterly 27, 950, p. 383–390. Woolley, K. and Sharif, Marissa A. (2021): Down a Rabbit Hole: How Prior Media Consumption Shapes Subsequent Media Consumption, in: Journal of Marketing Research, Volume 59, Issue 3 https://doi. org/10.1177/00222437211055403
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DER PLATTFORMEN
PROF. TIM RAATS, PHD VRIJE UNIVERSITÄT BRUSSEL
Da sich die öffentlich-rechtlichen Medien (PSM) im Plattformzeitalter neu positionieren (d‘Arma et al., 2021), wird ein klarer Wechsel zu einem „digital first”- oder „online first”-Ansatz für PSM als entscheidende Überlebensstrategie befürwortet. Im Mittelpunkt dieser Online-First-Strategie stehen die Video-on-Demand- und Nachrichtenportale, die als Haupteinstiegspunkt für den Zugang zu PSM-Inhalten dienen werden. Diese Strategie geht einher mit einem Rebranding des bestehenden Portfolios, das die Benutzeroberfläche und die Funktionalitäten einbezieht, sowie mit einer veränderten Strategie für die Beauftragung von Inhalten und dem Einsatz von Empfehlungssystemen, um Inhalte zu personalisieren und die durch die Beliebtheit globaler Streaming-Dienste veränderten Erwartungen der Zuschauerschaft zu erfüllen (Iordache & Raats, 2023). Empfehlungssysteme und Algorithmen, so argumentieren PSM, würden das Publikum besser leiten und die Vielfalt des Konsums erhöhen, indem sie eine breitere Palette von Nachrichten oder Programmangeboten in Katalogen oder Nachrichtenportalen empfehlen. Die Europäische Rundfunkunion hat erhebliche Anstrengungen unternommen, um verschiedene Experimente zu diesen so genannten „Public-Service-Algorithmen” oder „geschmackserweiternden Algorithmen” aufeinander abzustimmen (Sørensen, 2020). Die Ergebnisse der jüngsten Forschung im Rahmen des PSM-AP-Projekts zeigen ( siehe: https://psm-ap.com), wie verschiedene öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten den Einsatz von Algorithmen in ihrer politischen Rhetorik mit einer besseren Erfüllung des öffentlichen Auftrags verbinden. Sie bleiben jedoch vage, was dies tatsächlich bedeutet (Martin & Johnson, 2024).
In dieser Hinsicht erinnert die Betonung, die PSM auf Kuratierung und Algorithmen legen, um die Lenkung, die früher durch geschickte Programmstrategien erreicht wurde, zu sichern oder sogar zu verbessern (Bruun, 2021), an dieselbe Art von Technologieoptimismus, der in den 2000er Jahren in der PSM-Strategie sichtbar war. Damals ging der Übergang vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu öffentlich-rechtlichen Medien, der durch den Aufstieg digitaler Dienste ermöglicht wurde, mit Ideen und Versprechen einer weitaus ehrgeizigeren Interaktion mit dem Publikum und neuen Vorstellungen von „Universalität” einher. Zusätzliche
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Online-Dienste wurden mit dem Argument legitimiert, dass sie bestimmten Zielgruppen oder bestimmten Kernaufgaben wie Kultur, Integration und Bildung viel mehr Aufmerksamkeit und Raum widmen können. Initiativen wie thematische digitale Kanäle oder Websites für Kultur, Debatte und Bildung wurden oft von den öffentlich-rechtlichen Medien vorgeschlagen, um eine starke Online-Präsenz zu verteidigen und ein Ideal zu präsentieren, das das volle Potenzial des öffentlich-rechtlichen Auftrags ausschöpft. Die meisten Wissenschaftler:innen, die sich mit PSM befassen, haben stets eine Strategie des „Alles für alle, auf allen Plattformen, zu jeder Zeit” verteidigt (Looms, 2006). Diese Wissenschaftler:innen betonten jedoch auch, wie wichtig es ist, die digitale Technologie wirklich zu nutzen, nicht nur, um das fortzuführen, was die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten seit langem tun, sondern auch, um die Bedürfnisse des Publikums besser zu erfüllen und die Reichweite und Erfüllung des öffentlichen Auftrags zu erweitern. Karol Jakubowicz hat in seiner Arbeit (2007) - die sich um das Credo „das Wesentliche beibehalten, alles andere ändern” dreht - beschrieben, wie das Online- und das digitale Fernsehen wirklich innovativ sein und sich verbessern können. Auch die Arbeit von Graham Murdock, der eine Rolle für PSM als zentrale Knotenpunkte in einem vernetzten „digitalen Gemeingut” vorsah, ist heute noch genauso wichtig wie damals (Murdock, 2005). Das Problem liegt in der Tatsache, dass für viele PSM die Versprechen, das volle Potenzial von Online zu nutzen, um ihre Kernaufgaben zu erweitern, bestenfalls begrenzt blieben oder, schlimmer noch, als Vorwand dienten, um eine Ausweitung der Online-Aktivitäten zu rechtfertigen. Viele Rundfunkanstalten haben in den 2000er Jahren ihre Ambitionen nie vollständig verwirklicht, was zum einen an der begrenzten Finanzierung und zum anderen am Fehlen eines wirklich neuen Verständnisses von „Universalität” und ihren Auswirkungen und ihrem wahren Potenzial im Online-Zeitalter lag.
Neuere wissenschaftliche Arbeiten befassen sich intensiv mit Prozessen der Plattformisierung und mit der Frage, was eine Verlagerung hin zu einer Logik, die zuerst digital ist und auf Portalen basiert, für die Universalität bedeuten würde (z. B. Michalis, 2022). Diese zunehmende Zahl von Forschungsarbeiten zeigt überzeugend, dass eine Portalstrategie viel mehr bedeutet als nur ein Add-on für öffentliche Medien. Wissenschaftler:innen haben gezeigt, wie Online-First-Strategien Auswirkungen auf die Produktion, die Auftragsvergabe, das Branding, die Bereitstellung von Inhalten, die interne Organisation der Abteilungen und die Messung der Publikumsleistung und des Engagements haben. Viele Diskussionen in der akademischen Arbeit und der PSM-Strategie drehen sich um die Frage, ob eine Online- oder Digital-First-Logik mit der Idee der Universalität in Einklang gebracht werden kann. Dieser Wandel
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wird zumeist damit begründet, dass man den veränderten Publikumserwartungen gerecht werden und ein junges Publikum erreichen will, das sich zunehmend den globalen Streamingdiensten und den sozialen Medien zuwendet, die heute das Medien- und Nachrichtenrepertoire dominieren. Eine echte Vision für PSM zur Rückgewinnung der Universalität muss jedoch weiter gehen als die – zugegebenermaßen noch vage – Erwähnung der Fähigkeit von Empfehlungssystemen, das Publikum anzusprechen, und eine Portalstrategie, um das Herz des jüngeren Publikums zu erobern. Zum einen darf nicht übersehen werden, dass vielfältige Inhalte nur dann konsumiert werden können, wenn das Publikum den Weg zum Portal finden kann. Verschiedene Faktoren, die oft mit dem sozioökonomischen Status oder dem sozialen Kontext zusammenhängen, beeinflussen, ob sich das Publikum tatsächlich mit bestimmten Inhalten beschäftigt. Geschmackserweiternde Algorithmen sind in diesem Sinne von entscheidender Bedeutung, aber nicht das Allheilmittel, um eine vollständige Universalität zu erreichen.
Dazu muss erstens anerkannt werden, dass PSM noch nie wirklich „universell” waren. Die Universalität des Publikums wurde jahrzehntelang durch eine Kombination aus Genrevielfalt, Markensegmentierung und spezifischen Nischeninhalten für Zielgruppen angestrebt. PSM haben jedoch nicht alle Zielgruppen erreicht und verlieren zunehmend bestimmte Segmente des Publikums. Die COVID-19-Pandemie hat deutlich gezeigt, dass – trotz steigender Einschaltquoten und eines vorübergehenden Anstiegs des Vertrauens in traditionelle Fernsehnachrichten – einige Zielgruppen nie erreicht werden. Diese „versteckten Zuschauer:innen” gehen weit über junge Menschen oder Zuschauer:innen mit einem anderen ethnisch-kulturellen Hintergrund hinaus. Dazu gehören auch Zuschauer:innen, die mit verschiedenen Nachteilen zu kämpfen haben, von mangelnder Bildung bis hin zu Sprach- und Leseproblemen, Bürger:innen in prekären sozioökonomischen Verhältnissen oder in psychologisch schwierigen Kontexten. Zu erkennen, welche Zielgruppen PSM nicht erreicht, und mit ihnen in Kontakt zu treten, ist ein wichtiger erster Schritt. Dies ist besonders dringlich in Zeiten zunehmender Polarisierung und gesellschaftlicher Komplexität, in denen die politischen Entscheidungsträger:innen diese Komplexität oft – gewollt oder ungewollt – nicht aufzeigen können. Die Bereitstellung von vertrauenswürdigen und zugänglichen Nachrichten auf der Grundlage unterschiedlicher Publikumsbedürfnisse impliziert eine viel stärkere Konzentration auf Gruppen mit dem geringsten oder gar nicht vorhandenen Medienrepertoire. Das explosionsartige Anwachsen von Fake News und Desinformation in Verbindung mit dem schwindenden Vertrauen der Bürgerschaft in die herkömmlichen Medien hat diese Notwendigkeit nur noch deutlicher
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gemacht. Wichtige, aber oft übersehene Allianzen können mit verschiedenen Vermittler:innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen gebildet werden, die bereits mit gefährdeten Zielgruppen arbeiten und Wege finden, die Hürden zu senken, um sie zu erreichen. Als Forscher:innen versäumen wir es oft, sie in der Datenerhebung und Forschung zu erfassen.
Ein zweiter Schritt erfordert die Abkehr von einigen seit langem etablierten Vorstellungen von der Bereitstellung von Informationen. Informationen und die Instrumente zur Teilnahme an demokratischen Gesellschaften erreichen nicht unbedingt ein gefährdetes Publikum, wenn Nachrichten „häppchenweise” in schmackhafte Instagram-Feeds zerlegt werden, sondern können beispielsweise für bestimmte Zielgruppen mit geringerem Medienrepertoire genauso wertvoll sein, wenn sie in Formate wie eine Dramaserie integriert werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Bedürfnisse und Erwartungen dieses Publikums zu verstehen, und zwar von unten nach oben und über die bestehende Markt- und Publikumsforschung hinaus, mit echten Bemühungen, die Unerreichbaren zu erreichen. Die Ermittlung dieser Bedürfnisse und ihre Umsetzung in Programmstrategien erfordert eine PSM-Strategie, bei der die Kernaufgaben Information, Bildung und Unterhaltung nicht auf ein bestimmtes Genre beschränkt sind, sondern in allen Genres und Diensten verankert sind. Für Medienwissenschaftler:innen könnte der „Fähigkeiten”-Ansatz, der in der Arbeit von Amit Schejter vorgestellt wird, als Beispiel und Weg nach vorne dienen, um die Sehbedürfnisse der Marginalisierten besser zu konzeptualisieren, da er klar von einer Bottom-up-Perspektive der Publikumsbedürfnisse ausgeht und nicht davon, wie bestehende Aufgabenbereiche für bestimmte Zielgruppen funktionieren könnten (Scheijter, 2023).
Ein dritter Faktor ist die Notwendigkeit eines diversifizierten Ansatzes bei der Produktion und Bereitstellung von Inhalten, der auf die unterschiedlichen Erwartungen eines zunehmend komplexen und diversifizierten Publikums zugeschnitten ist. VRT in Flandern hat sich traditionell bemüht, seine Abendnachrichten so breit und zugänglich wie möglich zu gestalten. Aus Gesprächen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen geht jedoch hervor, dass viele der am meisten gefährdeten Zielgruppen mit der Informationsdichte und der Sprache Schwierigkeiten haben (Raats et al., 2020). Eine weitere Vereinfachung der Abendnachrichten zur Verbesserung der Zugänglichkeit könnte andere Zuschauer:innen abschrecken. Und im Idealfall sollten Zuschauer:innen mit einem größeren Medienrepertoire auch mit Inhalten angesprochen werden, die viel mehr Tiefe und Detailreichtum aufweisen als die Abendnachrichten allein. Um diese Doppelstrategie zu verwirklichen, müssen schwierige Entscheidungen getroffen werden, insbesondere in Zeiten von Kürzun-
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gen und Rationalisierungsbestrebungen, da es darum geht, ein Gleichgewicht zwischen einer verstärkten Ausrichtung auf bestimmte Gruppen und dem Erreichen der breiten Masse herzustellen. Angesichts dieser Herausforderungen könnten Algorithmen und künstliche Intelligenz möglicherweise eine entscheidende Rolle bei der Diversifizierung des öffentlichen Angebots spielen, indem sie angepasste und zugängliche Inhalte für unterschiedliche Publikumsbedürfnisse bereitstellen. Diese Schnittmenge aus technologischem Optimismus und notwendigem Wandel, wie sie von Karol Jakubowicz und vielen Wissenschaftler:innen befürwortet wird, unterstreicht, wie wichtig es ist, dass die öffentlich-rechtlichen Medien das technologische Potenzial voll ausschöpfen. Dazu gehört nicht nur die erfolgreiche Verlagerung des Publikums von linearen auf Online-Plattformen, sondern auch das Erreichen einer neuen Form der Universalität des Publikums, die auf einem tieferen Verständnis der Publikumsbedürfnisse beruht. Dies könnte letztendlich auch eine Neudefinition der Universalität von „die meisten Menschen, die meiste Zeit” zu einem Credo von „alle Menschen, einige Zeit” erfordern.
All dies bringt auch einige wichtige Aufgaben für die politischen Entscheidungsträger:innen mit sich. Erstens: Eine zukunftssichere Konstellation für PSM kann nur durch einen öffentlich-rechtlichen Auftrag erreicht werden, der Raum für Experimente und Abweichungen von langjährigen Einschaltquoten lässt und der nicht auf der Grundlage von Einschaltquoten zur Rechenschaft gezogen wird, die in der Vergangenheit funktioniert haben, aber morgen vielleicht nicht mehr so relevant sind. Zweitens: Die Online-Plattformen von PSM können noch so vielfältig sein und das Publikum aktiv zu verschiedenen öffentlichen Medieninhalten führen, wenn diese Dienste nicht sichtbar sind, sind sie nicht universell. In den nächsten Jahren wird sich die Politik intensiv mit der Auffindbarkeit und dem Bekanntheitsgrad von PSM-Inhalten befassen müssen. Einige Länder (Großbritannien, Australien, Frankreich, Deutschland, Italien) haben bereits Maßnahmen zur Erhöhung der Sichtbarkeit öffentlich-rechtlicher Medien eingeführt. Um diese Sichtbarkeit auf Smart-TV-Schnittstellen, Smartphones und intelligenten Lautsprechern zu gewährleisten, wird wahrscheinlich eine Regulierung erforderlich sein. Drittens: Die Universalität der öffentlich-rechtlichen Medien kann nur durch fortgesetzte oder verstärkte Investitionen in Programme für Medienkompetenz, digitale Kompetenz und Datenkompetenz gewährleistet werden, die über die Aufklärung von Kindern und Jugendlichen hinausgehen und sich auch an die am stärksten gefährdeten Publikumsgruppen richten. Viertens: Das Verständnis für die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Zielgruppen könnte auch bedeuten –wie einige Ergebnisse nahelegen –, dass lineares Fernsehen und Radio weiterhin
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eine wichtige Rolle spielen, um bestimmte Zielgruppen zu erreichen, wie der Wechsel von BBC3 von linear zu online und zurück zu linear bereits vor vielen Jahren gezeigt hat. Eine Umstellung auf digitales Fernsehen muss zuerst gefördert werden, eine Umstellung auf digitales Fernsehen erfordert nur mehr Sorgfalt. Schließlich und vor allem kann ein erneuertes und ehrgeizigeres Verständnis von Universalität nur von politischen Entscheidungsträger:innen erreicht werden, die die Bedeutung des Experimentierens, eines diversifizierten Ansatzes, des Erreichens aller, aber auch des Einbeziehens aller erkennen. Eine Strategie, die für die PSM von zentraler Bedeutung ist, wenn sie ihren Auftrag in komplexen demokratischen Gesellschaften wirklich erfüllen sollen. Aber es ist auch eine Strategie, die den entsprechenden finanziellen Spielraum erfordert. (Raats et al. 2022). Eine Strategie, die Kürzungen vorschreibt, impliziert im Wesentlichen eine Strategie, bei der die Universalität im nächsten Jahrzehnt auf eine Erosion ihrer Grundlagen hinausläuft. In diesem Szenario wird die Neudefinition von Universalität dazu führen, „einige Menschen, einen Teil der Zeit“ zu erreichen und einzubeziehen.
Es war noch nie so wichtig wie heute für öffentliche Medien, Wissenschaftler:innen und demokratische Parteien die Universalität in vollem Umfang zu nutzen.
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| BULGARIA | BULGARIEN | ÖFFENTLICH-RECHTLICHE MEDIEN UNTERSTÜTZEN DIE LEBENDIGKEIT DER BULGARISCHEN DEMOKRATIE
PROF. IN DR. IN LILIA RAYCHEVA UNIVERSITÄT SOFIA
Infolge des intensiven sozialen, wirtschaftlichen und technologischen Wandels unserer Zeit ändert sich zwangsläufig auch das Paradigma der Medien, die zu einem konvergenten Phänomen in Bezug auf die Produktion und Verbreitung von Inhalten werden. Auch das Publikum ändert sich. Im Gegensatz zu den Vorstellungen aus den Zeiten der Hegemonie der traditionellen Medien, dass das Publikum relativ passiv und konsolidiert die ihm vertikal von den redaktionellen Strukturen aufgezwungenen Botschaften aufnimmt, ist das moderne Publikum horizontal verstreut – es nimmt als Prosument:in am Kommunikationsprozess teil, d. h. es akzeptiert nicht nur, sondern produziert auch Inhalte, indem es neue Identifikationsmuster schafft. Zur Spezifität der einzelnen Medien kommt der Diskurs der Plattformen hinzu, auf denen ihre Botschaften übertragen werden, d. h. das informelle soziale Netz kann parallel zur formalen Medienhierarchie existieren. Trotz vielversprechender Möglichkeiten zur Förderung horizontaler Verbindungen ist die vertikale Struktur der Kommunikation jedoch immer noch vorherrschend. Das heißt, Interaktion ist nicht gleichbedeutend mit Interaktivität.
Eine Reihe von Themen gewinnt zunehmend an Bedeutung, darunter: Meinungsfreiheit und Zugang zu Informationen, Meinungspluralismus und inhaltliche Vielfalt, professionelle Standards und journalistische Ethik, Transparenz der Eigentumsverhältnisse und Rechenschaftspflicht gegenüber dem Publikum, Schutz von Minderjährigen und gefährdeten sozialen Gruppen, Zusammenarbeit zwischen Regulierung, Selbstregulierung und Koregulierung sowie Ausbau der sozialen Medien.
In diesem Sinne spielen die öffentlich-rechtlichen Medien heute eine vielschichtige Rolle in der digitalen Geopolitik und dienen als wichtiges Instrument für die Informationssouveränität, die nationale Identifikation, die kulturelle Bewahrung, die Regulierung und als Gegengewicht zu den kommerziellen Medien im Interesse der Öffentlichkeit. Ihre Bedeutung hängt mit der Fähigkeit zusammen, Narrative zu formen, die Wahrnehmung zu beeinflussen und demokratische Werte in einer zunehmend vernetzten und umkämpften digitalen Landschaft aufrechtzuerhalten. 48 % der EU-Bürger:innen wählen öffentliche Fernseh- und Radiosender
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(einschließlich ihrer Online-Präsenz) als Nachrichtenquelle, der sie am meisten vertrauen. In Bulgarien liegt dieser Prozentsatz bei 49 %, obwohl das Land zusammen mit Griechenland den höchsten Anteil (57 %) an Nachrichtenvermeidern aufweist (Europäische Kommission, 2023).
Die kritischen Momente in der Medienentwicklung in Bulgarien folgen drei Strängen: politisch, wirtschaftlich und technologisch. Auf politischer Ebene musste das Land erstens den Übergang von einem totalitären (mit eingeschränkter Souveränität) zu einem demokratischen politischen System (1989-2006) bewältigen und zweitens seit dem EU-Beitritt im Jahr 2007 mit der Ermächtigung einer supranationalen Union umgehen, die einige der Befugnisse und Funktionen direkt ausübt, die sonst den Mitgliedstaaten vorbehalten sind (d. h. wiederum mit eingeschränkter staatlicher Souveränität). In wirtschaftlicher Hinsicht hatte das Land ebenfalls zwei Herausforderungen zu bewältigen. Erstens musste es den Übergang von der zentralisierten, geplanten und überwiegend in Staatsbesitz befindlichen Wirtschaft des Ostblocks zum marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem der Europäischen Union bewältigen. Zweitens gab es neben den positiven Schwingungen des EU-Beitritts ein „böses Erwachen” mit einer Reihe von ungewohnten Hürden. Zwar lehnte das Land die Monopolisierung des Staates ab und erlebte durch die technologische und wirtschaftliche Globalisierung ermutigende Entwicklungen. Der freie Kapitalverkehr westlicher multinationaler Investor:innen (die hauptsächlich von Österreich, Kanada, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Griechenland, Irland, den skandinavischen Ländern, den USA usw. dominiert werden) führte jedoch zu einer Kommerzialisierung der Medien. Dies verstärkte die Konzentrationstendenzen auf dem anfälligen bulgarischen Medien- und Werbemarkt mit dem entstehenden Rechtsrahmen für Medien und Wettbewerb, was in der Folge zu einer Undurchsichtigkeit des Medieneigentums führte. Technologisch gesehen stellte der Übergang von analogen zu digitalen Mediendiensten nach dem raschen Fortschritt der mobilen Kommunikation den Status quo der Medienbranche in Frage. Das rasante Tempo der IKT-Entwicklungen überholte die rechtzeitige Anpassung an den rechtlichen und regulatorischen Rahmen, die Modernisierung der Geschäftsmodelle, die Neuausrichtung der beruflichen Tätigkeiten, die psychologische und technologische Anpassung des Publikums an die Wahrnehmung und Erstellung von Inhalten in der Vielfalt der Quellen und Verkaufsstellen.
Die Daten des Nationalen Statistischen Instituts zeigen die Trends der Medienentwicklung in dem Land mit derzeit 6,5 Mio. Einwohner:innen. Bemerkenswert ist der Rückgang der Titel und der Auflage der Printmedien: 2022 gab es 191 Zeitungen (Tageszeitungen - 25) mit einer jährlichen
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Auflage von 102,819 Mio. Exemplaren. Im Vergleich dazu gab es vor dem EU-Beitritt im Jahr 2007 423 Zeitungen mit einer jährlichen Auflage von 310,023 Millionen Exemplaren. Die Zahl der Radio- und Fernsehsender ist im Vergleich zur Zunahme der Sendestunden rückläufig. Gab es 2007 noch 222 nationale Fernsehsender mit 599 135 Stunden Programm und 150 Radiosender mit 591 836 Stunden Programm, so waren es 2022 nur noch 112 Fernsehsender (778 163 Std.) und 73 Radiosender (603 201 Std.).
Im Gegensatz dazu hat sich die Internetdurchdringung der Haushalte im gleichen Zeitraum mehr als vervierfacht: 17 % (2007) auf 88,5 % (2022) (National, 2022).
Trotz der rasanten Entwicklung der IKT und der Online-Dienste ist das Fernsehen für die meisten bulgarischen Haushalte nach wie vor die bevorzugte Quelle für Informationen und Unterhaltung. Neben den traditionellen Medien und reinen Online-Nachrichtenseiten wird die Nutzung anderer sozialer Medienplattformen sowie von Netzwerk- und Mikroblogging-Diensten immer beliebter. Die tägliche oder fast tägliche Nutzung sozialer Online-Netzwerke liegt bei 57 % (der EU-Durchschnitt beträgt 47 % und reicht von 34 % in Deutschland bis 72 % in Schweden) (Europäische Kommission, 2023). Mehr als 77 % der Bulgar:innen nutzen Facebook für jegliche Zwecke und 64 % für Nachrichten; 64 %/31 %YouTube; 60 %/21 % - Viber; 56 %/18 % - Facebook Messenger; 35 %/13 % - Instagram; und 30 %/12 % - TikTok. (Reuters, 2023). https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/sites/default/files/2023-06/Digital_News_Report_2023.pdf
In der gegenwärtigen komplizierten geopolitischen Situation eines Landes mit eingeschränkter Souveränität im Rahmen der EU und der NATO und interner politischer Instabilität (1 reguläre und 4 vorgezogene Parlamentswahlen wurden 2021/2023 abgehalten, und die nächsten vorgezogenen Parlamentswahlen werden mit den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2024 angesetzt) ist die Aufrechterhaltung des Medienumfelds von entscheidender Bedeutung, um die Risiken in seinen Entwicklungen zu skizzieren und Möglichkeiten zu ihrer Überwindung in Betracht zu ziehen.
Die kritische Zunahme von zwei miteinander verbundenen Prozessen –Politisierung und Kommerzialisierung der Medien und Korporatismus der Politik – bedroht die Meinungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Informationsquellen. Der scheinbar vorhandene äußere (strukturelle) Pluralismus kann den notwendigen inneren Pluralismus (Vielfalt der Inhalte und Standpunkte für verschiedene soziale und demographische Gruppen) nicht ausreichend gewährleisten. Die bulgarische Gesetzge -
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bung schreibt den internen Pluralismus nur für die öffentlich-rechtlichen Medien vor, nicht aber für die kommerziellen Rundfunkanstalten. Der Besitz privater Medien bleibt undurchsichtig. Dies führt zu einer zunehmenden Selbstzensur als Versuch der Medienbesitzer, sich die Gunst der Regierung zu sichern, um Zugang zu öffentlichen Finanzmitteln zu erhalten. Die Gelder aus den staatlichen und kommunalen Haushalten sowie aus der Teilnahme an den Kommunikationskampagnen der verschiedenen Finanzierungsprogramme der Europäischen Union werden direkt von den staatlichen Institutionen ohne öffentliche, transparente Auftragsvergabe verteilt. In der jährlichen Rangliste für globale Freiheit wird Bulgarien mit 79 von 100 möglichen Punkten als freies Land eingestuft. Der Bericht stellt jedoch fest: „Der Mediensektor ist zwar nach wie vor pluralistisch, aber die Eigentumskonzentration ist ein wachsendes Problem. Die Verfassung schützt das Recht auf freie Meinungsäußerung, auch für die Presse, doch sind Journalisten Drohungen und Druck seitens privater Eigentümer:innen oder des öffentlichen Medienmanagements ausgesetzt” (Freedom House, 2023).
Die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien – des Bulgarischen Nationalen Rundfunks (BNR) und des Bulgarischen Nationalen Fernsehens (BNT) – ist rechtlich und wirtschaftlich nicht ausreichend abgesichert. Dennoch könnten sie eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Demokratie spielen, indem sie Schlüsselfaktoren wie eine genaue, unparteiische und umfassende Nachrichtenberichterstattung, die Förderung des bürgerlichen Engagements durch die Unterstützung eines integrativeren öffentlichen Diskurses, die Bereitstellung einer Plattform für abweichende Stimmen und Minderheitenmeinungen, die Aufklärung der Bürger:innen über ihre Rechte und Pflichten und die Bereitstellung von Instrumenten für kritisches Denken zur Förderung der Medienkompetenz gegen Fake News und Filterblasen erfüllen. Indem sie diese Funktionen erfüllen, können BNR und BNT wesentlich zur Gesundheit und Vitalität der bulgarischen Demokratie beitragen und eine informierte, engagierte und mündige Bürgerschaft fördern. BNR und BNT könnten auch eine wichtige Rolle bei der Förderung des sozialen Zusammenhalts, der kulturellen und ethnischen Vielfalt und der Bekämpfung der populistischen Zersplitterung der Gesellschaft spielen, indem sie verschiedene Strategien verfolgen, wie z. B. die Produktion von Inhalten, die die Vielfalt der bulgarischen Gesellschaft und der marginalisierten kulturellen, ethnischen und sprachlichen Gruppen widerspiegeln, die Aufrechterhaltung journalistischer Integritäts- und Objektivitätsstandards, um Fehlinformationen und Desinformationen entgegenzuwirken, die oft von Populist:innen genutzt werden, um Spaltung und Misstrauen zu säen, und die Vermeidung des Risikos, den internen Medienpluralismus mit Füßen zu treten.
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Die öffentlich-rechtlichen Medien in Bulgarien sind in hohem Maße von staatlichen Subventionen und Werbeeinnahmen abhängig und stehen im Wettbewerb mit digitalen Plattformen. Um die Bereitstellung von Qualitätsjournalismus zu gewährleisten, ist es wichtig, alternative Einnahmemodelle wie öffentliche Finanzierung, philanthropische Unterstützung und abonnementbasierte Kanäle zu untersuchen. Durch die Umsetzung einer solchen Strategie können BNR und BNT die Herausforderungen der globalen digitalen Giganten besser bewältigen und gleichzeitig ihren Auftrag erfüllen, dem öffentlichen Interesse zu dienen und Demokratie, Vielfalt und kulturelle Ausdrucksformen zu fördern.
Gemäß den Bestimmungen des Europäischen Gesetzes über die Medienfreiheit können BNR und BNT ihre Infrastruktur nutzen, um die europäische Integration und Bürgerschaft durch verschiedene Programme, Projekte, Initiativen, Strategien und europäische Zusammenarbeit zu unterstützen, z. B. durch Bildungsprogramme zu EU-Angelegenheiten, von der EU finanzierte Projekte und Initiativen, Berichterstattung über EU-Veranstaltungen und -Gipfel, Förderung der europäischen kulturellen Vielfalt und mehrsprachige Programme, um so ein Gefühl der europäischen Gemeinschaft zu fördern.
Literaturverweis
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EINTRETEN FÜR DIE ÖFFENTLICHRECHTLICHEN MEDIEN – DIE SÄULE
EINES
VERANTWORTLICHEN UND VERTRAUENSWÜRDIGEN
INFORMATIONS- UND WISSENSDIENSTES
PROF. IN VIKTORIJA CAR, PHD UNIVERSITÄT SPLIT
Das Paradoxe ist, dass wir in einer Zeit, in der uns mehr Informationen zur Verfügung stehen als je zuvor, in einer Informationskrise – oder einer Zeit der „Infodemie“ – leben. Eine Infodemie ist eine Metapher für die virenartige Ausbreitung von korrekten, aber auch falschen oder irreführenden Informationen. Der Begriff wurde ursprünglich von dem politischen Analysten David Rothkopf (2003) in einem Kommentar für die Washington Post geprägt. In Europa wurde er 2018 „offiziell diagnostiziert“, als die Commission on Trust and Technology der London School of Economics and Political Science (LSE, 2018) einen Bericht veröffentlichte, in dem festgestellt wurde, dass die aktuelle Informationskrise systemisch ist und eine koordinierte langfristige Reaktion der Institutionen forderte. Seitdem hat die Europäische Union große Anstrengungen unternommen, um den politischen Rahmen für die Bewältigung des vielschichtigen und sich ständig weiterentwickelnden Problems der Desinformation festzulegen. In der Mitteilung der Europäischen Kommission von 2018 wurde der „Europäische Ansatz zur Bekämpfung von Online-Desinformation“ vorgestellt. Er wurde im „Aktionsplan gegen Desinformation“ und im wichtigsten politischen Instrument – dem „Verhaltenskodex für Desinformation“ (2018, 2022) – operationalisiert. Obwohl der Kodex aus 44 Verpflichtungen und 128 spezifischen Maßnahmen (in acht Hauptbereichen) besteht, bezieht sich jedoch keine davon auf den Journalismus.
Angesichts der Entwicklung von Fact-Checking als neuem Markt innerhalb der Medienlandschaft, der u.a. mit üppigen Mitteln der Europäischen Union finanziert wird, bleibt die Frage naheliegend, ob es möglich ist, dass die Medienpolitiker:innen im 21. Jahrhundert darauf verzichten, die Entwicklung eines professionellen Journalismus zu fördern und seine Kapazitäten zu stärken?
Welche Rolle spielen die öffentlich-rechtlichen Medien (PSM) als Pfeiler einer verantwortlichen und vertrauenswürdigen Information? Wenn seitens der Redaktionen keine Faktenkontrolle mehr stattfindet und
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Medienpolitiker:innen sich einig sind, dass Medien selbst ungenaue Informationen veröffentlichen (während neu gegründete Nichtregierungsorganisationen, die sich auf Faktenkontrolle spezialisiert haben, benötigt werden, um Desinformation zu entlarven), stellt sich die Frage: Wie wird Journalismus im 21. Jahrhundert? Wer wird in Zukunft professionell für die Veröffentlichung von korrekten Informationen verantwortlich sein?
Wir sollten den professionellen Journalismus und die Notwendigkeit glaubwürdiger öffentlich-rechtlicher Medien nicht aufgeben, denn nur Medien, die direkt von den Bürger:innen finanziert werden, können von finanziellen und politischen Interessen unabhängig sein. Seit den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016 haben wir die intensivste Aufdeckung der sogenannten Fake News erlebt – was ein Widerspruch in sich ist, denn Nachrichten müssen ihrer Definition nach korrekte und überprüfte Informationen liefern und können auf keinen Fall gefälscht oder falsch sein. Der Begriff Fake News wird für ungenaue, erfundene oder verzerrte Informationen verwendet, die vor allem in sozialen Medien in journalistischer Form veröffentlicht werden und somit das Publikum in die Irre führen. Das Ziel der Autor:innen oder Auftraggeber:innen solcher Informationen ist es, dem Publikum genaue Informationen vorzuenthalten und es zu falschen Überzeugungen zu verleiten. Nur ein medienkundiges Publikum wird erkennen, dass solche Meldungen keine professionellen journalistischen Merkmale aufweisen (Authentizität der Quellen, Darstellung der Pro- und Contra-Seite, Ausgewogenheit usw.). Die durchschnittliche Bevölkerung ist mit ihrem Wissen, ihrem Grad an kritischer Bewertung veröffentlichter Inhalte und der ihr zur Verfügung stehenden Freizeit nicht in der Lage, täglich Informationen aus mehreren Quellen auf ihre Richtigkeit und Authentizität hin zu überprüfen. Es ist sehr schwierig, durch ein solches Dickicht zu den wesentlichen Informationen vorzudringen, die die Bürger:innen für eine qualitativ hochwertige Entscheidungsfindung auf täglicher Ebene benötigen, um so als Individuen zur Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft beizutragen. PSM sollten dabei die führende Rolle übernehmen, die zuverlässigste Informationsquelle zu werden bzw. wieder zu werden, die die monatliche Servicegebühr, die die Bürger:innen zahlen, wert ist.
Neudefinition des Auftrags „Informieren, Bilden und Unterhalten“
Der Auftrag der PSM wurde visionär vom ersten Direktor der BBC, John Reith, definiert, der den Auftrag der BBC in drei Aufgaben zusammenfasste: informieren, bilden und unterhalten. Obwohl diese Definition ein Jahrhundert später immer wieder als unumstößliche Prämisse wiederholt wird, stellt sich die Frage, ob sie am Ende des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts wirklich noch funktioniert.
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Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute haben sich die Definitionen bzw. Aufgaben von Information und Unterhaltung erheblich verändert, ebenso wie die Methoden und Ansätze zur Bildung. In der Ära vor dem Internet waren Informationen für die Öffentlichkeit ohne eine:n Journalist:in als Vermittler:in nicht zugänglich. Informationen waren in Institutionen versteckt, in Akten, Archiven, in Schubladen oder Regalen. Die Aufgabe des/der Journalist:in bestand darin, diese Informationen zu beschaffen, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und so die Öffentlichkeit zu informieren. In der heutigen internetbasierten, mobilen, vernetzten und plattformgestützten Gesellschaft wartet niemand mehr darauf, dass Journalist:innen Informationen veröffentlichen, Informationen werden sofort von Einzelpersonen (Bürger:innen), Verbänden, PR-Agent:innen, Manager:innen sozialer Netzwerke, Politiker:innen, politischen Parteien, aber auch von Bots und Trollen und KI veröffentlicht. Heutzutage brauchen Quellen keine Vermittler:innen (Journalist:innen) mehr, um Informationen zu veröffentlichen – sie tun es selbst, „direkt“, auf Websites, in Blogs, in sozialen Medien usw. Und die Journalist:innen in den Medien veröffentlichen oft oder meistens Informationen, die bereits anderswo veröffentlicht wurden, nur in einem anderen Format. All dies hat zur Folge, dass die Bürger:innen mit Informationen übersättigt und gleichzeitig verwirrt sind, da sie nicht wissen, welche dieser Informationen korrekt, relevant und nützlich sind.
Es wird ein Dienst benötigt, ein PSM, in dem ausgebildete und qualifizierte Journalist:innen die Informationen vergleichen, ihre Richtigkeit überprüfen und sie aus mindestens zwei voneinander unabhängigen Quellen bestätigen, Argumente dafür und dagegen sammeln und die Informationen in einem größeren Zusammenhang erklären, so dass sie Sinn ergeben und für ein breiteres Publikum verständlich werden. Und, was am wichtigsten ist, das zu erforschen, was der Öffentlichkeit verborgen geblieben ist. Der Unterschied zwischen den Informationen, die von professionellen Journalist:innen stammen, und allen anderen online verfügbaren Informationen sollte darin bestehen, dass journalistische Informationen glaubwürdig sind - sie werden unter Beachtung professioneller journalistischer und ethischer Standards erstellt und veröffentlicht. Auf diese Weise tragen Journalist:innen zur Information der Bürger:innen bei und die Gesamtheit der veröffentlichten Informationen kann als öffentliches Gut betrachtet werden, da sie für alle unter den gleichen Bedingungen zugänglich sind und sich nicht durch Mehrfachnutzung erschöpfen.
Argumente, dass mit der Entwicklung des so genannten Bürger:innenoder Beteiligungsjournalismus die Notwendigkeit eines professionellen Journalismus verschwunden sei, sind oberflächlich und schlecht durch-
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dacht. Gerade wegen der „Flut“ von Informationen, Desinformationen und Fehlinformationen ist die Rolle der professionellen Journalist:innen noch wichtiger geworden. Der „Bürgerjournalismus” als eine Art Bewegung wurde bereits in den 1990er Jahren kritisiert. Die Kritiker:innen wiesen darauf hin, dass die Journalist:innen das tägliche politische AgendaSetting der Bevölkerung überlassen haben und warfen ihnen vor, ihren Beruf und ihre Fähigkeit, durch kritische Berichterstattung die Rolle der „vierten Gewalt“ zu erfüllen, zu gefährden.
Dieser Prozess der „Informationsflut“ verlief parallel zur Explosion der Unterhaltungsindustrie, die sich zu einem der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige der Welt entwickelt hat, und vor allem das Internet und die sozialen Medien als Verbreitungsplattform nutzt. Die frühere Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder Fernsehens, die Familie im Wohnzimmer auf der Couch zusammenzubringen, um gemeinsam eine unterhaltsame Sendung oder einen Film zu hören oder zu sehen, hat mit der Veränderung der Gewohnheiten des Publikums, das sich in einer digitalen, vernetzten und mobilen Gesellschaft seinen Smartphones und einer individualisierten Auswahl von Medieninhalten zugewandt hat, ihre Funktion verloren. In Anbetracht dessen, dass die öffentlichrechtlichen Medien den Kampf mit den Online-Medien in Bezug auf die Informationsgeschwindigkeit sowie Medien mit Unterhaltungsinhalten, verloren haben, ist ihnen eigentlich nur noch ihre erzieherische Funktion geblieben. Was bleibt, ist sich auf die Rolle von Erzieher:innen und gesellschaftpolitischen Kritiker:innen zu konzentrieren, bekannte und zugängliche Informationen in einen größeren Kontext (sozial, politisch, historisch, wirtschaftlich, technologisch usw.) zu stellen und gleichzeitig der Öffentlichkeit Zugang zu Inhalten zu verschaffen, die in Archiven, Enzyklopädien, Filmbibliotheken, Labors usw. aufbewahrt werden. Darüber hinaus sollte die Hauptaufgabe von PSM darin bestehen, politische und wirtschaftliche Korruptionsaktivitäten, Kriminalität und ähnliche sozial schädliche Aktivitäten aufzudecken, die vor der Öffentlichkeit verborgen werden sollen. In diesem Sinne sollte die Investition in die Arbeit von investigativen Journalist:innen und ihren Teams eine der wichtigsten Investitionen innerhalb der PSM sein.
Das verlorene Publikum und das neu erreichte fragmentierte Publikum Unter Bezugnahme auf die Überlegungen von Russell Neuman, der vor drei Jahrzehnten über das Verschwinden des Massenpublikums schrieb, stimmen wir mit Pippa Norris überein, dass das Verschwinden des Massenpublikums nicht als das Verschwinden des Publikums überhaupt interpretiert werden sollte. Seine endgültige Zahl nimmt zwar ständig zu, aber seine innere Struktur ist durchwegs segmentiert. Es scheint als wäre
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das der schwächste Punkt der PSM – nicht imstande, das Publikum zu erreichen – nicht ein Publikum, das große, wie es früher war, sondern viele verschiedene, fragmentierte und Nischenpublika.
In Anbetracht der zuvor beschriebenen Veränderungen im Prozess der Information des Publikums, das sich inzwischen in eine Reihe von fragmentierten Publikumsgruppen mit hochgradig individualisierten Ansätzen bei der Auswahl von Medieninhalten verwandelt hat, und in Anbetracht der Entwicklung der Unterhaltungsindustrie, in der die Rolle von PSM als Entertainer unbedeutend geworden ist, und der Definition von Reith, wonach es die Aufgabe von PSM ist, das Publikum zu informieren, zu bilden und zu unterhalten, ist es notwendig, sich an die Publikumsgewohnheiten und technologischen Bedingungen im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts anzupassen. Daher wird eine neue Definition von PSM vorgeschlagen: Die öffentlich-rechtlichen Medien sind ein öffentlich finanzierter Dienst, der für alle Bürger:innen bestimmt ist und dessen Aufgabe es ist, Inhalte zu produzieren und zu veröffentlichen, deren Ziel es ist, die Bürger:innen zuverlässig und vollständig zu informieren und ihnen Inhalte und Dienste zur Verfügung zu stellen, die eine Wissensquelle im Prozess des lebenslangen Lernens darstellen und bei die Verbesserung der Lebensqualität hilft. Bei ihrer Tätigkeit orientiert sich PSM an den Kriterien der inhaltlichen und produktionstechnischen Exzellenz und der völligen Unabhängigkeit von politischen, finanziellen oder sonstigen Partikularinteressen.
Die Hauptaufgabe eines öffentlich-rechtlichen Mediums in einer modernen digitalen, vernetzten, plattformgestützten und mobilen Gesellschaft besteht darin, den Bürger:innen eine Plattform zu bieten, auf der qualitativ hochwertige Inhalte zur Verfügung stehen, deren Aufgabe es ist, sie mit vollständigen Informationen zu versorgen, die für eine bessere Qualität des täglichen Lebens notwendig sind. Und das ist es, was PSM zumindest in einigen europäischen Ländern wirklich tun, es bleibt nur die Frage, wie groß die Reichweite dieser Qualitätsprogramme ist. Nimmt die Generation Z die Programme und Dienste von PSM in Anspruch? Erkennt die Generation Z PSM als nützliche Wissensquelle an? Erkennen die Bürger:innen im Allgemeinen PSM als eine Wissensquelle und ein Instrument zur Entwicklung kritischen Denkens an?
Öffentliche Kampagne für Journalismus und starke PSM Zumindest in Kroatien hat man den Eindruck, dass PSM den Traum vom Winterschlaf des Bären schlafen und alte Schwarz-Weiß-Filme und Dokumentarfilme, die vor langer Zeit aufgezeichnet wurden, wieder ausstrahlen. Die Aufgabe des Managementteams und der Redakteur:innen von PSM besteht darin, ein hohes Maß an Professionalität, die professionellsten
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und kreativsten Mitarbeiter:innen und andere Ressourcen zu gewährleisten, die für die Produktion hochwertiger journalistischer und anderer Medieninhalte und -dienstleistungen erforderlich sind. Außerdem ist es ihre Aufgabe, zusätzliche ausreichende Ressourcen für die Entwicklung des investigativen Journalismus bereitzustellen, da dieser neben dem allgemeinen Informationsgehalt eine der beiden grundlegenden Säulen ist, die die Existenz der PSM rechtfertigen. Die Einhaltung professioneller journalistischer Standards und Grundsätze der journalistischen Ethik sind eine Voraussetzung für jeden veröffentlichten Inhalt und angebotenen Dienst. Ein Teil der Verantwortung für das Verständnis und die Schaffung von Bedürfnissen für bestimmte Inhalte in der Gesellschaft liegt beim Medienpublikum, das durch seine Aktivität oder Passivität zur (Nicht-)Anerkennung der öffentlich-rechtlichen Medien als Ressource eines öffentlichen Gutes in der Gesellschaft beitragen kann. Gleichzeitig braucht die Förderung von Medien- und Informationskompetenz und deren Umsetzung auf allen Ebenen der Gesellschaft Zeit, garantiert aber langfristig Qualität, Vertrauen in PSM-Inhalte und -Mitarbeiter, die Stärkung bestehender ethischer Richtlinien und Gesetze sowie einen allgemeinen Beitrag zur demokratischen Gesellschaft, sowohl im Inland als auch international.
Angesichts der Informations- und Journalismuskrise und des Trends zu „Fake News“ und Falschinformationen ist der Bedarf an professionellen, glaubwürdigen, unabhängigen und wirtschaftlich stabilen PSM größer denn je. Der Bedarf an Qualität, oder einfach ausgedrückt, an professionellem Journalismus, ist groß und der Journalismus als Beruf befindet sich in der vielleicht folgenreichsten Krise seit seiner Gründung. Wir können nur mit Nostalgie über Journalist:innen lesen und in Filmen Journalist:innen sehen, die den Lauf der Geschichte verändert haben, indem sie politische und wirtschaftliche Korruption, Kriminalität und andere schädliche und ungerechte Prozesse in der Gesellschaft aufgedeckt haben, und bewundern dabei ungläubig die Stärke dieser „Wachhunde“ der Demokratie. Dies sind Beispiele für investigativen Journalismus, der Regierungen und Präsident:innen ablöste, der politische Entscheidungen beeinflusste oder änderte und so zu wichtigen Veränderungen im Interesse der Bürger:innen beitrug, manchmal auf lokaler und manchmal auf internationaler politischer Ebene.
Medien und Journalist:innen, die entweder von der Regierung oder vom Markt gesteuert werden, können niemals unabhängig und frei handeln. Schon bei der Auswahl der Themen und Probleme, über die berichtet wird, wird geprüft, ob diese Informationen den Interessen der Eigentümer:innen, der Werbekunden:innen oder der politischen Machtzentren schaden. In einem solchen Sieb wird eine ganze Reihe von Themen, Problemen und
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Phänomenen zurückgehalten oder festgehalten, die niemals auch nur ansatzweise journalistisch in einem Text oder einer Videostory umgesetzt werden können. Diese Art der Vorzensur ist charakteristisch für alle „gefangenen“, gekaperten Medien, deren finanzielles Überleben auf dem Boden der Ungewissheit entweder von den Werbekund:innen oder von der Entscheidung der Regierung abhängt, wie viel Geld ihnen aus dem Staatshaushalt zugewiesen wird.
Die Bürger:innen sollten die PSM nicht nur durch die Zahlung der Gebühr (die ihre finanzielle Unabhängigkeit garantieren soll) unterstützen, sondern auch durch die intensive Forderung der Öffentlichkeit, dass die Leitung der PSM ausschließlich nach meritokratischen Kriterien gewählt werden sollte. Ihr Sachverstand und ihr hohes ethisches Niveau sollten von der Öffentlichkeit und den Aufsichtsbehörden genauestens überprüft werden. Korruption und Vetternwirtschaft bei PSM sollten professionell geahndet, öffentlich verurteilt und schließlich ausgemerzt werden. Außerdem soll der Berufsstand des Journalismus und der Medien PSM als Kern und Ursprung des professionellen Journalismus und der Mediengestaltung unterstützen, wo die Tür für Amateur:innen, Trivialitäten und Sensationslust fest verschlossen ist. Eine öffentliche Kampagne mit diesem Ziel, die von der EU finanziell unterstützt wird, wäre wahrscheinlich effizienter als das „Pumpen von Geld“ in Fact-Checking-Organisationen. Die Unterscheidung zwischen journalistischen Medien und allen anderen Informations- oder Unterhaltungsmedien würde dazu beitragen, eine Medienpolitik zu schaffen, die sich auf die Rolle des Berufsstandes stützt, so wie jede andere öffentliche Politik, die sich auf den Berufsstand stützt (z. B. Bildung oder Gesundheit). Die EU-Medienpolitik sollte einen Rahmen für das Vertrauen in die Informationsgesellschaft schaffen, und nicht Plattformen, sondern journalistische Medien mit den PSM als Pfeiler sollten die wichtigsten Partner:innen in diesem Rahmen werden.
Literaturverweis
LSE (2018) Tackling the Information Crisis: A Policy Framework for Media System Resilience. The Report of the LSE Commission on Trust and Technology. London: LSE.
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CYPRUS
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ZYPERN
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IN ZYPERN: ANPASSUNG AN MÖGLICHKEITEN UND ZIELGRUPPEN
ASS.PROF. IN PASCHALIA LIA SPYRIDOU, PHD TECHNISCHE UNIVERSITÄT ZYPERN
Überall auf der Welt sind die öffentlich-rechtlichen Medien mit einer Vielzahl gleichzeitiger Bedrohungen konfrontiert - für ihre Finanzierung, ihre Attraktivität, ihren Wert und ihre Unabhängigkeit. Diese Bedrohungen treten zu einer Zeit auf, in der der grundlegende Zweck der öffentlichrechtlichen Medien, genaue, unparteiische und nützliche Nachrichten und Informationen zu liefern, dringender denn je ist (Moore, 2024). Die Plattformisierung der Nachrichtenproduktion und -verbreitung, die nicht nur klickgesteuerte Inhalte in den Vordergrund stellt, sondern auch die Logik der Nachrichtenproduktion grundlegend verändert (Smyrnaios & Rebillard, 2019), die weite Verbreitung von Fehlinformationen und die zunehmende Nutzung von KI-generierten Inhalten (sowohl Texte als auch Videos) machen PSM wieder zu einem stabilen und vertrauenswürdigen Informationskanal. Die digitale Transformation und in jüngerer Zeit die künstliche Intelligenz (KI) haben jedoch dazu beigetragen, dass PSM im Ökosystem der neuen Medien an den Rand gedrängt wurden. Wie Peter Goodwin (2018) erklärt, sind „PSM-Organisationen im Kontext der Netzwerkgesellschaft nicht gut für den Erfolg positioniert” (S. 36). Sie haben keine Möglichkeit, von der internationalen Konzentration zu profitieren, von der große kommerzielle Medienunternehmen stark profitieren. Sie sind mit finanziellen und personellen Einschränkungen konfrontiert, wenn es darum geht, sich technologisch zu erneuern. Sie neigen dazu, sich langsamer anzupassen und zu innovieren, wenn es um Erzähltechniken und die Gestaltung der Tagesordnung geht. Sie neigen dazu, Qualität und Nüchternheit gegenüber Dramatisierung und Gewinnstreben zu betonen.
Die Republik Zypern ist keine Ausnahme von dieser Regel. Nachdem die Cyprus Broadcasting Corporation (CyBC) während der Finanzkrise 20122018 infolge der allgemeinen Sparpolitik im Land heruntergefahren wurde (Spyridou & Milioni, 2017), hat die Covid-19-Krise ihren Ruf als vertrauenswürdiger Nachrichten- und Informationskanal wiederhergestellt. CyBC verzeichnete steigende Nutzungszahlen, da die Menschen nach zuverlässigen Daten und Orientierungshilfen suchten. Die CyBC steht jedoch vor großen Herausforderungen, die sich aus ihrer Beteiligung an neuen Technologien, ihrer Anziehungskraft auf jüngere Bevölkerungsschichten und ihrer anhaltenden Abhängigkeit von politischen Parteien ergeben.
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Einbindung in neue Technologien
Die 1953 gegründete Cyprus Broadcasting Corporation (CyBC) repräsentiert die PSM auf der Insel. Sie umfasst vier Radiosender, drei Fernsehsender (zwei terrestrische und CyBC-Satellitensender), eine Website und ist auf den wichtigsten Plattformen der sozialen Medien vertreten. Aufgrund der rasanten Entwicklung der neuen Kommunikationstechnologien ist CyBC gezwungen, nicht nur seine Programmpolitik, sondern auch seine Arbeitsweise, seinen technischen Aufbau und seine Beteiligung an den neuen digitalen Medien zu überdenken. Aufgrund des Niedergangs der CyBC während der Finanzkrise, des anschließenden Mangels an Ressourcen und der allgemeinen Enttäuschung innerhalb der CyBC verzögerte sich dieser Wandel. In den letzten Jahren haben sich die Dinge jedoch aufgrund der stetigen Verlagerung des Nachrichtenkonsums ins Internet und der starken Konkurrenz durch On-Demand-Plattformen beschleunigt. Infolgedessen verbessert CyBC seine Produktionsprozesse, stellt sein Programm auf zusätzlichen Plattformen zur Verfügung und die Nachrichtenabteilung experimentiert mit KI-gestützten Tools, um personalisierte Nachrichten anzubieten, einen konstanten Strom von Beiträgen in den sozialen Medien zu gewährleisten und innovativere, dem digitalen Zeitalter entsprechende Geschichten zu erzählen.
Auf der Suche nach der Zielgruppe der unter 30-Jährigen Innerhalb des allgemeinen Misstrauens gegenüber den Medien ist PSM in Zypern bei weitem der vertrauenswürdigste Nachrichten- und Informationskanal; 45 Prozent geben an, dass PSM (einschließlich ihrer OnlinePräsenz) ihre vertrauenswürdigste Informationsquelle ist, während diese Zahl bei kommerziellen Medien auf 36 sinkt (Eurobarometer, 2022). Auf die Frage, welches ihre Hauptquelle für Nachrichten ist, geben 63 % das Fernsehen, 59 % die Nachrichtenwebseiten und 57 % die sozialen Medien an. Betrachtet man die Nachrichtenpräferenzen nach Alter, so zeigt sich, dass die jüngeren Bevölkerungsgruppen Fernsehen und soziale Medien bevorzugen. Allerdings erhalten die kommerziellen Medien den größten Teil des Kuchens, da PSM bei den jüngeren Bevölkerungsgruppen eher unterdurchschnittlich abschneiden. In Anbetracht der Bedeutung der jüngeren Bevölkerungsgruppen für die Bildung künftiger Medienkonsumgewohnheiten experimentiert CybC mit Kurzgeschichten, einer leichteren, von den sozialen Medien beeinflussten Agenda und mehr audiovisuellen Inhalten.
Von Festangestellten zu Vertragsmodellen
Eine auffällige Tendenz innerhalb von CyBC ist die Hinwendung zu Vertragsmodellen anstelle von Festangestellten. Die Organisation sieht sich derzeit mit einem Personalmangel konfrontiert, da eine Reihe von Festangestellten in den Ruhestand geht und andere sich für eine Stelle in Minis-
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terien und anderen staatlichen Organisationen entschieden haben. Neben dem zahlenmäßigen Personalmangel mangelt es nachweislich auch an Fachwissen über neue Medientechnologien, künstliche Intelligenz und neue Erzählformate, die sich aus der Logik der Plattformisierung ergeben (Stollfuß, 2022). Um dieses Problem anzugehen, erwägt das Management, junge Fachkräfte auf Vertragsbasis einzustellen, um die Produktion zu modernisieren und die Bedürfnisse und Vorlieben des jüngeren Publikums effektiver zu bedienen.
Politische Abhängigkeiten
In Bezug auf die Mediensysteme entspricht Zypern den Grundzügen des Medienmodells des polarisierten Pluralismus von Hallin und Mancini (2004). In einem Medienumfeld, das durch starke politische Parallelität und unheilige Allianzen zwischen Medieneigentümern und politischen Parteien gekennzeichnet ist, ist der öffentliche Rundfunk stark von der Regierung und den politischen Parteien abhängig. Bis zu einem gewissen Grad ist dies das Ergebnis des Finanzierungsmodells von CyBC. Die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt wird direkt aus dem Staatshaushalt finanziert, und ihre Mittel werden jedes Jahr vom Parlament beschlossen, wobei stillschweigend vereinbart wurde, dass die Sendezeit der CyBC mit der Macht der politischen Parteien im Parlament verbunden ist. In den letzten Jahren hat es jedoch einige positive Veränderungen gegeben. Obwohl der Präsident der CyBC direkt vom Staatspräsidenten ernannt wird und es sich somit um eine politische Entscheidung handelt, wurden in den letzten Jahren Akademiker:innen und Personen, die mit der Medienlandschaft vertraut sind, bevorzugt.
Abschließende Bemerkungen
Die öffentlich-rechtlichen Medien (PSM) haben ihre Marktbedeutung in der politischen und öffentlichen Rhetorik zunehmend propagiert, um ihre Relevanz in Zeiten von Kürzungen und zunehmendem Druck zu legitimieren (Raats, 2023). CyBC unternimmt ernsthafte Schritte, um sich zum ersten Mal nach einer langen Periode von Kürzungen und Introvertiertheit an die digitalen Anforderungen und die Präferenzen der Nutzer:innen anzupassen. Es ist jedoch Vorsicht geboten, um nicht seine Glaubwürdigkeit und Nüchternheit in einer hart umkämpften Landschaft zu verlieren, die von Clickbaits und oberflächlichen Inhalten bestimmt wird. Es ist wichtig, dass CyBC die notwendigen Schritte unternimmt, um sich weiterzuentwickeln und dabei relevant zu bleiben und dem öffentlichen Interesse gerecht zu werden.
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Literaturverzeichnis
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CZECH
REPUBLIC | TSCHECHIEN | ÖFFENTLICH-RECHTLICHE MEDIEN IN
DER TSCHECHISCHEN REPUBLIK UND IHRE ZUKUNFT
PROF. JAN JIRÁK, PHD METROPOLITAN UNIVERSITY PRAG
Die öffentlich-rechtlichen Medien bzw. das Prinzip des öffentlichen Dienstes im Allgemeinen wurden nach 1989, nach dem Zusammenbruch des Einflussbereichs der Sowjetunion in Europa, Teil des tschechischen Mediensystems. Die Entscheidung, die staatlichen Medien als Überbleibsel des staatlichen Propagandasystems des undemokratischen Regimes loszuwerden, führte zur Gründung der öffentlich-rechtlichen Medien. Aus dem staatlichen tschechoslowakischen Fernsehen wurde das Tschechische Fernsehen (CT) in der Tschechischen Republik als öffentlich-rechtliches Medium, und analog dazu wurde der staatliche tschechoslowakische Rundfunk zum öffentlich-rechtlichen Tschechischen Rundfunk (CRo) umdefiniert. Die Tschechische Presseagentur (CTK) hat im tschechischen Mediensystem ebenfalls den Status eines öffentlich-rechtlichen Mediums, unterscheidet sich aber von den beiden oben genannten Institutionen dadurch, dass sie sich nicht durch Gebühren finanziert, die in erster Linie von den Haushalten gezahlt werden (wie dies beim Tschechischen Rundfunk und beim Tschechischen Fernsehen der Fall ist), sondern durch den Verkauf ihrer Dienstleistungen an eine Vielzahl von Kund:innen. Aufgrund ihrer besonderen Stellung wird die Tschechische Presseagentur in diesem Text nicht behandelt, und der Oberbegriff „öffentlich-rechtliche Medien” wird als der relevante Begriff für die Rundfunkmedien verstanden.
Der Prozess der Entstaatlichung (Deetatisierung) der staatlichen Medien fand statt im Kontext (a) der Teilung der ehemaligen Tschechoslowakei in zwei getrennte Staaten, die Tschechische und die Slowakische Republik (die Teilung wurde offiziell am 1. Januar 1993 verkündet), und (b) der Etablierung privater, kommerziell orientierter Rundfunkmedien als neuer Medientyp, der im tschechischen Umfeld bis dahin unbekannt war (das erste landesweite Privatfernsehen - TV Nova - nahm im Februar 1993 den Sendebetrieb auf, für Details zur Transformation der tschechischen Medien siehe Jirák, Köpplová 2008). Das duale Rundfunksystem nach britischem oder deutschem Vorbild, bei dem private Sender und öffentlich-rechtliche Medien parallel existieren, diente als Vorbild für den Zielstaat.
Vor allem im Bereich des Fernsehens bewiesen die kommerziellen Medien eine spürbare Vitalität, zogen das Interesse der Zuschauer:innen auf sich
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und erlangten über weite Strecken der 1990er Jahre einen deutlichen Vorsprung bei den Zuschauer:innenzahlen, einschließlich eines großen Interesses der Zuschauerschaft an allen Arten von Programmen, einschließlich Nachrichten und journalistischer Sendungen. Die Tatsache, dass der Übergang von den staatlichen Medien zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk für die breite Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar war, spielte ebenfalls eine Rolle, da die Zuschauer:innen und Zuhörer:innen immer noch der Meinung waren, es handele sich um staatliche Medien. Dieses Gefühl wurde durch die Tatsache verstärkt, dass das Programm-angebot in den 1990er Jahren sehr konservativ blieb und sich kaum von dem der abgeschafften staatlichen Medien unterschied (wenn auch natürlich mit entsprechenden Anpassungen bei den erklärten politischen Positionen und den behandelten öffentlichen Themen). Zum Erfolg des Privatsenders trug bei, dass TV Nova als kommerzieller Sender mit einem boulevardorientierten Konzept des Nachrichtendienstes mit Schwerpunkt auf Infotainment und Zuschauer:innenkontakt aufwartete, journalistische Tabuthemen diskutierte, nachweislich kommerziell erfolgreiche Spielfilmsendungen anbot (eine der ersten war die amerikanische Serie „Dallas”) – und vor allem mit einem phantasievollen, konsequent entwickelten, aggressiven und bis dahin noch nie dagewesenen Marketing die Zuschauerschaft erreichte.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat sich seine Position in der Gesellschaft erst allmählich erarbeiten müssen, und im Laufe der Zeit ist es auf diesem Gebiet recht erfolgreich geworden. Sein relativer Erfolg beruht auf mehreren Säulen, die zur öffentlich akzeptierten öffentlich-rechtlichen Landschaft im Land geworden sind und dazu beigetragen haben, dass das öffentlich-rechtliche Medium Teil der gesamtgesellschaftlichen Agenda geworden ist. Diese Säulen sind vor allem die folgenden.
1. Die öffentlich-rechtlichen Medien sind zu Quellen schneller, nützlicher und zuverlässiger Informationen aus dem In- und Ausland geworden. Dies ist vor allem auf die zuverlässige Berichterstattung in Krisenzeiten zurückzuführen (z. B. während der verheerenden Überschwemmungen von 1997 und 2022 in der Tschechischen Republik), als ein ausgeprägter Teil der Öffentlichkeit begann, nach zuverlässigen, informationsgesättigten Nachrichten ohne übermäßiges Infotainment zu suchen. Gleichzeitig gelang es sowohl dem Tschechischen Fernsehen als auch dem Tschechischen Rundfunk, ein funktionierendes Netz von ständigen und Notfall-Auslandskorrespondent:innen aufrechtzuerhalten – vor allem dank der stabilen Einnahmeseite des Haushalts, die hauptsächlich auf Lizenzgebühren beruht –, während andere Medien damit begannen, ihre Auslandsberichterstattung zu reduzieren und auf Internetquellen und den Einsatz
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von externen Korrespondent:innen umzusteigen, im Falle von lokalen Amateur:innen ohne die notwendige Ausbildung. Insbesondere der Mediendiskurs hat infolgedessen immer wieder „öffentlichrechtliche Medien” als Synonym für „seriöse Medien” behandelt.
2. Parallel dazu hat sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen als Produzent von Zeitgeschichten mit einer großstädtischen liberal-konservativen Ausrichtung profiliert, die Zuschauer:innen mit mittlerer und höherer Bildung, mit durchschnittlichem bis leicht überdurchschnittlichem Einkommen und Bewohner:innen mittlerer und größerer städtischer Gebiete anspricht. Dies hat sie zwar weitgehend von einem großen Teil der Bevölkerung getrennt (insbesondere für das ländliche Publikum sind die öffentlich-rechtlichen Medien zur „Stimme der Stadt”, etwas vereinfacht zur „Stimme des Prager Volkes” geworden), doch hat es die Position der Medien als Meinungsmacher:innen in den Augen der Öffentlichkeit gestärkt.
3. Die Haltung der politischen Elite gegenüber diesen Medien, insbesondere dem tschechischen Fernsehen, hat ungewollt zur Stabilisierung der Stellung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und Rundfunks in der tschechischen Gesellschaft beigetragen. Die öffentlich-rechtlichen Medien werden durch Gesetz geschaffen, d.h. durch den Willen und die Entscheidung der gesetzgebenden Organe der Tschechischen Republik, nämlich der Abgeordnetenkammer und des Senats des Parlaments der Tschechischen Republik. Im derzeitigen Rechtsrahmen wählen die Abgeordnetenkammer und der Senat die Mitglieder des Rates des Tschechischen Fernsehens und des Rates des Tschechischen Rundfunks, d. h. die Kontrollorgane, die die Aktivitäten und das Management der öffentlich-rechtlichen Medien überwachen, wichtige strategische Entscheidungen genehmigen, Beschwerden über die Leistung dieser Medien entgegennehmen und die Generaldirektor:innen wählen (oder entlassen). Gleichzeitig genehmigt die Abgeordnetenkammer den Kodex für die öffentlich-rechtlichen Medien und das Gesetz zur Festlegung der Höhe der Rundfunkgebühren. Die Legislative hat somit einen indirekten, aber ganz erheblichen Einfluss auf die inhaltliche, personelle und vor allem wirtschaftliche Situation der öffentlich-rechtlichen Rundfunkmedien. Die Möglichkeit, in den Betrieb der öffentlich-rechtlichen Medien einzugreifen, ist eine Versuchung, der parlamentarische Parteien und Bewegungen nicht widerstehen können – Politiker:innen kommentieren das Verhalten der öffentlich-rechtlichen Medien, verhandeln über die Höhe der Gebühren und sorgen durch informelle Absprachen für Proportionalität in der Zusammensetzung der Aufsichtsräte.
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Einer der Höhepunkte dieser Bemühungen war im Herbst und Frühwinter 2000, als nach der ungewöhnlichen Entlassung des bisherigen Generaldirektors des KV ein Kandidat mit offensichtlichen Verbindungen zu einer großen parlamentarischen Partei in das Amt gewählt wurde. Die Einsetzung des neuen Direktors und seines Teams löste in der Anstalt selbst heftige Reaktionen aus, die zu einem Streik des Personals, Unterbrechungen des Sendebetriebs, öffentlichen Massenprotesten Ende Dezember 2000 und Anfang Januar 2001 und schließlich zum Rücktritt des neuen Direktors und zur Ernennung eines Interimsdirektors direkt durch das Abgeordnetenhaus sowie zur Verabschiedung einer Änderung des tschechischen Fernsehgesetzes führten (zu Einzelheiten der „Weihnachts-TV-Krise” siehe Jirák - Köpplová 2001). Letztere stärkte jedoch den Einfluss der Abgeordnetenkammer durch die Verabschiedung des Kodex (§ 8, Absatz 1 des tschechischen Fernsehgesetzes besagt: „Die Zuständigkeit des Rates umfasst: /.../ f) die Vorlage des Kodex des tschechischen Fernsehens, der die Grundsätze für die Erfüllung des öffentlichen Auftrags im Bereich des Fernsehens festlegt, an das Abgeordnetenhaus zur Genehmigung” ).
Unabhängig davon hat die „Weihnachts-TV-Krise” die Sichtbarkeit der öffentlich-rechtlichen Medien in der tschechischen Gesellschaft deutlich erhöht, die Notwendigkeit ihrer Unabhängigkeit vom Staat oder seinen gesetzgebenden Organen betont und die integrative Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien auf gesellschaftlicher Ebene hervorgehoben.
Im Gegensatz zur integrativen Funktion der öffentlich-rechtlichen Medien, die zur Förderung des Aufbaus und der Stärkung der öffentlichen Sphäre als gemeinsamer Raum der Bürger:innen führt, gibt es einen Trend zu einer immer deutlicheren Fragmentierung der Öffentlichkeit, die für private, kommerziell orientierte Medien typisch ist (ihr:e „Nutzer:in” ist nicht der/die Bürger:in, sondern der/die Konsument:in).
Beide Rundfunkmedien nutzen die Möglichkeiten der Digitalisierung des Rundfunks und erweitern schrittweise das Angebot an traditionellen, linearen Fernseh- und Radioprogrammen und auf ausgewählte Empfänger:innengruppen oder thematisch definierte Inhalte. So bietet das Tschechische Fernsehen nicht nur zwei universelle Vollprogramme (CT1 und CT2) und eine Nachrichtensendung (CT24), sondern auch ein Sportprogramm (CT Sport), ein Kinderprogramm (CT :D) und ein kulturell orientiertes Programm (CT Art). Darüber hinaus expandieren beide Medien intensiv in das technologische Umfeld des Internets und bieten i-Broadcast-Elemente, Podcasts, Archive und ähnliche Dienste in verschiedenen Formen an.
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Die künftige Existenz und Entwicklung der Stellung und Funktionsweise der öffentlich-rechtlichen Medien in der Tschechischen Republik wird sehr wahrscheinlich unter anderem davon abhängen, wie Mediennutzer:innen, Gesetzgeber:innen und die Medien selbst mit der Spannung zwischen der integrierenden Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien und der Fragmentierung des Angebots (und damit des Publikums) umgehen. Wie bereits erwähnt, besteht ein disjunktives Merkmal dieser Medien gerade in ihrer Fähigkeit, Zuschauer:innen und Zuhörer:innen in einen gemeinsamen sozialen Raum gemeinsamer Werte, Ideen und Erfahrungen zu integrieren. Im Gegensatz dazu betont das digitalisierte Online-Angebot die Individualisierung des Konsums von Medieninhalten, die Selbstverwirklichung und die interaktive Freiheit bei der Auswahl der konsumierten Inhalte.
Mit anderen Worten: Das Problem des Fortbestands öffentlich-rechtlicher Medien liegt darin, inwieweit sie in einem digitalisierten Umfeld ein Äquivalent für ihren integrierenden gesellschaftlichen Auftrag finden können. Speziell im tschechischen Umfeld wird die Frage sein, wie die öffentlich-rechtlichen Medien dem Druck der politischen Eliten widerstehen und gleichzeitig ihre integrierende Funktion beibehalten können – ein Druck, der in gewisser Weise logisch ist, da die öffentlich-rechtlichen Medien eine der wenigen Institutionen in einer fragmentierten und globalisierten Welt sind, die wie die gewählten politischen Eliten auf der Ebene der staatlichen Einheit (des Nationalstaats) agieren.
Literaturverweis
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DAS DÄNISCHE
ÖFFENTLICH-RECHTLICHE
FERNSEHEN IM DIGITALEN WANDEL:
EINE REIHE VON DILEMMATA
JULIE MÜNTER LASSEN, PHD UNIVERSITÄT AARHUS
YouTube, TikTok, Instagram, Snapchat und Messenger. Oder, wenn Sie schon älter sind: Facebook, LinkedIn und X. Und dann natürlich Netflix, Disney+, HBO Max und Amazon Prime, ganz zu schweigen von Spielen und Surfen. Es gibt so viele Dinge zu tun, so viele Dienste zu wählen, wenn man einen Bildschirm benutzt. Und in einem hochgradig digitalen Land wie Dänemark nehmen die Bildschirme einen großen Teil der wachen Zeit in Anspruch. Mehr als sieben Stunden pro Tag, so eine aktuelle Studie (DR Analyse, 2024, S. 5). Der traditionelle Wettbewerb zwischen Medienunternehmen um den höchsten Anteil an Zuschauer:innen oder Zuhörer:innen ist durch die Herausforderung ersetzt worden, überhaupt Nutzer:innen zu gewinnen und zu halten. In diesem harten Wettbewerb suchen die alten öffentlich-rechtlichen Medienunternehmen nach Möglichkeiten, sich an einen digitaleren Markt anzupassen, der von globalen Plattformen und internationalen Abonnement-Video-on-Demand-Diensten (SVoD) beherrscht wird. Und in einer Zeit, in der Fehlinformationen, Überwachung und Deepfakes neben vielen anderen Krisen eine Rolle spielen, sind die öffentlich-rechtlichen Medien weiterhin von großer Bedeutung für das Allgemeinwissen und die öffentliche Debatte. Doch wie gestaltet sich der digitale Wandel der PSM-Organisationen, und steht er im Einklang mit dem zentralen Wert des öffentlichen Dienstes, der Vielfalt, und der Rolle der Organisationen, ein öffentliches Gespräch zu ermöglichen? Ich werde diese Fragen anhand von empirischen Daten aus zwei Forschungsprojekten erörtern: einem dänischen und einem länderübergreifenden, an dem neun PSM-Organisationen in sechs Medienmärkten beteiligt waren.
Der dänische Medienmarkt und die digitale Entwicklung Universalität, also der freie Zugang zu einer Vielzahl von Inhalten über ein breites Spektrum von Verkaufsstellen, ist eine wesentliche Voraussetzung für eine solide Reichweite in der Bevölkerung und somit ein wichtiger erster Schritt zur Erfüllung der Verpflichtung, ein gemeinsames nationales Gespräch zu ermöglichen. Daher ist es notwendig, dass die bestehenden PSM-Organisationen ihre Dienste in Übereinstimmung mit der Mediennutzung der Bevölkerung entwickeln (können). Däne -
PUBLIC VALUE TEXTE | DENMARK | DÄNEMARK |
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mark ist im Allgemeinen ein sehr digitales Land. Die voll entwickelte digitale Infrastruktur führt dazu, dass der Medienkonsum durch über das Internet verbreitete Dienste geprägt ist. Auf dem Fernsehmarkt lag die durchschnittliche tägliche Sehdauer bei Streaming-Diensten im Jahr 2023 bei 98 Minuten, während die durchschnittliche tägliche Sehdauer bei Rundfunk und Fernsehen 123 Minuten betrug. Es ist also offensichtlich, dass ein erheblicher Teil des Fernsehkonsums der dänischen Bevölkerung online stattfindet, und dieser Anteil steigt von Jahr zu Jahr. Dieses Nutzungsverhalten spiegelt sich in den Unternehmensstrategien der beiden größten dänischen Fernsehanbieter DR und TV 2 wider, die beide ihren Streaming-Diensten im digitalen Wandel Vorrang einräumen, obwohl es erhebliche Unterschiede sowohl im Geschäftsmodell als auch in der Regulierung gibt: Während DR ein zu 100% öffentlich finanziertes Medienunternehmen ist, das sowohl für seine Fernseh-, Radio- und Internetkanäle öffentlich-rechtliche Verpflichtungen hat, finanziert sich TV 2 über Werbung und Abonnements, und nur sein Hauptfernsehkanal unterliegt der öffentlich-rechtlichen Regulierung. Die Angebote beider Organisationen sind beliebt: In den letzten Jahren waren die Streaming-Dienste DRTV und TV 2 Play zusammen mit Netflix die meistgenutzten Streaming-Dienste auf dem dänischen Markt, und der gemeinsame Anteil der Zuschauer:innen an den linearen Kanälen der beiden dänischen Rundfunkanstalten beträgt 81 %. Damit sind die beiden PSM-Organisationen zentrale Akteur:innen in der dänischen Medienlandschaft, und ihr schneller digitaler Wandel steht im Einklang mit der Mediennutzung der Bevölkerung.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten beim digitalen Wandel der PSM-Organisationen
Aus der neueren Literatur über den digitalen Wandel von PSM-Organisationen (Bruun, 2023; D‘Arma et al., 2021; Donders, 2019; Iordache & Raats, 2023; Lassen, in Vorbereitung) geht hervor, dass viele Faktoren den Prozess beeinflussen und dass das Ergebnis komplex ist und die Organisationen auf mehreren Ebenen beeinflusst, von der Produktion über den Vertrieb bis zur Organisationsstruktur. Das dänische Forschungsprojekt „Re-scheduling Public Service Television in the Digital Era” (Umplanung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens im digitalen Zeitalter) hat erhebliche Veränderungen in der Produktionskultur und Anpassungen des Produktionswerts der Programme als Teil des digitalen Übergangs dokumentiert (Bruun, 2023; Bruun und Lassen, in-press; Lassen, 2023; Lassen, in Vorbereitung). Während einige Tendenzen in den Forschungsbeiträgen über alle Fälle hinweg zu finden sind, z. B. die rhetorische Legitimierung der Einführung von Streaming-Diensten und die Konzentration auf Konsolidierung und Qualität, betonen D‘Arma und
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Kollegen (2021, S. 695), dass einige Strategien von den nationalen Kontexten abhängig sind. Vorläufige Ergebnisse des länderübergreifenden Projekts Public Service Media in the Age of Platforms unterstützen diese Schlussfolgerung. Das Projekt zeigt, dass PSM-Organisationen in Nord(Dänemark), Süd- (Italien), Ost- (Polen) und Westeuropa (Belgien und Vereinigtes Königreich) in Bezug auf die Struktur der Streaming-Dienste viele Ähnlichkeiten aufweisen (Bruun und Lassen, in Vorbereitung). In Bezug auf die Inhaltsstrategie, die Zielgruppe und die Veröffentlichungspraktiken zeigen sich jedoch unterschiedliche Muster. Vergleichende Analysen der beiden dänischen PSM-Organisationen zeigen, dass Regulierung und Geschäftsstrategie – vielleicht überraschenderweise – bei der Gestaltung des digitalen Wandels weniger zu sagen haben als kulturelle Bedingungen, globaler Wettbewerb und die Mediennutzung der Bevölkerung (Bruun 2023; Lassen, im Erscheinen).
Die Herausforderung des breiten versus des personalisierten Angebots
Als DRTV und TV 2 Play vor mehr als zehn Jahren eingeführt wurden, war das Zielpublikum die jüngere Zielgruppe, da diese als „First Mover” und damit als „Streamer” galt. Im Zuge der Digitalisierung in Dänemark und der zunehmenden Akzeptanz des On-Demand-Fernsehens auch durch die älteren Generationen haben beide dänischen PSM-Organisationen ihr Fernsehangebot neu strukturiert und ihre StreamingDienste als Eingangstür zum gesamten Fernsehangebot für die gesamte Bevölkerung verbalisiert (DR 2018, S. 4; TV 2 2021, S. 9). Dies ist zwar als sinnvolle Strategie zur Bereitstellung eines Universaldienstes in einer digitalen Gesellschaft zu betrachten, stellt aber eine Herausforderung für die Unternehmen dar: Im Gegensatz zum Multi-Channel-Portfolio gibt es nur einen Zugang zum Online-Angebot, und wie soll man mit einer standardisierten Landing Page eine vielfältige Nutzergruppe ansprechen? Als SVoD-Dienst hat TV 2 Play schon immer ein Log-in verlangt und konnte so das Angebot personalisieren. Als kostenloser VoDDienst hat DR jedoch – bis jetzt – uneingeschränkten Zugang zu DRTV angeboten und argumentiert, dass dies für die öffentlich-rechtliche Identität der Organisation wichtig sei. Aufgrund des verschärften Wettbewerbs wird DR jedoch im Frühjahr 2024 eine Anmeldepflicht einführen, wenn die Nutzer:innen auf die On-Demand-Inhalte zugreifen möchten. Eine Anmeldung anstelle eines uneingeschränkten Zugangs widerspricht in gewisser Weise der Idee der Universalität und ist daher für einen PSM-VoD-Dienst unangebracht. Die Absicht ist jedoch, dass das verbesserte Wissen über die Nutzer:innen eine Segmentierung und eine verfeinerte Personalisierung ermöglicht und so DR dabei hilft, die Nutzer:innen anzuziehen und zu halten, die sich an ein personalisier-
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tes Angebot bei konkurrierenden Diensten gewöhnt haben. Auch wenn DR verspricht, dass die menschliche Kuration bei der Priorisierung des Angebots weiterhin im Mittelpunkt steht, ist die Personalisierung eines PSM-Dienstes ein Dilemma. Wenn die Nutzer:innen DRTV verlassen, verliert die PSM-Organisation ihre gesellschaftliche Bedeutung und Legitimität. Die Gewinnung und Bindung von Nutzern:innen dürfen jedoch nicht auf Kosten eines vielfältigen Angebots und des gemeinsamen nationalen Gesprächs gehen. Der DR steht also vor der schwierigen Aufgabe, den Dienst zu personalisieren, ohne zu einer Zersplitterung der Öffentlichkeit beizutragen.
Eine private nationale Partei?
Eine Bewertung des „prime space“ (d. h. der prominentesten Positionen oben auf der Startseite) von DRTV und TV 2 Play zeigt, dass beide Dienste das gemischte Programmangebot aus der Ära der Einkanalprogramme nachahmen, indem sie ein vielfältiges Angebot nach Genres präsentieren (Bruun und Lassen, in Vorbereitung). Diese Praxis steht im Einklang mit der Strategie, die Streaming-Dienste zu Eingangstoren für das gesamte Fernsehangebot zu machen, und sie steht im Gegensatz zur Praxis der meisten anderen Dienste in unserer länderübergreifenden Studie, die einen engeren Fokus auf Fiktion und Unterhaltung ausüben. Vielfalt ist jedoch mehr als nur die Vielfalt der Genres. Hoffman-Riem (1987, S. 61) erwähnt zum Beispiel die Vielfalt der Formate und Themen, die Vielfalt der Personen und Gruppen und die geografische Vielfalt. Was die geografische Vielfalt betrifft, so besteht in der derzeitigen Praxis der untersuchten PSM-Organisationen eine Herausforderung: In den Ergebnissen sowohl des dänischen als auch des länderübergreifenden Forschungsprojekts zeigt sich eine klare Tendenz der PSM-Organisationen, nationale Inhalte in den Vordergrund ihrer Streaming-Dienste zu stellen. Diese Praxis kann sowohl als eine Möglichkeit interpretiert werden, sich im Wettbewerb mit SVoD-Diensten und anderen globalen Medienangeboten zu profilieren, als auch als eine Möglichkeit, (nationale) politische Unterstützung für den Fortbestand der PSM-Organisationen zu erhalten. Die Förderung der nationalen Kultur, Identität und Sprache ist traditionell eine Kernaufgabe der PSM (Lassen, 2013; Van den Bulck, 2001), und ein Gegengewicht zur amerikanischen und britischen Dominanz bei SVoD-Diensten zu bilden, ist zweifelsohne eine wichtige Rolle der PSM-Organisationen. Eine enge Konzentration auf einheimische Produktionen schränkt jedoch die Vielfalt des Angebots ein. Die EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste verpflichtet die Mitgliedstaaten, europäische Werke in Abrufdiensten hervorzuheben (Richtlinie 2018/1808, Artikel 13.1).
Auch wenn dies höchstwahrscheinlich die Vielfalt des Angebots erhö -
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hen wird, wirft es einige Fragen auf: Wann wird ein Programm an prominenter Stelle angezeigt? Wie lässt sich die Verpflichtung umsetzen, ohne die redaktionelle Freiheit der PSM-Organisationen zu verletzen? Wird die Sichtbarkeit von mehr europäischen Inhalten die Reichweite der nationalen PSM-Streamingdienste beeinträchtigen? Die Antwort auf die letzte Frage lautet: Wahrscheinlich nicht. In den letzten Jahren haben Serien wie „La casa de papel”, „Babylon Berlin” und mehrere schwedische Krimiserien viele Zuschauer:innen in Dänemark angezogen. Aber was ist mit sachlichen Inhalten? Was ist mit Dokumentarfilmen, einem Genre, das von Bruun und Bille (2022, S. 80) als zentraler öffentlicher Dienst bezeichnet wird? Die Präsentation einer Vielzahl europäischer Dokumentarfilme ist zumindest in Dänemark noch relativ unbetretenes Land. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, das Angebot an europäischen Inhalten zu erweitern, nicht nur im Hauptprogramm, sondern im gesamten Angebot von DRTV und TV 2 Play, ohne die nationale Identität zu gefährden.
Schlussfolgerung
In vielerlei Hinsicht geht es bei der derzeitigen Aufgabe der PSM-Organisationen darum, ein Gleichgewicht herzustellen: Ein Gleichgewicht zwischen den Sendeplätzen, ein Gleichgewicht zwischen den Programmtypen, ein Gleichgewicht zwischen einem universellen Angebot und einem personalisierten Service und ein Gleichgewicht zwischen der Unterstützung der nationalen Kultur, Identität und Sprache und der Egozentrik. In diesen herausfordernden Dilemmata ist es von entscheidender Bedeutung, dass den Organisationen freie Hand gelassen wird (politisch und wirtschaftlich), um sich im Einklang mit der Mediennutzung der Bevölkerung zu entwickeln. Aber selbst in Dänemark, einem Land mit allgemeiner Unterstützung für die PSM und einer hohen Reichweite ihrer Dienste, ist der digitale Wandel nicht einfach. Um relevant zu bleiben, müssen die PSM attraktiv bleiben und sich abheben. Wie ich bereits dargelegt habe, wird dies derzeit durch eine starke Konzentration auf einheimische Produktionen bei den Streaming-Diensten in die Praxis umgesetzt. Ein größeres Angebot an europäischen (sowie anderen nicht angelsächsischen und nicht US-amerikanischen) Inhalten würde jedoch die Vielfalt stärken und könnte im Idealfall zu einem besseren Wissen und Verständnis über die Grenzen hinweg führen.
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Literaturverzeichnis
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Julie Münter Lassen’s work is funded by The Independent Research Fund Denmark, ID No. 1024-00001B and by Horizon 2020, ID No. 952156.
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IST ES KALT.
DIE ÖFFENTLICHEN MEDIEN MÜSSEN UNS VOR DEM WINTER SCHÜTZEN UND
UNS WARMHALTEN.
ASS.PROF. ANDRES JÕESAAR, PHD UNIVERSITÄT TALINN
George R.R. Martins prophetische Warnung in „Game of Thrones”, dass „der Winter kommt”, ist wahr geworden. Unsere zivilisierte Welt steht unter dem brutalsten Angriff in der Ukraine. Der Feind hat dort die Mauer durchbrochen. Anderswo auf der Welt hält die Mauer stand. Aber der Informationskrieg hat die Mauer schon viel früher überwunden. Der giftige Äther des Informationskriegs versucht, in unsere Häuser einzudringen und unseren Verstand im Dienste des Bösen zu unterjochen. Russland wählt nicht die Mittel des Krieges. Seine außerordentlich eklatanten Lügen kennen keine Grenzen. Deshalb ist die Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien in der heutigen Kriegssituation besonders wichtig. Die öffentlich-rechtlichen Medien müssen außergewöhnlich stark sein – ihre Informationen müssen wahrheitsgemäß sein, sie müssen eine glaubwürdige und vertrauenswürdige Informationsquelle sein, an die sich die Menschen zuerst wenden. Sie müssen immer da sein. Sie müssen für jeden, überall, kostenlos und auf allen Plattformen verfügbar sein. Neben den Nachrichten und dem aktuellen Zeitgeschehen muss das Angebot so breit gefächert sein, dass es alle anspricht –- von Kindern bis zu älteren Menschen, von Musik-, Kunst-, Natur- und Sportliebhaber:innen bis zu denen, die hochwertige Unterhaltung suchen.
Der Beitrag der öffentlich-rechtlichen Medien zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und zur Schaffung einer kohärenten Informationslandschaft ist besonders wichtig. Fast ein Viertel der estnischen Bevölkerung ist russischsprachig. Aufgrund der komplizierten Geschichte des Landes haben nicht alle Mitglieder dieser Gemeinschaft die estnische Sprache gelernt. Ihr Informationsraum ist auf Russisch. Gleichzeitig gibt es nicht genug von ihnen, um die Rentabilität der Erstellung von Informationen in russischer Sprache für die privaten Medien zu gewährleisten. Die Schaffung russischsprachiger Medien auf kommerzieller Basis ist zu kostspielig und rechnet sich nicht. Dies ist ein kritisches Marktversagen. Den öffentlichen Medien kommt eine verantwortungsvolle Rolle zu, wenn es darum geht, die durch die Sprachbarriere verursachte Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Eine der Ursachen für diese Spaltung ist die jahrzehntelange feindliche Propaganda aus Russland. Für einen großen Teil der rus-
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ESTONIA | ESTLAND | DRAUSSEN
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sischsprachigen Gemeinschaft in Estland waren die Fernsehsender und Portale der Russischen Föderation die einzige Informationsquelle und prägten ihr Weltbild. Nach den EU-Sanktionen sind russische Fernsehsender in Estland verboten, aber verschiedene technische Lösungen ermöglichen es, sie weiterhin zu sehen. Menschen, die in radikal unterschiedlichen Informationsräumen leben, können niemals eine zusammenhängende Gesellschaft bilden. Es muss ein gemeinsamer Informationsraum geschaffen werden, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken. Doch anders als in Russland können die Menschen in einer demokratischen Gesellschaft nicht zur Teilnahme an diesem Informationsraum gezwungen werden. Um die Präferenzen der Bürger:innen beim Informationskonsum im russischen Informationsraum zu ändern, muss man ihnen etwas Wertvolleres und Einzigartiges bieten. Öffentliche Medien sind dazu besser in der Lage als private Medien. Nach der Besetzung der Krim durch Russland hat der öffentlichrechtliche estnische Rundfunk (ERR) 2015 den russischsprachigen Fernsehkanal ETV+ und die dazugehörige Online-Umgebung gestartet. Dies hat die Einschaltquoten und die Bedeutung russischer Propagandakanäle als Informationsquelle erheblich reduziert. Während früher russische Fernsehsender die Hauptinformationsquellen für die russischsprachige Gemeinschaft waren, hatte ihre Bedeutung bis 2020 bereits abgenommen, und der ERRFernsehkanal ETV+ und das Portal rus.err.ee waren zu den wichtigsten Informationsquellen geworden. Die tägliche Arbeit zur Schaffung einer besser informierten russischsprachigen Bevölkerung geht weiter.
Heute müssen wir uns neben den alltäglichen Aktivitäten auch auf den schlimmsten Fall vorbereiten. In den an Russland angrenzenden Ländern ist bekannt, dass es nur wenige Minuten dauern würde, bis russische Raketen unsere Städte erreichen. Wir müssen auf eine solche Situation vorbereitet sein. Die ERR muss auch einen Notfallplan für den Fall eines Krieges haben. Es muss Schutzräume und Ateliers an sicheren Orten geben. Für den schlimmsten Fall muss gewährleistet sein, dass die öffentlichrechtlichen Medien vom Ausland aus weiterarbeiten können. Und die Vervielfältigung aller wertvollen digitalen Archive in ein sicheres nationales Repository muss gewährleistet sein.
All dies – von der täglichen Qualitätsarbeit bis hin zur Vorbereitung auf den Krieg, mit der Zustimmung und Aufmerksamkeit des Publikums – ist wirklich ein langfristiger, umfassender Plan. Es hat keinen Sinn, Infrastrukturen und technische Kapazitäten aufzubauen, wenn das Publikum sich davon distanziert oder das Vertrauen in sie verloren hat. Selbst die sicherste technische Lösung nützt nichts, wenn es keine hochwertigen Inhalte gibt, die das Publikum ansprechen. Die Pandemie war eine gute Lektion: In Zeiten der Unsicherheit waren die öffentlichen Medien die erste Informationsquelle.
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Den ERR-Kanälen wurde und wird mehr Vertrauen entgegengebracht als anderen Medien. Menschen, die den Ratschlägen dieser Kanäle folgten, waren mental besser in der Lage, die Schwierigkeiten zu bewältigen. Es gab jedoch auch viele, die in den zahlreichen und oft widersprüchlichen Informationsquellen keine Unterstützung mehr fanden. Die Medienforschung zeigt, dass diese Menschen verwirrt waren und in Ermangelung einer Lösung beschlossen, ihren Medienkonsum deutlich zu reduzieren. In den schlimmsten Fällen kapselten sie sich in extremistischen Gruppen ab und gerieten unter den Einfluss von Verschwörungstheorien. Es liegt in der menschlichen Natur, dass schwierige Zeiten die Seele überwältigen. Kriege tun dies auf eine besonders harte Weise. Wir müssen einen Weg finden, um diese Menschen in den sicheren Informationsraum der öffentlichen Medien zurückzubringen.
Es ist die Aufgabe der öffentlichen Medien, die schwächeren Gruppen der Gesellschaft zu erreichen und zu unterstützen. Die öffentlich-rechtlichen Medien in kleinen Ländern müssen jetzt auch eine besonders wichtige Rolle beim Schutz gefährdeter, einzigartiger nationaler Kulturen und Sprachen spielen. Durch den Krieg ist diese Aufgabe noch wichtiger geworden. Um diese verantwortungsvolle Aufgabe erfüllen zu können, brauchen sie einen soliden Rechtsrahmen, der ihre Unabhängigkeit und eine angemessene Finanzierung garantiert.
Trotz des Gewichts der vorgebrachten Argumente gibt es in Estland auch Stimmen, die Einschränkungen für die Tätigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien fordern. In der Kritik der privaten Medien an der ERR wird ihr vorgeworfen, dass sie angeblich in den freien Markt eingreift, indem sie insbesondere die Rentabilität der Printmedien, die ins Internet abgewandert sind, verringert. Ein faires Gleichgewicht zwischen diesen beiden Argumenten in einem dualen Mediensystem zu finden, ist seit mehreren Jahrzehnten eine Herausforderung für Medienpolitiker:innen. Öffentliches Gut versus private Wirtschaftsleistung? Die Forschung bestätigt die Ausrichtung der nationalen Medienpolitik auf Letzteres, wobei das wirtschaftliche Wohlergehen die dominierende Kategorie der Kommunikationspolitik in der westlichen Welt ist. In den Vereinigten Staaten sind wir mit einem Mediensystem vertraut, das ausschließlich auf kommerzielle Medien ausgerichtet ist. Anstelle eines ausgewogenen Medienduos haben wir in den USA politisch aufgeladene, polarisierte Medien, die zur Spaltung der Gesellschaft geführt haben. Ausgewogene öffentlich-rechtliche Medien, die einen Dialog zwischen verschiedenen Parteien ermöglichen, wurden an den Rand gedrängt. Dies ist ein abschreckendes Beispiel dafür, was in der Gesellschaft passiert, wenn die Rolle der öffentlichen Medien in der Gesellschaft nicht verstanden wird und ihre Lebensfähigkeit auf nationaler Ebene nicht gewährleistet ist.
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Neben den politischen Bedrohungen für die öffentlich-rechtlichen Medien sind auch die Medien als Ganzes bedroht. Die Bereitstellung von Medieninhalten, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen, entgleitet den traditionellen Medienhäusern und wird von Algorithmen kontrolliert, die von Social-Media-Plattformen gesteuert werden. Gleichzeitig haben es die Regulierungsbehörden versäumt, nationale und lokale Medien in einem ungleichen Kampf mit globalen Plattformen zu schützen. Die großen Social-Media-Plattformen nehmen mehr als die Hälfte der lokalen Werbegelder von kleinen Märkten ein. Die negative Folge dieser Situation, insbesondere in kleinen Märkten, ist der Druck zur Medienkonzentration und das Verschwinden der lokalen Medien. Das Paradoxon der Medienwirtschaft ist in kleinen Ländern besonders akut – eine Pluralität der Medien wäre notwendig, um Meinungspluralismus im sozialen Informationsraum zu gewährleisten, während kleine Medienunternehmen nicht besonders wettbewerbsfähig sind. Unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Erfolgs sollte die Zahl der konkurrierenden Unternehmen so gering wie möglich sein. Eine hohe Medienkonzentration – eine monopolartige Marktstellung – würde den Eigentümer:innen die höchsten Gewinne garantieren. Ein Monopol im Bereich der Information ist jedoch äußerst gefährlich für die Entwicklung der demokratischen Gesellschaft insgesamt. Russland ist hier das brutalste Beispiel.
In einem angespannten Umfeld werden die privaten Medien versuchen, ihre Notlage nicht nur durch die Konzentration ihres Geschäfts, sondern auch durch die Einschränkung der Aktivitäten der öffentlichen Medien zu beheben. Dies ist insbesondere im Internet der Fall, wo argumentiert wird, dass der Online-Journalismus den traditionellen Printmedien vorbehalten sein sollte und dass sich die öffentlich-rechtlichen Medien darauf beschränken sollten, für Radio und Fernsehen produzierte Inhalte im Internet zu duplizieren. Gleichzeitig hat sich der Medienkonsum der Menschen in den letzten zehn Jahren erheblich verändert. Fernsehen und Radio sind nicht mehr die Hauptinformationsquellen. Vor allem für jüngere Menschen. Da die öffentlich-rechtlichen Medien für alle kostenlos zugänglich sein sollen, reichen zwei traditionelle Medienplattformen – Radio und Fernsehen – nicht mehr aus, um diese Aufgabe zu erfüllen. Um ein gleichwertiges öffentliches Gut für alle Teile der Gesellschaft zu bieten, müssen die öffentlich-rechtlichen Medien ihre Inhalte und Dienste auch online anbieten. Jüngere Altersgruppen dürfen durch die Technologie nicht diskriminiert werden. Wir müssen mit den Veränderungen der Mediennutzungsgewohnheiten Schritt halten. Wir müssen innovativ sein – mit neuen Formaten und Wegen der Bereitstellung von Inhalten experimentieren und neue technologische Lösungen entwickeln. So werden zum Beispiel lange Radio-Talkshows durch Podcasts ersetzt, deren Aus-
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züge über soziale Medien ebenso verbreitet werden können wie die traditionellen linearen Radiosendungen. Um junge Menschen mit Nachrichten zu versorgen, muss man sich an Orte begeben, an denen sich junge Menschen aufhalten, und mit aussagekräftigen, aufmerksamkeitsstarken Botschaften an den Hotspots der Information präsent sein. Noch besser ist es, wenn man den jungen Menschen einen wünschenswerten, sicheren Treffpunkt bieten kann, der sie von den Wellen der Algorithmen des Informationsozeans fernhält.
Vor einem Jahrhundert bestand der Zweck des öffentlich-rechtlichen Rundfunks darin, zu informieren, zu unterhalten und zu bilden. Alle drei waren mehr oder weniger gleich wichtig. Heute ist die Information sicherlich die wichtigste dieser drei Aufgaben. Die öffentlich-rechtlichen Medien müssen vor allem eine zuverlässige, ausgewogene und sachliche Informationsquelle sein, die für alle kostenlos und überall zugänglich ist. Nur gut informierte Menschen können die richtigen Entscheidungen treffen, um zur Entwicklung der Gesellschaft beizutragen. Aber der Weg dorthin sollte durch gute Unterhaltung unterstützt werden.
Im Laufe der Jahrhunderte wurden die öffentlich-rechtlichen Medien angeführt, um ihre wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Demokratie zu rechtfertigen, um Pluralismus zu gewährleisten und allen Bürger:innen die gleiche Gelegenheit zu geben, über Themen von gesellschaftlicher Bedeutung zu denken und zu sprechen. Es gibt natürlich noch viele andere Begründungen, aber die prägnanteste lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die öffentlich-rechtlichen Medien helfen den Menschen, die Welt zu verstehen und an ihr teilzuhaben, sie helfen den Menschen zu leben. Um anderen zu helfen, muss der Helfer gesund und fit sein.
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AUFBAU UND ERFAHRUNG VON MEDIENVERTRAUEN IN DEN NORDISCHEN LÄNDERN
DR. IN MINNA HOROWITZ, UNIVERSITÄT HELSINKI
MIKKO GRÖNLUND, MSC, UNIVERSITÄT TURKU
DR. IN KATJA LEHTISAARI, UNIVERSITÄT TAMPERE
In der aktuellen Ära der „Polykrisen” (vgl. Zeitlin et al. 2019) und einer vielfältigen und komplexen Medienlandschaft wird es für die Bürgerinnen und Bürger immer schwieriger und wichtiger, zuverlässige Inhalte zu finden. Das Vertrauen der Bürger:innen in Informationsinstitutionen wie die Medien ist für die Demokratie unerlässlich. Doch zuerst muss sich der Journalismus dieses Vertrauen verdienen…
Die nordischen Länder werden als „Medienwohlfahrtsstaaten” bezeichnet (Syvertsen et al. 2014), die sich unter anderem durch das Erbe starker nationaler gemischter Mediensysteme auszeichnen, in denen öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten (PSB) eine entscheidende Rolle spielen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben auch bei der Digitalisierung eine Vorreiterrolle eingenommen und sich schon früh zu öffentlich-rechtlichen Medien (PSM) entwickelt, die eine Vielzahl von Inhalten und Diensten in verschiedenen Formaten und auf verschiedenen Plattformen anbieten, darunter auch in den sozialen Medien. Sie haben auch schnell auf Herausforderungen wie COVID-19 (vgl. Horowitz & Leino 2020) oder Desinformation (z. B. Horowitz & Nieminen 2024) reagiert.
Dennoch sahen sich viele nordische PSM in den letzten Jahren einer starken Opposition seitens ihrer nationalen kommerziellen Gegenspieler und rechtspopulistischer Politiker:innen gegenüber. Kommerzielle Medien, die um ihre Zukunft im Zeitalter der „Plattformisierung“ besorgt sind, argumentieren, dass PSM einen unangemessenen Vorteil auf dem heimischen Nachrichten- und Unterhaltungsmarkt haben und dass das Angebot der PSM deutlich reduziert werden sollte, um die „Lücke” zu füllen, indem hauptsächlich Genres angeboten werden, die kommerziell nicht rentabel sind. Das Aufkommen populistischer Politik in den nordischen Ländern, wie auch in vielen anderen Ländern, hat in Verbindung mit der Sparpolitik die Behauptungen in den politischen Debatten verstärkt, dass PSM überfinanziert – und möglicherweise politisch parteiisch – seien. (vgl. Ala-Fossi et al. 2024, im Erscheinen.)
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Der Fall der nordischen Länder ist insofern besonders interessant, als das Vertrauen in PSM im Vergleich zu vielen anderen Ländern in Europa und darüber hinaus außerordentlich hoch ist (vgl. Horowitz et al. 2023; Nielsen und Newman 2023). Außerdem sehen nordische Politiker:innen und Expert:innen für Medienkompetenz PSM als wesentlich für die Bekämpfung von Kommunikationsstörungen im heutigen multikrisenhaften Umfeld an (Karell und Horowitz 2022). Dies lässt sich zum Teil damit erklären, dass sich die nationalen Medien bewusst sind, was sie tun können und sollten, um das Vertrauen in die nationalen Legacy-Medien zu erhalten und zu stärken (Grönlund et al. 2024).
Auf der Grundlage von Publikumsanalysen (Horowitz et al. 2023), Interviews mit PSM-Fachleuten und Stakeholder:innen (Karell und Horowitz, 2022) und anderen Journalist:innen (Grönlund et al. 2024) diskutiert dieser Aufsatz die bedeutende Rolle und vor allem den Erfolg der Vertrauensbildung durch PSM in den größten nordischen Ländern Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden. Erstens wird die Multidimensionalität von Vertrauen als rationale und affektive Erfahrung des Publikums diskutiert (Horowitz et al. 2020). Zweitens wird diese Mehrdimensionalität anhand aktueller nordischer Umfragedaten mit Schwerpunkt auf PSM veranschaulicht. Drittens werden diese Ergebnisse anhand mehrerer aktuellen Analysen darüber reflektiert, wie nordische Medienschaffende Vertrauen und ihre Rolle bei der Stärkung der Beziehungen zum Publikum sehen. Abschließend werden die Auswirkungen dieser Erkenntnisse auf PSM-Strategien und -Praktiken in den nordischen Ländern und darüber hinaus diskutiert.
Medienvertrauen aus verschiedenen Perspektiven verstehen
In den meisten sozialwissenschaftlichen Studien wird die Erfahrung von Vertrauen sowohl als kognitiv als auch als affektiv verstanden, d. h. als aus rationalen Überlegungen und emotionalen Erfahrungen hervorgegangen (Warren 1999). Vertrauen in die Medien kann auf vielfältige Weise konzeptualisiert werden (Fisher et al. 2020), und die neuere Forschung hat begonnen, die Kombination verschiedener Verständnisse zu betonen, um die Multidimensionalität zu erfassen, die mit den Erfahrungen von Medienvertrauen einhergeht. Aus der Sicht des Publikums ist nicht ein einziger Faktor ausschlaggebend für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer Nachricht oder der Vertrauenswürdigkeit eines Medienunternehmens (vgl. Horowitz et al. 2021; Strömbäck et al. 2020).
In den vergangenen Jahren haben verschiedene Studien einen Rückgang des Vertrauens in Institutionen, einschließlich der Medien, dokumentiert (vgl. Edelman Trust Reports und Digital New Reports). Parallel dazu hat
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die Forschung zum Medienvertrauen zugenommen, wobei verschiedene Dimensionen der Erfahrungen des Publikums hervorgehoben wurden. Während beispielsweise die Gefühle und Erfahrungen des Publikums in Bezug auf einzelne Medienanstalten variieren können, haben sie oft eine bestimmte, relativ statische Meinung über die Medien und ihre Macht als Institution. Dies wird oft als generalisiertes Vertrauen bezeichnet (Prochazka & Schweiger 2019).
Heute hat die prominente Rolle der sozialen Medien als Quelle für Nachrichten und andere „medienähnliche” Inhalte Fragen zu ihren Auswirkungen auf das Medienvertrauen aufgeworfen. Soziale Medien werden jedoch anders betrachtet als herkömmliche Nachrichtenmedien: Das allgemeine Vertrauen erstreckt sich nicht auf Social-Media-Plattformen und -Apps. Ein Grund dafür ist, dass soziale Medien für verschiedene Zwecke genutzt werden, darunter auch zur Unterhaltung. Das Publikum kann in sozialen Medien nach Quellen suchen, denen es nicht vertraut, um alternative Ansichten und aktuelle Debatten zu erfahren (ArdèvolAbreu & de Zúñiga 2017).
Eine weitere Dimension des Vertrauens ist die Art und Weise, wie die Zuschauer:innen eine bestimmte Quelle, z. B. eine PSM-Organisation, sehen. Auch ihre Erfahrungen mit Vertrauen können je nach dem Ersteller, der Erstellerin der Inhalte oder den Journalist:innen oder sogar der Art und Weise, wie die Inhalte konsumiert werden (online, mobil), variieren (Prochazka & Schweiger 2019).
Die oben genannten Dimensionen des Vertrauens können durch die demografischen und soziografischen Merkmale und persönlichen Erfahrungen der einzelnen Zuschauer:innen und Zuschauergruppen erheblich beeinflusst werden. Die politischen Ansichten einer Person sind ein typischer Faktor, der beeinflusst, welche Quellen, Themen und Ansichten sie für vertrauenswürdig hält. Untersuchungen über populistische Einstellungen und Nachrichtenkonsum zeigen beispielsweise, dass populistische Einstellungen auch mit einem geringeren Nachrichtenkonsum korrelieren (Stier et al. 2020). Ein weiteres Beispiel ist das Alter: Der Nachrichtenkonsum junger Menschen wird durch bestimmte Situationen, individuelle Interessen und bestimmte Apps für den Zugang zu Nachrichten beeinflusst (Reuters 2019; FT/Knight Lab 2024).
Mehrdimensionalität des Vertrauens in die Erfahrungen des nordischen Publikums
Wie manifestieren sich die grundlegenden Dimensionen des Vertrauens in aktuellen Studien über das Publikum in den nordischen Ländern, hier
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vertreten durch Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden? In erster Linie verkörpern diese Länder das Vertrauen in die traditionellen Medien als Informationsvermittler und Diskussionsforen – selbst im globalen Kontext eines schwindenden gesellschaftlichen und medialen Vertrauens. So reichte in Europa im Jahr 2022 das Vertrauen in das Fernsehen von über 80 Prozent in Island bis zu nur einem Viertel der Zuschauer in Griechenland. Der weltweite Durchschnitt des Vertrauens in Nachrichten in allen Medien, basierend auf 44 Medienmärkten, lag im Jahr 2022 bei 42 Prozent. Im Gegensatz dazu reichten die Vertrauenswerte in den nordischen Ländern von 50 Prozent in Schweden bis 69 Prozent in Finnland. Umgekehrt war das Vertrauen in soziale Medien und Nachrichten über soziale Medien in den nordischen Ländern bemerkenswert niedrig. Auch zwischen diesen Ländern gab es nur minimale Unterschiede, während in Europa das Vertrauen in soziale Medien von 42 Prozent in Polen bis 7 Prozent in Schweden reichte (Eurobarometer 2022).
Eine neuere Untersuchung der oben genannten nordischen Länder (Horowitz et al. 2023) weist ebenfalls auf die robusten und ähnlichen Traditionen der nationalen Mediensysteme in den nordischen Ländern hin. Sie sind in hohem Maße digitalisiert und zeigen, wie wichtig der Konsum von Inhalten online und auf mobilen Geräten ist. Die wichtigsten Nachrichtenquellen sind in allen Ländern die gleichen. Die Befragten sollten die drei vertrauenswürdigsten Quellen wählen, und ihre Wahl war eindeutig: Nachrichtenmedien-Websites und -Apps sind überall die Nummer eins, und das Fernsehen steht an zweiter Stelle. Es folgen Radio und soziale Medien, und überraschenderweise rangiert die gedruckte Zeitung, die nach Hause geliefert wird, immer noch auf Platz 5 oder 6.
PSM: Das vertrauenswürdigste Medium
Insgesamt ist das Vertrauen in die Nachrichtenmedien in den untersuchten nordischen Ländern relativ hoch geblieben und hat in Norwegen und Schweden von Mitte der 2010er Jahre bis 2023 sogar leicht zugenommen. Die öffentlich-rechtlichen Medien spielen in diesen Mediensystemen eine wichtige Rolle und sind die vertrauenswürdigsten Nachrichtenmarken in den einzelnen Ländern. Vertrauen ist gleichbedeutend mit Reichweite: In diesen Ländern gehören PSM-Organisationen zu den beliebtesten Nachrichten online und offline (Newman et al. 2023; Horowitz et al. 2023).
Eine weitere Dimension von PSM in den nordischen Ländern ist die hohe Wertschätzung für die Bedeutung von PSM-Organisationen in ihren jeweiligen Gesellschaften. In einer Studie, die 19 Länder auf der ganzen Welt untersuchte, belegten Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden die ersten Plätze in Bezug auf das Vertrauen des Publikums und die Wahrnehmung der persönlichen und gesellschaftlichen Bedeutung von PSM
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(Nielsen & Newman 2023). Wie an anderer Stelle dargelegt, deutet dies darauf hin, dass diese Organisationen wesentliche normative Grundlagen des Medienwohls in den nordischen Ländern unterstützen (Jakobsson et al. 2023).
Bedeutung der sozialen Medien und Bewusstsein für die Herausforderungen
Auch wenn PSM und andere nationale Medien einen Teil des Medienkonsums in den nordischen Ländern ausmachen, spielen auch globale SocialMedia-Plattformen eine wichtige Rolle für das Publikum. Metas Facebook war in allen Ländern die beliebteste Website für soziale Medien, und es gab nur geringe nationale Unterschiede: So war der Facebook-Messenger in Dänemark, Norwegen und Schweden beliebt, während die Finn:innen den WhatsApp-Messengerdienst bevorzugten (Nielsen et al. 2023).
Darüber hinaus sind diese globalen Plattformen relativ bedeutende Nachrichtenquellen, und die Bedeutung von Facebook als Quelle ist offensichtlich: Im Jahr 2022 wurde dieses soziale Netzwerk von etwa einem Drittel der Nachrichtenkonsument:innen in jedem Land genutzt, um Nachrichten zu erhalten. Nachrichten werden auf diesen Plattformen auch geteilt: 15% der Menschen in Dänemark, 27% in Schweden, 25% in Norwegen und bemerkenswerterweise 29 % in Finnland teilten die Nachrichten über soziale Medien, Messaging-Apps und E-Mail (Eurobarometer 2022). Diese Statistiken sprechen für gewisse Ähnlichkeiten zwischen den nordischen Ländern in Bezug auf die relative Stabilität der nationalen Medienlandschaft und die breite Kultur des Medienvertrauens, trotz der starken Präsenz globaler Plattformen im Alltag des Publikums.
Was das allgemeine Vertrauen angeht, so zeigt die Umfrage von 2023 (Horowitz et al. 2023), dass das nordische Publikum die Medien als eine bedeutende gesellschaftliche Kraft betrachtet, die die öffentliche Meinung und die politische Entscheidungsfindung beeinflusst. Während die Befragten der Studie bei der Bewertung der Macht der Medien in der Gesellschaft nicht unbedingt zwischen klassischen und sozialen Medien unterscheiden, beziehen sich die Befragten speziell auf klassische Medien, wenn sie anmerken, dass die Berichterstattung über aktuelle Ereignisse, die Überprüfung von Fakten sowie die Analyse und Kommentierung aktueller Themen die wichtigsten Aufgaben der Medien sind.
Die Unterscheidung zwischen klassischen und sozialen Medien wird in der Studie 2023 deutlich, wenn die Befragten direkt nach ihren Erfahrungen und Ansichten zum Thema Vertrauen befragt werden. Während die Digitalisierung dazu geführt hat, dass Nachrichten online und mobil konsumiert
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werden, sind die klassischen Medien die wichtigsten Nachrichtenquellen in jedem untersuchten Land. Bemerkenswert ist, dass PSM-Organisationen das größte Vertrauen des Publikums genießen, was die Tradition des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im nordischen Medienwohlfahrtsstaatsmodell und dessen Praxis widerspiegelt. Dieses ausgeprägte Vertrauen könnte zum Teil auf das komplexe Medienumfeld und die Erfahrungen des Publikums zurückzuführen sein: Sie berichten in erheblichem Maße, dass sie sich Sorgen über Desinformation, ausländische Informationseinflüsse und Informationsüberflutung machen. Dieses Ergebnis spiegelt frühere Eurobarometer-Ergebnisse (2022) wider: Ungefähr 80 Prozent der Befragten in diesen Ländern halten Desinformation für ein Problem für die Demokratie.
Trotz des hohen Vertrauens in die traditionellen Medien kommen in den nordischen Ländern auch individuelle Aspekte der Vertrauenserfahrung zum Tragen. Die Rolle der Familie und der Freund:innen ist entscheidend für das Vertrauen der Befragten in die Medien. In ähnlicher Weise weisen alle untersuchten Länder auf ein Misstrauen der Befragten, die rechtspopulistischen Parteien nahestehen, gegenüber den etablierten Medien, insbesondere PSM, hin.
Multidimensionalität: Vertrauen und Kritik
Eine interessante Dualität in den Ansichten der Umfrageteilnehmer:innen spiegelt die Multidimensionalität von Vertrauen wider: Den alten Medien wird vertraut, aber auch kritisch gesehen, wenn es darum geht, wie verschiedene äußere Faktoren – z. B. die wirtschaftlichen Anreize von Medienunternehmen oder die politische Einstellung von Journalist:innen –den Medieninhalt und andere Funktionen beeinflussen. Eine Erklärung dafür könnte die Rolle der Medienkompetenzerziehung sein, die in allen nordischen Ländern eine wichtige Rolle spielt und die Bedeutung einer kritischen Prüfung der zugrundeliegenden Motivationen und Kontexte der Medieninhalte hervorhebt. Dieses Bewusstsein könnte auch mit der vertrauenswürdigen Rolle der alten Medien selbst zusammenhängen, da das Publikum hohe Erwartungen an die alten nationalen Nachrichten- und Journalismusquellen stellt.
Auf der Grundlage der Umfrage von 2023 (Horowitz et al. 2023) sind die Erfahrungen des Publikums mit Medien, Vertrauen und Desinformation in den vier nordischen Ländern fast identisch. Eine Erklärung dafür ist das nordische Medienwohlfahrtsstaatsmodell und seine Grundsätze eines gemischten Mediensystems mit einem Konsens in der Medienpolitik, redaktioneller Freiheit und allgemeinem Zugang zu den Medien. Wie an anderer Stelle dargelegt wurde (Ala-Fossi 2020), existiert dieses Modell möglicherweise nicht mehr in seiner idealen Form. Die Herausforderungen, die in
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den meisten Ländern aufgrund der Digitalisierung und der Plattformisierung bestehen – wie die rasche Zunahme von Informationsstörungen, das schwindende Vertrauen in einige Wissensinstitutionen, die politische Polarisierung und die Fragmentierung der Nachrichtenkonsumgewohnheiten – lassen sich ebenfalls aus den Umfrageergebnissen ablesen, selbst wenn diese Trends bescheiden ausfallen.
Die Ansichten der nordischen Stakeholder zu Publikum, Vertrauen und PSM
Wie werden das Vertrauen in die Medien und insbesondere die Rolle von PSM einerseits von PSM-Fachleuten und andererseits von anderen Entscheidungsträger:innen in den Medien, politischen Experten und Akteuren im Bereich Medienkompetenz gesehen, die sich mit Informationsstörungen und der Medienlandschaft, einschließlich des Vertrauens des Publikums in die Medien, in den nordischen Ländern beschäftigen?
Wachsende Herausforderungen durch die sozialen Medien
Die Interview- und Umfragesegmente der Studie über die Rolle von PSM bei der Bekämpfung von Informationsstörungen in den nordischen Ländern (Dänemark, Finnland, Schweden und Norwegen; Karell & Horowitz 2022) deuten darauf hin, dass das Vertrauen in PSM und redaktionelle Medien in den nordischen Ländern zwar insgesamt hoch ist, viele PSM-Expert:innen jedoch über soziale Medien als Verbreitungsplattform für Nachrichten besorgt sind. In allen Programmen sind die traditionellen PSM-Fernseh- und Radiokanäle und die Websites der Unternehmen immer noch sehr beliebt bei den Zuschauern, aber auf den Plattformen der sozialen Medien vollziehen sich rasche Veränderungen. Soziale Netzwerke setzen das Publikum Desinformationen und anderen nicht-redaktionellen Inhalten aus und stellen für PSM in mehrfacher Hinsicht ein Problem dar: Soziale Medien und andere Plattformen stellen die Prozesse der Nachrichtenproduktion, die Verbreitungsstrategien und die Beziehungen zu Wettbewerbern in Frage. Ihre Bedeutung für den Medienkonsum der Menschen, die auch in den Publikumsumfragen (siehe oben) deutlich wird, zwingt die PSMOrganisationen dazu, ihre journalistischen Werkzeuge und Fähigkeiten aufzurüsten, und gibt gleichzeitig Anlass zur Sorge um die Sicherheit und das Wohlergehen der Journalist:innen aufgrund der zunehmenden Belästigung (z. B. Hiltunen 2021).
In den Kommentaren der PSM-Expert:innen wird außerdem darauf hingewiesen, dass die Unterscheidungen und Grenzen zwischen den herkömmlichen Medien und den sozialen Medien verschwimmen, was dazu führt, dass PSM zu einem Teil des Informationsüberflusses wird. Die zunehmende Polarisierung und Fragmentierung kann dazu führen, dass sich eini-
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ge Publikumsgruppen aktiv abschalten. Andere wiederum bleiben eher passiv, weil es ihnen schwerfällt, sich in einer zunehmend komplexen und überfüllten Informationslandschaft zurechtzufinden. Es wird immer wichtiger, dem Publikum die Rolle der PSM zu vermitteln und dabei den Schwerpunkt auf Unabhängigkeit und Zuverlässigkeit zu legen, um eine hohe Reichweite und Vertrauen zu erhalten. Eine weitere Herausforderung ist die mangelnde Zusammenarbeit mit kommerziellen Medien. Viele Befragte sehen die Notwendigkeit einer gemeinsamen Front zwischen den Medienorganisationen. Die teilweise negative Haltung kommerzieller Konkurrenten gegenüber PSM stellt jedoch ein Hindernis dar, und einige nordische Länder sehen sich auch mit Herausforderungen seitens politischer Akteure konfrontiert (siehe Ala-Fossi et al., 2024).
Besorgnis über Polarisierung
Einige PSM-Befragte erwähnten das Risiko der Polarisierung in den nordischen Gesellschaften. Eine der größten Herausforderungen für PSM ist es, alle mit den benötigten Informationen zu versorgen, ihre Ansichten zu respektieren und gleichzeitig die vertrauenswürdigste und am meisten geschätzte Quelle zu bleiben.
Die Gefahr der Polarisierung war auch eine der Hauptsorgen, die in den Kommentaren der Journalist:innen und Politikexpert:innen außerhalb der PSM-Organisationen zum Ausdruck kamen. Auch sie betonten, wie wichtig es ist, alle Publikumsgruppen – verschiedene Generationen und Minderheiten, einschließlich sprachlicher Minderheiten, sowie das gesamte politische Spektrum – über alle möglichen Vertriebskanäle zu erreichen. PSM-Organisationen müssen Publikumsgruppen erreichen, die für die etablierten Medien kommerziell uninteressant sind und die sich andernfalls an alternative, marginale Informationsquellen wenden könnten. Die Steigerung der Einschaltquoten unter jungen Menschen sollte für alle PSM eine Priorität bleiben. In Bezug auf die Reichweite wurde auch die Bedeutung der Tradition einer starken lokalen PSM-Nachrichtenproduktion erwähnt, ebenso wie die Stärkung des Vertrauens und die Sicherstellung der Zuschauerreichweite in Krisenzeiten (Horowitz et al. 2023).
Chancen im digitalen Zeitalter
Die befragten PSM stellen fest, dass ein zentraler Faktor, der die Rolle der nordischen PSM unterstützt, die frühe Einführung digitaler Kanäle ist. Dies hat zu einer guten Beziehung zu den neuen Generationen von Konsumenten digitaler Medien geführt, auch wenn das Erreichen eines jüngeren Publikums eine ständige Herausforderung für alle traditionellen Medien darstellt. Alle PSM-Organisationen in den untersuchten Ländern investieren in Kinderprogramme, bieten spezielle Nachrichtensendun-
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gen und arbeiten mit Schulen zusammen. Diese solide Reputation und ihr digitaler Ansatz ermöglichen es PSM, mit neuen Tools und Technologien innovativ zu sein.
Aus den Kommentaren der PSM-Befragten geht hervor, dass sie ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen den Zuschauer:innen und PSM erkennen. Laut den Kommentaren der PSM-Expert:innen bringt diese herausgehobene Position jedoch auch die Verantwortung mit sich, den Erwartungen des Publikums gerecht zu werden. Das hohe Niveau des Medienkonsums und der Medienkompetenz in den nordischen Ländern stärkt das Bewusstsein für die Bedeutung vertrauenswürdiger Qualitätsinhalte und ethischer Standards. Dies spiegelt sich auch in der Umfrage von 2023 wider: Weiße Medien, insbesondere PSM, werden als vertrauenswürdig angesehen, und das Publikum ist auch sehr kritisch gegenüber möglichen Verzerrungen in den Nachrichtenmedien: Ein hohes Maß an Vertrauen schafft hohe Erwartungen bei den Zuschauer:innen.
Eine gewisse Unterstützung für PSM kommt auch von den kommerziellen Medien. In einer Umfrage unter Chefredakteur:innenen in Finnland hielten die meisten Befragten die Rolle von Yle, dem öffentlich-rechtlichen Medienunternehmen, in den finnischen Nachrichtenmedien für wichtig. Laut einer kürzlich durchgeführten Studie (Lehtisaari et al. 2024) ist die Mehrheit der Chefredakteur:innen kommerzieller finnischer Medien der Meinung, dass Yle die Vielfalt der Nachrichtenmedieninhalte erhöht und das finnische Ökosystem der Nachrichtenmedien stärkt. Die Hälfte der Redakteur:innen war jedoch der Meinung, dass die staatlichen Beihilfen, die Yle erhält, den Wettbewerb der Nachrichtenmedien verzerrt. Umgekehrt sah fast jeder Dritte die Finanzierung nicht als wettbewerbsverzerrend an. Auch bei der Frage, ob Yle seine Nachrichtenaktivitäten ausschließlich auf Radio und Fernsehen konzentrieren sollte, waren die Meinungen geteilt. Etwa die Hälfte (46 %) der Befragten sprach sich dafür aus, die Nachrichtenaktivitäten von Yle auf die traditionellen Medien zu konzentrieren, während ein ähnlicher Anteil (43 %) damit nicht einverstanden war (Lehtisaari et al. 2024).
In der Studie aus dem Jahr 2022 (Karell & Horowitz 2022) wiederholten die Interessengruppen außerhalb der PSM die beiden grundlegenden Strategien, die den PSM in den nordischen Ländern zur Verfügung stehen: Erstens: Kontinuierlicher, qualitativ hochwertiger, vertrauenserweckender Journalismus und Programme, die sich mit spezifischen Phänomenen der Informationsstörung befassen, sei es im Nachrichtenjournalismus oder in Bildungsprogrammen, müssen die primäre Inhaltsstrategie sein. Zweitens sind Kooperationen eine unzureichend genutzte Möglichkeit, um Ansätze
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gegen Informationsstörungen zu verstärken und Vertrauen aufzubauen; und PSM sollte die Zusammenarbeit mit akademischen Einrichtungen, Forscher:innen, Think Tanks, Faktenprüfer:innen und relevanten Behörden verstärken.
Diskussion und Schlussfolgerungen: Implikationen für PSM
Diese Analyse des nordischen Publikums und der Medienschaffenden verdeutlicht die Komplexität des Aufbaus von Vertrauen in dem herausfordernden aktuellen Medienökosystem mit fragmentiertem Publikum und verschiedenen Informationsstörungen. Diese Herausforderungen sind weltweit zu beobachten. Nimmt man die Erkenntnisse über die Multidimensionalität des Medienvertrauens als eine komplexe Erfahrung, die von der nachgewiesenen Wahrhaftigkeit des Inhalts und der individuellen Disposition (Demografie, Einstellungen, Werte) abhängt, bedeutet dies für das PSM, dass die Strategien zur Stärkung des Medienvertrauens ebenfalls multidimensional sein müssen.
Zweifellos sind überprüfte, wahrheitsgemäße Inhalte ein wesentlicher Aspekt der Vertrauensbildung. Das Potenzial von PSM, das Vertrauen des Publikums in geteiltes Wissen zu stärken, zeigt sich im Europäischen Medienfreiheitsgesetz, das die zentrale Bedeutung und Notwendigkeit unabhängiger und angemessen finanzierter PSM in den Mitgliedstaaten hervorhebt (EU 2024). In der Tat weisen einige Studien darauf hin, dass PSM mit den demokratischen Praktiken einer Nation korreliert (EBU 2023a) und ein wichtiger struktureller Faktor für die nationale Widerstandsfähigkeit gegen Online-Desinformation ist (Humprecht et al. 2020).
Ein weiteres Element des vertrauensbildenden Potenzials von PSM, das mit der Wahrhaftigkeit der Inhalte zusammenhängt, ist die Unabhängigkeit der PSM-Organisationen von kommerziellen Imperativen. In Anbetracht der zentralen Rolle von PSM im nordischen Modell sind das hohe Vertrauen der Zuschauer in PSM und ihr Verständnis von PSM als einer wichtigen Institution der eigenen Gesellschaft (Nielsen & Newman 2023) keine überraschenden Ergebnisse. Ein vielleicht eher unerwartetes Umfrageergebnis ist das äußerst kritische Bewusstsein des nordischen Publikums für die marktorientierten Prioritäten der übrigen nationalen Mediensektoren. PSM kann in den Augen des Publikums einen explizit zum Ausdruck gebrachten Wettbewerbsvorteil haben, weil sie nicht mit denselben Strategien konkurrieren muss wie ihre kommerziellen Gegenspieler:innen. Die vielleicht bemerkenswerteste Erkenntnis aus unserer Analyse ist jedoch, dass, während kommerzielle und politische Akteur:innen den Auftrag und die Finanzierung in vielen nordischen Ländern weiterhin in Frage stellen (z. B. Ala-Fossi et al. 2024), überraschend viele einzelne Medienschaffende
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und andere Expert:innen die Bedeutung von PSM betonen. Sie positionieren PSM als führend in der Branche, insbesondere bei Aufgaben, die sich auf die Ansprache des Publikums als Bürger:innen beziehen, wie ethische und pädagogische Medieninnovationen. Eine andere Studie über die Rolle von PSM bei der Bekämpfung von Desinformation (Horowitz et al. 2022a) berichtet von ähnlichen Einschätzungen von Länderexpert:innen in der Tschechischen Republik, Spanien und dem Vereinigten Königreich. Dieser Befund steht in krassem Gegensatz zu den Diskursen, die von den Gegner:innen des PSM verbreitet werden: Die aufgeblähten Funktionen und Ressourcen des PSM, die den Markt verzerren, sowie spezifische politische Tendenzen in den PSM-Inhalten. Während diese Behauptungen oft ohne empirische Belege geäußert werden (z. B. Sehl et al. 2020), können sie das Vertrauen in PSM allein dadurch untergraben, dass sie in der Medienwerbung wiederholt werden (Dragomir & Horowitz 2021).
Während PSM eine eigenständige, nicht-kommerzielle und unabhängige Organisation bleiben müssen, besteht eine weitere, größtenteils ungenutzte Möglichkeit zur Vertrauensbildung in selektiven und strategischen Kooperationsprojekten zwischen nationalen Medien und anderen Wissenseinrichtungen. PSM-Organisationen arbeiten in der Regel mit Kultureinrichtungen und bis zu einem gewissen Grad auch mit Universitäten zusammen, doch Initiativen zur Vertrauensbildung in Zusammenarbeit mit anderen nationalen Medien sind selten. Dennoch ist zum Beispiel die nationale Resilienz gegen Online-Desinformation und andere globale Informationsschäden ein gemeinsames Anliegen für nationale Legacy-Medien. Ein hervorragendes Beispiel für eine gut funktionierende Zusammenarbeit bei der Überprüfung und Vertrauensbildung ist die norwegische Faktisk.no – eine unabhängige Organisation zur Überprüfung von Fakten, die in Zusammenarbeit mit PSM und zahlreichen kommerziellen Medien entstanden ist.
Angesichts des zunehmend komplexen und teilweise polarisierenden politischen Klimas in Europa, das sich auch in den nordischen Ländern im Vertrauensverhalten des Publikums gegenüber den Medien widerspiegelt, ist die Aufklärung des Publikums über die Werte und den Auftrag von PSM von entscheidender Bedeutung. Die PSM müssen ihre Rolle als wirklich unabhängige Quellen mit Werten und Grundsätzen, die unter anderem Qualitätsjournalismus und Stimmenvielfalt sowie Nachhaltigkeit und ethische technologische Innovation umfassen, kontinuierlich kommunizieren und betonen (z. B. EBU 2023b). Ein Paradebeispiel ist der Fall der künstlichen Intelligenz: Ihre Anwendungen im Journalismus und, was noch wichtiger ist, ihre zunehmende Auswirkung auf das tägliche Leben der Menschen erfordern sorgfältige und transparente Maßnahmen von PSM (Horowitz et al. 2022b).
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In den relativ homogenen nordischen Ländern schließlich genießt geteiltes Wissen nach wie vor Vertrauen – aber die PSM müssen sich der Notwendigkeit bewusst sein, eine Vielfalt von Stimmen zu vertreten. So glaubt beispielsweise nur die Hälfte des nordischen Publikums, dass die Gleichstellung der Geschlechter in der heutigen Medienproduktion Realität ist (Horowitz et al. 2023). Einer der befragten finnischen PSM-Experten drückte es 2022 unverblümt aus: „Selbst in den nordischen Ländern leben wir in einer Zeit des geliehenen Vertrauens.“ (Karell & Horowitz 2022). In den nordischen Ländern – und in allen PSM-Kontexten – haben PSM-Organisationen die zentrale Aufgabe, das Vertrauen zu stärken, indem sie verschiedene gesellschaftliche Gruppen ansprechen und mit ihnen zusammenarbeiten. Wie die Wissenschaftler:in Maria Michalis und Alessandro D‘Arma (2024, 116) wortgewandt anmerken, „sind PSM als grundlegende epistemische Institution von entscheidender Bedeutung für die Ermöglichung von Bürgersinn und die Unterstützung der Demokratie und können dazu beitragen, viele der Ungerechtigkeiten zu beseitigen, die das heutige scheinbar pluralistische Medienumfeld aufweist und oft noch verstärkt.”
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ZUR ZUKUNFT ÖFFENTLICH-RECHTLICHER MEDIEN IN DER EUROPÄISCHEN UNION
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MEDIEN IN FRANKREICH: DIE
NOTWENDIGKEIT EINER
EUROPÄISCHEN VISION
PAULINE RENAUD, PHD CITY, UNIVERSITÄT VON LONDON
Was ist die Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien (PSM) in Frankreich?
Diese Frage stellt sich angesichts der zunehmenden Herausforderungen, denen sich die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosender gegenübersehen, wie Pluralismus, Finanzierung und ihre Fähigkeit, in der gegenwärtigen Informationskrise zuverlässige Nachrichtenlieferanten zu bleiben. Es geht um ihre weitere Relevanz und ihr Überleben in einer Zeit, in der immer mehr Menschen in Frankreich und im übrigen Europa das Interesse an Nachrichten verlieren.
Laut dem Digital News Report 2023 des Reuters Institute for the Study of Journalism gaben nur noch 36% der Befragten in Frankreich an, sehr an Nachrichten interessiert zu sein, während es im Jahr 2015 noch 59% waren. Obwohl die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosender bei den Vertrauenswerten und der Offline-Reichweite besser abschneiden als ihre privaten Pendants, bleiben die sozialen Medien „einer der wichtigsten Zugangspunkte zu Online-Nachrichten, während der direkte Zugang zu Nachrichten-Apps und Websites abnimmt” (Digital News Report, 2023). Die prekäre Widerstandsfähigkeit der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wird zusätzlich durch anhaltende Schwierigkeiten bedroht, einschließlich neuer Vorwürfe der Voreingenommenheit von Seiten der extremen Rechten. „Wird die Entscheidung des Conseil d‘État über CNews im Namen des ‚Pluralismus‘ und der Unabhängigkeit der Information auch für die öffentlich-rechtlichen Medien gelten, in denen politische Absprachen und eine einzige Weltsicht die Norm sind?”, schrieb der rechtsextreme Führer Jordan Bardella im Februar auf X. Der Tweet bezog sich auf eine Entscheidung, die die Rundfunkregulierungsbehörde des Landes, Arcom, dazu zwang, den Pluralismus bei CNews, einem Fernsehsender im Besitz des konservativen Medienmagnaten Vincent Bolloré (Dassonville, 2024), erneut zu prüfen.
Hintergrund
Diese Vorwürfe sind nicht neu, verdeutlichen aber die anhaltenden Schwierigkeiten der staatlichen öffentlich-rechtlichen Medien, ihre Unparteilichkeit zu gewährleisten. Bis Mitte der 1970er Jahre wurden Fern-
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| FRANCE | FRANKREICH | DIE ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN
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sehen und Radio streng vom Staat kontrolliert, so dass der französische Staatspräsident Georges Pompidou (1969-1974) den ORTF (die nationale Agentur, die zwischen 1964 und 1975 mit der Bereitstellung öffentlicher Radio- und Fernsehdienste beauftragt war) einmal als „Stimme Frankreichs” bezeichnete. Unter der Präsidentschaft von Charles de Gaulle (1959-1969) war die Kontrolle des Staates über den Rundfunk sogar noch stärker ausgeprägt. Chalaby (2005, S. 282) stellt fest, dass „das französische Fernsehen damals ein Rädchen in einem riesigen, allgegenwärtigen Staatsapparat war, der das Leben der Nation und aller ihrer Bürger beherrschte”. Die wirtschaftliche Liberalisierung, die sich aus der Auflösung des ORTF und dem Ende des öffentlich-rechtlichen Rundfunkmonopols 1981 ergab, trug jedoch dazu bei, dass sich die französischen Medien von journalistischen Erwägungen lösten und stattdessen kommerziellen Erwägungen zuwandten. Im Zuge der Umstrukturierung des Rundfunksystems wurden zwischen 1984 und 1987 vier Fernsehsender gegründet und/ oder privatisiert. Während dieser Prozess den Pluralismus im Rundfunk einführte, stellt Kuhn (2019, S. 71) auch fest, dass sich Ende der 1980er Jahre „das Gleichgewicht des Rundfunksystems deutlich zugunsten der privaten Anbieter verschoben hatte, angeführt von TF1 [einem Fernsehsender], der durchweg den größten Marktanteil in der Hauptsendezeit für sich beanspruchte”.
Langfristige Finanzierung in der Schwebe
Gegenwärtig sind die öffentlich-rechtlichen Medien in Frankreich in vier separate Einheiten aufgeteilt: France Télévisions (eine Mischung aus allgemeinen und spezialisierten Fernsehkanälen für ein nationales Publikum), Radio France (Radiosender), France Médias Monde (international ausgestrahlte Fernseh- und Radiosendungen) und das Institut National de l‘Audiovisuel (INA, Rundfunkarchiv). Bis 2022 wurden diese Einrichtungen durch eine jährliche Rundfunkgebühr von 138€ pro Haushalt finanziert. Die Einnahmen stammen auch aus der kommerziellen Fernsehwerbung, die allerdings seit dem Verbot von 20 Uhr bis 6 Uhr morgens im Jahr 2009 stark zurückgegangen ist. Um diese Verluste auszugleichen, fließt ein Teil der Mehrwertsteuereinnahmen in die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.
Es wurde jedoch immer wieder befürchtet, dass die Abschaffung der Fernsehgebühren im Laufe der Zeit zu einer Verringerung der Finanzierung führen könnte. In einer Erklärung vom Juli 2022 wies Reporter ohne Grenzen (RSF) darauf hin, dass die Erhebung der Mehrwertsteuer nur vorübergehend sein kann, da ab 2025 jede Steuerzuweisung für einen öffentlichen Dienst begründet werden muss. Derzeit gibt es keine solche Verbindung zwischen der Mehrwertsteuer und dem öffentlich-rechtli-
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chen Rundfunk. Der Generalsekretär des RSF, Christophe Deloire, wies auf die Bedrohung der unabhängigen und pluralistischen Nachrichtenberichterstattung hin: „Wir fordern die Regierung auf, eine dauerhafte Finanzierungslösung zu finden, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor politischem Druck schützt, und wir bitten die Parlamentarier, dies rasch gesetzlich zu verankern”. Auch im Europäischen Medienfreiheitsgesetz, das von der Europäischen Kommission im September 2022 verabschiedet wurde, wird die Bedeutung einer „angemessenen und stabilen” Finanzierung bekräftigt, um die redaktionelle Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien zu gewährleisten (Europäisches Medienfreiheitsgesetz, 2022).
Das größere europäische Bild
Eine unzureichende Finanzierung stellt nicht nur ein Risiko für die Unabhängigkeit und den Informationspluralismus der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten dar. Sie belastet auch ihre Ressourcen in einer Zeit, in der sich Desinformationen mit immer raffinierteren Methoden verbreiten. Wie mehrere andere französische Nachrichtensender verfügt auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk über eine eigene Plattform zur Überprüfung von Fakten und zur Entlarvung von Falschmeldungen, „Vrai ou Faux” (Wahr oder Falsch), die sich an die Grundsätze des International Fact-Checking Network (IFCN) hält. Angesichts der bevorstehenden EUParlamentswahlen 2024 gibt es jedoch keine Pläne für einen Zusammenschluss der PSM auf europäischer Ebene, um Ressourcen für die Überprüfung von Informationen gemeinsam zu nutzen. Die einzige derartige Initiative geht vom European Fact-Checking Standards Network (EFCSN) aus, dessen Mitglieder sich zusammengeschlossen haben, um eine von Google unterstützte Datenbank zur Überprüfung von Fakten zu schaffen. Allerdings gibt es Pläne zur Schaffung einer supranationalen Einrichtung für europäische Nachrichtenmedien. In ihrem Gesetz zur Medienfreiheit aus dem Jahr 2022 kündigte die Europäische Kommission die Einrichtung eines unabhängigen Gremiums an, das sich aus nationalen Medienbehörden zusammensetzt, um „den EU-Medienrechtsrahmen konsequent anzuwenden, insbesondere durch Unterstützung der Kommission bei der Ausarbeitung von Leitlinien zu Medienregulierungsfragen”. Ziel ist es auch, einen Dialog zwischen Online-Plattformen und den Medien zu etablieren, „um den Zugang zu vielfältigen Medienangeboten zu fördern und die Einhaltung der Selbstregulierungsinitiativen der Plattformen, wie z. B. des EU-Verhaltenskodexes für Desinformation, zu überwachen”. Obwohl dies alle Nachrichtenorganisationen und nicht nur PSM betrifft, stellt diese Initiative dennoch einen Schritt in die richtige Richtung dar, um sicherzustellen, dass Medienfreiheit, Unabhängigkeit und Pluralismus in der gesamten EU gewährleistet sind.
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Insbesondere die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben jedoch auch eine Verantwortung für die Qualität der von ihnen produzierten Informationen, auch im Hinblick auf die Förderung der Vielfalt und die Identifizierung erfundener Geschichten. Die Ko-Regulierung mit europäischen Instanzen ist ein Weg, um sicherzustellen, dass Medienrichtlinien, einschließlich der Überprüfung von Fakten und Pluralismus, auf nationaler Ebene angewandt werden. Ein Zusammenschluss mit anderen europäischen PSM erfordert jedoch auch die Bündelung von Ressourcen und Fachwissen, um die größte Bedrohung für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu bekämpfen, nämlich den Mangel an finanziellen Mitteln. Unter diesem Gesichtspunkt könnten die kürzlich von der französischen Kulturministerin Rachida Dati wiederbelebten Pläne, alle öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten unter einem Dach zusammenzufassen, eine neue Ära für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Frankreich einläuten (Laemle und Dassonville, 2024), sofern dies nicht mit einer Kürzung der Mittel einhergeht. Dies kann auch zu einer stärkeren europäischen Zusammenarbeit beitragen, indem es die Koordinierung in Bezug auf die Medienkompetenz und den Kampf gegen Desinformation erleichtert. In einem Interview mit der Zeitung Le Figaro im April sagte Delphine Ernotte, Geschäftsführerin von France Télévisions und gleichzeitig Präsidentin der Europäischen Rundfunkunion, dass die Zusammenlegung der französischen PSM-Einheiten – die die meisten anderen europäischen Länder (Belgien, Italien, Spanien) bereits vollzogen haben – „unsere Macht vervielfachen wird” (Sallé, 2024). Der Blick auf das große europäische Ganze muss jedoch auch für die öffentlich-rechtlichen Medien Frankreichs zur Priorität werden, wenn sie ihren Auftrag weiterhin erfüllen wollen.
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SOUVERÄNITÄT IN DEN MITTELPUNKT
STELLEN: ÖFFENTLICHE MEDIEN
IM ZEITALTER DER POSTMODERNEN
DEMOKRATIE
PASCAL ALBRECHTSKIRCHINGER
ZDF
Wahlen und Wahlprozesse – die Verkörperung moderner Souveränität – stehen in letzter Zeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der EUPolitik. Offen gesagt, es brauchte die Trolle des Desinformationszeitalters und die störenden Bedrohungen für reguläre Wahlprozesse, damit Politiker:innen und Regulierer:innen die Grenzen der Marktkräfte und die Tatsache, dass „das“ Internet nicht unbedingt ein selbstregulierendes Umfeld zur Förderung der Meinungsfreiheit und des zivilisierten Diskurses ist, vollständig anerkennen konnten. Es wurde auch klar, dass die Grundlagen der Demokratie nicht selbstverständlich sind und, dass sie proaktiv gesichert werden müssen. Aber die Bruchlinien und Spalten des Internets sind nicht die einzige Herausforderung. Unsere Gesellschaften und unsere demokratischen Systeme selbst brechen unter der empfindlichen Schicht des demokratischen Konsenses, der auf dem Erbe der Rationalität der Aufklärung des 18. Jahrhunderts aufgebaut wurde, auseinander. In westlichen parlamentarischen Demokratien, die von den Idealen der Vernunft und des Fortschritts im Zeitalter der Aufklärung geprägt sind, hängt das gesamte Gleichgewicht von einem Hauptfaktor ab: der Akzeptanz der Niederlage. Man akzeptiert loyal, dass die Mehrheitsentscheidung für den gesetzlich bestimmten Zeitraum verbindlich ist, auch wenn man dagegen gestimmt hat. In unseren zunehmend polarisierten Gesellschaften wird diese Regel mehr und mehr missachtet. Dauernde Zweifel an den Wahlprozessen und Verachtung für den/die Gewinner:in untergraben den unverzichtbaren Vertrauensfaktor. Wenn Störungen, alternative Fakten und schamlose Lügen Stimmen generieren, warum sollte man sich dann mit komplizierten Wahrheiten abgeben? Im Jahr 2018 hat die Europäische Union das Thema erstmals in einem „Wahlpaket“ angesprochen. Dies wurde 2020 durch einen umfassenderen Europäischen Demokratieaktionsplan1 erweitert, um unter anderem freie und faire Wahlen zu fördern, die Medienfreiheit zu stärken und Desinformation zu bekämpfen. Am 26. März 2024 veröffentlichte die Kommission auf Grundlage des Di-
1 European Democracy Action Plan
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gital Services Act (DSA) Leitlinien2 „zur Minderung systemischer Risiken online, die die Integrität der Wahlen beeinträchtigen könnten, mit spezifischen Anleitungen für die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni“, und schob die Maßnahmen weiter in Richtung des harten Rechtsbereichs. In seiner Rede zur Lage der Union 2018 erklärte Präsident Jean-Claude Juncker: „Wir müssen unsere freien und fairen Wahlen schützen. Deshalb schlägt die Kommission heute neue Regeln vor, um unsere demokratischen Prozesse besser vor Manipulation durch Drittländer oder private Interessen zu schützen.”
Gleichzeitig stellte der Erste Vizepräsident Frans Timmermans die feste Verbindung zu den Werten her, denen sich die Europäische Union verpflichtet fühlt: „Zusammen mit der Rechtsstaatlichkeit und den Grundrechten ist die Demokratie Teil von ‚wer wir sind‘ und definiert unsere Union. Wir dürfen nicht naiv sein: Es gibt diejenigen, die die europäischen Wahlen stören wollen, und ihre Werkzeuge sind raffiniert. Deshalb müssen wir alle gemeinsam dringend daran arbeiten, unsere demokratische Widerstandsfähigkeit zu stärken.” Timmermans‘ Aussage betonte den langen Weg, den die EU in ihrer Transformation von einem gemeinsamen Markt zu einer wertbasierten Union zurückgelegt hat, nachdem die Charta der Grundrechte in den Vertrag der Europäischen Union (Vertrag von Lissabon, 2009) aufgenommen wurde. Der große qualitative Schritt hin zu einer Art gemeinsamer Verantwortung in Bezug auf die Medienfreiheit war die Einführung des Pluralismus als Grundwert der Union (Artikel 2) sowie der kulturellen Vielfalt als Ziel (Artikel 3) in den EUV. Dennoch wird der Fokus trotz der Betonung exogener Gefahren – die auch zur Entscheidung führten, die Übertragung der Russia Today-Programme zu verbieten – von innen heraus herausgefordert. Langfristig könnte sich dies als weit besorgniserregender erweisen. Bereits jetzt kann man nicht ignorieren, dass die Stärkung europäischer Werte durch Rechtsstaatlichkeitsrichtlinien und -instrumente zunehmend durch die Rückkehr nationalistischer Erzählungen im Stil des 19. Jahrhunderts, autokratischer Tendenzen und die Knebelung der Medien vereitelt wird. Die bereits erkennbaren Widersprüche zwischen „Kern-EU-Werten“ und der Renaissance von „nationalen Werten“ und Narrativen sind faszinierend. Wie sich dies entwickeln wird, ist ungewiss, aber ein langanhaltender Riss wäre kaum nachhaltig. Europa besteht aus vielen konzentrischen Kreisen, aber letztlich wird es nicht auf der Grundlage unterschiedlicher Wertvorstellungen oder sogar Weltanschauungen funktionieren können. Die Europäische Kommission hat den Umfang des Berichts über die Rechtsstaatlichkeit seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahr 2020 er-
2 Commission publishes guidelines under the DSA (europa.eu)
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weitert. Kürzlich wurde der Zustand der öffentlich-rechtlichen Medien als regelmäßiges Merkmal hinzugefügt. Die jüngsten gefährlichen Abdriftungen nationaler politischer und rechtlicher Systeme, zumindest auf der Ebene des politischen Diskurses – selbst in einem lange stabilen Land wie Deutschland – zeigen, wie klug ein solcher ganzheitlicher Ansatz geworden ist. Es ist bemerkenswert, dass während der Verhandlungen zum Europäischen Medienfreiheitsgesetz (EMFA) 3, das am 13. März 2024 angenommen wurde, die Verwendung von Spyware zur Überwachung von Medien nicht vollständig ausgeschlossen wurde. Frankreichs Positionierung war besonders interessant. Das EMFA stellt einen bemerkenswerten Schritt in Richtung einer Art „gemeinsamer Verantwortung“ für das Wohlergehen des demokratischen Gefüges in Europa dar. Bezüglich der Frage der Kompetenzen und der schwierigen „Subsidiaritätsbeziehung“ zwischen der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten sowie der Governance-Frage sind die Dinge nicht eindeutig. Es wird jedoch keinen Rückschritt geben. Die bloße Tatsache, dass ein Medienfreiheitsgesetz – das darauf abzielt, die Einmischung des Staates in die Medienführung und die redaktionelle Unabhängigkeit abzuwehren – überhaupt als notwendig erachtet wurde, sagt alles über den gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaften und politischen Systeme aus.
Die Europäische Union und öffentlich-rechtliche Medien: eine vertiefte Beziehung
In Bezug auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen war die Europäische Union lange entweder neutral oder restriktiv. In den frühen Tagen des Binnenmarktes war der Wettbewerb König. Auf europäischer Ebene sollte der Medienpluralismus durch den Wettbewerb der Medienangebote sichergestellt werden, hauptsächlich durch die Öffnung eines Binnenmarktes für audiovisuelle Dienste. Tatsächlich war dies – parallel zur Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte – das Tor der Europäischen Kommission zu einem damals exklusiven Regelungsbereich der Mitgliedstaaten. Daher war der Hauptzweck der Kommission viele Jahre lang die erfolgreiche Umsetzung der „Fernsehrichtlinie ohne Grenzen“ und die Förderung eines langsam entstehenden grenzüberschreitenden Marktes für audiovisuelle Produktion und Verbreitung. In der direkten Nachfolge des Falls des Eisernen Vorhangs und der optimistischen Stimmung der Delors-Jahre wurde die positive Soft Power audiovisueller Inhalte positiv genutzt, um in diese neue Ära einzutreten. So wie westliche aktuelle Programme möglicherweise dazu
3 Media Freedom Act: a new bill to protect EU journalists and press freedom | News | European Parliament (europa.eu)
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beigetragen haben, die Berliner Mauer zu Fall zu bringen, könnte auch europäisierte Programmgestaltung dazu beitragen, Menschen zusammenzubringen. Das vermeintliche Jean Monnet-Zitat, dass er mit der Kultur beginnen würde, wenn er die gemeinsamen Politiken von Grund auf neu starten müsste, wurde immer wieder wiederholt. Es gab auch einen wachsenden Konsens darüber, was gemeinsam gegenüber ausländischen Eingriffen in das „Recht zu regulieren“ verteidigt werden musste. Die EU war maßgeblich daran beteiligt, das Prinzip der kulturellen Ausnahme in Handelsverhandlungen zu etablieren und eine Mehrheit der Nationen für die Annahme der UNESCO-Konvention über kulturelle Vielfalt (2005)4 zu gewinnen. In diesen Jahren betrachtete die Kommission jedoch jeden Eintritt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (PSB) in „neue Märkte“ mit Misstrauen, da öffentliches Geld als erdrückend für neue Wettbewerber:innen angesehen wurde. Eifrig nahm sich die Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission (DG COMP) Beschwerden von kommerziellen Rundfunkanstalten und Verlagen gegen neue PSB-Angebote an. Dieser „Marktansatz“ führte zu Reaktionen der Mitgliedstaaten. Mit dem Amsterdamer Protokoll von 19975 über das System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den Mitgliedstaaten sicherten diese ihre primäre Kompetenz in Bezug auf dessen Aufgabenbereich und Finanzierung. Grundsätzlich ging es jedoch um die Frage, wofür PSB stand und wie es sich entwickeln sollte. Für die Mitgliedstaaten und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten selbst war die Antwort klar: Da PSB von allen finanziert wird, muss es die gesamte Öffentlichkeit überall erreichen und bedienen. In Zeiten technologischer Konvergenz erstreckt sich dies auch auf alle technologischen Vektoren. Im Jahr 2004 hat der Europarat erstmals den Übergang vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu öffentlichen Medien (PSM) offiziell anerkannt6. Dieser Status der technologischen Neutralität wurde auch von DG COMP in der endgültigen „Kompromiss“Mitteilung zur staatlichen Beihilfe im Jahr 20097 anerkannt, die den Aufgabenbereich von PSM zur Erfüllung der demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft anerkennt. Somit verschmolz PSM langsam mit dem System der zu schützenden Kernwerte. Bei der Vorstellung ihres Vorschlags für das EMFA machte Vizepräsidentin Věra Jourová8 dies sehr deutlich: „…wo öffentliche Dienstleistungen existieren, sollten deren Finanzierung angemessen und stabil sein, um die redaktionelle Unabhängigkeit zu gewährleisten. Der Leiter
4 2005 Convention on Diversity of Cultural Expressions | Diversity of Cultural Expressions (unesco.org)
5 EUR-Lex - 11997D/PRO/09 - EN - EUR-Lex (europa.eu)
6 1680a90831 (coe.int)
7 EUR-Lex - 52009XC1027(01) - EN - EUR-Lex (europa.eu)
8 IP_22_5504_EN.pdf (europa.eu)
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und das Leitungsgremium der öffentlich-rechtlichen Medien müssen in einem transparenten, offenen und nicht diskriminierenden Verfahren ernannt werden. Öffentlich-rechtliche Medienanbieter sollen eine Vielfalt an Informationen und Meinungen auf unparteiische Weise und gemäß ihrem öffentlichen Auftrag bereitstellen.“ Daher kann man nicht ausschließen, dass die EU eines Tages PSM als konstituierenden Teil der regulatorischen Landschaft betrachten wird.
Wo bleiben die gesellschaftlichen und politischen Spaltungen für öffentliche-rechtliche Medien?
Die politischen und gesellschaftlichen Spaltungen, die wir erleben, stellen eine erhebliche Herausforderung für die öffentlich-rechtlichen Medien dar. Gedankenfreiheit und Medienfreiheit sind nicht nur in europäischen und westlichen Demokratien verankert. Sie sind deren Grundlage. Seit mindestens 300 Jahren steht der Wettbewerb der Ideen im Mittelpunkt des politischen und gesellschaftlichen Fortschritts. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk „in seiner besten Form“, wie er vor 100 Jahren in Großbritannien konzipiert wurde, könnte als eine elektronische Version der übergeordneten Ziele des Zeitalters der Aufklärung gesehen werden, die Universalität und Fortschritt für alle versprechen. PSM sind per Definition inklusiv. Finanziert von der Öffentlichkeit, müssen sie die gesamte Bevölkerung ohne Diskriminierung bedienen. In Zeiten, in denen alle „Institutionen“ von vielen verdächtigt werden, Teil einer „elitistischen“ Verschwörung zu sein, ist dies keine leichte Aufgabe. Objektiv zu sein, ist keine Garantie mehr dafür, als solche wahrgenommen zu werden. Letztendlich hängt die Legitimität von PSM jedoch von der Unterstützung eines wesentlichen Teils der Bürger:innen in allen Gesellschaftsgruppen ab. „Ein ZDF für alle“ –das aktuelle Leitmotiv des deutschen nationalen öffentlich-rechtlichen Rundfunks – verkörpert diesen PSM-Auftrag. Aus diesem Grund befinden sich PSM im Gegensatz zu Meinungspapieren in einer sehr besonderen Situation: Sie müssen als Ermöglicher:innen für alle agieren. In Zeiten von Internet-getriebener und/oder staatlich geförderter Desinformation müssen PSM die Meinungsbildung auf der Grundlage von unparteiischen, faktenbasierten Informationen fördern. PSM stehen jedoch vor vielfältigen Herausforderungen, von denen einige eindeutig außerhalb ihrer direkten Kontrolle liegen. Den Kreis zu quadrieren, beschreibt es wahrscheinlich am besten. In der neuen multipolaren Ordnung werden sich PSM ständig anpassen müssen, da ihre Grundlagen nun eher einer beweglichen Sandbank ähneln. Die politische Unterstützung wird wackelig und zunehmend empfänglich für populistische Ideen. Parallel dazu wird die Finanzierung von PSM jetzt offener mit politischen Erwägungen verknüpft – auch in Deutschland, entgegen
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der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Der/Die Bürger-Nutzer:in ist vollständig autonom geworden und nutzt Drittplattformen, eine Tatsache, die die Kontrolle von PSM über Marken und auffindbare Inhalte herausfordert. Daher werden PSM, ohne etwas für selbstverständlich zu halten, ihre Lobbyaktivitäten verstärken, effizienter mit der Öffentlichkeit kommunizieren und ständig Produktions- und Vertriebslinien überwachen müssen. Aber vor allem haben PSM einfach keine andere Wahl, als „ihre Arbeit am besten zu machen“, indem sie die gesamte Öffentlichkeit mit allen Verbreitungsmitteln erreichen und ihre Glaubwürdigkeit mit vertrauenswürdigen Inhalten festigen. Die deutschen Zahlen zeigen deutlich, dass das Vertrauen in PSM hoch bleibt. In unseren wettbewerbsorientierten Zeiten hält man einen Gesamtmarktanteil von 50 % nicht ohne Verdienst. Eine noch größere Mehrheit der Bürger:innen erkennt weiterhin die wesentliche und unverzichtbare Rolle von PSM als unabhängige und glaubwürdige Quelle an, auf die sie sich bei ihrer Meinungsbildung verlassen können 9 .
Europäische DNA
Das ZDF ist und bleibt ein nationaler Sender, der von der in Deutschland ansässigen Öffentlichkeit finanziert wird. Die Berichterstattung und Reflexion über den europäischen Integrationsprozess ist jedoch ein integraler Bestandteil des Auftrags der deutschen öffentlichrechtlichen Medien. Lange Zeit wurden Europawahlen – sowohl von Politiker:innen als auch von der Wählerschaft – als „nationale Testwahlen“ wahrgenommen. Dies mag in einigen Ländern immer noch der Fall sein. Da jedoch das Verständnis der wechselseitigen Abhängigkeiten und die Macht „exogener Faktoren“ wächst, gewinnt die europäische Perspektive an Bedeutung. Die höhere als übliche Beteiligung an den Wahlen 2019 in Deutschland wurde von dieser Perspektive getrieben, auch basierend auf intensivem Qualitätsjournalismus. Die Ironie unserer widersprüchlichen Zeiten ist, dass antieuropäische – oder anti-EU-Gefühle auch zur Schärfung des europäischen Charakters der Wahlen zum Europäischen Parlament beitragen können: Eine starke Beteiligung bedeutet nicht unbedingt Unterstützung für das „europäische Werteverständnis“, wie es von der Europäischen Kommission und der (immer noch) pro-europäischen Parlamentsmehrheit verteidigt wird. Über die Berichterstattung über die Wahlen im Juni 2024 sprach ZDF-Chefredakteurin Bettina Schausten10 über ihren Ansatz zu diesem Schlüsselereignis in bewegten Zeiten: „…in einer vernetzten und zunehmend komplexen Welt, in Zeiten von Krisen und Konflikten, wird
9 Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung ARD/ZDF - ZDFmediathek
10 Pressemappe: Europawahl 2024 im ZDF: ZDF-Presseportal
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Europa wie nie zuvor herausgefordert. Russlands Krieg in der Ukraine, der Angriff der Hamas auf Israel, der Klimawandel und der Wohlstandsverlust, Polarisierung und Protest werfen große Fragen auf: Wie weit geht die europäische Solidarität? Wird Europa eine gemeinsame Antwort auf autokratische Regime finden? Und wie wehrhaft ist die Demokratie gegen ihre Feinde, auch in den eigenen Reihen? …Unsere Korrespondenten erforschen diese und andere Fragen im Vorfeld der Europawahlen … und zeigen die Bedeutung des europäischen Versprechens eines Lebens in Freiheit, Wohlstand und Sicherheit…Vor allem aber werden die Menschen in den verschiedenen europäischen Ländern ihre persönlichen Antworten auf die Frage finden, was Europa ihnen wert ist. Viel, denke ich, wie nicht nur am Abend der Europawahlen im ZDF deutlich werden wird.“
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Media Freedom Act: a new bill to protect EU journalists and press freedom | News | European Parliament (europa.eu)
2005 Convention on Diversity of Cultural Expressions | Diversity of Cultural Expressions (unesco.org)
EUR-Lex - 11997D/PRO/09 - EN - EUR-Lex (europa.eu) 1680a90831 (coe.int)
EUR-Lex - 52009XC1027(01) - EN - EUR-Lex (europa.eu)
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Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung ARD/ZDF - ZDFmediathek Pressemappe: Europawahl 2024 im ZDF: ZDF-Presseportal
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| GERMANY | DEUTSCHLAND |
VERMITTLER MIT LANGEM ATEM
CHRISTIAN FELD ARD
Es ist eine Frage, die von Besuchergruppen im ARD-Studio Brüssel immer wieder gestellt wird: Was tut eigentlich ihr Medien, um die EU in einem positiveren Licht erscheinen zu lassen? Die Antwort lautet: hoffentlich gar nichts. Es ist nicht Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten, Werbung für die Europäische Union zu machen. Es gibt keinen Grund für besondere Milde bei Missständen, nur weil es sich ja bei der „Europäischen Idee“ um eine gute Sache handele. Die Institutionen – Kommission, Rat und Parlament – sind mit ausreichend Geld und Personal ausgestattet, um aus ihrer Sicht über ihre Politik und Positionen zu informieren. Und es bleibt Aufgabe von Journalismus, einzuordnen, zu kritisieren oder auch positiv zu berichten, wo es angebracht ist. Das legt die Grundlage für eine eigenständige Willensbildung und Wahlentscheidung.
So ist es auch im deutschen Medienstaatsvertrag festgeschrieben. „Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben.“ Sie sollen dadurch unter anderem die „europäische Integration“ fördern. Doch das bedeutet nicht, unkritische PR zu verbreiten. Denn, so steht es ebenfalls im Medienstaatsvertrag: Die öffentlich-rechtlichen Medien sind „in besonderem Maße der Einhaltung journalistischer Standards, insbesondere zur Gewährleistung einer unabhängigen, sachlichen, wahrheitsgemäßen und umfassenden Information und Berichterstattung“ verpflichtet.
Die Europawahl rückt näher. Was bedeuten dieser Programmauftrag und der Anspruch, mit kritischer Distanz zu berichten, für die Berichterstattung über die EU-Politik? Um europäische Gesetzgebung angemessen einordnen zu können, braucht es Wissen, Kontinuität und Ressourcen. Das ist die Grundlage, um über das Geschehen im „Maschinenraum“ der EU berichten zu können.
„Ist das denn jetzt damit endgültig beschlossen?“ – Planungsredaktionen in Berlin, Helsinki oder Athen rufen gerne ihre Korrespondentinnen und Korrespondenten in Brüssel an, weil sie Orientierung brauchen. In der Tat ist es aus der Ferne nicht einfach, den Überblick zu behalten. Hat der Ministerrat sich nur in einer Detailfrage geeignet,
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oder wurde eine sogenannte allgemeine Ausrichtung erreicht? Ist eine Abstimmung im federführenden Fachausschuss des EU-Parlamentes wichtiger als die Abstimmung im Straßburger Plenum? Sind Voten nach dem Trilog nur noch Formsache? Qualifizierte Mehrheit. Komitologie. Passerelle-Klausel. Selbst wer lange dabei ist, schaut gelegentlich in die EU-Verträge.
Besonders vor der Europawahl, aber genauso im „Alltag“, braucht es kenntnisreiche Berichterstattung über die Entscheidungen, die im Zusammenspiel der EU-Institutionen entstehen. Das mediale System soll die Mächtigen kontrollieren und kritisieren. Das fängt damit an, zu berichten, was sie warum tun. Als Dienstleister für Bürgerinnen und Wähler gilt es zu erklären, zu übersetzen und einzuordnen. Die wundersame Welt der Richtlinien und Verordnungen muss in verständliche Sprache übersetzt werden, Bezüge zur Lebenswirklichkeit jenseits des Europaviertels müssen hergestellt werden. Was regelt eine Vorordnung genau? Ist der ursprüngliche Anspruch eingelöst oder auf dem Weg durch die Kompromiss-Maschine verloren gegangen?
Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist das EU-Lieferketten-Gesetz, das dafür sorgen soll, dass Unternehmen in der gesamten EU bei ihren Zulieferern auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Umweltschutz achten. Obwohl sich Rat, EU-Parlament und Kommission im sogenannten Trilog geeinigt hatten, entwickelten sich danach wochenlange Verhandlungen unter den Mitgliedsstaaten, die in einer Veränderung des Textes endeten. Aus Sicht von Kritikern ist der ursprüngliche Anspruch des Gesetzes verwässert worden. Der Gesetzgebung kontinuierlich zu folgen, ist eine anstrengende und ressourcenintensive Mission. Gerade deshalb kommt öffentlich-rechtlichen Medien dabei eine elementare und verantwortungsvolle Rolle zu.
Im Kampf um die Aufmerksamkeit von Nutzerinnen und Nutzern wirkt Berichterstattung über die Politik der Europäischen Union kaum wie ein Kassenschlager. Eine dauerhafte Präsenz in der europäischen Hauptstadt ist in wirtschaftlich angespannten Zeiten eine große Investition. Wer ist bereit, signifikante Mittel für Inhalte auszugeben, die zwar relevant, aber mitunter auch sperrig sind und die jenseits der Großereignisse möglicherweise zu wenig Aufmerksamkeit garantieren?
Die deutsche Ständige Vertretung bei der EU führt eine Liste deutschsprachiger Medien und Dienste, die ständig in Brüssel vertreten sind. Darauf findet sich (Stand: April 2024) kein privates Rundfunk-Unternehmen. Es sind vor allem die öffentlich-rechtlichen Medien, die hier einen großen Teil des Angebotes leisten können und sollten. Das ZDF,
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Deutschlandfunk und Deutsche Welle betreiben eigene Büros. Im Brüsseler Studio der ARD arbeiten elf Korrespondentinnen und Korrespondent mit einem erfahrenen Team für Radio, Fernsehen und digitale Kanäle. Das Europamagazin im Ersten Deutschen Fernsehen berichtet sonntäglich hintergründig über EU-Politik. Auch der Podcast punktEU wird hier produziert.
Starkes mediales Interesse ziehen die Europäischen Räte – in der Nachrichtensprache meist EU-Gipfel genannt – auf sich. Die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten fahren vor und beraten am Gipfeltisch die großen Fragen. Im Justus-Lipsius Gebäude nebenan sitzen dichtgedrängt hunderte Medienvertreter. Ein Teil von ihnen reist extra für zwei Tage aus den EU-Staaten an. Dann fehlen jedoch oft die Kontakte jenseits des eigenen Heimatlandes. Dabei sind diese wichtig, um das vollständige Bild vermitteln zu können.
Denn: Die Berichterstattung davor und danach - das Alltagsgeschäft - ist mindestens genauso wichtig. Zwischen den Gipfeln liegt die Mühe der Ebene, der Normalbetrieb der Brüsseler Kompromiss-Maschine. Das Geschehen im Maschinenraum mag mühsam und weniger spektakulär wirken, ist aber wichtig, um nachvollziehen zu können: Warum wurde ein Entwurf verändert? Welche Aspekte welcher Gruppen wurden stärker berücksichtigt? Welcher Nationalstaat hat hier welche Karte gespielt? Nur so können sich Bürger am Ende ein Bild darüber machen, welche Qualität die Gesetzgebung auf EU-Ebene für die Menschen hat
Die Anforderungen an Korrespondentinnen und Korrespondenten sind dabei in vielerlei Hinsicht gewachsen. Sicher ist die Nachfrage nach Themen aus Brüssel konjunkturellen Phasen unterworfen. Doch die vergangenen Jahre haben die EU wieder deutlich in den Mittelpunkt gerückt. Zunächst war es die Pandemie, dann folgte der russische Krieg gegen die Ukraine. Das hat das Volumen der Brüsseler Berichterstattung – auch über die NATO - massiv erhöht. Hinzu kommt, dass das in vielen EU-Staaten populistische Kräfte Zulauf haben. Gerade mit Blick auf Europa bedeutet das: Parteien liefern zunehmend scheinbar einfache Antworten, im schlimmsten Fall sogar Desinformation. Für Medien wird es in solch einem Umfeld noch schwieriger, mit dem Spiegeln der komplexen EU-Entscheidungsfindung durchzudringen.
Die Folge der genannten Rahmenbedingungen: Wer als Medium gar nicht oder mit einer einzelnen Person vertreten ist, kommt hier schnell in die Not, Prioritäten setzen zu müssen. Es drohen, Themen „hinten runterzufallen“. Die Abhängigkeit von wenigen Nachrichtenagenturen
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steigt, die Breite und Vielfalt der Berichterstattung nimmt ab, auch wenn viele Einzelkämpfer-Korrespondentinnen und -korrespondenten weiter durchaus exzellent aus Brüssel berichten.
In einer solchen Situation kommt den öffentlich-rechtlichen Medien eine besondere Rolle und auch Verantwortung zu. Sie können noch ihre Ressourcen einsetzen, um maßgeblich die Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger mit Blick auf den Kosmos Brüssel zu unterstützen. Der Fokus liegt dabei nicht allein auf dem Show-Down auf großer Gipfel-Bühne und der in diesem Zusammenhang stark personalisierten Politik. Der Anspruch ist eine informierte und differenzierte Berichterstattung, die die Täler zwischen den Gipfeln ausleuchtet, die die Zwischenstufen der EU-Gesetzgebung darstellen: die 50 Schattierungen der Kompromiss-Suche.
Die Rahmenbedingungen für das journalistische Handwerk werden derweil härter. Bei den Europawahlen dürften die Versuche, den Diskurs durch Desinformation und Propaganda zu beeinflussen noch einmal massiver werden. Hinzu kommt die rasante Entwicklung im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Längst ist es technisch möglich, Videosequenzen mit gefälschten Politiker-Auftritten zu generieren. Auch das bindet in Medienhäusern Ressourcen, um nicht Manipulationen auf den Leim zu gehen.
Unter dem Strich: Die Berichterstattung aus Brüssel über die EU ist ein komplexes und schwieriges Unterfangen. Wie die Europäische Union Gesetze macht, was sie beschließt, darf für Bürgerinnen und Bürger keine Geheimwissenschaft sein. Allein schon, weil der Gesetzgebungsprozess für Laien oft unbekannt und intransparent wirkt. Gerade deswegen braucht es Medien, die in dieser unübersichtlichen Situation die Kenntnis und Erfahrung haben, sachlich und ausgewogen zu berichten. Sie müssen die Personen, Institutionen, Prozesse kritisch begleiten und versuchen, den Menschen ein klares Bild der Gesetzgebungsprozesse der EU zu zeichnen. Sie können Bürgerinnen und Bürgern eine Grundlage bieten, sich ein eigenes Urteil zu bilden: Wann schlagen gute Absichten in Überregulierung um? Welchen Einfluss haben Lobbygruppen? Brauchen wir mehr oder weniger EU?
Es gilt, Transparenz und Nachvollziehbarkeit zu schaffen. Nur so kann ein Zusammenschluss von Staaten, die Kompetenzen auf die höhere Ebene abgeben, auf Dauer Misstrauen abwehren. Oder positiv formuliert: Bürgerinnen und Bürger sollten sich eine eigene Meinung zum Wert der Europäischen Union bilden können.
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Öffentlich-rechtliche Mediensysteme haben noch die Ressourcen, sich diesen extrem wichtigen Aufgaben zu stellen. Mit ihrer Unabhängigkeit – sowohl von Regierungen aber auch von wirtschaftlichen Zwängen –sind sie gerüstet, einem wichtigen gesellschaftlichen Auftrag nachzukommen. Das gilt kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament umso mehr.
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HELLAS: WAHRHEIT, MUT UND REGIEREN
UNIV.-PROF. IN DR. IN KATHARINE SARIKAKIS UNIVERSITÄT WIEN
Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts finden die Wahlen für die zehnte Wahlperiode des Europäischen Parlaments statt. Diese Legislaturperiode fällt mit dem zehnten Jahrestag der Wiedereinführung des griechischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks ERT zusammen, nachdem dieser von der damaligen konservativen Regierung der Griechischen Republik illegal und abrupt für zwei Jahre geschlossen worden war. Bis zum Ende seiner Amtszeit im Jahr 2029 würde das EP als einzige globale, in allgemeinen Wahlen gewählte supranationale Regierungsinstitution sein 50-jähriges Bestehen feiern, und der ERT würde hundert Jahre alt werden.
Seit den späten 1970er Jahren und mit dem Aufkommen der neoliberalen Politik und des frei empfangbaren privaten Rundfunks gab es kein einziges Jahrzehnt, in dem die öffentlich-rechtlichen Medien nicht in eine Krise gerieten: Immer wieder werden wir aufgefordert, mehr Studien, mehr Überlegungen, mehr Analysen, bessere Argumente, mehr Aktivismus und umfassendere Empfehlungen zugunsten der Entwicklung und der Legitimität der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vorzulegen. Mit dem europäischen Binnenmarkt von 1992, dessen Weg durch die erste Richtlinie über audiovisuelle Dienste geebnet wurde, ist die Legitimität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu einem unvermeidlichen Dorn in jeder öffentlichen Debatte, jeder politischen Initiative und jeder in Auftrag gegebenen oder freien Studie geworden, die sich mit der „Rolle” und der „Zukunft” des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beschäftigt. Bereits Mitte der 1990er Jahre haben die Fragen, was „öffentlicher Dienst” bedeutet, welche Rolle öffentliche (nicht-kommerzielle) Medien spielen sollten, welche Formen der Legitimität öffentliche Medien haben sollten, haben oder haben können, einen Untersuchungsstrang in Gang gesetzt, der sich wie eine ständige Neuerfindung des Rades anfühlt: Die Fragen, von denen wir dachten, dass sie zumindest im Prinzip vollständig beantwortet sind, werden immer wieder von (und durch) links und rechts, von den Befürworter:innen, den Gläubigen, den Nicht-Überzeugten und auch den Gegner:innen der öffentlichen Medien gestellt. Zweifellos haben die PSM-Paradigmen als Organisationen und Institutionen unter exogenen Druckfaktoren gelitten: Bedrohung und Kürzung der Finanzierung, politische Einmischung und Kontrolle, kommerzielle Anforderungen. Dagegen hat sich ein Heer verschiedener Koalitionen an vorderster Front zur Wehr gesetzt: von Bürger:innen auf der
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Straße (so seltsam das vielleicht klingen mag) bis hin zu Politiker:innen, Akademiker:innen, Journalist:innen und Kulturschaffenden. Die endogene „Schädlingsbekämpfung” von Voreingenommenheit, Bevormundung, Vetternwirtschaft, Elitismus und Selbstgerechtigkeit wurde durch Systeme der Transparenz wie Berichte, Räte, Beteiligung von Parlamenten und Bürger:innen mit nur begrenztem Erfolg versucht. „Seit 30 Jahren wird uns gesagt, wir hätten versagt”, klagt ein Kollege und Freund, der für die demokratischen öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland gearbeitet hat.
Das Rad muss nicht neu erfunden werden, denn eigentlich ist die Antwort auf die Frage, was wir von den öffentlich-rechtlichen Sendern in dieser neuen Legislaturperiode – und eigentlich in jeder Legislaturperiode – erwarten, ganz einfach: Wir erwarten von ihnen, dass sie von der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit sind. Die Debatten darüber, was dies genau bedeutet, sind ebenfalls Jahrzehnte alt und dauern an; einige Versionen der Operationalisierung und Definition dieser Grundsätze sind bei den europäischen Rundfunkanstalten vorhanden und werden in unterschiedlichem Maße befolgt, wobei alle vernünftig und kontextbezogen sind. Was in diesen Gesprächen oft zu kurz kommt, ist eine nicht greifbare Wahrheit. Die Fragilität der öffentlichen Institutionen und der Demokratie kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden; sie hat sich in der jüngsten Geschichte Europas auf spektakuläre Weise gezeigt, angefangen bei der Finanzkrise. Um nur einige Beispiele zu nennen: die fehlende Rechenschaftspflicht von Regierungsinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Europäischen Zentralbank, die zu Menschenrechtsverletzungen und der Verarmung von Millionen von Menschen führt, der Aufstieg autoritärer Politiken und Regierungen, die dem 21. Jahrhundert den Namen „autoritäres Jahrhundert” gegeben haben, die Polarisierung der Gesellschaft, die durch politische und mediale Eliten ermöglicht wird, die oligarchische Dominanz globaler Plattformen, der Abbau von Bürgerrechten, insbesondere der Rechte von Frauen, auferlegte Sparmaßnahmen in ganz Europa und die Verschärfung des Wohlstandsgefälles, verfassungsfeindliche und umstrittene öffentliche Maßnahmen der letzten Jahre, die die Grundrechte stark einschränken, haben alle die Einschränkung der Grundfreiheiten als gemeinsamen Nenner. Und in diesem Zusammenhang der erneute und anhaltende Angriff auf die Institution der PSM, die Kontrolle der PSM-Organisationen durch politischen und finanziellen Würgegriff bis hin zur Schließung von Filialen, Kanälen (siehe Portugal, Spanien usw.) und zu Griechenlands „To mavro” (Der schwarze Bildschirm). Mit anderen Worten: Das Fundament, auf dem die demokratischen Merkmale der PSM, ja ihre Öffentlichkeit, aufgebaut sind, wurde ebenfalls angegrif-
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fen, so dass die PSM ungeschützt und unbewaffnet gegen Angriffe auf ihren Kern sind. Von der Öffentlichkeit zu sein, wird schnell durch den Staat ersetzt; für die Öffentlichkeit zu sein, wird zur Kontrolle der Öffentlichkeit. Hier plädiere ich dafür, dass PSM auch von der Öffentlichkeit sein sollte. An anderer Stelle in dieser TEXTE-Reihe habe ich ausführlich mögliche Richtungen für die Entwicklung von PSM als Democracy Labs beschrieben; der Aufruf schloss die Entwicklung journalistischer Werte des „Nachrichtenwerts” ein, um eine bessere Verbindung zu einer sich schnell verändernden Welt und den gestiegenen Bedürfnissen der Menschheit nach ehrlichem Wissen und Informationsunterstützung durch die Brille der Sorgfalt herzustellen.
Kritik, um es besser zu machen (aber in welche Richtung), um wertvoll zu sein (für wen), um öffentliche Ausgaben wert zu sein (in welcher Form und in welchem Ausmaß), ist notwendig, wo immer sie herkommt. In der Tat werden ohne Kritik Institutionen zu Waffen und Ideen zu Dogmen. Kritik ist jedoch nur ein Teil der Geschichte, ein Mosaiksteinchen der Wahrheit. Ein weiterer wichtiger Teil ist die Selbstreflexion, ein anderer die Vision, ein weiterer die Ehrlichkeit - alles Eigenschaften, die schwer zu operationalisieren und zu institutionalisieren sind. Dennoch ist es bis zu einem gewissen Grad gelungen. Und schließlich sind edle Handlungen wichtig, die heute in eine Berufsethik, aber auch in eine Moral zum Schutz der Rechte des Einzelnen und des Wohlergehens der Gemeinschaft umgesetzt werden. Edle Handlungen, wie sie Aristoteles von den Bürger:innen forderte, beruhen auf Tugend und der Fähigkeit, sich um das Gemeinwohl zu kümmern, denn die größtmögliche Beteiligung am Gemeinwesen war für Aristoteles der goldene Standard einer Demokratie. Wir stellen immer noch unsere Forderungen, aber die Exekutive ignoriert sie immer noch”, sagt ein Veteran und guter Freund, der in den Jahren, in denen ERT in Griechenland „geschlossen” war, buchstäblich für die demokratische PSM gekämpft hat.
Der Grad der Zerbrechlichkeit der Demokratie wird in dieser Zeit des erneuten Engagements der Wähler:innen deutlich vor Augen geführt. Das Europäische Parlament, eine Institution, die jahrzehntelang von verschiedenen Eliten und Bürger:innen gleichermaßen verspottet wurde, war eine bahnbrechende, ja radikale Idee. Es begann als beratendes Organ in Form einer Versammlung ohne jegliche Befugnisse und hat in der EU einen mitentscheidenden Status erreicht. Der radikale, pro-demokratische Charakter der Versammlung ist vielleicht etwas in Mitleidenschaft gezogen worden; vielleicht ist es der Zustrom autoritär ausgerichteter Politik, die sich ihren Weg durch demokratische Prozesse bahnt, der ihre Vision zuweilen verwischt hat. Dennoch bleibt er einer der großen
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öffentlichen Räume, vielleicht der einzige, in dem nationale Grenzen, Vorurteile, Macht und sogar Kurzsichtigkeit hinter den Bemühungen um die Öffentlichkeit zurückstehen. Die PSM bedürfen einer Überarbeitung, die ähnlich lächerlich oder schockierend sein könnte, wie es die Gründung des EP war: Das PSM-Geschäft des Regierens und damit sein Input und Output bedürfen einer Überarbeitung. Als die Regierung 2013 die Schließung des ERT ankündigte, spiegelte der weltweite Aufschrei (in Tausenden von Dokumenten, Tweets, Pressemitteilungen, Ankündigungen usw.) den Schock und die Ungläubigkeit nicht nur über den Akt selbst wider, sondern auch darüber, wie einfach es sein kann, eine demokratische Institution zu sperren und in Ketten zu legen, und zwar nicht nur illegal im Rahmen der nationalen Gesetzgebung, sondern auch unter Verstoß gegen europäische und globale Verträge und Instrumente zu öffentlich-rechtlichen Medien und Kultur, Meinungsfreiheit und Grundrechten. Waren das politische „Monster” der Regierungspartei? War das ein weiteres „griechisches Drama”? War ERT so „zweifelhaft”, dass man sich „wundern” musste, wie mir ein deutscher Wissenschaftler sagte? Oder liegt es daran, dass „die (griechische) politische Kultur nie lernen wird, demokratisch zu sein”, wie mir ein amerikanischer, aber im Vereinigten Königreich ansässiger Wissenschaftler in Gegenwart eines anderen griechischen Wissenschaftlers sagte. War es nur eine der von der Troika auferlegten Sparmaßnahmen neben anderen dokumentierten Menschenrechtsverletzungen in den Krisenländern? Für die Tausenden von Bürger:innen, die gegen die Schließung protestierten, war all dies nebensächlich: Das einzige andere Mal, dass dies geschah, waren die Schließungen während der deutschen Besatzung Griechenlands und später durch die Militärjunta. Was zählte, war nicht die Organisation mit all ihren Missständen, sondern die Institution ERT. „Als Bürger ist es meine Institution, an der ich Kritik üben kann, und keine Regierung, die sie auslöschen kann”, fasste ich in jenem Jahr in einer Grundsatzrede zusammen.
In den zwei Jahren zwischen der Schließung und der Wiederaufnahme des Betriebs widersetzten sich einige wenige Mitarbeiter:innen und eine große Zahl von Bürger:innen der rechtswidrigen Entscheidung und setzten den Betrieb von ERT durch eine Kombination edler Handlungen fort: Guerilla-Taktiken (Verteidigung der Sendeantennen und Bewachung der Gebäude), Wechselschichten und Mehrfachbeschäftigung (Arbeit als Kamera- und Tontechniker:in, Regisseur:in, Redakteur:in und Journalist:in), kollektive Entscheidungsfindung (Reibungen und Meinungsverschiedenheiten inbegriffen), Verwaltung von Inhalt und Programm und Beziehung zum Publikum über mehrere Plattformen. Die Lektion, die wir gelernt haben - und die wir der Welt beigebracht
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haben - war vor allem die des zivilen Ungehorsams, des Aufbegehrens gegen schlechte Herrscher und Regeln. Die von den Arbeiter:innen geleitete Verwaltung fand zwei Jahre lang ohne Löhne, Finanzierung, Rechtmäßigkeit, Quellen und zeitweise sogar ohne Fachwissen statt. Die Geschichte der Selbstverwaltung von ERT OPEN (wie es umbenannt wurde) wird noch geschrieben, aber die Lehren, die wir daraus gezogen haben, haben nicht nur das Leben derjenigen geprägt, die den öffentlichen Informationsdienst fortgesetzt haben, und ihrer Familien, sondern auch das vieler Menschen in ganz Europa, die die Arbeit besucht und beobachtet haben. Letztendlich war es dieser zivile Ungehorsam, der mit großen persönlichen Kosten verbunden war, der dazu führte, dass ERT im Jahr 2015 wieder in Betrieb genommen wurde. Es gab mehrere Experimente mit PSM oder Bürgermedien, die nahe an den Erfahrungen der Massen blieben, entweder durch eine sinnvolle und substanzielle Beteiligung der Bürger:innen an ihren Entscheidungen, wie in den nordischen Ländern, oder durch den Betrieb von Kanälen oder Radiosendern, die teilweise oder vollständig von Bürger:innen, Bürgerjournalist:innen und Fachleuten betrieben werden, die ihren Gemeinschaften gegenüber rechenschaftspflichtig sind, wie die Mediengeschichte Lateinamerikas oder piratische oder alternative Formen von Medien in der ganzen Welt gezeigt hat. Aber noch nie wurde eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt auf diese Weise betrieben.
Dies war eine der schlimmsten Zeiten in der modernen Geschichte Griechenlands, und die Auswirkungen sind noch immer deutlich zu spüren: Die nationale Souveränität und die Menschenrechte wurden zu Boden gebracht, was dazu führte, dass Griechenland derzeit den Platz des zweitärmsten Landes in Europa einnimmt. Inmitten der ständigen Demütigung von Menschen, menschlichen Werten, Institutionen und Prozessen, die ein Minimum an Menschenwürde garantieren, führte ziviler Ungehorsam zu einem lebendigen Beweis dafür, was in der demokratischen Praxis möglich ist. Der Unterschied zu den vorherrschenden PSM-Paradigmen bestand - abgesehen von den offensichtlichen Problemen der Hierarchie, der Starrheit, des Ausschlusses und der Nachrichtenwerte - darin, dass eine fließende und partizipatorische Regierungsführung durch Praktiken der Nachrichtengenerierung und -berichterstattung mit, durch und für die verschiedenen Öffentlichkeiten unterstützt wurde und unterstützt wird. Informationen, die neben konventionellen Nachrichtensendungen zu langen Gesprächen und Kontroversen erweitert wurden, galten als alles, was von öffentlicher Bedeutung war, Expert:innen waren nicht nur Akademiker:innen und Analyst:innen oder wenige politische Vertreter:innen, sondern auch Bürger:innen, Kreative, Arbeiter:innen, Aktivist:innen, Kinder. Die Berichterstattung war nachhaltig und ein-
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deutig dem öffentlichen Interesse verpflichtet, kritisch und transparent gegenüber dem Publikum, was die Prioritäten, das Ansehen der Journalist:innen und Moderator:innen und die Universalität in Bezug auf Geographie, Klasse, Geschlecht, Alter und Themen betraf.
Die vorherrschenden Paradigmen der PSM führen rechnerisch zu einer weiteren Abkopplung ihres demokratischen Auftrags. Der Druck von Politik und Markt wird nicht nachlassen. Algorithmische, maschinelle „Regulatoren” sind dafür zuständig, Inhalte zu priorisieren und zum Schweigen zu bringen und Entscheidungen darüber zu treffen, welche Inhalte Millionen von Nutzer:innen erreichen. PSM nutzen datengesteuerte Personalisierungen und die Erstellung von Inhalten. Bürger:innen, die als „Probleme” bezeichnet werden, wenn sie die mangelnde Vollständigkeit der PSM und ihre investigative Motivation kritisieren, lehnen Lizenzgebühren ab und misstrauen dem System der Prominenten. Die lange Zeit geltende Akzeptanz der „Unparteilichkeit” oder „Objektivität” von Nachrichtenmedien insgesamt und von PSM ist nicht mehr gegeben. Informationsfragmentierung, Kommunikationssilos, sozioökonomische Polarisierung, Frustration und Demütigung haben in verschiedenen Kombinationen auf dem ganzen Kontinent zu widersprüchlichen politischen Artikulationen der Betroffenheit geführt: Pro-demokratisches Engagement, das sich in den physischen Räumen von Plätzen und Straßen durch fließende, themenbezogene Bewegungen in den Multikrisen des letzten Vierteljahrhunderts wie Occupy und Indignados, Nuit Debut, No Pay und Anti-Austeritäts-Bewegungen, Frauenmärsche und der Frauenstreik, die Me-Too-Bewegung, Extinction Rebellion, Gilet jaune, Bauernbewegung, Antikriegsbewegungen, wendet sich an die nationalen Regierungen und die europäische Führung, um zu einer Politik der Hoffnung zurückzukehren und wieder in diese zu investieren. Während die Kritik an den europäischen und nationalen Eliten ungebrochen anhält und keine Anzeichen eines Nachlassens zeigt, nimmt die Mobilisierung der pro-europäischen Bürgerschaft angesichts der Erfahrungen mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zu. Es ist an der Zeit, sich zu einem echten öffentlichen Dienst zu verpflichten, die größtmögliche Beteiligung der Bürger:innen anzustreben und zu ermöglichen und von einem Ort des erweiterten Denkens aus zu handeln, wie es Hanah Arendt vorschwebte. Demokratie bedeutet Zerbrechlichkeit. Demut. Fürsorge.
Hinweis auf die Transparenz: Ich schreibe diesen Beitrag von einem kritischen Standpunkt aus, der die grundlegende Frage beinhaltet, wie der Öffentlichkeit am besten durch ihre eigenen Medien gedient werden kann. Ich schreibe mit der Erfahrung der Wissenschaft als Akademikerin, öffentlicher Intellektuelle und im Dienste der Öffentlichkeit, als
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gebürtige Griechin und heutige Doppelstaatsbürgerin, als europäische Staatsbürgerin mit Arbeits- und Lebenserfahrung in vier Ländern und als ehemalige Inhaberin des ehrenamtlichen (unbezahlten) Amtes der Verwaltungsratsvorsitzenden des öffentlich-rechtlichen griechischen Rundfunksenders 3 (Elliniki Radiofonia Tileorasi 3), die im Land aufgewachsen ist. Ich schreibe also nicht von einem theoretischen und abstrakten Standpunkt aus, sondern von einem Standpunkt aus, an dem ich aus erster Hand und in der Praxis gesehen habe, was möglich ist und aus welchen Gründen das Mögliche so vehement abgelehnt wird.
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| HUNGARY | UNGARN | WO LIEGT HIER DER ÖFFENTLICHE NUTZEN?
PROF.DR. GÁBOR POLYÁK EÖTVÖS, LÓRÁND UNIVERSITÄT
ASS.PROF.
IN ÁGNES URBÁN, PHD, CORVINUS UNIVERSITÄT BUDAPEST
Die ungarischen öffentlich-rechtlichen Medien werden international als Negativbeispiel gesehen, und das ist völlig verständlich. Der erste Schritt der Medienerfassung war die Umstrukturierung der öffentlichrechtlichen Medien und die Schaffung einer regierungstreuen Redaktion. Das Ziel war bereits 2010 offensichtlich: Der Wahlsieger Viktor Orbán wollte einen Medienhintergrund aufbauen, der die öffentliche Meinung vollständig unter Kontrolle hält, und die öffentlich-rechtlichen Medien spielten dabei eine wichtige Rolle. Seitdem sind vierzehn Jahre vergangen, und wir können sagen, dass das Experiment aus ihrer Sicht erfolgreich war: Es ist ihnen gelungen, eine öffentliche Kontrolle in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zu schaffen, und die öffentlichrechtlichen Medien haben ihren Teil dazu beigetragen.
Unklare Zuständigkeiten, mangelnde Transparenz In Ungarn gab es nie wirklich unabhängige, hoch angesehene öffentlichrechtliche Medien (PSM). Auch vor 2010 waren die öffentlich-rechtlichen Medien gegenüber den politischen Kräften an der Macht voreingenommen, ohne jedoch zu unkritischer Propaganda überzugehen. Ein großer Schritt war eine 2010 durgeführte organisatorische Änderung, die zu einer vollständigen Abhängigkeit führte (Mertek, 2021).
Mit dem Mediengesetz wurden die zuvor getrennten öffentlich-rechtlichen Medienanstalten zum Fonds für die Unterstützung der Mediendienste und die Vermögensverwaltung (im Folgenden Fonds) zusammengefasst. Das Gesetz legt fest, dass dieser Fonds die Eigentumsrechte und -pflichten an den Vermögenswerten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausübt und – unter anderem – auch für die Produktion oder Unterstützung der Produktion öffentlich-rechtlicher Sendungen zuständig ist. An der Spitze des Fonds steht ein/e Geschäftsführer:in, der vom Präsidenten/ von der Präsidentin des Medienrats ohne Angabe von Gründen ernannt und abberufen werden kann und dessen Arbeit von keiner öffentlichen Stelle überprüft wird. Damals wurden die PSM von vier Aktiengesellschaften erbracht, aber die öffentlichen Mediendienstleister:innen hatten keine eigenen Produktionskapazitäten, so dass ihr Spielraum auf die Bestellung von Sendungen beim Fonds beschränkt war. Diese vier privaten Aktiengesellschaften waren Magyar Televízió Zrt. (Ungarisches Fernsehen), Duna Televízió Zrt. (Duna Television), Magyar Rádió Zrt.
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(Ungarischer Rundfunk), und die Magyar Távirati Iroda Zrt. (Ungarische Nachrichtenagentur).
Eine weitere organisatorische Änderung fand 2015 statt. Infolge einer Änderung des Mediengesetzes wurde die Duna Media Service Nonprofit Ltd. (im Folgenden Duna) als rechtlicher Nachfolger der früheren Unternehmen gegründet. Duna wurde zum Anbieter aller öffentlich-rechtlichen Fernseh-, Radio- und Online-Inhaltedienste sowie der Aktivitäten des öffentlich-rechtlichen Nachrichtenagenten.
Auf der Grundlage des Mediengesetzes unterliegt Duna der externen Kontrolle mehrerer öffentlicher Gremien (Stiftungsrat des öffentlichrechtlichen Rundfunks, Steuerrat des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Rat des öffentlich-rechtlichen Rundfunks), während der Fonds der Kontrolle einer einzigen Organisation unterliegt: dem Medienrat. Die Mitglieder des Medienrats wurden von der Regierungspartei entsandt, so dass es keine unabhängige Kontrolle über den Fonds gibt. Nach dem Mediengesetz ist Duna also de jure ein öffentlich-rechtlicher Medienanbieter, der mehr oder weniger angemessenen externen Kontrollmechanismen unterliegt, aber in Wirklichkeit ist die Aufsicht nur eine Fassade, da er keine Ressourcen für die tatsächliche Wahrnehmung dieser Aufgaben hat. De facto produziert und kauft der Fonds die Programme, so dass der Fonds über Steuergelder verfügt, ohne einer sinnvollen externen Kontrolle zu unterliegen.
Die Ausgaben des Fonds sind nicht transparent, obwohl seit 2019 zumindest ein Jahresbericht auf der Website veröffentlicht wird. In jedem Fall ist unklar, wie viel der Fonds für bestimmte gemeinwirtschaftliche Zwecke ausgegeben hat. Darüber hinaus veröffentlicht der Fonds Verträge über 5 Millionen, aber es sollte hinzugefügt werden, dass es sich dabei um eine schlechte Qualität gescannter PDF-Dateien in einem nicht durchsuchbaren Format handelt. Die Funktion und das Finanzsystem der nationalen Nachrichtenagentur (MTI) wurden 2011 ebenfalls geändert, sie wurde in das System der öffentlich-rechtlichen Medien integriert. Dies geschah parallel zum Zentralisierungsprozess der öffentlich-rechtlichen Medien. Die Aufgaben des MTI wurden auf die Produktion von Nachrichtensendungen für andere öffentlich-rechtliche Medienanbieter ausgeweitet. Die Gebühren von MTI wurden abgeschafft, das Unternehmen bietet seine Nachrichtendienste allen Medienanbietern kostenlos an. Damit wurde der Markt für Nachrichtenagenturen in Ungarn zerstört. Es gab niemanden auf dem Markt, der mit den kostenlosen Diensten konkurrieren konnte, und die kommerziellen Konkurrenten von MTI gaben einen nach dem anderen auf, so dass der staatliche Anbieter als Monopolist auf dem Markt übrig blieb.
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PSM als Propagandamaschine
Die propagandistische redaktionelle Praxis der ungarischen öffentlichen Medien ist gut dokumentiert. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen für Propaganda und Lügen. Selbst die OSZE kritisierte die einseitige redaktionelle Praxis während der Wahlkämpfe 2018 und 2022. Der Bericht des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte zu den Parlamentswahlen analysierte auch die Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders M1 und stellte eine starke Voreingenommenheit während des Wahlkampfes fest. „In seiner redaktionellen Berichterstattung zeigte M1 eine Voreingenommenheit zugunsten der Regierungskoalition und der Regierung, die rund 61 Prozent der Nachrichtenberichterstattung erhielt. Im Durchschnitt waren 96 Prozent der Berichterstattung positiv, während 82 Prozent der Berichterstattung über die Opposition negativ war. Dies steht im Widerspruch zu den OSZE-Verpflichtungen und internationalen Standards für einen fairen Zugang zu den Programmen des öffentlichen Rundfunks und untergräbt das entsprechende Recht der Öffentlichkeit auf den Empfang von Medieninhalten. (OSZE, 2018).
Die Ergebnisse im Wahlkampf 2022 waren ähnlich. Der öffentliche Fernsehsender M1 war zugunsten der Regierung und der Regierungspartei voreingenommen. Es gab keine klare Unterscheidung zwischen der Berichterstattung über die Regierung und die Regierungspartei Fidesz, und die überwiegende Mehrheit dieser Nachrichten war positiv für sie. Die Oppositionskoalition erhielt 43 % der Gesamtberichterstattung, und diese Berichterstattung war überwiegend negativ. Die Berichte waren oft mit Kommentaren und unbegründeten Anschuldigungen gegen den Kandidat:innen der Opposition gespickt (OSZE, 2022).
Mertek Media Monitor analysierte auch die wichtigsten Fernsehnachrichtensendungen im Wahlkampf 2022. In den öffentlichen Fernsehnachrichten wurde den Oppositionskandidat:innen kaum Sendezeit eingeräumt, um seine/ihre Positionen und Ansichten selbst darzustellen. Er/ Sie wurde in der Berichterstattung kaum zitiert; meist wurde ein Standbild von der Person gezeigt, während dessen persönlichen Kommentare einzelne Sätze oder aus dem Zusammenhang gerissene Fragmente waren, völlig ungeeignet, um dessen tatsächlichen Meinungen darzustellen. Die Regierungspolitiker:innen hatten insgesamt 161 Minuten Redezeit in den Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, ihre Oppositionskandidat:innen dagegen nur 37 Minuten (Mertek, 2022). Wichtig ist auch, dass die Oppositionskandidat:innen überhaupt nicht eingeladen wurden, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen aufzutreten, abgesehen von den fünf Minuten, die im Wahlkampf für alle Kandidat:innen obligatorisch waren. Neben der unausgewoge -
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nen Berichterstattung während des Wahlkampfs ist auch klar, dass sich die PSM an der außenpolitischen Linie der ungarischen Regierung orientierte und zunehmend das Russland-Narrativ förderte.
Bereits 2014, als die Krim von Russland annektiert wurde, war die Präsenz des russischen Narrativs in der Berichterstattung der staatlichen Nachrichtenagentur, die 2011 in das PSM-System integriert worden war, erkennbar. Wie Rácz (2016) in seiner Inhaltsanalyse feststellte, bevorzugte die Nachrichtenagentur MTI eindeutig das russische Narrativ.
Bódi et al. (2022) kamen zu dem Schluss, dass sich die Darstellung des Fake-News-Problems im Jahr 2020 änderte: Statt falsche Informationen zu identifizieren, wurde der Vorwurf der Fake News zu einem Kommunikationsinstrument gegen die einheimischen unabhängigen Medien, die Opposition und die internationale liberale Elite.
Eine kürzlich durchgeführte Studie hat ergeben, dass sich das Anti-EUNarrativ als das dominanteste Narrativ in der öffentlichen Kommunikation über den Krieg in der Ukraine herauskristallisiert hat. Dieses Narrativ ist eine Erweiterung der „Brüssel”-Antipathie, die schon vor dem Ausbruch des Krieges jahrelang eine tragende Säule der Kommunikation von Regierung und PSM war. Gleichzeitig ist es ein wichtiges Element in den Bemühungen, Russland und die russische politische Führung von der Verantwortung für die aktuellen Probleme freizusprechen. Anstelle von Russland und Putin wird „Brüssel” als Quelle der Probleme dargestellt, die Ungarn aufgrund des Krieges und der Politik der Regierung hat (Urbán et al., 2023).
Literaturverzeichnis
Bódi, J., Polyák, G., & Urbán, Á. (2022). Az álhír fogalmának átalakulása a közszolgálati híradóban. A Hirado. hu álhírekkel kapcsolatos tartalmainak elemzése, 2010–2020 [The changing concept of fake news in public service news. An analysis of Hirado.hu’s content on fake news, 2010–2020] Médiakutató, 23(1), 7–26. https:// www.mediakutato.hu/cikk/2022_01_tavasz/01_az_alhir_fogalmanak_atalakulasa.pdf
Mertek (2021). Four Shades of Censorship. Illusion of Public Service Media in the Czech Republic, Hungary, Romania and Slovakia. Mertek Media Monitor, Budapest. p.64. https://mertek.eu/wp-content/uploads/2021/11/ Mertek-fuzetek_22.pdf
Mertek (2022). Election Campaign 2022. Analysis of the news shows of the three most-watched television channels. Mertek Media Monitor, Budapest. p.30. https://mertek.eu/wp-content/uploads/2022/07/Mertek_ fuzetek_27.pdf
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OSCE (Office for Democratic Institutions and Human Rights) (2022). Hungary: Parliamentary elections and referendum 3 April 2022. https://www.osce.org/files/f/documents/2/6/523568.pdf
Rácz, A. (2016). Hungary: Where the government-controlled media was the main entry point for Russian metanarratives. In K. Pynnöniemi & A. Rácz (Eds.), Fog of falsehood: Russian strategy of deception and the conflict in Ukraine (pp. 211-243). Finnish Institute of International Affairs.
Urbán, Á. – Polyák, G. – Horváth, K. (2023). How Public Service Media Disinformation Shapes Hungarian Public Discourse. Media and Communication 11(4), 62-72. https://www.cogitatiopress.com/mediaandcommunication/article/view/7148
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| IRELAND |
IRLAND
| DIE ROLLE DER
ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN MEDIEN IN EUROPA
DR. IN EILEEN CULLOTY UNIVERSITÄT DUBLIN CITY
Die Diskussionen über Medien und Demokratie sind heute von einem Gefühl der Krise durchdrungen. Vor mehr als einem Jahrhundert warnte der Philosoph John Dewey, dass „die Demokratie in jeder Generation1 neu geboren werden muss”. Mit anderen Worten: Argumente für die Demokratie müssen im spezifischen Kontext jeder Epoche vorgebracht und geprüft werden. Darüber hinaus ist es ein Fehler anzunehmen, dass alte Argumente für jüngere Generationen sinnvoll oder ihnen sogar bekannt sind. Deweys Argumente lassen sich eindeutig auf die öffentlich-rechtlichen Medien übertragen (PSM). Eine Idee, die aus der Technologie des frühen 20. Jahrhunderts stammt, muss nun neu definiert werden, um den Herausforderungen des digitalen Zeitalters gerecht zu werden. Und diejenigen von uns, die an den bleibenden Wert von PSM glauben, müssen ihre Argumente öffentlich vortragen. Denn wenn es im Grunde um das öffentliche Wohl geht, muss das Argument für die Öffentlichkeit leicht verständlich sein. Wenn man sich die jüngsten Ereignisse in Irland vor Augen führt, gibt es leider keinen Grund zu der Annahme, dass die Öffentlichkeit, die Politiker:innen oder sogar die Medienschaffenden verstehen, warum PSM so wichtig ist.
Die oberflächliche Debatte in Irland
PSM waren Gegenstand einer intensiven, aber oberflächlichen Debatte in Irland. Im Juni 2023 wurde die öffentlich-rechtliche irische Rundfunkanstalt RTÉ in einen Skandal um geheime Zahlungen an einen hochrangigen Moderator verwickelt. Dieser Skandal wurde von anderen Skandalen um großzügige Zahlungen an Führungskräfte und die falsche Einstufung von Mitarbeiter:innen als freie Mitarbeiter:innen begleitet. Die Kontroverse wurde zu einem nationalen Drama. Eine Rekordzahl von Menschen verfolgte die Sitzungen des parlamentarischen Medienausschusses; Journalist:innen luden Wissenschaftler:innen ein, um die Finanzierung der Medien zu erläutern, und Politiker:innen aus allen Bereichen des Spektrums bekräftigten schnell ihre Unterstützung für PSM. Letztere wurde jedoch häufig durch die Behauptung untergraben, dass fast alle Medien öffentlich-rechtlich seien und daher öffentliche Gelder verdienten.
1 Dewey, J. (1916). Democracy and Education. Macmillan Publishing.
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Immer wieder zeigten Politiker:innen, Journalist:innen und Kommentator:innen große Wissenslücken. Sie stellten fadenscheinige Behauptungen über verschiedene Finanzierungsmodelle auf und vertraten die einschränkende Vorstellung, dass es bei den öffentlich-rechtlichen Medien in erster Linie um Nachrichten und aktuelle Themen geht. Diese Unwissenheit war umso entmutigender, als Irland gerade eine „einmalige” Überprüfung des Mediensystems abgeschlossen hatte.
Die von der Regierung eingesetzte Kommission für die Zukunft der Medien2 war ursprünglich als eine Untersuchung über die Zukunft der öffentlichrechtlichen Medien gedacht. Viele hofften, dass sie die jahrzehntelange Unsicherheit im Zusammenhang mit dem dualen Finanzierungsmodell von RTÉ (Lizenzgebühren und Werbung) beenden würde. Unter den europäischen öffentlich-rechtlichen Sendern ist RTÉ insofern ungewöhnlich, als 43 Prozent seiner Einnahmen aus kommerziellen Erträgen stammen; der Durchschnitt der Europäischen Rundfunkunion liegt bei nur 18 Prozent3 . Kritiker:innen argumentieren seit langem, dass dies zu einem Konflikt zwischen öffentlichem Dienst und kommerziellen Interessen führt, wobei letztere überwiegen. In der Zwischenzeit haben die Führungskräfte von RTÉ wiederholt argumentiert, dass die Lizenzgebühr (derzeit 160 €) nicht mit der Inflation gestiegen ist und dass die Hinterziehungsraten hoch sind4 .
Nichtsdestotrotz wurde der Aufgabenbereich der Kommission für die Zukunft der Medien erheblich erweitert, um das gesamte Mediensystem einzubeziehen. Insbesondere konzentrierte sie sich auf die Nachrichtenmedien als einen krisengeschüttelten Sektor und auf Fragen der Vielfalt und Integration angesichts des tiefgreifenden sozialen Wandels in Irland. Im Jahr 2022 veröffentlichte die Kommission zur Zukunft der Medien ihren Abschlussbericht mit 50 Empfehlungen. Die Regierung akzeptierte 49 von ihnen und lehnte die Empfehlung ab, die PSM-Lizenzgebühr durch eine direkte Finanzierung aus der Staatskasse zu ersetzen. Bis zum April 2024 hat die Regierung noch nicht mitgeteilt, wie sie PSM finanzieren will.
RTÉ bleibt als Institution in Schieflage. Die Einnahmen aus den Rundfunkgebühren sind seit Beginn des Skandals um fast 22 Millionen Euro gesunken5 . Im Februar 2024 führte ein Streit zwischen dem Vorsitzenden
2 https://www.gov.ie/en/publication/ccae8-report-of-the-future-of-media-commission/
3 https://www.irishtimes.com/opinion/2023/07/13/rte-is-struggling-to-square-its-commercial-andpublic-interests-heres-why-it-should-be-fully-state-funded/
4 https://www.irishexaminer.com/news/arid-20352976.html
5 https://www.irishtimes.com/media/2024/03/07/tv-licence-sales-drop-by-almost-22m-since-start-of-
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des RTÉ-Verwaltungsrats und dem zuständigen Regierungsminister dazu, dass Ersterer zurücktrat und Letzterer vor einen weiteren Parlamentsausschuss gebracht wurde. Die Saga verspricht, immer weiterzugehen, aber was fast völlig fehlt, ist eine ernsthafte Diskussion darüber, was PSM ist oder sein könnte.
Zurück zu den Grundlagen
Der Grundgedanke der PSM ist relativ einfach zu verstehen. Vielleicht ist diese Einfachheit, wenn man Dewey bedenkt, der Grund, warum viele von uns es nicht für wichtig genug hielten, um es zu lehren oder zu predigen. Wenn gewinnorientierte Unternehmen das Mediensystem dominieren, wird die Öffentlichkeit in der Regel als Verbraucherin und nicht als Bürgerin behandelt. Dies kann dazu führen, dass das öffentliche Interesse dem Profit geopfert wird. Natürlich dienen einige kommerzielle Medien dem öffentlichen Interesse, aber es stimmt auch, dass die meisten von ihnen verpflichtet sind, den Gewinn ihrer Eigentümer:innen oder Aktionär:innen zu maximieren. PSM sollen diesen Einfluss abschwächen, indem sie den Bürger:innen Vorrang einräumen.
Als der Rundfunk vor mehr als 100 Jahren seinen Anfang nahm, war man sich darüber im Klaren, dass diese neue Technologie dem öffentlichen Wohl dienen könnte. Das von der BBC ins Leben gerufene Ethos der PSM versprach bekanntlich, die Öffentlichkeit zu informieren, zu bilden und zu unterhalten. Sicherlich hatten viele frühe Argumente für PSM auch einen paternalistischen und kontrollierenden Impetus. Nichtsdestotrotz ist die allgemeine Vision, Technologie im öffentlichen Interesse einzusetzen, nach wie vor eine noble Vision. Im Gegensatz dazu versäumten es die politischen Entscheidungsträger:innen in den 1990er Jahren, das Web zu regulieren, obwohl es ein noch größeres Potenzial hatte. Die Politiker:innen wollten, dass die Wirtschaft online floriert, und das hat sie auch getan. Es ist bemerkenswert, dass Wikipedia unter den beliebtesten Websites der Welt die einzige nicht-kommerzielle Einrichtung ist. Die Tech-Giganten, die die digitalen Medien kolonisiert haben (Google, Meta usw.), sind Werbeunternehmen.
Die Folgen sind drastisch, wenn man z. B. an die Kindermedien denkt. PSM hat ein Modell für pädagogische und kreative Programme für Kinder geschaffen. Die BBC schuf Blue Peter in den 1950er Jahren, gefolgt von der Sesamstraße in den USA ein Jahrzehnt später. Dies waren Medienräume, in denen Kindern keine Produkte verkauft wurden und in denen Lehrer:innen und pädagogische Fachleute das Programm gestalteten.
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Wie andere PSM in der Zeit von Covid-19 arbeitete auch RTÉ mit dem Bildungssektor zusammen, um als Reaktion auf Schulschließungen6 neue Programme anzubieten. Im Falle Irlands war dies eine bittersüße Bestätigung des Zwecks für eine Kinderabteilung, die unter dramatischen Kürzungen gelitten hatte.
Vergleichen Sie PSM mit den Tech-Giganten. Letztere verfügen über Plattformen, die auf „Engagement” und das Sammeln von Daten ausgelegt sind. Die Last liegt bei Kindern und Eltern, die sich selbst schützen müssen, indem sie sich an „Vertrauens- und Sicherheitsinitiativen” beteiligen. Es gibt keine Standards. Es gibt kein Engagement für die Erziehung und das Wohlergehen der Kinder. Wie Wired berichtet, „sagen Geschäftemacher, dass es ein guter Zeitpunkt ist, KI-generierte Kindervideos auf YouTube7 zu pushen”. Angesichts der Tatsache, dass Kinder immer mehr KIgeneriertem Unsinn ausgesetzt sind – was der Neurowissenschaftler Eric Hoel einprägsam als „synthetischen Traumbrei”8 bezeichnete –, liegt es auf der Hand, dass PSM verlässliche und bereichernde Medienerfahrungen für Kinder bieten sollte.
Ein Blick in die Zukunft
Viele fragen sich, ob PSM noch relevant sind. Oft geht es bei dieser Frage nur um die Technologie: „Warum brauchen wir Fernsehen, wenn wir das Internet haben?” Aber bei PSM ging es nie primär um Technik, sondern um das Gemeinwohl. Deshalb plädieren Christian Fuchs und Klaus Unterberger in TEXTE 25 für die Umwandlung von PSM in ein Public Service Internet9. Diese langfristige Vision hat durchaus ihre Berechtigung, aber hier sind einige Vorschläge, wie sich das europäische PSM in der Zwischenzeit neu definieren kann.
Nehmen Sie das öffentliche Eigentum ernst. PSM muss sinnvolle Wege finden, um die Öffentlichkeit einzubeziehen. Eine sinnvolle Beteiligung findet statt, wenn die Menschen Entscheidungen und Ergebnisse beeinflussen können. Das ist nicht der Fall, wenn die Menschen aufgefordert werden, uns ihre Meinung mitzuteilen” in den sozialen Medien oder bei öffentlichen Konsultationen. In The Return of the Public (Die Rückkehr der Öffentlichkeit)10 hat Dan Hind eindringlich dargelegt, dass die neuen Technologien den Bedarf an stark zentralisierten Medieninstitutionen und
6 https://www.ebu.ch/resources/covid-19-report
7 https://www.wired.com/story/your-kid-may-be-watching-ai-generated-videos-on-youtube/
8 https://twitter.com/erikphoel/status/1762506064308613239
9 https://zukunft.orf.at/rte/upload/2021_aktuelles/public_service_media_and_public_service_internet_manifesto.pdf
10 https://www.versobooks.com/products/2186-the-return-of-the-public
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Top-down-Entscheidungen beseitigt haben. Es besteht die Möglichkeit und die Notwendigkeit, PSM als Institution neu zu überdenken. Auf einem kürzlich in Dublin abgehaltenen Seminar stellte Prof. Des Freedman fest, dass die meisten PSM nicht durch die Nachfrage der Bevölkerung entstanden sind, wie dies beispielsweise bei der öffentlichen Forderung nach einem nationalen Gesundheitsdienst der Fall ist. Wenn also PSM bedroht sind, nimmt die Öffentlichkeit den Verlust nicht ohne weiteres wahr.
Helfen Sie den Gemeinschaften und insbesondere den jungen Menschen, ihre eigenen Medien zu schaffen. Es wird oft gesagt, dass junge Menschen sich nicht mit den traditionellen Medien beschäftigen, aber warum sollten sie das auch, wenn sie nur Inhalte konsumieren können?
PSM kann eine entscheidende Rolle dabei spielen, junge Menschen zu befähigen, Medien zu schaffen und ein kritisches Bewusstsein für Medien zu entwickeln. Das kann bedeuten, dass man mit Schulen und Jugendtheatern zusammenarbeitet oder Workshops veranstaltet, in denen gezeigt wird, wie man Inhalte erstellt.
Bieten Sie eine digitale Plattform zur Förderung nationaler und regionaler Kulturen. Globalisierte Medien schaffen eine Kultur der Gleichartigkeit. Aus diesem Grund haben so viele Länder ihre eigenen Versionen von „Dancing with the Stars” zur Hauptsendezeit. Globalisierte Medien schaffen auch nie dagewesene Möglichkeiten für lokale Dramen, sich international durchzusetzen. Unsere nationalen Kulturen können sich jedoch nicht auf internationale Konglomerate und kommerzielle Märkte verlassen. PSM werden benötigt, um Geschichten zu erzählen, die unabhängig von ihrem wirtschaftlichen Wert für die Öffentlichkeit wertvoll sind. Außerdem mangelt es oft an Möglichkeiten, Kurzfilme, Dokumentarfilme, Musikvideos und Animationen zu sehen, die den Großteil der kulturellen Produktion ausmachen. PSM spiele eine Schlüsselrolle bei der Förderung des Zugangs zu diesem kulturellen Leben.
Interessanterweise bildet Irlands irischsprachiger PSM-Sender TG4 eine Ausnahme von Freedmans Beobachtung über die öffentliche Nachfrage. Er entstand aus der Frustration über die englischsprachigen Medien und einem grundlegenden Bekenntnis zur kulturellen Identität. Der daraus entstandene Verlagsbroadcaster ist ein großer Erfolg: Kürzlich wurde ein irischsprachiger Film bei der Oscar-Verleihung gezeigt, die Berichterstattung über Frauensport wurde gefördert, und vor kurzem wurden ein Kinderkanal und eine Online-Plattform eingeführt. Man hat das Gefühl, dass dieser PSM versteht, wem er dient und warum – das ist vielleicht die wichtigste Voraussetzung für alle PSM.
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EINE KOHÄRENTE STIMME FÜR
EUROPA: ÖFFENTLICH-RECHTLICHE
MEDIEN ALS ANTWORT AUF
AKTUELLE HERAUSFORDERUNGEN
FLAVIA BARCA, MA MEDIA CONSULTANT
Einleitung: Öffentlich-rechtliche Medien als Rückgrat für Europa
Die größten Herausforderungen, denen sich Europa derzeit stellen muss, sind die Klimakrise und die geopolitischen Konflikte. Beide sind eng mit den Fähigkeiten und dem sozialen Dialog verknüpft. Die digitale Transformation, die als ein Werkzeug verstanden wird, das auf disruptive Weise in Produkte und wirtschaftliche, soziale und organisatorische Prozesse eingreift, und die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Gange ist, sich jetzt aber in einer besonders beschleunigten Phase befindet, ist in diesem Rahmen sowohl eine Chance als auch eine Bedrohung.
Die öffentlich-rechtlichen Medien, ein Netzwerk von Organisationen, die auf eine lange Geschichte zurückblicken und deren künftiger Auftrag noch zu klären ist, können in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen. Eine der wichtigsten Strategien der Europäischen Union zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung besteht darin, insbesondere in den letzten zehn Jahren, die Schaffung von Netzwerken und einen offenen Dialog anzuregen, um den Wissensaustausch zu fördern, die Kreativität zu entwickeln und die Innovation zu unterstützen. Eine wachsende Zahl von Netzwerken –von Organisationen und Bürger:innen – durchquert Europa und verbindet verschiedene Gebiete und Gemeinschaften im Dienste des sozialen Wohlergehens und des Zusammenhalts und zur Bekämpfung des Klimawandels. Das öffentlich-rechtliche Mediennetzwerk könnte aufgrund seiner Kapazität, seiner Solidität (trotz der wiederholten und vielfältigen Angriffe vieler Regierungen auf die Idee des öffentlich-rechtlichen Dienstes) und seiner Inklusivität eine privilegierte Stellung einnehmen und zum „Rückgrat Europas” werden, zur Stimme eines „gerechten” Wandels, einer Vision des digitalen und ökologischen Übergangs, die das individuelle und kollektive Wohlbefinden im Auge hat. In den folgenden Abschnitten werden wir untersuchen, wie diese Rolle ausgeübt werden kann, wobei wir uns insbesondere auf die „kohäsive” Rolle der PSM (Abs. 1) und auf ihre mögliche Funktion der „Domestizierung” des Digitalen für die Ziele des Gemeinwohls (Abs. 2) konzentrieren. Schließlich werden einige mögliche Aktionsbereiche für ein neues europäisches öffentlich-rechtliches Mediennetzwerk vorgeschlagen (Abs. 3).
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1. Die kohäsive Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien
Angesichts des Drucks der Globalisierungsprozesse und der Erosion traditioneller Gemeinschaften, der neuen Ungleichheiten, die durch das Eindringen des digitalen Ökosystems in öffentliche und private Räume entstehen, und des wachsenden Misstrauens gegenüber den Institutionen erscheint die Frage des sozialen Zusammenhalts als absolut zentral für die Widerstandsfähigkeit des sozialen Systems.
Das Konzept des sozialen Zusammenhalts hat eine lange und komplexe Geschichte, aber im Hinblick auf die Medien ist ein erster Schritt Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention über das Recht auf Meinungsäußerung, in dem der Europarat der Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien gerade im Hinblick auf die Förderung von Werten wie Demokratie, Vielfalt und sozialem Zusammenhalt große Bedeutung beimisst. In seinem Bericht 2008, mit dem er eine spezifische Entschließung umsetzt, hat der Europarat die Maßnahmen der verschiedenen europäischen öffentlichen Dienste zur Förderung des sozialen Zusammenhalts einer sorgfältigen Analyse unterzogen. Der Bericht wies auch auf die zentrale Bedeutung hin, die den Themen Vielfalt und Integration in den Bemühungen der BBC beigemessen wird, die sich seit ihrer Gründung das Konzept des sozialen Zusammenhalts zu eigen gemacht hat und es mit der Idee der Nationenbildung verknüpft.
Noch deutlicher wird das Konzept in der Analyse der Bertelsmann-Stiftung, die in ihrem Ansatz zum sozialen Zusammenhalt innerhalb von drei Bezugsrahmen – soziale Beziehungen, Grad der Verbundenheit, Interesse am Gemeinwohl – über das Thema Wahrnehmung, Vertrauen und Akzeptanz von Vielfalt nachdenkt. Das Thema Vielfalt steht auch im Mittelpunkt der Überlegungen von Andrew Jakubowicz, der in Anlehnung an Habermas und Anderson die öffentliche Sphäre als den wichtigsten Ort der Aushandlung und des Aufbaus des sozialen Zusammenhalts bezeichnet: Hier entwickeln sich zwei gegensätzliche Dynamiken, von denen die eine darauf abzielt, Konflikte, Fragmentierung und Misstrauen zu schüren, während die andere stattdessen die Befähigung der Bürger:innen, ihre Identität, ihr Vertrauen, ihr Zugehörigkeitsgefühl und den Aufbau von Sozialkapital fördert. Im Zusammenhang mit letzterem können wir den „kohäsiven” Auftrag des öffentlichen Dienstes sehen.
In Anlehnung an die Analyse von Jacubovicz könnte dieser kohäsive PSMAuftrag in vier Aktionslinien zusammengefasst werden: Erleichterung des Ausdrucks unterschiedlicher Weltanschauungen; Entgegenwirken von Stereotypen durch Darstellung widersprüchlicher und komplexer Realitäten; Unterstützung des Ausdrucks unterschiedlicher Kulturen und Meinungen einer Vielzahl von Zielgruppen; Förderung der Beteiligung und
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Interaktion zwischen Gruppen. In dieser Vision koexistieren Identität und Vielfalt, und das Konzept kommt in den Worten von Antonia Carparelli gut zum Ausdruck: „Eine Gesellschaft ist umso kohäsiver, je mehr die Individuen und Gemeinschaften in ihr darauf vertrauen, dass die Werte und die Kultur, die Institutionen und die Normen sowie die konkreten Mechanismen des Funktionierens und der Gestaltung der wirtschaftlichen und politischen Macht der Verfolgung ihrer persönlichen und sozialen Entwicklungsziele förderlich sind. Im Mittelpunkt steht das Thema Vertrauen (das bereits in den Überlegungen der Bertelsmann-Stiftung enthalten ist) in Verbindung mit dem von Amartya Sen entwickelten Konzept der menschlichen Entwicklung und der individuellen Entfaltung.
Wie erreichen wir vor diesem Hintergrund das Ziel, das Land zu verbinden und zusammenzuhalten? Indem wir uns an alle wenden, an Jung und Alt, an die Menschen in den Großstädten und auf dem Land; indem wir die soziale und kulturelle Integration auf allen Ebenen fördern; indem wir die Pluralität und Vielfalt der Teile der Gesellschaft repräsentieren; indem wir dem Reichtum und den Unterschieden, die es auf regionaler und provinzieller Ebene in unserem Land gibt, eine Stimme geben; indem wir der Öffentlichkeit einen Bericht über die Realität und gleichzeitig angemessene Instrumente zum Verständnis der heutigen Welt liefern; gesellschaftlich relevante Themen (von Geschlechter- oder Kinderfragen bis hin zu den Problemen von Menschen mit Behinderungen) in angemessener Weise ansprechen; zur aktiven und informierten Teilnahme am Leben der nationalen, europäischen und internationalen Institutionen auffordern; und schließlich die digitalen Kompetenzen des Landes (insbesondere in schwierigen Kontexten) im Hinblick auf neue Formen der Bürgerschaft verbessern.
Und welche Medien können diese Themen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen, jenseits der Logik des Profits und manchmal sogar der Publikumsmaximierung, wenn nicht ein öffentlich-rechtliches Medium, das seinen eigenen Auftrag auf eben diese Ziele stützt?
2. Die digitale Transformation und das Gemeinwohl Der Auftrag der öffentlich-rechtlichen Medien wird in den kommenden Jahren mit der digitalen Transformation und dem Aufkommen des Internets als privilegiertem Sende- und Kommunikationsraum konfrontiert werden. Das Internet setzt sich zunehmend als bevorzugtes Medium für viele Nutzerkategorien durch. Die Medienunternehmen, die in diesem Netz tätig sind, bieten schon seit langem Inhalte in nicht-linearer Form an, d. h. ohne zeitliche Begrenzung. Es handelt sich um einen raschen und wahrscheinlich unumkehrbaren Prozess, der tiefgreifende Auswirkungen
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auf die Gesamtstruktur des Mediensystems und insbesondere auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat.
Das Problem ist, dass das neue digitale Umfeld durch das Wirtschaftsmodell der großen privaten Medienkonzerne beeinflusst wurde. Der Übergang zur digitalen Welt bedeutet außerdem nicht das Ende der Vermittlung, denn das Empfehlungssystem lenkt die Nutzer:innen eher zu einem bestimmten Inhalt als zu einem anderen und wird somit zur Hand der Verleger:innen, die ihre redaktionelle Verantwortung wahrnimmt. Und es ist keine wirkliche Freiheit, denn, wie Amartya Sen uns erinnert, setzt die Freiheit ein volles Bewusstsein und eine volle Befähigung voraus.
Globale digitale Plattformen gefährden heute die persönlichen Daten der Nutzer:innen, ihre eigene Identität. Der Überwachungskapitalismus arbeitet zweigleisig: Einerseits werden die Verbraucher:innen profiliert, um ein maßgeschneidertes kommerzielles Angebot zu unterbreiten, andererseits werden sie transparent, nachvollziehbar, messbar und kontrollierbar gemacht. Die Menge an Informationen, die privat und ohne öffentliche Kontrolle gesammelt werden (trotz gewisser Grenzen, die durch die Europäische Datenschutzverordnung - GDPR und das Gesetz über digitale Dienste gesetzt wurden), hat zu einer datengesteuerten Wirtschaft geführt, die festgestellt hat, dass die tatsächlichen Bedürfnisse der Nutzer:innen weniger profitabel sind als Prognosen über ihr Verhalten. Gleichzeitig tragen globale Medienkonzerne – gewollt oder ungewollt – dazu bei, die Spiralen des sozialen Hasses und die Kette der Desinformation zu nähren.
Es erscheint immer dringlicher und notwendiger, sich auf ein Thema zu konzentrieren, das diesen Phänomenen Einhalt gebietet, indem ein neuer öffentlicher Raum definiert wird. Wir sprechen von einem digitalen Raum, in dem neue Werte und Regeln, die mit dem Auftrag eines öffentlichen Dienstes in Einklang stehen, definiert – und erprobt – werden können. Das bringt uns zurück zum Auftrag des öffentlichen Dienstes: Wie kann er Kompetenzen fördern? Wie kann er die Vielfalt der Produkte und Ideen, denen die Menschen ausgesetzt sind, erhöhen? Und wie kann diese „Anregung” oder „gute Vermittlung” in dem neuen digitalen Umfeld erzeugt werden?
Zu diesem Zweck hat eine große internationale Gemeinschaft von Expert:innen und Praktiker:innen in diesem Bereich eine zweijährige Arbeit über die problematische Interaktion zwischen Internet und Demokratie, Fake News und Hassreden, algorithmische Politik und die Auswirkungen kommerzieller Internetplattformen auf Bürger:innen, Nutzer:innen und die Gesellschaft gefördert. Der Weg nahm in einem wichtigen und deutlichen Dokument Gestalt an, dem Manifest für öffentlich-rechtliche
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Medien und das öffentlich-rechtliche Internet, einem Aufruf zur Rettung und Förderung der demokratischen Kommunikation durch die Erneuerung der öffentlich-rechtlichen Medien und die Schaffung eines öffentlich-rechtlichen Internets, mit Elementen der Analyse und konkreten Vorschlägen.
Diese Herausforderung wurde auch von großen öffentlichen Medienorganisationen auf internationaler Ebene in Angriff genommen. Es ist offensichtlich, dass es noch kein perfektes Modell oder eine eindeutige Richtung gibt, denn wie D‘Arma, Raats und Steemers in Erinnerung rufen, haben viele Rundfunkanstalten beim Übergang zu öffentlich-rechtlichen Plattformen die Modelle kommerzieller Plattformen nachgebildet, aber die Debatte ist im Gange, und die beiden Bereiche, in denen hauptsächlich experimentiert wird, sind die Möglichkeit, den Nutzern die Instrumente an die Hand zu geben, um Empfehlungssysteme zu verstehen, wenn nicht sogar auszuwählen, und ihnen die große Auswahl zu zeigen, auf die sie zugreifen können, kurz gesagt, die Welt „jenseits des Gartens”. Die öffentlich-rechtlichen Medien können vor dem Publikum als Garanten für „Verantwortlichkeit”, Transparenz, den richtigen Umgang mit persönlichen Daten („data trust”), aber vor allem für das Bewusstsein für die Formen des technologischen Kapitalismus stehen.
Zentral ist natürlich die Schaffung von Kompetenzen. Es handelt sich um eine Formel, die sich aus der Transparenz des Prozesses (Bewusstsein für die Funktionsweise des Systems), der Wahrhaftigkeit der Informationen, den vielfältigen und befähigenden Inhalten und der Beteiligung zusammensetzt. Die Technologie ermöglicht es, die Rolle der Nutzer:innen zu stärken, indem die Plattform offen und integrativ gestaltet wird. Ein agonistischer Raum, in dem unterschiedliche soziale und kulturelle Werte miteinander in Dialog treten, ein Raum für Verhandlungen: Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der PSM heute steht: die Bürger:innen in eine neue Form der Verhandlung einzubinden und Raum für Veränderungen zu schaffen. Ein öffentlicher Raum, in dem Vorschläge, die Überarbeitung von Inhalten, die Wiedereinführung und der Austausch von Produkten, die Mitgestaltung und möglicherweise kollektive Visionen stattfinden können.
In gewissem Sinne wäre dies die natürliche Übertragung des öffentlichrechtlichen Auftrags in das neue Jahrhundert, das das Ende des passiven Fernsehgenusses eingeläutet hat und neue Publikumsschichten sowie neue Nutzungs- und Beteiligungssysteme fördert. Niemand kann sich besser als die öffentlich-rechtlichen Medien einen neuen digitalen Raum vorstellen, in dem sich die Nutzer:innen willkommen und einbezogen fühlen, mit anderen Nutzern:innen in Beziehung treten oder sogar dazu angeregt werden können, selbst Schöpfer:innen neuer Sprachen und eines neuen
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Angebots zu werden. Vergessen wir auch nicht das riesige Rechtearchiv in den Händen der öffentlichen Dienste, ein Archiv, das zumindest teilweise in den Dienst neuer Kreations- und Co-Creation-Arbeiten gestellt werden könnte, um so den jugendlichen Zielgruppen näher zu kommen, die in vielen Ländern die öffentlichen Medien verlassen.
3. Auf dem Weg zu einem öffentlich-rechtlichen Mediennetzwerk als Stimme eines neuen Europas - einige Empfehlungen Roberto Suárez Candel und andere erinnern uns daran, dass die öffentlichrechtlichen Medien ihre Bemühungen verstärken, Brücken zwischen den Gebieten zu bauen, indem sie die Stimmen dieser Gebiete auf die nationale Bühne bringen, um die Debatte zu fördern und die Vielfalt zu würdigen. Ebenso kann das öffentlich-rechtliche Mediennetzwerk zu einer neuen, kohäsiven Stimme der europäischen Regionen werden, die es den Menschen ermöglicht, durch eine hitzige, offene, informierte und vernünftige öffentliche Diskussion an den Entscheidungsprozessen teilzunehmen. Wie Fuchs bereits 2017 argumentierte, ist es an der Zeit zu erkennen, dass sich die europäische Medienlandschaft vom US-Kapitalismus unterscheidet und dass die öffentlich-rechtlichen Medien eine ihrer Stärken ist.
In Anbetracht dessen, was in den vorangegangenen Abschnitten erörtert wurde, ist klar, dass die öffentlich-rechtlichen Medien die digitale Transformation nicht nur bewältigen können, indem sie deren schlimmste Aspekte eindämmen und einen demokratischen Raum für Debatten bewahren, sondern sogar eine wichtige Rolle bei der Qualität der Zukunft spielen, die uns erwartet. In der scharfen Bifurkation, die der technologische Wandel beschleunigt, zwischen dem Rückzug der Demokratie in autoritäre Konfigurationen und dem Fortschritt hin zu fortschrittlicheren Demokratiemodellen, die in der Lage sind, neue Formen der Volkssouveränität zu verwirklichen, die dem breiten Wissen der Menschen angepasst sind, können und müssen die öffentlichen Medien eine entscheidende Rolle spielen.
Untersuchen wir, wie dies in drei möglichen Aktionsbereichen geschehen kann:
A. Öffentlich-rechtliche Algorithmen und Datenmanagement
Die öffentlich-rechtlichen Medien können Empfehlungssysteme einführen, die für die Nutzer:innen relevant sind, aber gleichzeitig Zugang zu unparteiischen und pluralen Informationen bieten und die kulturelle Vielfalt und den Zusammenhalt fördern.
Ein öffentlich-rechtliches Mediennetzwerk könnte auch, wie Michele Mezza vorschlägt, in dreierlei Hinsicht europäische Oasen schaffen:
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• Transparente Sammlung und Speicherung von Daten mit einer zertifizierten Rückverfolgbarkeit (ein echtes Sammlungszertifikat), das belegt, dass die Plattform die Daten der Nutze:innen ausschließlich gesammelt hat, um den Bürger:innen die geeignetsten Zusatzdienste anbieten zu können;
• Die öffentlich-rechtlichen Medien könnten ihre Daten übergreifend in den verschiedenen europäischen Ländern, die dem Big-Data-Big-Society-Abkommen beigetreten sind, Gemeinschaften, Territorien oder einzelnen Bürger:innen zur Verfügung stellen (jeder kann seine eigenen Daten wie in einer Bank sammeln);
• Das PSM-Netzwerk könnte Inkubator-Kanäle für Aktivitäten und Berufe (Musik, Geschichtenerzählen, kulturelles Erbe, Smart Cities) einrichten, um die Entwicklung lokaler Talente oder Projekte zu unterstützen, wobei auch PSM-Archive und kulturelles Erbe wiederverwendet werden könnten, z. B. könnte es einen speziellen europäischen Kanal für Museen organisieren, um die Ausbildung von für den Sektor relevanten Berufsprofilen zu fördern.
B. Langsame Medien
Was bedeutet es für die öffentlichen Medien, sich mit dem grünen Wandel auseinanderzusetzen? Brevini argumentiert, dass die von der Klimaforschung festgestellte Beschleunigung der Auswirkungen menschlicher Eingriffe auf die Ökosysteme der Erde mit einer erheblichen Beschleunigung und Entwicklung von Kommunikations- und Computersystemen zusammenfällt.
Moei et alii zeigen drei Wege auf, wie die Medien die Umweltkrise beeinflussen und zur Zerstörung der natürlichen Ressourcen beitragen:
• Durch die Produktion von Luxusgütern als Teil einer kapitalistischen Überkonsumwirtschaft;
• durch die Förderung und den Beitrag zur geplanten Obsoleszenz;
• durch die enormen Energiemengen, die für die Produktion, Verteilung und Speicherung von Daten benötigt werden.
Die öffentlich-rechtlichen Medien könnten stattdessen eine große Kampagne für langsame Medien starten, um die stark beschleunigte Produktion, Übertragung, Speicherung und den Konsum von Medieninhalten und digitalen Geräten zu bekämpfen (S.244). PSM könnte auch die Kreativität der Wiederverwendung fördern, als Konzept des Gemeinwohls und als innovative Strategie für redaktionelle Angebote. Und sie könnte „die Blackbox öffnen”, indem sie eine transparente Darstellung des Kohlenstoff-Fußabdrucks von KI-gestützten Geräten in Form eines „Tech Carbon Footprint Labels” annimmt, um das Bewusstsein zu schärfen und die Regulierungsbehörden und die Öffentlichkeit über die Auswirkungen jeder KI-gestützten Aktion zu informieren.
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C. Aufbau von Kompetenzen
Der dritte Aktionsbereich, der natürlich quer zu den ersten beiden liegt, ist der Aufbau von Kompetenzen. Wie bereits erwähnt, setzt das neue digitale Universum ständig eine Vielzahl von Impulsen, Entscheidungen und Prozessen in Gang, die ein hohes Maß an Kompetenz erfordern, um nicht neue Ungleichheiten zu reproduzieren und Konflikte und soziale Fragmentierung zu verschärfen. Ein europäisches öffentliches Netzwerk kann „niemanden zurücklassen” und kritisches Denken fördern, um Fake News zu bekämpfen, aber auch um die Fähigkeit zu erwerben, sich von den von den Plattformen angebotenen Inhalten zu distanzieren, damit das Publikum eine klare Vorstellung vom Unterschied zwischen der Realität und dem Imaginären hat.
Der Aufbau von Kompetenzen bedeutet auch, das Vertrauen und die Instrumente zu schaffen, um individuell und kollektiv einen sozialen Wandel herbeizuführen und so die Bewohner:innen des Kontinents in die Lage zu versetzen, die großen Herausforderungen des neuen Jahrhunderts zu bewältigen.
Genau hier, wo die Zukunft Gestalt annimmt, können die öffentlichen Medienplattformen eine Schlüsselrolle spielen, indem sie zuverlässige, vielfältige und befähigende Produkte und Informationen in einem zunehmend generativen, ko-kreativen und kohärenten Dialog mit ihrem Publikum anbieten.
Literaturverzeichnis
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Andrew Jakubowicz, cit., p. 158.
The latter, a useful theme for reasoning on the definition of social cohesion in television, contains two elements: the construction of ties within social groups and the construction of ties between social groups.
ZUR ZUKUNFT ÖFFENTLICH-RECHTLICHER MEDIEN IN DER EUROPÄISCHEN UNION
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A broadcasting space for a few more years, for those European countries that are not ready for the leap. In Italy, for example, audiences are not yet fully digitised, and national PSM economic model is not ready for the new digital environment - Bruno F., Lobianco V., Perrucci A., Preta A. (eds), La televisione del futuro, Le prospettive del mercato televisivo nella transizione digitale, Il Mulino
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The European Commission has also expressed itself on this issue by referring to „technological solutions instrumental in boosting engagement, including transparent algorithms used to improve content recommendations and adapt paywalls” (Commission Recommendation of 16.09.2022 on internal safeguards for editorial independence and ownership transparency in the media sector, C(2022) 6536 final).
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| LATVIA | LETTLAND |
DIE VEREINHEITLICHUNG DER LETTISCHEN MEDIEN IM SCHATTEN DES STAATLICHEN SPRACHDISKURSES UND
DER AGGRESSION
MG.SC.SOC. RAIVIS VILŪNS & MG.SC.SOC. MĀRTIŅŠ PRIČINS UNIVERSITÄT VON LETTLAND
Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit behielten die öffentlich-rechtlichen Medien Lettlands ein System aus getrennten öffentlichrechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten (LTV und LR) bei, die volle redaktionelle und institutionelle Unabhängigkeit genossen. Die Idee eines Zusammenschlusses nach dem Vorbild der BBC und anderer europäischer öffentlich-rechtlicher Medien wird seit mehr als einem Jahrzehnt auf verschiedenen Ebenen diskutiert, soll aber erst 2024 umgesetzt werden. Die Präsenz der russischen Sprache in den öffentlichen Medien ist zu einem zentralen Thema in der öffentlichen Debatte geworden. Parallel dazu werden Fragen der Vergütung, des Inhalts und des Formats erörtert, während Fachleute und Branchenbeobachter:innen vor Gefahren für die Meinungsfreiheit warnen.
Seit dem Zusammenbruch der UdSSR und der Wiederherstellung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 spielen die öffentlich-rechtlichen Medien Lettlands eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung des Informationsumfelds. Obwohl der lettische Rundfunk (LR) und das lettische Fernsehen (LTV) aus denselben Mitteln finanziert werden und denselben Aufsichts- und Regulierungsmechanismen unterliegen, haben sie als zwei völlig getrennte Organisationen mit eigenen Vorständen, Budgets, Redaktionen und Abteilungen gearbeitet. Gleichzeitig wird die mögliche Fusion der beiden Medien seit vielen Jahren sowohl auf Expert:innen, als auch auf politischer Ebene diskutiert.
Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die beiden öffentlichrechtlichen Medien für die Online-Nachrichtenleser:innen bereits eine Einheit bilden, da das öffentlich-rechtliche Medienportal LSM seit 2013 in Betrieb ist. Obwohl es auf dem Papier eine Abteilung von LTV ist, bietet die Website Inhalte in drei Sprachen, die von der LR, LTV und der LSM-Redaktion selbst produziert werden. Man kann also sagen, dass die Medienfusion zumindest bei der Präsentation von Inhalten im Internet bereits teilweise vollzogen ist. Gleichzeitig ist anzumerken, dass alle drei
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Medien ihre eigenen, separaten Social-Media-Accounts unterhalten, die unabhängig voneinander verwaltet werden.
Im Jahr 2023 wurde jedoch der formale Prozess der Zusammenlegung der öffentlich-rechtlichen Medien endgültig eingeleitet. In diesem Jahr verabschiedete das lettische Parlament ein Gesetz, wonach bis zum 31. Dezember 2024 die notwendigen Schritte unternommen werden müssen, um sie ab 2025 zu einer einzigen Einheit zu machen. Dies hat Bedenken hinsichtlich der politischen Einflussnahme und des Verlusts erfolgreicher russischsprachiger Inhalte im digitalen Raum aufkommen lassen.
Präsenz der russischen Sprache
Gemäß Artikel 3 Absatz 3 des lettischen Gesetzes über öffentlich-rechtliche elektronische Medien und deren Verwaltung „produzieren die Medien ihre Programme und Dienste in Übereinstimmung mit hohen ethischen und qualitativen Standards, die journalistische Qualität gewährleisten und die höchsten internationalen Berufs- und Qualitätsstandards einhalten”. Absatz 4 desselben Artikels sieht vor, dass die Medien die Meinungsvielfalt gewährleisten und bei ihrer Tätigkeit Objektivität, Sorgfalt und Neutralität wahren müssen. Artikel 3 Absatz 7 sieht vor, dass die öffentlich-rechtlichen Medien Inhalte in Minderheitensprachen produzieren, um die nationale Zugehörigkeit und Integration zu fördern. Ein Thema, das seit langem im Zusammenhang mit den öffentlich-rechtlichen Medien diskutiert wird, ist die Präsenz der russischen Sprache in diesen Medien. Lettland hat eine bedeutende russischsprachige Bevölkerung – nach Angaben des lettischen Zentralamts für Statistik leben im Jahr 2023 24 % (445.000) Russinnen und Russen und 3 % (55.000) Weißrussen und -russinen in Lettland –, weshalb es seit der Unabhängigkeit sowohl in den öffentlich-rechtlichen als auch in den kommerziellen Medien Abteilungen, Programme, Kanäle oder Sendungen mit russischem Inhalt gibt. Die russische Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 warf die Frage nach der Präsenz der russischen Sprache und Kultur in Lettland auf, sowohl in der Gesellschaft als auch in den Medien. Es werden Fragen gestellt: Ist es notwendig, mit Steuergeldern Inhalte in der Sprache des Landes des Aggressors zu schaffen, und trägt dies nicht zur Aufrechterhaltung einer zweisprachigen Gesellschaft bei und behindert die Integration der russischen Volksgruppe in den lettischen Sprachraum?
Im Herbst 2023 verabschiedete Lettland ein neues nationales Sicherheitskonzept, das vorsieht, dass bis 2026 die Inhalte der öffentlichen Medien in russischer Sprache schrittweise zugunsten von Inhalten in lettischer Sprache und in Sprachen des europäischen Kulturkreises eingestellt werden. Die öffentlichen Medien sind damit nicht einverstanden
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und argumentieren, dass dies nicht zur Stärkung des Informationsumfelds und der Sicherheit beitragen wird. Der Generaldirektor der Europäischen Rundfunkunion Noel Curran erklärte in einem offenen Brief: „Lettland ist Mitglied der UNO, der EU und des Europarates und ist rechtlich verpflichtet, im Rahmen der internationalen, EU- und europäischen Menschenrechtsgesetze zu handeln. Die Regierungen sollten den Interessen und Bedürfnissen der gesamten Bevölkerung, einschließlich der Minderheiten, dienen, „Zugang zu den Medien zu haben und Informationen zu vermitteln und zu erhalten, auch in ihrer eigenen Sprache”, in Übereinstimmung mit den „Prinzipien des Pluralismus, der Toleranz und der Aufgeschlossenheit”.
Wie wichtig dieses Thema auf der politischen Agenda Lettlands ist, zeigt auch die Tatsache, dass am 8. April 2024 Medienvertreter:innen und politische Entscheidungsträger:innen zu einer vom lettischen Staatspräsidenten Edgars Rnkēvičs organisierten Diskussion zusammenkamen, bei der die Medienvertreter:innen auf eine Reihe von Themen aufmerksam machten, die ihnen am Herzen liegen, darunter die Präsenz der russischen Sprache.
„Wir können nicht alle Minderheitenangehörigen auf Russisch ansprechen. Es gibt Dinge, die wir im Laufe der Zeit ändern müssen, aber auf eine Art und Weise, die das Erreichte nicht zerstört, sondern unser Verständnis dessen, was Minderheiten sind, erweitert”, sagte der lettische Präsident, als er den Medien und Expert:innen zuhörte.
Mehrere Vertreter:innen der öffentlichen Medien wiesen darauf hin, dass die Unterbrechung russischsprachiger Inhalte bedeuten würde, dass ein Teil der Bevölkerung russischer Propaganda ausgesetzt werden könnte.
Die Medienvertreter:innen zählten die positiven Errungenschaften des Erstellens russischsprachiger Inhalte in den öffentlich-rechtlichen Medien auf (darauf wird weiter unten eingegangen).
Besorgnis über Bedrohungen der Freiheit
Die öffentlich-rechtlichen Medien sind seit Anfang 2021 aus dem Werbemarkt ausgestiegen. Allerdings gibt es nach wie vor Probleme bei der Finanzierungsplanung und politische Abhängigkeiten, da der Haushalt der öffentlich-rechtlichen Medien jedes Jahr vom nationalen Parlament genehmigt wird. Von Zeit zu Zeit setzen Beamt:innen aller Ränge – Minister:innen, Abgeordnete, außerparlamentarische Aktivist:innen oder einfache Bürger:innen – diese Hebel in Bewegung und weisen auf eine Überprüfung der Medienfinanzierung hin oder halten Vorträge darüber, wie die öffentlich-rechtlichen Medien funktionieren sollten. Dieses Problem war während des Covid-19 am stärksten ausgeprägt, hat sich
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aber nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine im Jahr 2022 noch verschärft.
Wie in vielen anderen Teilen der Welt sinkt auch in Lettland das Vertrauen der Zuschauer:innen in die Medienlandschaft. Laut einer Eurostat-Umfrage aus dem Jahr 2022 war das Vertrauen der lettischen Bürger:innen in die öffentlichen Medien etwas höher als der europäische Durchschnitt: 51 % der Lett:innen nannten die öffentlich-rechtlichen Medien als eine der drei vertrauenswürdigsten Nachrichtenquellen, verglichen mit 49 % im europäischen Durchschnitt. Im Vergleich dazu haben zwei andere baltische Länder ein höheres Vertrauen in die öffentlichen Medien - 56 % in Litauen und 67 % in Estland. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Inhalte mit Steuergeldern finanziert werden, ist der Wert in Lettland jedoch als niedrig anzusehen. Dies könnte auch eine Erklärung für die Zunahme negativer Einstellungen, Aggressionen und politischen Drucks gegenüber den Medien sein, die von Journalist:innen der öffentlichrechtlichen Medien geäußert werden.
In einem im April 2024 veröffentlichten Brief äußerten sich Vertreter:innen des lettischen Rundfunks besorgt über den Rückgang der Meinungsfreiheit und die Bemühungen, die öffentlich-rechtlichen Medien einzuschränken, unter anderem durch Politiker:innen und Regulierungsbehörden.
„Journalist:innen sind seit Jahren Hassattacken auf sozialen Netzwerken ausgesetzt, die einige von ihnen leider zum Schweigen gebracht haben. Ihre Stimmen werden in den sozialen Netzwerken nicht mehr gehört. (...) Russlands groß angelegter Einmarsch in der Ukraine hat die Grenzen der Meinungsfreiheit weiter eingeengt - von den Medien, insbesondere den öffentlich-rechtlichen, wird nur noch erwartet, dass sie „patriotische” Inhalte liefern, während das Äußern einer Meinung, die dem „Mainstream” zuwiderläuft, von den Medien als regierungsfeindlicher Akt angesehen wird”, heißt es in dem Schreiben, in dem die Risiken und redaktionellen Bedenken des lettischen Rundfunks aufgeführt werden. Ähnliche Bedenken äußerte auch die Medienbeauftragte Andra Rožukalne, die vor den Risiken von politischem Druck und verbaler Gewalt gegen Journalist:innen und den negativen Auswirkungen dieser Ereignisse auf die Meinungsfreiheit und den Meinungspluralismus warnte.
Digitale Inhalte und ihre Zukunft
Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei den öffentlich-rechtlichen Medien in Lettland derzeit um zwei unabhängige Unternehmen. LTV und LSM haben ein Budget von 31,3 Millionen für 2024, das fast vollständig vom
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Staat finanziert wird, während LR 15,5 Millionen für 2024 zur Verfügung hat. Auch wenn die zugrunde liegende Debatte inhaltsbezogen ist, wie Medienbeobachter:innen hoffen, würde die Fusion langfristig zu einer Verringerung der Verwaltungskosten führen, deren Einsparungen dann in die Schaffung von Inhalten fließen könnten.
Parallel dazu kommt es auch zu einer Überschneidung der in den sozialen Medien veröffentlichten Inhalte. LTV und LR nutzen ihre Instagram-Accounts, um für ihre Inhalte zu werben, während LSM versucht, informativere Inhalte anzubieten, wobei es zur Duplizierung von Nachrichteninhalten anderer Plattformen kommen kann. Dieses Phänomen ist auf der Plattform X noch ausgeprägter. Ein Zusammenschluss würde wahrscheinlich eine Harmonisierung der Strategien der verschiedenen Ersteller von Inhalten in den sozialen Medien ermöglichen und somit möglicherweise eine rationellere Nutzung der Ressourcen bieten.
Wenn es um Inhalte und die Nutzung digitaler Möglichkeiten geht, ist die von LR verfolgte Strategie jedoch ein interessantes Beispiel. LR besteht aus sechs Radiosendern.
• LR1 - Nachrichten, Diskussionen und Berichterstattung über aktuelle Themen;
• LR2 - lettischer Musik- und Unterhaltungskanal;
• LR3 - akademischer Musik- und Hochkultur-Radiosender;
• LR4 - Nachrichten, Diskussionen und Berichte über aktuelle Themen in russischer Sprache;
• LR5 - Sender für Jugendliche mit Schwerpunkt auf aktueller Musik und Unterhaltung;
• LR6 - Programme mit freiem Format.
Jeder dieser Sender füllt eine spezifische Nische und bietet einzigartige Inhalte, von denen die meisten auf anderen kommerziellen Sendern nicht zu finden sind. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist LR4, das Inhalte in russischer Sprache produziert, und zwar als einziges Audiomedium, das Nachrichten und analytische Programme in russischer Sprache produziert. Jeder der Radiosender hat auch eine digitale Präsenz auf Online-Plattformen wie Youtube, Facebook, Instagram, TikTok und X usw.
LTV konzentriert sich auf:
• LTV1 konzentriert sich auf aktuelle gesellschaftliche Themen und Nachrichten, aber auch auf Unterhaltungsinhalte, in- und ausländische Filme und Fernsehserien;
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• LTV7: Bei großen Sportereignissen liegt der Schwerpunkt auf dem Sport, während der Rest des Programms aus Unterhaltungssendungen und Wiederholungen von LTV1-Inhalten besteht;
• LSM ist ein Online-Medium, das Inhalte aus allen öffentlich-rechtlichen Medien zusammenfasst und auch eigene Inhalte produziert.
Erwähnenswert ist, dass die russischsprachige LSM (rus.lsm.lv) und insbesondere die von dieser Redaktion erstellten Inhalte der digitalen Plattform in den sozialen Medien große Popularität erlangt haben. Nach Angaben des SEPLP (Rat für öffentlich-rechtliche elektronische Medien) wurde der russischsprachige Youtube-Account im vergangenen Jahr mehr als 15 Millionen Mal aufgerufen (wobei zu beachten ist, dass in Lettland nur 1,8 Millionen Menschen leben), davon etwa die Hälfte aus Lettland und die Hälfte aus dem Ausland. Der große Anstieg wurde im Jahr 2022 beobachtet, als die russische Invasion in der Ukraine in vollem Umfang begann.
Dies zeigt, wie wichtig Inhalte, die außerhalb Russlands produziert werden, in einem freien Mediensystem sind, sowohl lokal als auch international. Dies zeigt das Potenzial, ein russischsprachiges Publikum in anderen Ländern zu erreichen und möglicherweise in Lettland produzierte Inhalte zu exportieren. Die russische Version der LSM weist ebenfalls konstant gute Statistiken auf und erreichte 2023 durchschnittlich 130.000 Leser:innen pro Woche, ein Drittel der 330.000 Leser:innen der lettischen Version der LSM.
Es sollte erwähnt werden, dass LSM auch Inhalte in englischer Sprache produziert. Diese erscheinen hauptsächlich in der Rubrik „Beiträge” und ziehen ein relativ kleines Publikum an (durchschnittlich 16 000 Leser:innen pro Woche im Jahr 2023). Es gibt keine nennenswerte Debatte über die Präsenz dieser Inhalte und es ist unwahrscheinlich, dass sie von den Änderungen betroffen sind.
Die Zukunft?
Der öffentliche Diskurs, der von Expert:innen, Branchenvertreter:innen und Politiker:innen geprägt wird, legt nahe, dass das zentrale Thema bei Fusionen von öffentlich-rechtlichen Medien die Sprache sein wird. Aber die Qualität der Inhalte, die Anpassung der Inhalte an hybride Formate, die Widerstandsfähigkeit der Informationen im Zusammenhang mit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine und andere wichtige Fragen sollten nicht vergessen werden. Aus der öffentlichen Debatte geht auch hervor, dass die Fusion zumindest kurzfristig keine Auswirkungen auf die lettischsprachigen Redaktionen haben wird. Da es in den kommen-
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den Jahren nicht zu einer physischen Fusion der Medien kommen wird, werden diese Redaktionen „de facto” unabhängig voneinander bleiben, sowohl in administrativer als auch in rein praktischer Hinsicht. Die Zukunft der russischsprachigen Redaktionen und der Produktion von Inhalten ist jedoch sehr viel ungewisser. Die politisch und soziokulturell aufgeladene Frage der Präsenz der russischen Sprache im lettischen Umfeld verschärft dies noch, und Diskussionen zu diesem Thema in den sozialen Medien provozieren, wie Branchenvertreter:innen erwähnen, Aggressionen gegen die Äußerung anderer Meinungen. Parallel dazu wird jedoch oft gesagt, dass die Einstellung der erfolgreichen Produktion russischsprachiger Inhalte ein Vakuum im Informationsumfeld schaffen wird und dass sich das mehr als ein Fünftel der lettischen Bevölkerung, das Inhalte in russischer Sprache konsumiert, in einer ideologisch undurchsichtigen Blase privater russischsprachiger Medien oder vom Kreml produzierter Inhalte wiederfinden könnte.
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MEINUNGSVERSCHIEDENHEITEN
FINDEN: ERKENNTNISSE DER
ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN MEDIEN
AUS DEN BALTISCHEN STAATEN
PROF. IN AUKSĖ BALČYTIENĖ PHD VYTAUTAS-MAGNUS-UNIVERSITÄT
Dieser Aufsatz gibt nur einen kurzen Überblick über Ideen, wie das Ideal der epistemischen Allmende und die Befähigung der Bürger:innen durch die Medien den Herausforderungen und Risiken der heutigen Zeit begegnen können, um dem öffentlichen Wohl zu dienen. Er stützt sich nur auf einige wenige Erkenntnisse aus den baltischen Ländern, doch die Situation dieser Länder im Hinterkopf zu haben, hilft dabei, den Kurs für das Nachdenken über die Rolle von PSM und seine Lösungen für Integration und Bürgerschaft in Europa festzulegen.
Hintergrund
Die baltischen Staaten haben im Vergleich zu anderen jungen Demokratien in Europa bemerkenswerte Fortschritte bei der Demokratisierung gemacht. Nach dem EU-Beitritt im Jahr 2004 haben die drei Länder erfolgreich Liberalisierungsreformen in ihren kleinen, wettbewerbsfähigen Märkten durchgeführt. In den zwei Jahrzehnten nach dem EU-Beitritt spielten die Medien eine entscheidende Rolle bei der Aufdeckung der Defizite im Reformprozess und bei der Umgestaltung der Medieninstitutionen von innen heraus. Heute genießen die Menschen in Litauen, Lettland und Estland einen hohen Lebensstandard und blicken sehr optimistisch in die Zukunft der Europäischen Union.
Doch trotz der Erfolge der Medienreformen sind mit den technologischen und sozialen Veränderungen, die das Informationsklima und die Bedingungen für die Bürger:innen in den baltischen Staaten beeinflussen, gewisse Risiken verbunden.
Obwohl die baltischen Nachrichtenmärkte klein und lebensfähig sind und es scheint, dass die Transparenz in Bezug auf Medieneigentum und die damit verbundenen Anforderungen an die Rechenschaftspflicht dort umgesetzt werden, haben Medienanalyst:innen wiederholt Bedenken hinsichtlich der mangelnden Vielfalt und Repräsentation der nationalen Medienlandschaft geäußert, vor allem für lokale, regionale und ethnische
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| LITHUANIA | LITAUEN | DEN DIALOG INMITTEN VON
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Gemeinschaften (Verza et al., 2024). Paradoxerweise hat die digitale Kommunikation die Anzahl der Möglichkeiten, wie Menschen kommunizieren und Interessengruppen bilden können, erweitert, und viele von ihnen haben die sozialen Medien für Zwecke wie Gruppensolidarität und (sozialen oder politischen) Expressionismus als äußerst attraktiv empfunden. Die rasche Ausbreitung globaler plattformgestützter Inhalte hat jedoch auch die Verbreitung von Cyberattacken, Mobbing und Hassreden extrem erleichtert. Infolgedessen geben die anhaltenden sozioökonomischen und regionalen Ungleichheiten und die gesellschaftliche „Spaltung” weiterhin Anlass zur Sorge über Einzelpersonen und gefährdete Gruppen, denen hochwertige Dienste und Nachrichteninhalte vorenthalten werden.
In den letzten Jahren gab es eine weitere Welle störender Veränderungen, die sich nachteilig auf die sozio-emotionale Stabilität der gesamten Gesellschaft auswirken. Zunächst waren es soziale und gesundheitliche Risiken und emotionale Auslöser von Unsicherheiten, die mit der weltweiten COVID-19-Pandemie zusammenkamen; dann folgten die russische Aggression und der Krieg in der Ukraine, die sozio-psychologische Herausforderungen mit sich brachten, die durch geopolitische und wirtschaftliche Risiken in der Region, in Europa und weltweit ausgelöst wurden. Aufgrund der raschen Veränderungen im Alltag der Menschen und des Versagens der Nachrichtenmedien bei der Berichterstattung, über die sich rasch entwickelnden Ereignisse wurde das Internet mit zweifelhaften Informationen überflutet. Dies hat bereits bestehende soziale Konflikte und hitzige Meinungsverschiedenheiten weiter verschärft. Infolgedessen wurden viele der Kontroversen von einigen einheimischen Politiker:innen als populistische Narrative aufgegriffen oder wurden zum Hauptziel von manipulativen und desinformierenden Angriffen böswilliger Akteure:innen.
In der Tat gibt es in allen europäischen Demokratien, sowohl in den alten als auch in den jungen, Anzeichen für populistische Rhetorik, Meinungsverschiedenheiten und Konflikte sowie für eine allgemeine Radikalisierung des öffentlichen Diskurses. Die baltischen Staaten bilden hier keine Ausnahme.
Die anhaltende Polarisierung der Gesellschaft wird sich zweifellos auch weiterhin auf die Funktionsweise von Nachrichtenmedien auswirken. In einem anhaltenden und wachsenden Informationsdefizit erscheinen daher eine verantwortungsvolle Kommunikation und eine fundierte Beratung – beides entspricht dem Auftrag der PSM – dringender denn je. Um jedoch erfolgreich über wichtige Angelegenheiten beraten zu können, muss man Zugang zu relevanten Nachrichten und hochwertigen Inhalten haben. Der Einzelne braucht also digitale Kompetenz, Datenbewusst-
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sein und Kenntnisse der Mediensysteme, um sich seine Meinung bilden zu können. Neben der Zugänglichkeit muss eine Reihe zusätzlicher Eigenschaften wie das Bewusstsein für die moralischen und fürsorglichen Grundsätze einer aufmerksamen und respektvollen Kommunikation betont werden, einschließlich der Fähigkeit, aufmerksam zuzuhören und sich zu kümmern (Kavada, 2024; Michalis & D‘Arma, 2024). Es ist unbestreitbar, dass der Einzelne durch Nachrichtenquellen Wissen erwirbt und seine Kommunikation durch die Beobachtung von Beispielen verbessert. Je persönlicher die Medien sind, desto mehr Menschen engagieren sich und kümmern sich um ihr eigenes Wohlergehen und das der anderen. Und je mehr sich jemand umsorgt fühlt, desto widerstandsfähiger wird er.
Deliberation und Resilienz
Es scheint, dass alle europäischen Demokratien vor der Aufgabe stehen, ihre eigenen Systeme der nationalen Resilienz zu entwickeln (Dragormir & Horowitz, 2021). Die Aufrechterhaltung einer zuverlässigen Informationsinfrastruktur und die Sicherstellung, dass die Öffentlichkeit ein Recht auf qualitativ hochwertige Nachrichten hat, scheint die größte Herausforderung in der Zeit des größten gesellschaftlichen Wandels zu sein.
In den drei baltischen Ländern haben die öffentlich-rechtlichen Medienorganisationen in jedem Land spezifische Stärken, die sie zu wichtigen Akteur:innen im nationalen Resilienzsystem machen. Das estnische ETV ist eine Nachrichtenorganisation, der mehr als zwei Drittel der Bevölkerung ihr Vertrauen schenken. ETV erreicht die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen und bietet hochprofessionelle Inhalte. Die litauische LRT hat schrittweise ein System zur Sicherung ihrer Professionalität und politischen Unabhängigkeit durch eine unabhängige Finanzierung eingerichtet. Dies ermöglicht es der LRT, den gesetzlich vorgeschriebenen öffentlich-rechtlichen Auftrag zu erfüllen. Die lettische LRT führt derzeit bedeutende Strukturreformen durch, um den Bedürfnissen junger Menschen und ethnischer Minderheiten gerecht zu werden.
Eine idealisierte (normative) Auffassung von PSM in der Demokratie besagt, dass integrative und deliberative Prozesse einen inhärenten partizipatorischen und pädagogischen Ansatz erfordern, der in seinen Funktionen umgesetzt wird. Die Medien und Journalist:innen setzen die Agenda und formulieren Themen, die für die Menschen wichtig sind. Die Medien vermitteln, d. h. sie schaffen eine öffentliche Arena, in der sich Bürger:innen engagieren und Diskurse entwickeln können. Den Idealen einer demokratischen und deliberativen Kommunikation folgend, sind Journalist:innen die einzigen Akteur:innen in einem Kommunikationsumfeld, die nach professionellen Grundsätzen der wissenschaftlichen Hinterfragung und
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ethischen Erkundung handeln. Professioneller Journalismus hält sich in seiner Berichterstattungspraxis an eine implizite Struktur: Er bestimmt die Rahmungsaspekte von Nachrichten und bezieht Stimmen ein, die für die Geschichte wichtig sind. Indem er sorgfältig dem Schema der 5 Ws (wer, was, wann, wo, warum) und dem H (how, deutsch. wie) folgt, erhält er eine narrative Struktur aufrecht und vermittelt ein verlässliches Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit, indem er das Bekannte liefert. Journalistische Nachrichten sind vor allem wegen ihrer kohärenten narrativen Struktur und ihrer Faktizität, die ein Gefühl der Kontinuität und Zugehörigkeit vermitteln, für den sozialen Zusammenhalt von entscheidender Bedeutung (Peter & Boersma, 2012). All diese letztgenannten Merkmale sind der Kern einer belastbaren Bürgerschaft.
Die Fülle an Informationen wird weiter zunehmen, und die Fragmentierung der Gesellschaft wird unvermeidlich sein, was zu neuen Anfälligkeiten führt. Vor diesem Hintergrund bleibt die drängende Frage bestehen: Wie kann der Einzelne ein Gefühl des sozialen Zusammenhalts entwickeln, wenn seine Informationsquellen vielfältig und über einen weiten Horizont verstreut sind? Verfügen sie über die notwendigen Fähigkeiten, Informationen und die Wahrnehmung von Kohärenz, um sich als Individuen sicher zu fühlen und die kollektive Integrität zu wahren? Welche Funktion haben die öffentlich-rechtlichen Medien in dieser Hinsicht?
Das hier vorgestellte Diagramm (siehe Abbildung 1) veranschaulicht die wesentlichen Merkmale, die für den Aufbau einer widerstandsfähigen und integrativen Gesellschaft erforderlich sind. Zu diesen Merkmalen gehört die Förderung der individuellen und kollektiven Resilienz durch die Kultivierung individueller Fähigkeiten und die Nutzung der öffentlich-rechtlichen Medien als Informationsplattform, die die Interessen und Sorgen aller Mitglieder widerspiegelt.
Abbildung 1. PSM als wichtige Komponente des Resilienzsystems.
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Umstrukturierungen in Nachrichtenorganisationen aufgrund der Plattformisierung und generativer, KI-gestützter Veränderungen stellen die Position und Bedeutung der Nachrichtenmedien bei der Festlegung der öffentlichen Agenda in Frage. In einem sich wandelnden digitalen Medien-Ökosystem wird es für Journalist:innen immer schwieriger, die Anwendung traditioneller journalistischer Grundsätze bei der Berichterstattung über Themen sicherzustellen, die einen Wertekonflikt offenlegen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein engagiertes und ethisches Hinterfragen und Zuhören bei der Entwicklung eines fürsorglichen Dialogs nützlich sein kann.
Synthese
Vor diesem Hintergrund muss eine Reihe kritischer Themen hervorgehoben werden, die einen spezifischen Wandel in der heutigen Medienlandschaft erfordern. Dazu gehören die Auswirkungen der digitalen Infrastruktur auf das Nachrichten-Ökosystem, die Zunahme disruptiver und dysfunktionaler Kommunikation und das Auftauchen neuer aufmerksamkeitsheischender Akteur:innen im digitalen Informationsbereich. Wie kann die Resilienz der Gesellschaft in einem solchen Kontext gewährleistet werden? Wie können die PSM dazu beitragen, dass die Gesellschaft die notwendige Unterstützung erhält?
In den baltischen Ländern wurden PSM als Instrument zur Verbreitung von Nachrichten über gemeinsame Themen wie Impfstoffskepsis oder umstrittene Themen im Zusammenhang mit der Erinnerungspolitik wahrgenommen. Ihre Stärke war schon immer die Flexibilität, mit der sie auf Ausnahmesituationen reagieren konnten. In den neueren Zeiten, die als konflikt- und diskussionsanfällig gelten, muss jedoch das Konzept des „synthetisierenden” und „fürsorglichen” Journalismus gefördert werden, um den sozialen Zusammenhalt und das öffentliche Gefühl der Zugehörigkeit zu einer größeren und besser integrierten Gesellschaft zu stärken.
Eine „synthetisierende” Haltung in der Berichterstattung bedeutet, über polarisierende Konflikte zu berichten und die zugrunde liegenden Spannungen, die sie verursachen, anzusprechen. Die „fürsorgliche” Haltung beinhaltet ein aktives Zuhören und Reagieren auf die Sorgen der Öffentlichkeit.
In Situationen anhaltender sozialer Divergenz und Polarisierung ist es von entscheidender Bedeutung, ein sicheres Umfeld für alle an Konflikten beteiligten Parteien zu schaffen. Das Ziel der Medien ist es, eine epistemische Autorität aufrechtzuerhalten und eine dialogische Kommuni-
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kationspraxis zu fördern. Im Rahmen dieser Funktion wird die Rolle von Journalist:innen als die fürsorglicher Mentor:innen und Moderator:innen wahrgenommen, und die Medien werden als eine sozial verantwortliche und fürsorgliche Organisation angesehen. Um zu wirklich aufmerksamen Institutionen zu werden, müssen die PSM daher ihren klassischen öffentlichen Auftrag aktualisieren und überarbeiten, um die Verantwortung gegenüber ihrem sich verändernden Publikum besser zu umreißen. Ebenso müssen die Bürger:innen an ihre demokratische Pflicht erinnert werden, neugierig zu bleiben und sich zu informieren. Damit dies geschehen kann, müssen andere epistemische Institutionen, wie z. B. Schulen, den Einzelnen bei der Entwicklung von epistemischen Fähigkeiten und ethischen Rahmenbedingungen unterstützen, indem sie Nachrichtenkompetenz und Ethik in der öffentlichen Kommunikation fördern.
Literaturverzeichnis
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WAS SOLLTE DER ÖFFENTLICHE
DIENST IM BEREICH DER MEDIEN TUN?
PHILIPPE DUMONG
CONSEIL DE PRESSE LUXEMBOURG
Bei unseren Nachbar:innen ist die Antwort auf die Frage, was öffentliches Radio und öffentliches Fernsehen ist, eindeutig. Für Luxemburg ist die Sache komplizierter. Der ursprünglich als soziokultureller Radiosender gegründete Sender, heute Radio 100,7, hat seit seiner Gründung 1993 die Rolle eines öffentlichen Radios übernommen. Darüber hinaus erfüllt auch der Privatsender RTL einen „öffentlichen Auftrag”. Im Bereich des Fernsehens nimmt das Unternehmen im Auftrag des Staates eine Monopolstellung ein.
Was soll der öffentliche Dienst im Medienbereich leisten? Wie sollte er definiert und finanziert werden? Das luxemburgische Parlament befasste sich mit dieser Frage während einer von der Regierung vor zwei Jahren beantragten Konsultationsdebatte. Die Regierung strebte eine gesetzliche Regelung der öffentlichen Medien an.
Zum besseren Verständnis: Für die Jahre 2021 bis 2023 sind für das öffentlich-rechtliche Fernsehen Luxemburgs 29,340 Millionen Euro an staatlichen Subventionen vorgesehen. Gemäß einer mehrjährigen Vereinbarung mit dem Staat erhält Radio 100,7 im Jahr 2023 6,85 Millionen Euro. RTL ist die größte Rundfunkanstalt und hat einen „öffentlich-rechtlichen Auftrag”, ist aber kein „öffentlich-rechtliches Medium”. Es gibt etwa sieben private Radiosender mit landesweiter Reichweite und nur einen Radiosender (Radio 100,7), der offiziell als öffentlich-rechtliches Medium anerkannt ist.
In der Frage eines von RTL unabhängigen öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders gab es jedoch Meinungsverschiedenheiten. Einige Politiker:innen hielten die Schaffung einer neuen Infrastruktur für kaum vertretbar. Sie verwiesen auf die damit verbundenen hohen Kosten. Zudem sei ungewiss, wie sich das Medium Fernsehen in Zukunft entwickeln werde. Andere Politiker:innen sprachen sich dafür aus, eine staatliche Alternative zu schaffen, anstatt einen unabhängigen Fernsehsender zu gründen. Sie erwähnten ein öffentlich-rechtliches Medium im Internet, ein Web-TV.
Andere Alternativen wurden in die Diskussion eingebracht. Sollte CLT-UFA (RTL) in Zukunft nicht bereit sein, die staatlichen Anforderungen zu erfüllen, müssten Alternativen zur Verfügung stehen. In diesem Zusammen-
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hang wurden neben einem Web-TV und einem eigenen Programm auch Partnerschaften mit öffentlich-rechtlichen Sendern im Ausland genannt. Alle Politiker:innen sprachen sich gegen die Einführung einer Gebühr zur Finanzierung von 100,7 und des Fernsehprogramms aus. Die öffentlichrechtlichen Medien sollten allgemein zugänglich bleiben. Die staatliche Förderung sollte auch nicht auf 100,7 und RTL beschränkt werden.
Der Zugang zu den öffentlich-rechtlichen Medien
Die Frage, wie der Zugang zu den öffentlich-rechtlichen Medien dank der Mehrsprachigkeit für alle Bürger:innen gewährleistet werden kann, ist nicht vollständig geklärt. Sowohl 100,7 als auch RTL bleiben weitgehend in luxemburgischer Sprache. Andererseits muss die luxemburgische Realität berücksichtigt werden, dass die Hälfte der Bevölkerung kein Luxemburgisch spricht. Programme in verschiedenen Sprachen könnten zum Beispiel als Podcasts oder Video on Demand zur Verfügung gestellt werden. Was den Fernsehsender betrifft, so muss RTL ein tägliches „Journal” von mindestens 30 Minuten ausstrahlen. Aber auch Kultur- und Sportsendungen sowie ein Wissensprogramm sind vorgeschrieben. Der Radiosender muss unter anderem ein gewisses Minimum an „Grundversorgung” bieten, zum Beispiel neben Nachrichtensendungen auch praktische Informationen zur Verkehrslage oder den Wetterbericht.
Da die Werbeeinnahmen auf dem lokalen Markt nicht ausreichen würden, um dieses Modell rentabel zu machen, finanziert der Staat die RTLProgramme nun mit 11 bis 15 Millionen Euro pro Jahr bis 2030 mit. Natürlich ohne, dass der Staat oder die Regierung in das Tagesgeschäft der verschiedenen RTL-Redaktionen eingreifen kann.
Für die sozialistische Partei, um nur dieses Beispiel zu nehmen, ist klar, dass Luxemburg sein luxemburgisches Fernsehen haben muss. Das würde aber nicht bedeuten, dass es keine Alternative zu RTL gibt. CLT-UFA ist ein privatrechtliches Unternehmen, das gewinnorientiert arbeitet. Deshalb setzt sich die sozialistische Partei seit langem für die Schaffung eines eigenen öffentlich-rechtlichen Senders in Luxemburg ein. Der Radiosender „100,7” ist mittlerweile eine feste Größe in der luxemburgischen Landschaft. Eine Ausweitung von „100,7” auf den Fernsehbereich ist für einige Politiker:innen denkbar, aber kein Muss. Auch eine Kooperation mit einem öffentlich-rechtlichen Sender aus der Großregion wäre eine Möglichkeit.
Gefahr von reißerischem Boulevard- und Billigjournalismus
Private Sender sind auf Werbekund:innen angewiesen – die Gefahr von reißerischem Boulevard- und Billigjournalismus ist offensichtlich. Deshalb muss die Laufzeit der RTL-Konvention genutzt werden, um sich auf
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die Zeit nach 2030 vorzubereiten und einen luxemburgischen öffentlichrechtlichen Sender zu gründen. Der neue Vertrag sieht übrigens vor, dass der Staat am Ende der Laufzeit das Fernsehmaterial von RTL kaufen kann.
Die Politiker:innen haben die Möglichkeit, die Zukunft des luxemburgischen Medienstandortes mit Augenmaß vorzubereiten. Die zentrale Frage, die die Befürworter:innen eines öffentlich-rechtlichen Fernsehens beantworten müssen, betrifft die Zielsetzung eines solchen Projekts. Der angebliche Bedarf an einem nationalen Elite- oder Qualitätsprogramm nach dem Vorbild des deutsch-französischen Kulturkanals „Arte” mit sehr hohen Kosten wird kaum überzeugen. Doch ein anderes Argument ist stärker: Das Fernsehen gilt als das Medium der sozialen Integration schlechthin. Wenn die luxemburgische Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten nicht völlig auseinanderfallen will, müssen Orte geschaffen werden, an denen sich der soziale Zusammenhalt entwickeln kann.
Wenn Luxemburg diese Überlegung anstellt, geht es jedoch nicht um ein „innerluxemburgisches” nationales Fernsehangebot, sondern um ein Programm, das die Großregion und die 47,5 % der in Luxemburg arbeitenden und lebenden Ausländer:innen entschlossen integriert. Dieser öffentlichrechtliche Sender muss Programme und Möglichkeiten anbieten, die die Menschen zusammenbringen. Er muss für alle da sein, die dauerhaft in Luxemburg leben und als zukünftige Wähler:innen in Frage kommen. Der Programmauftrag muss auch die Möglichkeiten der digitalen Beteiligung der Gesellschaft und ihrer Akteur:innen berücksichtigen.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss im Hinblick auf seine Funktion im Dienste der Demokratie seinen Beitrag zur Erhaltung und Förderung der sozialen und kulturellen Voraussetzungen unserer Demokratie leisten. Und das gilt nicht nur für Luxemburg, sondern für ganz Europa. Die Demokratie braucht guten Journalismus, und guter Journalismus kann nur in einer Demokratie gedeihen. Beide sind aufeinander angewiesen. Das gilt sowohl innerhalb als auch außerhalb der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.
Der Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten beschränkt sich nicht auf (politischen) Journalismus. Neben Information, Bildung und Kultur sind auch Fiktion, Unterhaltung und Sport unverzichtbar, denn nur so kann ein breites Publikum erreicht werden. Auch sie gehören zum Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Fiktion, Unterhaltung und Sport können eine Klammer um große Teile der Gesellschaft bilden und das Publikum binden. Nur das Zusammenspiel aller Bereiche kann einen wichtigen Beitrag zum Selbstverständnis dieser Gesellschaft leisten.
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| MALTA |
WELCHE ROLLE SPIELEN PSM IN EINEM DIGITALEN EUROPA DER ZUKUNFT?
DR JOANNA SPITERI, PHD MALTA BROADCASTING AUTHORITY
Die historische Entwicklung Maltas, seine politischen Strukturen, die soziokulturellen und religiösen Veränderungen, das Rechts- und Wirtschaftssystem sowie die sich entwickelnde Medientechnologie beeinflussen die maltesische Medienlandschaft und wirken sich auch auf die Botschaft aus, wenn wir uns an McLuhans Satz „Das Medium ist die Botschaft” halten. (McLuhan, 1967)
Der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks besteht kurz gesagt darin, „zu informieren, zu bilden und zu unterhalten” 1, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Diese drei Elemente erfüllen den Zweck der Bildung und der Förderung der Staatsbürgerschaft. Da die technologischen Entwicklungen ein breiteres Spektrum an Inhalten hervorgebracht haben, sei es in Bezug auf die Anzahl der Kanäle, aber auch in Bezug auf die Menge an audiovisuellen Inhalten auf verschiedenen Plattformen und die Flut an Inhalten auf Social-Media-Plattformen, auf denen jeder zur/zum Journalist:in und zur/zum Schöpfer:in von Inhalten wird, wird die Rolle des öffentlichrechtlichen Rundfunks bei der Förderung eines qualitativ hochwertigen Programms, eines Programms, das die breite Bevölkerung erreicht, und bei der Einschränkung von schädlichen Inhalten innerhalb der Sendeinhalte zu einem immer wichtigeren Merkmal für den öffentlich-rechtlichen Rundfunksender. Auch vertrauenswürdige und unparteiische Nachrichten sind ein Muss für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, um ihren Zuschauer:innen etwas zu bieten.
Inmitten von Fake News, Desinformation und der versteckten Agenda der Nachrichtenmedien wird das Konzept der Bereitstellung genauer und vertrauenswürdiger Informationen immer wichtiger. Die Verpflichtung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zur Unparteilichkeit ist in der maltesischen Politik generell ein umstrittenes Thema. Die maltesische öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt ist zwischen zwei anderen Fernsehsendern eingeklemmt, die sich im Besitz der beiden größten politischen Parteien Maltas befinden. Dadurch wird der öffentlich-rechtliche Sender zusätzlich in die Pflicht genommen und es wird von ihm erwartet, dass er als
1 Erster BBC Direktor General, John Reith in den 1920ern.
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Vorbild für Unparteilichkeit fungiert. Der öffentlich-rechtliche Sender wird jedoch immer als Arm der Regierungspartei angesehen und beschuldigt, ein Instrument zu sein, das von der Regierung manipuliert wird, so dass die Oppositionspartei den öffentlich-rechtlichen Sender sehr oft als Staatssender bezeichnet und in letzter Zeit noch weiter geht, indem sie ihn als zweiten Sender der Arbeitspartei (d.h. der Regierungspartei)2 bezeichnet.
Auch seine Finanzierung könnte Anlass zu einer solchen Kontroverse geben, da der öffentlich-rechtliche Sender in Malta nicht aus den Rundfunkgebühren finanziert wird, sondern direkt von der Regierung. Darüber hinaus hat er auch ein kommerzielles Modell und konkurriert wie die anderen kommerziellen Sender um Werbung. Öffentliche Mittel werden dem PBS über ein System von PSO (Public Service Obligation) zugewiesen, und theoretisch finanziert der PBS Fernseh- und Radioprogramme, die nicht kommerziell rentabel sind. Diese sind in der nationalen Rundfunkpolitik aus dem Jahr 2004 festgelegt.
Als die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt in Malta noch ein Monopol war und die Zuschauer:innen nur wenige Wahlmöglichkeiten hatten, war es für die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt ein Leichtes, die Zuschauer:innen zu zwingen, die Programme zu sehen, die sie für richtig hielt. Durch diesen Wettbewerb hat sich die Kontrolle der öffentlich-rechtlichen Sender über die Fernsehzuschauer:innen verringert, und sie konkurrieren nun mit einer viel größeren Anzahl von Kanälen und Diensten, seien sie linear oder nicht linear, analog oder digital. Trotz dieses harten Wettbewerbs durch nationale und ausländische Sender ist es sehr schwierig zu behaupten, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Malta aussterben wird.
Die zunehmende Nutzung von Breitband und Videostreaming verwischt die Unterscheidung zwischen dem Fernsehgerät und anderen Geräten. Das digitale Zeitalter hat dazu geführt, dass die Zuschauerschaft als Medienkonsument:innen zahlen und ein Fernsehpaket für ihre Bedürfnisse und Vorlieben auswählen und sich daher an ihre Auswahl und das Pay-perView-System gewöhnen. Zwei öffentlich-rechtliche Sender sowie fünf weitere landesweite Fernsehsender in Malta können jedoch weiterhin über eine digitale Plattform kostenlos empfangen werden.
Konvergente Technologie durch den Einsatz von Internet und Breitband liefert Rundfunk- und andere Inhalte, die speziell auf die Interessen der Kund:innen zugeschnitten sind, und diese Inhalte können über verschiedene Geräte zu einem Zeitpunkt und an einem Ort der Wahl der Bürgerschaft
2 Besitzt eine TV Station gemeinsam mit der Nationalisten-Partei (Partei in Opposition)
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angesehen und verfolgt werden. Die On-Demand-Dienste haben drastisch zugenommen, und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in diese Technologie investiert, da sie sich bewusst sind, dass sie mit Podcasts oder Vodcasts und anderen audiovisuellen Inhalten, die jederzeit abrufbar sind, konkurrieren.
Obwohl man glaubt, dass der traditionelle Rundfunk im Niedergang begriffen ist, zeigt eine von der Rundfunkbehörde3 in Auftrag gegebene Publikumsbefragung, dass immer noch ein sehr hoher Prozentsatz der Zuschauer:innen den traditionellen Rundfunk verfolgt, sei es der öffentlich-rechtliche oder andere Kanäle. Ein Beispiel dafür ist das traditionelle Nachrichtenbulletin auf TVM4 , das einen sehr hohen Prozentsatz an Zuschauer:innen verzeichnet, obwohl die Verbraucher:innen aufgrund der Technologie auf neue mobile Geräte und Plattformen umgestiegen sind. Während dem Nachrichtenportal des öffentlich-rechtlichen Rundfunks die verdiente Aufmerksamkeit zuteil wird, ist dies bei den traditionellen Nachrichten im linearen Fernsehen noch nicht der Fall.
Nutzer:innengenerierte Inhalte und Bürger:innenjournalismus sind auf dem Vormarsch und könnten vielleicht mit den Nachrichten des öffentlichrechtlichen Rundfunks und anderer kommerzieller Sender konkurrieren, aber Vertrauen und Professionalität würden immer noch den Ausschlag geben, und die Verbraucher:innen würden sich immer noch für professionellen Journalismus entscheiden, auch wenn die von den Verbraucher:innen generierten Nachrichteninhalte leicht zugänglich und vielleicht aktueller sind. Aber Elemente der redaktionellen Auswahl, der Einordnung des Ereignisses in den Kontext, fundierte Nachrichtenberichte, recherchierter Enthüllungsjournalismus - all das sind Techniken, die die Arbeit professioneller Journalist:innen auszeichnen und im Gegenzug das Vertrauen der Zuschauerschaft gewinnen.
Die Anzahl der „Hits” könnte zu einem der Kriterien geworden sein, die heutzutage redaktionelle Entscheidungen beeinflussen und dazu beitragen, dass der Nachrichteninhalt an das gebunden bleibt, was die Öffentlichkeit tatsächlich interessiert, anstatt sich von traditionellen Vorstellungen darüber leiten zu lassen, was einen wichtigen Nachrichtenbericht ausmacht. Die Journalist:innen könnten also in Versuchung geraten und sich tatsächlich dafür entscheiden, auf die Vorlieben der Bürgerschaft einzugehen und sich auf diese besonderen Geschichten zu konzentrieren. Allerdings ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk nach wie vor an Kriterien gebunden, die auf
3 Die Rundfunk Behörde macht eine Publikumsbefragung jedes Quartal.
4 Öffentlicher Rundfunk Malta
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die gebotene Unparteilichkeit und Ausgewogenheit abzielen, so dass es bis zu einem gewissen Grad schwieriger ist, sich von den gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen und Kriterien zu lösen. Einer der Hauptunterschiede zwischen den traditionellen Nachrichtenbulletins und den Online-Nachrichten besteht darin, dass erstere unter Kapitel 350 der maltesischen Gesetze fallen und die Journalist:innen daher die Rundfunkgesetze und die Nebengesetze einhalten müssen, die speziell die Nachrichten- und Zeitgeschichtssendungen regeln.
Es handelt sich jedoch um eine Frage der Anpassung, der Entwicklung und des Wandels und nicht um den Tod des Fernsehens. Verschiedene Medien entwickeln sich und überleben dennoch, weil sie sich dem Wandel anpassen, und während der öffentlich-rechtliche Rundfunk nur aus einem analogen Fernseh- und Radiodienst bestand, gibt es jetzt immer mehr Fernseh- und Radiokanäle, die in den Zuständigkeitsbereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fallen, und in den letzten Jahren sind auch eine Online-Site, ein Nachrichtenportal und ein Online-Dienst auf Abruf entstanden, so dass sich alle Medien gegenseitig ergänzen.
Unter Beibehaltung der drei oben genannten Hauptmerkmale5 muss sich das Umfeld des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in diesem digitalen Zeitalter mit der Einbeziehung globaler Plattformen und Streaming-Dienste wandeln, und die öffentlich-rechtlichen Medien müssen nun mit globalen Streaming-Diensten wie Neflix, Youtube und Online-Nachrichtenportalen um das Publikum konkurrieren. Die öffentlich-rechtlichen Medien mussten neue On-Demand-Dienste und Online-Inhalte entwickeln, um das Informations- und Unterhaltungsangebot auf diesen Online-Plattformen auszugleichen. Dies ist die Anpassung an das neue Plattformzeitalter, und die Werte der öffentlich-rechtlichen Medien müssen neu überdacht werden, während sie gleichzeitig auf das öffentliche Interesse reagieren.
Wie in ganz Europa stehen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vor der Herausforderung, in einem digitalen Umfeld zu operieren, in dem ihre Finanzierung stark hinterfragt wird und ständig Forderungen nach Unabhängigkeit und Transparenz laut werden, während gleichzeitig das Element des öffentlichen Wertes beibehalten und die Kriterien für den Beitrag zur Gesellschaft verbessert werden.
Zu den Aufgaben und Pflichten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gehören vor allem die Pflicht zur Unparteilichkeit, objektive Nachrichten in Nachrichtensendungen und Sendungen zum aktuellen Zeitgeschehen,
5 Informieren, bilden und unterhalten
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kulturelle und erzieherische Verpflichtungen in der Programmgestaltung, und somit ist die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt für die grundlegenden und erweiterten Dienstleistungsverpflichtungen und das Ziel von allgemeinem Interesse verantwortlich. All dies wird durch die Nationale Rundfunkpolitik (2004) geregelt, die allerdings überarbeitet und aktualisiert werden muss, wobei es vor allem um die Verpflichtung der Regierung geht, die PBS Ltd zum Unternehmen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Einklang mit der Prager Erklärung (1994) zu machen. Die Verpflichtungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wurden in dieser Erklärung festgelegt, in der es vor allem um ein vielfältiges Programmangebot, einen hohen Bildungs- und Kulturanteil in den Programmen, eine ausgewogene Programmgestaltung und die Koordinierung und den Austausch mit anderen europäischen Rundfunkproduktionen geht.
Auch wenn die sozialen Medien die audiovisuellen Mediendienste dominieren, hat der Rundfunk nach wie vor seinen Einfluss auf die Bürger:innen, um Informationen zu erhalten und sich eine Meinung zu bilden und um Bildungs-, Kultur- und Unterhaltungsinhalte zu erhalten. Zu den Kernaufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gehören unter anderem Information, Bildung, Kultur, Pluralismus der Stimmen, Förderung von Minderheiten, Zugänglichkeit und Unparteilichkeit.
Das Internet und die neuen Medien stellen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vor Herausforderungen, aber die vielleicht größte Herausforderung besteht darin, dass die Rundfunkanstalten zunehmend mit politischer Einmischung konfrontiert werden und daher eine neue Form des Engagements gegenüber dem Staat annehmen müssen. Die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss als ein Grundpfeiler der Demokratie selbst betrachtet werden.
Die digitale Transformation bedeutet nicht nur, dass traditionelle Fernsehsender durch digitale Übertragung oder durch interaktive Sender durchgeführt werden, sondern auch neue Akteure auf dem Medienmarkt wie neue Plattformen, neue Inhaltsersteller:innen und neue „Journalist:innen”.
Schlussfolgerung
Trotz der Vielzahl von Geräten, Mediendiensten und Informationen ist der Bedarf an öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten unabdingbar. Die Notwendigkeit, die Demokratie zu schützen und einen vertrauenswürdigen Mediendienst zu haben, dessen Hauptziel das öffentliche Interesse ist, ist nach wie vor relevant.
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| NETHERLANDS | NIEDERLANDE | HERAUSFORDERNDE
ASS.PROF.DR. MAURICE VERGEER
UNIVERSITÄT RADBOUD
ZEITEN
Die Niederlande wurden für ihr einzigartiges öffentlich-rechtliches Rundfunksystem gelobt. Ursprünglich bestand es aus vielen unabhängigen Rundfunkanstalten, die soziale, kulturelle oder politische Gruppen in der Gesellschaft repräsentierten und sich an den gesellschaftlichen Säulen orientierten. Im Laufe der Jahre hat sich dieses System zu einer stärker zentralisierten Organisation gewandelt. (Ministerie van Algemene Zaken, 2024)
Während die öffentlich-rechtlichen Radiosender den Kampf gegen die kommerziellen Radiosender verlieren, haben die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender immer noch beträchtliche Marktanteile. Im Jahr 2023 hatten die öffentlich-rechtlichen Sender den größten Marktanteil (34,4 %), während die kommerziellen Sender mit Abstand folgten (RTL: 25,1 %; Talpa: 17,1) (Stichting Kijkrapport, 2024).
Bedrohungen und Chancen
Fragmentierung und sozialer Zusammenhalt
Die Niederlande waren eines der letzten Länder in Europa, das kommerzielles Fernsehen einführte. Zunächst sendete RTL-Véronique von Luxemburg aus über Kabel und nutzte eine Gesetzeslücke, um in das niederländische Fernsehsystem einzudringen. Im Jahr 1992 wurde das kommerzielle Fernsehen in den Niederlanden legal eingeführt. Die Entstehung des dualen Systems - öffentlich-rechtliches und kommerzielles Fernsehen - führte zu einem starken Anstieg der Zahl der Fernsehsender.
Heutzutage werden fast eintausend TV-Lizenzen (lokal, regional, (inter)national) für das niederländische Publikum vergeben (Europäische Audiovisuelle Informationsstelle, 2024). Dies hat zur Folge, dass sich das Fernsehpublikum auf all diese Kanäle aufteilt. Dennoch haben die Hauptkanäle (NPO1, RTL4, SBS6) der drei großen Sender (NPO, RTL, Talpa) einen Gesamtmarktanteil von 76,6 %. In diesen Statistiken ist die Zeit, die auf Streaming-Plattformen (z. B. Netflix, Amazon Prime) verbracht wird, nicht berücksichtigt.
Die schiere Anzahl der Kanäle fragmentiert das Publikum, auch wenn die Menschen sich auf die Hauptkanäle der drei großen Sender (NPO, RTL, Talpa) konzentrieren. Obwohl jede Rundfunkanstalt unterschiedliche Zielgruppen in der Gesellschaft anspricht, nutzen sie dieselben NPO-Kanäle. Darüber hinaus sind die Organisationen zwar intern noch weniger vielfältig, aber extern schon. Da die gesellschaftlichen Säulen heutzutage weit weni-
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ger wichtig sind, konsumieren die Menschen Medien aus allen möglichen Quellen, was zu einem höheren Grad an vielfältiger Mediennutzung führt.
Dennoch schreibt das Mediengesetz vor, dass die wichtigsten Ereignisse (z. B. Olympische Spiele, Fußball-EM und -WM, Königstag) immer auf einem offenen Kanal zu sehen sein sollten, damit alle Zuschauer:innen die gleichen Erfahrungen machen können. Darüber hinaus zeigt ein vielfältiges Programmangebot, das von verschiedenen Sendeanstalten produziert wird, den Menschen die Meinungsvielfalt in den Niederlanden und schafft möglicherweise gegenseitiges Verständnis, was zu einem stärkeren sozialen Zusammenhalt führt.
Seit einigen Jahren stellen die Streaming-Plattformen eine ernsthafte Bedrohung für die nationalen Rundfunkanstalten dar. Insbesondere während der COVID-19-Pandemie haben diese Plattformen ihre Abonnent:innenzahlen erheblich gesteigert. In Verbindung mit der Beliebtheit dieser Plattformen und der Unbeliebtheit der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten bei den jüngeren Generationen steht die Zukunft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vor der Herausforderung, die jüngeren Generationen an ihre Kanäle zu binden. Dennoch wird von den größeren Streaming-Plattformen jetzt erwartet, dass sie mindestens 5 % ihres niederländischen Umsatzes in niederländische Produktionen investieren, um sicherzustellen, dass die niederländische Medienproduktionsindustrie in der heutigen Ära der Streaming-Medien nachhaltig ist und weiterhin Medieninhalte niederländischen Ursprungs produziert werden.
Eine Möglichkeit, der weiteren Fragmentierung des Publikums entgegenzuwirken, besteht darin, die Zahl der Kanäle zu verringern. Der dritte NPO-Kanal (NPO3) hat einen Marktanteil von 4 % im Jahr 2023 (Stichting Kijkonderzoek, 2023). Auch wenn es für ein offenes Mediensystem widersprüchlich klingt, würde eine Begrenzung der Zahl der Kanäle dazu führen, dass sich ein größeres Publikum auf weniger Kanälen wiederfindet und eher die gleichen Programme sieht. Um die Programmvielfalt aufrechtzuerhalten, sollten Minderheitsprogramme nicht durch die Verringerung der Zahl der Kanäle eingestellt werden. Daher sollte es für PSM wichtig sein, zu entscheiden, ob sie dem Prinzip der reflektierten Vielfalt oder der offenen Vielfalt folgen sollten (Van der Wurff, 2005). Darüber hinaus werden durch die Streichung eines PSB-Kanals die Werbeeinnahmen an die kommerziellen Sender weitergeleitet, wodurch die Steuereinnahmen aus der Werbung auf NPO3 sinken. Um den Haushalt aufrechtzuerhalten, sollte die Regierung den Verlust an Werbeeinnahmen kompensieren. Derzeit verfügt die niederländische öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt im Jahr 2024 über ein Budget von 963,8
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Millionen, was sie zu einer der kosteneffizientesten (pro Kopf) öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten in Europa macht (Nordicity for, 2020).
Alterung und Vielfalt der Bevölkerung
Wie in vielen anderen Ländern altert auch in den Niederlanden die Bevölkerung. Für die NPO besteht das Publikum zu 81% aus Zuschauer:innen, die älter als 50 Jahre sind (Stichting Kijkonderzoek, 2023) (RTL: 71,1%; Talpa: 74,6%). Um ihr Publikum zu halten, sollten sich die öffentlich-rechtlichen Sender stärker auf Programme konzentrieren, die jüngere Generationen an die öffentlich-rechtlichen Sender binden. Dies erfordert eine zweistufige Politik. Erstens sollten die öffentlich-rechtlichen Sender weiterhin Qualitätsprogramme für die älteren Generationen ausstrahlen. Zweitens sollten die öffentlich-rechtlichen Sender mehr Qualitätsprogramme ausstrahlen, um jüngere Zuschauer:innen zu erreichen, auch wenn diese etwas kleiner sind. Wenn die NPO nicht in Programme für jüngere Generationen investiert, um sie als Publikum zu haben, wenn sie älter werden. Alternativ dazu sollte die gemeinnützige Organisation die Nutzung oder den Aufbau von Plattformen in Erwägung ziehen, die speziell für die Nutzung durch jüngere Generationen bestimmt sind.
Drei Ebenen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Obwohl die Niederlande ein relativ kleines Land sind, gibt es dort drei Arten von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten: National, regional (Provinz) und lokal (Gemeinde). Obwohl alle staatlich finanziert werden, arbeiten in den lokalen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten überwiegend ehrenamtliche Produzent:innen. Im Allgemeinen ist es immer schwieriger, Freiwillige zu finden, und diejenigen, die für die lokalen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten arbeiten, wollen zu den regionalen oder nationalen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten aufsteigen.
Kürzlich hat die nationale öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt ihre Zusammenarbeit mit den regionalen Rundfunkanstalten intensiviert, indem sie den regionalen Rundfunkanstalten einen täglichen Sendeplatz reserviert hat, auf dem sie ihre neuesten Angebote an das nationale Publikum senden können. Eine solche Zusammenarbeit könnte auf alle Ebenen ausgedehnt werden. Es stellt sich die Frage, ob drei Ebenen des Rundfunks nicht eine zu viel sind. Stattdessen könnte ein mehrschichtiges Rundfunksystem den regionalen und den lokalen Rundfunk auf einer einzigen Ebene zusammenfassen, auf der die lokalen Medienproduktionen in die Lokalausgaben integriert werden könnten. Diese Medienproduktionen könnten von einem höheren Maß an technischer und journalistischer Professionalität profitieren und gleichzeitig kostengünstiger sein.
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Nachrichten und Vertrauen
Im Allgemeinen ist das Vertrauen in die Nachrichten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten relativ hoch (Niederländische Medienbehörde, 2022). Während der Pandemie stieg die Zuschauer:innenzahl bei den Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks drastisch an, während sie bei den Nachrichten der kommerziellen Sender deutlich geringer ausfiel.
Die Niederländer:innen haben zwar Vertrauen in die Nachrichtenproduzent:innen, aber dieses Vertrauen ist brüchig. Jüngste Ereignisse haben das Vertrauen der Menschen in das Rundfunksystem wegen unsicherer Arbeitsbedingungen beschädigt. Nachdem einige Kandidat:inmen in der Castingshow The Voice of Holland (Talpa) belästigt wurden, wurde bekannt, dass Mitarbeiter:innen jahrelang belästigt wurden (NOS: Studio Sport, WNL). So entstand in der Öffentlichkeit das Bild eines Rundfunksystems mit unsicheren Arbeitsbedingungen. Während der Pandemie beschuldigte eine Minderheit die NOS (NPO-Nachrichtensendung), an der Verbreitung von Falschinformationen der Regierung über die Pandemie mitschuldig zu sein, was sogar dazu führte, dass Fernsehjournalist:innen, die über die Pandemie berichteten, schikaniert wurden.
Angesichts des politischen Rechtsrucks bei den Parlamentswahlen 2023, aus denen die Partei für die Freiheit von Geert Wilders als Sieger hervorging und eine rechtsgerichtete Regierungskoalition bilden wird, hat sich die Stimmung gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk negativ entwickelt. Es ist noch unklar, ob es eine rechte Regierung geben wird, aber es ist klar, dass die liberalen Parteien den öffentlich-rechtlichen Rundfunk drastisch umgestalten wollen, z. B. noch mehr Zentralisierung und weniger Sendeanstalten, finanzielle Kürzungen durch Schließung des dritten Senders NPO3.
Die Bereitstellung von Nachrichten wird zu einer Herausforderung in einer Zeit, in der digital hergestellte Fake News aufgrund der Fortschritte bei der Software für künstliche Intelligenz zunehmen. Außerdem scheint die Akzeptanz gesellschaftlicher Institutionen zu sinken. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte sich dieser Entwicklungen bewusst sein und darauf vorbereitet sein, ihnen entgegenzuwirken, vorzugsweise auf europäischer Ebene.
Obwohl die Offenheit des Fernsehsystems in vielerlei Hinsicht vorteilhaft zu sein scheint, kann sie auch nachteilige Auswirkungen haben. So wurde beispielsweise Ongehoord Nederland (Unerhörte Niederlande), bis heute ein Bewerbersender mit einer konservativen, nationalistischen Ideologie (Missie - Ongehoord Nederland, 2022), zweimal wegen unethischer jour-
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nalistischer Praktiken (Verbreitung von Fake News) zu einer Geldstrafe verurteilt (NPO, 2023). Die Betonung der Vielfalt (politisch, kulturell, ethnisch und geschlechtlich) der Nachrichtenproduktionsteams könnte dem Misstrauen der Menschen gegenüber den Nachrichten entgegenwirken.
Digitale Strategien
Die Digitalisierung nutzen und zusammenarbeiten Die wichtigsten PSB-, kommerziellen und regionalen PSB-Sender des linearen Fernsehens sind auch in den Streaming-Markt eingestiegen. Gemeinsam betreiben sie NLZIET, das die gleichen Programme wie das lineare Fernsehen zeigt, aber die Möglichkeit bietet, Episoden vorzeitig oder zeitversetzt anzusehen. Unabhängig davon hat jeder große Sender seinen eigenen Streaming-Dienst. Die NPO hat NPO Start (kostenlos, mit Werbung) und NPO Plus (Abonnement, ohne Werbung). Die Einführung von NPO Plus war wegen der Abonnementgebühr (2,95 €) umstritten (Kamervragen über NPO Plus, 2013), wodurch der Zugang für Haushalte mit geringem Einkommen eingeschränkt wird. RTL bietet Videoland an (4,99 € - 11,99 €) und Talpa hat Kijk (kostenlos, mit Werbung). Mit diesen Initiativen werden die großen Technologieunternehmen (hauptsächlich aus den USA) in Schach gehalten. Das heißt, dass NPO den AWS-Dienst von Amazon nutzt (Wokke, 2023). Die EU-Datenschutzgrundverordnung schreibt jedoch vor, dass sich die Datenzentren in der EU befinden müssen.
Die weitere Digitalisierung ist der Weg in die Zukunft für PSM. Die Abhängigkeit von Social-Media-Plattformen wie YouTube und X (ehemals Twitter) schafft jedoch Schwachstellen in Bezug auf die Kontinuität des Sendebetriebs. Durch die Übernahme von Twitter durch Musk wurde X zu einer weniger offenen, parteiischen und negativen Plattform. Infolgedessen erwog die NOS (NPO-Nachrichtensendung), X nicht mehr als Nachrichtenkanal zu nutzen (Villamedia, 2024). Während Nosop3 seinen letzten Tweet am 2024/01/13 postete, nutzt der NOS-Account X weiterhin für seine Nachrichten. Sollte die NOS – oder eine andere öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt – die BigTech-Plattformen für soziale Medien verlassen, könnten sie den Wechsel zu einer diversen Architektur für die soziale Online-Kommunikation wie Mastodon in Erwägung ziehen, die viel mehr Kontrolle über die Nutzung der Plattform ermöglicht.
Schlussfolgerung
Der politische Spielraum der niederländischen PSB ist recht begrenzt. Da die PSB durch Steuern finanziert wird, ist ihr Finanzmodell anfällig für finanzielle Kürzungen durch politische Parteien. Da die Wahlergebnisse in den letzten Jahrzehnten immer zu politischen Koalitionen geführt haben, die auch gemäßigte politische Parteien einschlossen, waren die Folgen für
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die PSB begrenzt. Da die rechtsgerichteten Parteien jedoch derzeit über eine Koalition verhandeln, ist die Zukunft der PSB unklar. Ein stärker zentralisiertes System würde die PSB finanziell effizienter machen. Dennoch sollten Vorkehrungen getroffen werden, um die Vielfalt der Programme in Bezug auf politische Ideologien, kulturelle und ethnische Identitäten zu erhalten, die die Präsenz dieser Gruppen in der niederländischen Gesellschaft widerspiegeln.
Während die Europäische Kommission ihrem Auftrag zur Bekämpfung von Desinformation nachkommt, sollte die europäische PSM ihre Bemühungen zur Aufdeckung audiovisueller Fehlinformationen koordinieren, indem sie ein System entwickelt, das Technologien zur Unterscheidung zwischen Videos aus glaubwürdigen Nachrichtenquellen und solchen, die verändert oder gefälscht sind, einsetzt.
Um die Abhängigkeit von BigTech-Unternehmen zu verringern, könnten die europäischen PSM außerdem eine Zusammenarbeit bei der Entwicklung einer europäischen Streaming-Software in Betracht ziehen. In Kombination mit dem europäischen Cloud-Dienst Gaia-X könnte dies ein Weg sein, um sicherzustellen, dass die europäischen PSM unabhängig und kontinuierlich arbeiten können. Die vorgenannten Initiativen würden auch dazu beitragen, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die von PSM bereitgestellten Nachrichten zu gewährleisten. Der Einsatz eines föderierten Systems für soziale Medien (vgl. Mastodom) könnte darüber hinaus Kontinuität und Kontrolle über die eigenen Medienressourcen gewährleisten.
Literaturverzeichnis
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Stichting Kijkonderzoek. (2023). SKO jaarrapport 2022. https://kijkonderzoek.nl/images/Jaarrapporten/ SKO_Jaarrapport_2022.pdf
Stichting Kijkrapport. (2024). SKO jaarrapport 2023. Van der Wurff, R. (2005). Competition, concentration and diversity in european television markets. Journal of Cultural Economics, 29, 249–275. Villamedia. (2024). NOS spreekt intern over mogelijk stoppen met socialmediaplatform X. https://www.villamedia.nl/artikel/ook-nos-overweegt-te-stoppen-met-x Wokke, A. (2023). Achter het scherm - Ontwikkelaars over het nieuwe NPO Start. https://tweakers.net/reviews/11598/achter-het-scherm-ontwikkelaars-over-het-nieuwe-npo-start.html
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ÖFFENTLICHER DIENST,
KEINE DELIBERATION
PROF.DR. MICHAŁ GŁOWACKI UNIVERSITÄT WARSCHAU
Wie schon vor den Wahlen zum EU-Parlament 2024 sind Polens Medien anfällig für Falsch- und Desinformation und Fake News, die den sozialen Zusammenhalt in Frage stellen. Gerade in Zeiten des Krieges müssen verlässliche und beratende öffentlich-rechtliche Medien (PSM) die Menschen vereinen und einen Raum zum Zuhören, Teilen und Diskutieren mit Respekt bieten. Oberflächlich betrachtet haben die jüngsten politischen Veränderungen, wie das Ergebnis der nationalen Parlamentswahlen vom 15. Oktober 2023, zu einer anhaltenden Krise in Bezug auf den rechtlichen Status der PSM und zu einer Vielzahl von Antworten auf die Frage geführt, welche Regierungsvertreter:innen in den Rundfunkund Fernsehanstalten sitzen (oder sitzen sollten). Die kritischen Fragen zu Polens zukünftiger Form der öffentlich-rechtlichen Medienorganisationen und der mentalen kollaborativen Anpassung im Zeitalter der generativen KI und der Plattformen bleiben oberflächlich, da es keine bürgerlichen Überlegungen gibt, die junge kreative Startups, KMUs und zukünftige Generationen auf der Suche nach einem universellen, vielfältigen, inklusiven und generationenübergreifenden PSM beeinflussen und einbeziehen.
Zwei demokratische Kehrtwenden: 1989 und 2023
Die jüngsten Veränderungen in Bezug auf Polens öffentlich-rechtliche Medien gehen auf den 13. Dezember 2023 und die (Hinterlassenschaften und aktuelle) Politik zurück. Zu den Schlüsselwörtern vor den Wahlen am 15. Oktober 2023 gehörten die Wiederherstellung der Demokratie und der demokratischen Institutionen, einschließlich Pluralismus, Rechenschaftspflicht, Transparenz und keine Politik in der Justiz, den staatlich kontrollierten Unternehmen und den öffentlich-rechtlichen Medien. In den acht Jahren des von der Partei Recht und Gerechtigkeit gebildeten rechtskonservativen Bündnisses Vereinigte Rechte (2015-2023) wurden der Niedergang der Rechtsstaatlichkeit, die Medienfreiheit und die vielschichtige Vereinnahmung der Medien durch Regulierung, den Einsatz staatlicher Finanzierung als Kontrollinstrument, die Übernahme von Privateigentum und die Übernahme der Kontrolle über die PSM kritisiert. Die konservative Propaganda von TVP (Telewizja Polska) und PR (Polskie Radio) hat der Partei Recht und Gerechtigkeit nicht geholfen, die Regierung zu bilden, obwohl sie bei den Parlamentswahlen die meisten Stimmen erhalten hat.
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In Erinnerung bleiben wird die höchste Wahlbeteiligung von 74,4 Prozent, bei der die Menschen bis 3 Uhr morgens im Breslauer Stadtteil Jagodno Schlange standen, um ihre Stimme abzugeben. Die Wahlbeteiligung übertraf den Rekord der historischen ersten halbdemokratischen Wahlen von 1989. Darüber hinaus wurde in den Analysen zur Wahlbeteiligung 2023 auch das so genannte „Jugendbeben” festgestellt, bei dem die Wahlbeteiligung in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen 68,8 Prozent erreichte, gegenüber 46,4 Prozent bei den Wahlen 2019. Da jede politische Partei den Sieg für sich beanspruchte, war die Demokratie der größte Gewinner.
Die Nachrichten über den Enthusiasmus des polnischen Volkes wurden zu einem Prototyp für die Neuerfindung und Umstrukturierung der halbautoritären Regime. Die angestrebte liberale Wende von 2023 (im Gegensatz zu den illiberalen Wende-Traditionen) war da, um die Vielfalt zu feiern, als die breite Mitte-Links-Koalition aus der Bürgerlichen Koalition (Plattform), der Dritten Welle (Polskie Stronnictwo Ludowe + Polska 2050) und der Neuen Linken eine Regierung unter der Führung von Donald Tusk bildete (die Regierung wurde formell am 13. Dezember 2023 ernannt - dem Datum, das die konservative Opposition von Recht und Gerechtigkeit auf die frühmorgendliche Ausrufung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 und damit verbundene Hinterlassenschaften nicht-demokratischer Regime bezieht).
Die unruhige multiple Demokratie setzt sich fort, wobei zwei politische und mediale Stämme die Gesellschaft so sehr polarisieren, dass einige Familien politische Themen während der Weihnachtszeit und anderen gesellschaftlichen Zusammenkünften vermeiden. Im Anschluss daran sollte jedoch Polen als eine der Fallstudien für die heutigen demokratischen Triebkräfte betrachtet werden, mit einem Zitat von Timothy Garton Ash: „Es sieht nach einem großen Sieg für die demokratische Opposition in Polen aus, was eine große positive Wende für Europa als Ganzes sein wird... Bravo Polen Jeszcze Europa nie zginela!” („X”, 15. Oktober 2023, Originalzitat/Schreibweise). Die Wahlen in Polen im Jahr 2023 wurden während des politischen Wahlkampfs als die bedeutendsten seit der letzten demokratischen Wende angesehen, unter Bezugnahme auf den Frühling 1989 und die so genannten mittel- und osteuropäischen Dominoeffekte mit dem damit verbundenen Zusammenbruch des Berliner Krieges im Herbst 1989 (und allem, was danach kam).
Alles, was ich mir zu Weihnachten wünsche, sind öffentlich-rechtliche Medien
Am 20. Dezember 2023, einen Tag nachdem das polnische Parlament eine Resolution verabschiedet hatte, in der die Wiederherstellung der öffentlich-rechtlichen Medien gefordert wurde, ging TVP Info um 11:18:31 Uhr
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MEZ vom Netz. TVP Info wurde durch das Programm von TVP 1 (terrestrisch und digital) ersetzt, und es wurde keine Abendnachrichtensendung ausgestrahlt. Die Nachrichten wurden an diesem Tag durch eine 1:35-minütige Erklärung von Marek Czyż ersetzt, in der er ankündigte, keine politische Propaganda mehr zu senden und anstelle der Bilder „die Fotos der Welt” zu zeigen, und zwar ab dem 21. Dezember 2023. Marek Czyż sagte auch, dass „jede/r polnische Bürger:in, der/die die polnischen öffentlich-rechtlichen Medien finanziert, das Recht hat, von ihnen [den öffentlich-rechtlichen Medien - MG] zuverlässige, professionelle und ehrliche Informationen zu verlangen” (Zitate aus der Sendung vom 20. Dezember 2023, TVP1: 19:30).
Auf die „Restaurierung der polnischen PSM” folgten Proteste von Anhänger:innen der früheren Regierung und von Aktivist:innen der konservativen Rechten in den Warschauer Zentralen von TVP und TVP Info sowie in regionalen TVP-Zentren in allen größeren Städten Polens. Die Kreise von Recht und Gerechtigkeit und der konservativen Rechten behaupten, dass die Regierung Tusk gegen die Verfassung, das Mediengesetz und die Verfahren des Verfassungsgerichts verstoßen hat, indem sie die TVP in einen „Abwicklungszustand” versetzte und Personalverträge kündigte, um neue Mitarbeiter:innen einzustellen. Am 29. Dezember 2023 forderte die Internationale Journalist:innenföderation in einer Erklärung „(...) die polnischen Entscheidungsträger:innen auf, klare und solide Schutzmaßnahmen einzuführen, um die öffentlich-rechtlichen Medien vor jeglicher Form von politischem oder wirtschaftlichem Druck zu schützen” (IFJ, 2023), und die Europäische Journalist:innenenföderation verurteilte in einer Online-Erklärung vom 24. Dezember 2023 die „anhaltende politische Einmischung in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk” (EFJ, 2023).
Wenn man auf den potenziell relevanten Zeitpunkt zurückkommt und auf die politische Herausforderung bei Familientreffen und Beratungen verweist, könnte man sich fragen, warum die Weihnachtsfeiertage in letzter Zeit den Wechsel in der Führung der öffentlich-rechtlichen Medien in Polen markiert haben. Aus historischer Sicht wurden die Erfassung der Medien durch die Regulierungsbehörden und die Parlamentsdebatten über die Vorschläge des Justizministeriums zur Regulierung der öffentlich-rechtlichen Medien in der Weihnachtszeit diskutiert, genauer gesagt in den Tagen (und Nächten) vor Silvester 2015/2016. Aus einer aktuelleren Erfahrung mit der Änderung der Governance der öffentlich-rechtlichen Medien 2023 heraus müssen wir – die Medien- und Kommunikationsforscher:innen – unser Wissen und unsere Erfahrungen mit dem Leben in zwei polarisierten Gemeinschaften, die für ihre
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Dienste und Interessen kämpfen, aufgreifen. Werden alle Bürger:innen das tatsächliche Gleichgewicht der Politik und der aktuellen polnischen PSM erhalten?
Was man wieder hätte erleben können, waren zwei grenzwertige Gemälde (statt Fotos); ein politischer Machtkampf um die PSM, mit mehr oder weniger aktiven Gruppen und Menschen, die protestieren oder beobachten, was mit dem Prinzip der Pressefreiheit und der Perspektive der Medienverteidigung als nächstes kommt. Kehren wir also in eine Zeit zurück, in der die zentrale Grundlage der Überlegungen darin bestand, wer das bessere Weihnachtsgeschenk hat? Wie weit kann man gehen, um die Demokratie wiederherzustellen, und was bedeutet das für zwei Individuen (und Gruppen), die sich in einem ständigen Konflikt befinden? Was bedeutet das für den sozialen Zusammenhalt, die Menschenrechte und die deliberative Kommunikation? Außerdem kennt niemand die potenziell relevanten Faktoren für das Déjà-vu-Weihnachtserlebnis der öffentlich-rechtlichen Medien.
Ein wenig Respekt
Auf der Suche nach „zuverlässigen, professionellen und ehrlichen Informationen” haben die sozial engagierten Mediengemeinschaften in Polen, wie Bürgeraktivist:innen, Nichtregierungsorganisationen, Kreativ- und Hightech-Gemeinschaften und Nachbarschaftsräume, zusammen mit Kommunikations- und Demokratieforscher:innen, alle das Ziel verfolgt, aus Gründen des öffentlichen Dienstes (und des Stolzes) für einen grundlegenden Wandel in der Produktion, der Bereitstellung und im Denken der öffentlich-rechtlichen Medien einzutreten. Dennoch neigen unsere individuellen und gruppenspezifischen Beiträge dazu, neben den üblichen normativen Medien- und Demokratietheorien auch soziopolitische Rache und Kalkül zu erfahren, und enden in der Regel damit, dass der Westen eine nicht enden wollende Geschichte über das Leben der Ideale der öffentlich-rechtlichen Medien erzählt, ohne sich den sozialen und individuellen Schichten (nur den persönlichen Erfahrungen, Erwartungen und Vorstellungen) des eigenen Gesamtverständnisses und der Bewertung der systemischen Politik und Entscheidungsfindung durch die Linse der einzigartigen soziokulturellen Plastizität zu nähern.
Eine kürzlich von Mediadelcom-Forscher:innen aus 14 EU-Ländern durchgeführte Studie hat die Überlegungen in den Medien durch länderübergreifende Erfahrungen ergänzt, in denen PSM-Werte und Arbeitsbedingungen als wesentliche Überwachungsfähigkeiten demokratischer Gesellschaften betrachtet werden. Die Projektergebnisse haben uns gelehrt, Deliberationsprozesse kritisch zu betrachten, die sich mit
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Fragen zu den Menschen und ihrem Engagement und ihrer Beteiligung befassen, neben dem Zugang zu Debatten in den öffentlich-rechtlichen Medien, Konversationsschleifen, zivilgesellschaftlichen Arenen, Treffen, Labors und Hubs usw. Wichtig ist auch, dass es bei der Deliberation um Vertrauen, Argumente und die Hoffnung geht, dass sie von der Kultur der Leistungsgesellschaft, der Vielfalt und der Inklusion (D&I) und nicht in erster Linie von Konflikten, Polarisierung und politischen Spielen um das PSM angetrieben wird.
Dies ist nun eine der wichtigsten Herausforderungen für die Neuerfindung des öffentlichen Dienstes in Polen: zu überlegen. Es braucht ein wenig Respekt vor den Menschen, die sich organisieren und sich an bürgerlichen Debatten beteiligen, ganz zu schweigen von der Begeisterung der verschiedenen Generationen für einen grundlegenden politischen Wandel, wie er bei den letzten Parlamentswahlen zum Ausdruck kam. Während das soziale Kapital der neuen Generationen wahrscheinlich zu mehr Experimenten und Veränderungen in der Art und Weise führen wird, wie kritische soziale Beratungen über Organisationen des öffentlichen Dienstes erfunden werden könnten, gibt es immer noch keine klare Lösung, um die Menschen dazu zu bringen, sich an einen Tisch zu setzen und zu beraten. In Anbetracht des polnischen Stolzes und des Kontextes könnte der PSM-Beratungstisch rund sein, um eine völlig unterschiedliche Perspektive zu bieten. Im Hinblick auf die organisatorische, technologische und soziale Zukunft der Medien des öffentlichen Dienstes ist es wichtig, dass die kulturelle Linse der Anthropologie und Ethnographie die Erfahrungen der Gruppe und des Einzelnen mit Räumen, Ritualen und D&I-gesteuerten Beratungen berücksichtigt.
Literaturverzeichnis
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PORTUGAL
UND MEDIENKOMPETENZERZIEHUNG IN DER EUROPÄISCHEN
GEMEINSCHAFT
DR. JOÃO RICARDO PINTO UNIVERSITÄT NOVA DE LISBOA
Die Medien sind heute das wichtigste Instrument für die Verbreitung von Ideen und Werten. Doch mehr als ein Jahrhundert nach dem Aufkommen einiger dieser Medien ist noch ein langer Weg zu gehen hinsichtlich deren Erforschung. Dies gilt sowohl für das gesamte 20. Jahrhundert als auch für die Rolle der Medien in der Gegenwart.
In Portugal spielten Radio und Fernsehen eine entscheidende Rolle beim Übergang von einem diktatorischen politischen System zur Demokratie im Jahr 1974. Der offensichtlichste und sichtbarste Beweis dafür sind die Lieder, die im Radio gespielt wurden und als Code für das Militär dienten, um die Revolution auszulösen, die als „25 de Abril“ oder Nelkenrevolution bekannt werden sollte. Doch wie wir wissen, kommen Revolutionen nicht aus heiterem Himmel. Man kann sagen, dass sich ab Ende der 1950er Jahre in den verschiedenen Medien ein Wandel vollzog, insbesondere im portugiesischen Fernsehen, das 1956 seinen Sendebetrieb aufnahm. Es sei darauf hingewiesen, dass die technische Ausrüstung, die Radiotelevisão Portuguesa (RTP) anfangs verwendete, größtenteils auf die Unterstützung anderer europäischer Partner:innen zurückzuführen war. Und dies in einem Land, das geografisch auf der Iberischen Halbinsel liegt, dem einzigen europäischen Territorium, das noch unter diktatorischer politischer Herrschaft stand und sich von den europäischen Demokratien zu isolieren versuchte. Dennoch scheint das Fernsehen in Portugal eine Ausnahme gewesen zu sein. Neben der technischen Abhängigkeit ist auch die Präsenz ausländischer Programme auf den portugiesischen Fernsehschirmen zu beobachten.
Diese und viele andere Beispiele zeigen die Bedeutung der Medien in der Geschichte, die untrennbar mit verschiedenen sozialen und ideologischen Bewegungen verbunden ist. Nichts geschieht ohne einen sozialen Kontext. Der Aufbau der Europäischen Gemeinschaft (EU) ist selbst eine ideologische Aussage, die auf Säulen wie Solidarität, Demokratie und Menschenrechte beruht.
Der Populismus ist heute eine Realität, die sich in der Zunahme sozialer und politischer Bewegungen mit extremistischen Idealen äußert, die die
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| ÖFFENTLICH-RECHTLICHE MEDIEN
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Hauptpfeiler der EU in Frage stellen: Achtung der Vielfalt und Toleranz. Es handelt sich dabei um Ideologien, die vereinfachte Antworten auf die aktuellen Probleme bieten. Eine der häufigsten ist die Unsicherheit, die diese Bewegungen mit der Einwanderung in Verbindung bringen und die eher auf sozialen Empfindlichkeiten als auf konkreten Fakten beruht. Dies führt zu Fake News und Halbwahrheiten.
In diesem Sinne spielen die öffentlich-rechtlichen Medien (PSM) eine führende Rolle bei der Verteidigung des sozialen Zusammenhalts und der Integration. Die Schaffung von Medieninhalten, die die soziale Integration von Minderheiten und Randgruppen fördern, die oft Zielscheibe von Fehlinformationen sind, ist ein wichtiges Engagement der verschiedenen öffentlichrechtlichen Medien zur Förderung des interkulturellen Dialogs. Eine wichtige Anstrengung im Kampf gegen Diskriminierung und Intoleranz.
Demokratie und Pluralismus sind zwei weitere Säulen der heutigen EU. Nur durch hochwertige, unparteiische Informationen, die ein breites Meinungsspektrum abdecken und für alle zugänglich sind, kann Vielfalt in Zusammenhalt verwandelt werden. In diesem Sinne spielt die Kultur als identitätsstiftendes Element eine grundlegende Rolle. Die Produktion von Inhalten, die den kulturellen Reichtum und die kulturelle Vielfalt Europas als Elemente widerspiegeln, die ein Gefühl der Zugehörigkeit und Identität vermitteln, ist von grundlegender Bedeutung, um rassistische und fremdenfeindliche Ideale zu vertreiben.
Zusammen mit den Pfeilern Bildung und Innovation, auf die ich später noch eingehen werde, sind dies die Grundlagen, auf denen jede PSM ihre Arbeit aufbauen sollte. Das Aufkommen des Internets hat jedoch die Medienlandschaft eindeutig verändert. Es hat nicht nur den Zugang zu Informationen demokratisiert, sondern auch die Art und Weise, wie diese verbreitet werden, vervielfältigt. Die wichtigste Veränderung, die auch die meisten Fragen aufwirft, ist jedoch die Schaffung neuer Standorte für neu entstehende Informationen. Der Bereich der Kommunikation ist nicht mehr ausschließlich den an die Berufsethik gebundenen Fachleuten vorbehalten.
Dies bedeutet, dass die PSM-Dienste ihre Strategien überdenken müssen, um die Pfeiler der EU weiterhin umzusetzen. Es reicht nicht mehr aus, in den verschiedenen Medienräumen präsent zu sein. Wir müssen noch weiter gehen. Heute werden diese Räume von Plattformen wie HBO, Netflix oder Amazon Prime dominiert. Wenn wir wollen, dass die verschiedenen Generationen, vor allem die jüngeren, die jüngste Geschichte kennen, damit sie sich der sozialen und politischen Errungenschaften stärker bewusstwerden, muss sich etwas ändern.
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Wenn es keine demokratische Haltung ist, andere Denkweisen zu blockieren, selbst wenn sie auf Lügen beruhen, und wenn das Verhindern von Fake News eine etwas unrühmliche Haltung ist, was muss sich dann bei PSM ändern, damit die Säulen der EU stehen bleiben?
Ich glaube, dass Bildung und Innovation die Antwort auf diese Frage sind. Obwohl PSM in ganz Europa bestrebt sind, qualitativ hochwertige Bildungsinhalte zu schaffen, scheinen sie ihre Ziele nicht zu erreichen, da sie die Jüngsten oft nicht erreichen. Was die Innovation anbelangt, so halte ich es für wichtig, sich weiterhin auf attraktivere Inhalte zu konzentrieren, ohne dabei an Qualität zu verlieren. Die Existenz neuer Informationsquellen und deren Verbreitungsmöglichkeiten lassen jedoch vermuten, dass die derzeit im PSM entwickelten Bemühungen nicht mehr ausreichen. Es ist wichtig, Barrieren abzubauen.
Wir alle lernen in der Schule Lesen und Schreiben als Grundlage unseres Wissens. Aber sollten wir nicht auch lernen, Bilder zu ‚lesen‘? Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass ein Großteil der Informationen, die uns heute erreichen, in Form von Bildern vorliegt, ob statisch oder in Bewegung. In diesem Sinne stellen sich Fragen wie:
• Wie viele Schulen lehren junge Menschen, kritische Bürger:innen zu sein, die sich der riesigen Menge an Informationen bewusst sind, die auf sie einströmen, zum Beispiel über das Mobiltelefon?
• Wie viele Lehrer:innen und Erzieher:innen nutzen die von der PSM entwickelte Arbeit in der formalen Bildung?
• Ist es nicht möglich, Dokumentarfilme, Lernspiele oder Filme für den Unterricht zu verwenden?
Diese und viele andere Fragen sind nicht neu, aber sie scheinen weder von der PSM noch von der formalen Bildung beantwortet zu werden. Es besteht ein dringender Bedarf, die Medienkompetenz in den Schulen zu verbessern.
Im portugiesischen Kontext gibt es zwei wichtige Momente der Annäherung zwischen dem PSM und der Schule. Der erste war 1964, als RTP Telescola ins Leben rief, in einer Zeit der Diktatur und in einem sozialen Kontext, der durch einen Mangel an Schulbildung gekennzeichnet war. Der zweite Moment war 2012 mit der Einrichtung des Portals RTP Ensina, dessen Hauptziel nach wie vor die Bereitstellung kostenloser Bildungsressourcen ist. In einem völlig anderen sozialen Kontext, sowohl in Bezug auf Bildung als auch auf Politik, war es ein wichtiges Instrument für den Erfolg des Projekts #estudoemcasa während der COVID-19. Aufgrund der Pandemie hat die Produktion von Bildungsinhalten im Rahmen einer
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Partnerschaft zwischen dem Bildungsministerium und RTP im Jahr 2020 erheblich zugenommen.
Obwohl sie etwa ein halbes Jahrhundert auseinander liegen und in sehr unterschiedlichen Kontexten stattfanden, zeigen sie das Anliegen des PSM, die Schule zu ergänzen. In beiden Fällen ging es nicht darum, neue Vorschläge für Schulinhalte zu entwickeln. Stattdessen konzentrierte man sich ausschließlich auf die bestehenden Schulinhalte. Zwei Gelegenheiten, die nicht ausgereicht zu haben scheinen, um die Mauern zwischen PSM und formaler Bildung zu durchbrechen, die die Einführung von Medienkompetenz in die formale Bildung begrenzen.
Wenn wir zeigen wollen, wie Europa aussah, bevor es sich vereinigte und eine so lange Periode des Friedens erreichte, ist es wichtig, die harte Realität des Lebens unter einem diktatorischen politischen Regime aufzuarbeiten und zu reflektieren. Es ist dringend notwendig, die Bedeutung der scheinbar selbstverständlichen Freiheiten aufzuzeigen und daran zu erinnern, dass die Schwierigkeiten von heute unvergleichlich geringer sind als die, früherer Generationen. Es ist aber auch wichtig, auf die Verantwortung hinzuweisen, die die Freiheit als sozialer Pfeiler mit sich bringt.
Die Errungenschaften der Vergangenheit müssen aufgewertet werden, wenn sie ein gesellschaftlicher Pfeiler bleiben sollen. Dies kann nur durch eine stärkere Konzentration auf die Sozial- und Geisteswissenschaften in der gesamten Schulbildung geschehen, die heute eher auf die exakten Wissenschaften ausgerichtet ist. In diesem Sinne können und sollten die PSM eine führende Rolle bei der Medienkompetenz spielen, nicht nur bei der Schaffung von Inhalten, sondern auch bei der Festlegung von Schulprogrammen.
Eine stärkere Europäisierung der verschiedenen europäischen PSM ist von grundlegender Bedeutung in dem Sinne, dass eine stärkere institutionelle Zusammenarbeit erforderlich ist, um europäische Programme in Verbindung mit Wissen zu schaffen. Damit wird die Bedeutung von Unterhaltungsprogrammen wie dem Eurovision Song Contest nicht in Abrede gestellt, der zwar nicht ausschließlich europäisch ist, aber eine europäische Vision hat, die für die soziale Dimension so wichtig ist.
Das Engagement für Bildung und Innovation muss mit der Entwicklung von Medienkompetenz außerhalb des Medienbereichs einhergehen. Die Bereitstellung hochwertiger Bildungsinhalte für verschiedene Altersgruppen als Ergänzung zur formalen Bildung scheint nicht mehr ausreichend zu sein. PSM muss nicht nur auf den verschiedenen sozialen Ver-
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breitungsplattformen verbleiben, sondern auch in die formale Bildung eingeführt werden. Mit anderen Worten: Es muss in den Schulen Realität werden. Lehrpersonal und Erzieher:innen müssen zu medienkompetenten Akteur:innen ausgebildet werden. Sie müssen die Verantwortung für die Nutzung der Medien zur Vermittlung von Wissen und Werten übernehmen. Eine grundlegende Rolle bei der Bildung kritischer und informierter Bürger:innen mit ausgeprägten Medienkompetenzen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es dringend notwendig ist, dass die PSM ihre Rolle über ihre eigenen Grenzen hinaus wahrnehmen. Ohne diese Einstellung wird es schwierig sein, das Ziel zu erreichen, die Bürgerinnen und Bürger auf eine zunehmend digitale Zukunft vorzubereiten, damit wir in einem modernen Europa leben können und gleichzeitig die Achtung der Vielfalt und der Toleranz als die wichtigsten sozialen Pfeiler der EU bewahren.
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| ROMANIA | RUMÄNIEN |
GESTERN PROPAGANDA, HEUTE
DESINFORMATION: ERBE DES RUMÄNISCHEN ÖFFENTLICHEN
RUNDFUNKS
ASS.PROF. IN DR. IN DANA MUSTATA
UNIVERSITÄT GRONINGEN
Am Vorabend des Beitritts Rumäniens und Bulgariens zu den Luft- und Seegrenzen des Schengen-Raums wird ein rumänischer Reisender am Flughafen Henri Coada in Bukarest in den Hauptnachrichten des privaten Fernsehsenders Antena 3 CNN interviewt. Der Mann - vermutlich Mitte 30 bis Anfang 40 - äußerte sich zu dem Ereignis: „Ich denke, das wäre für uns hilfreich, aber bis wir hier in Rumänien auch europäische Standards sehen, denke ich, dass wir noch warten müssen. Es ist unmöglich, dass alles reibungslos läuft. Ich denke, es wird etwas passieren und Probleme werden auftreten. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, dass wir so frei reisen können.” Das Gefühl der Vorfreude des Mannes („zu schön, um wahr zu sein”), seine Gefühle des Misstrauens und des Unglaubens („unmöglich, dass alles reibungslos läuft ... es wird etwas passieren und Probleme werden auftreten”) und seine Diskurse der Unterlegenheit („bis wir hier in Rumänien auch europäische Standards sehen, denke ich, dass wir noch warten müssen.”) prägen eine Orientierung an die Welt, die für Rumän:innen aller Generationen allzu bekannt und erkennbar ist. Mich interessiert, was solche Einstellungen, Gefühle, Diskurse und (Miss)Glaubenssätze prägt, wie sie Rumän:innen in der Welt positionieren und warum sie in der rumänischen Gesellschaft während und nach dem Kommunismus weit verbreitet waren.
In den Archiven, die die Geschichte der Medien im kommunistischen Rumänien dokumentieren, finden sich zahllose Beispiele für ähnliche Gefühle und Einstellungen, die in der rumänischen Gesellschaft zu jener Zeit weit verbreitet waren. In einem Brief, der 1983 an Radio Free Europe geschickt wurde und mit dem Pseudonym „Soldat des gesunden Menschenverstands” unterzeichnet war, heißt es beispielsweise: ...Obwohl ich mir der Umstände bewusst bin, unter denen wir zu leben gezwungen sind, habe ich nicht die Kraft, auf die Straße zu gehen oder bei einer Betriebsversammlung aufzustehen, um meine Meinung zu sagen, auch wenn alle anderen die gleichen Überzeugungen haben wie ich. [...] Wir leben [...] in einem Zustand der Einschüchterung, und diese Einschüchterung ist, glaube ich, zum repressivsten Mechanismus des Ceausescu-Regimes geworden... Wenn man zum Beispiel von seinem Arbeitsplatz zum Flugha-
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fen gebracht wird, um [Ceausescus] Abgang und Ankunft zu beklatschen, geht man dorthin aus Angst, seinen Arbeitsplatz zu verlieren.
Noch während Ceausescus kommunistischem Regime im Dezember 1989 herrschte unter den Rumän:innen ein Gefühl der Ohnmacht, des Misstrauens und des Unglaubens. Teo Cepraga, ein ehemaliger Programmgestalter des rumänischen Fernsehens, erinnerte sich an seine Reaktionen auf die ersten Nachrichten über den regierungsfeindlichen Aufstand im Westen des Landes: „Der November war vergangen, und am 16. Dezember hörte ich auf Radio Free Europe, was in Timisoara geschah. Das kann nicht möglich sein, sagte ich mir, die müssen lügen. [...] Sie sprachen von Schießereien und Toten und ich fragte mich: Kann das wahr sein; woher wussten sie von Schießereien und Toten? Als ich am 17. in der Fernsehstation ankam, sah ich, dass alle seltsam aussahen. Keiner redete mehr, keiner machte mehr Witze. Ich fing an zu lachen und dachte mir: Die müssen alle Radio Free Europe hören. Dann konnte ich es kaum erwarten, nach Hause zu gehen und mein Radio einzuschalten. Jjjjjj, die Störgeräusche, die in jenen Tagen im Radio liefen, wie nie zuvor. Ich habe meine Frau damals gefragt: ‚Glaubst du, das ist das Ende?‘ ‚Ich weiß es nicht, ich glaube nicht, Ceausescu wird nicht aufgeben, bis er uns alle tot sieht‘, sagte sie.
Was diese verschiedenen Beispiele – alte und neue – gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass sie ein genaues Bild der Weltanschauung vermitteln, die Teil des Erbes ist, das die kommunistische Vergangenheit Rumäniens hinterlassen hat. Diese Beispiele beschreiben Einstellungen, Gefühle, (Un-)Überzeugungen und verinnerlichte disziplinäre Diskurse im Sinne von Foucaults (1972) Verständnis dieses Phänomens, die sich in Rumänien historisch vor dem Hintergrund eines repressiven Kontroll- und Propagandaapparats herausgebildet haben. Sie beschreiben eine psychosoziale Erfahrung, die spezifisch für die politische und soziale Organisation der kommunistischen Zeit ist. Dieses Erbe der Vergangenheit, auch wenn es immateriell und in gelebten Erfahrungen verankert ist, kann uns eine langfristige Perspektive auf Propaganda und politische Repression eröffnen. Es zeigt uns, dass Propaganda und politische Repression keineswegs auf eine bestimmte Zeit, ein bestimmtes politisches Regime und einen bestimmten Repressionsapparat beschränkt sind, sondern dass sie Auswirkungen haben, die zeitlich gestreut und anhaltend sind und tief in das Innere eines Individuums eindringen, um eine ganz bestimmte psychosoziale Erfahrung zu machen, die die Asymmetrien der Macht, die sie hervorgebracht haben, noch lange in die Zukunft trägt.
Am 22. Dezember 2022 strahlte der öffentlich-rechtliche Fernsehsender TVR 1 eine Sonderausgabe der Talkshow „Decembrie Rosu” (übersetzt:
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„Roter Dezember”) aus. Auf seiner eigenen Website stellte der Sender die Sendung wie folgt vor: „Auch 33 Jahre nach dem Sturz der kommunistischen Diktatur sind die blutigen Ereignisse im Dezember 1989 eine offene Wunde für das demokratische Rumänien. 1000 Menschen starben damals und über 3000 Menschen wurden verletzt, aber niemand wurde zur Verantwortung gezogen [...] Bis ein juristisches Urteil gefällt wird – und wer weiß, wie lange wir noch warten müssen – präsentiert das rumänische Fernsehen am 22. Dezember eine Fernsehdebatte auf der Grundlage aktueller, fundierter Informationen, die es den Zuschauern ermöglicht, sich eine eigene Meinung über die Revolution von 1989 zu bilden.” Auf dem YouTube-Kanal von TVR kommentierten die Nutzer:innen die Sendung: „[Die Wahrheit] wird auch nach 50 Jahren nicht ans Licht kommen”, sagte @danirumano3019. „Und dennoch bleibt die Frage ‚Wer hat uns nach dem 22. [Dezember 1989] erschossen?‘ unbeantwortet”, kommentierte @Gigelul2. „Wir leben in einer totalen Lüge...”, warnte @sorinalexandra9126. „Das einfache Ignorieren von Historikern und Forschern, die [...] die Revolution sehr professionell dokumentiert haben und die zu anderen Schlussfolgerungen gekommen sind als die Securitate (die direkt oder in Vertretung im Studio anwesend waren), sagt alles über ihre Gutgläubigkeit aus”, fügte @sobchak1 hinzu und übte damit direkte Kritik an den Macher:innen der Sendung und ihren geladenen Gäst:innen, darunter auch Historiker:innen.
Ein Slogan, der für das Rumänien nach 1989 emblematisch geworden ist, lautet: „Ati mintit poporul cu televizorul” (übersetzt: „Durch das Fernsehen habt ihr das Volk belogen”), der zu einer Hymne auf das Misstrauen der Rumänen gegenüber dem öffentlichen Rundfunk geworden ist. Andere kulturelle Ausdrucksformen nach 1989 spielen auf ein ähnliches Misstrauen und das Gefühl einer unbewältigten Vergangenheit an. Corneliu Porumboius Film „12:08 East of Bucharest” aus dem Jahr 2006 (auf Rumänisch: „A fost sau n-a fost?”, wörtlich übersetzt: „War es so oder war es nicht so?”) ist ein Beispiel dafür. Im Mittelpunkt des Films stehen drei Protagonisten, die - auf humorvolle Weise - im Lokalfernsehen über den Wahrheitsgehalt dessen debattieren, was während der Revolution von 1989 in ihrer Stadt geschehen sein mag oder nicht.
Solche kulturellen Äußerungen im postkommunistischen Rumänien bilden heute ein lebendiges kulturelles Archiv, ein Phänomen, das sich auf „‘die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart‘ bezieht, eine Handlungsweise, in die die Menschen sozialisiert wurden, die natürlich wird und dem Bewusstsein entgeht.” (Wekker, 2016, S.20).
Die Dekonstruktion dieses lebendigen kulturellen Archivs setzt voraus, dass wir das Erbe einer repressiven, von Propaganda geprägten Vergan-
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genheit verstehen und über die Art dieses Erbes nachdenken. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Rumänien bietet den besten Ausgangspunkt, um dieses Erbe zu erfassen, und zwar nicht wegen seiner früheren Nähe zu den Propagandamaschinen des kommunistischen Regimes. Es wäre sogar gefährlich, die Geschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit der Geschichte eines politischen Regimes gleichzusetzen. Vor allem aufgrund ihres Status als alte öffentliche Rundfunkanstalt, die die rumänische Gesellschaft langfristig dokumentiert hat, befindet sich die Institution in einer einzigartigen Position in einer Medienlandschaft, in der soziale Medien, Online-Plattformen und kommerzielle Anreize zum Trend geworden sind, während Fake News, Deep-Fake-Technologien und Echokammern Verwüstung anrichten. Als öffentlich-rechtliche Medienanstalt hat der rumänische Rundfunk das Erbe der Vergangenheit dokumentiert, bewahrt und archiviert. Dieses Erbe der Vergangenheit findet sich sowohl in den Archiven als auch in den aktuellen Produktionen und, was ebenso wichtig ist, in den Haltungen, die der Sender bei seinem Publikum hervorruft und die von tief verwurzelten Gefühlen in der rumänischen Gesellschaft zeugen. Dieses Erbe bildet die einzigartige Ressource des öffentlichen Rundfunks in der heutigen Gesellschaft.
Die Multimedia-Archive der TVR sind die greifbarste Form des Erbes des Senders. Dieses Erbe ist die Grundlage für die Produktion neuer Programme und für den kürzlich gegründeten Kanal TVR Folclor, der die Sichtbarkeit der rumänischen Folklore, Traditionen und des Handwerks für ältere und jüngere Mediengenerationen fördert. Zusätzlich zu diesem internen Erbe des rumänischen Fernsehens gibt es weitere Archive, die das Erbe der Institution prägen. Beispiele hierfür sind die ‚Radiotelevision Files‘ im Council for the Study of the Securitate Archives oder die Dokumente, die von der Propaganda- und Agitationsabteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Rumäniens hinterlassen wurden und im Nationalarchiv Rumäniens zu finden sind.
Dieses materielle archivarische Erbe des rumänischen Fernsehens hat eine Kehrseite. Dieses Erbe ist zwar wichtig, stellt aber auch eine unvollständige und kaum zufriedenstellende Darstellung dessen dar, was das Erbe des rumänischen öffentlichen Rundfunks heute ausmacht. Wie Katherine Verdery argumentierte, hat der Postkommunismus seine Logik in die Gegenwart verlängert, indem er Archive, die aus einem politischen Regime stammen, das die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktion verwischte, als „Ort der Wahrheit über die Vergangenheit” betrachtete (Verdery, 2014, S. 72-73).
Wenn man den kompromittierten oder bestenfalls stark in Frage gestellten Wahrheitswert diskursiver Handlungen, die in einem von Propaganda beherrschten totalitären Regime produziert wurden, erklären will, kommt
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die Natur von Archivdokumenten, die aus diesem Kontext stammen, auf den Prüfstand.
„Ursprünglich waren die Visa rein politisch, sie haben nur politische Fehler verhindert”, erinnert sich der ehemalige TVR-Mitarbeiter Stefan Dimitriu. „Die Zensur griff nur bei politischen Sendungen ein. Aber wir haben uns an die Selbstzensur gehalten, wir wussten, was erlaubt war und was nicht. Unsere schlimmsten Zensoren waren einige unserer Vorgesetzten in der Abteilung [...]. Da war Manase Radnev, der stellvertretende Chefredakteur, [...], der nichts akzeptierte, was nicht dem Standard entsprach, er schnitt heraus, was in einer Sendung am attraktivsten war. Er mochte keine Andeutungen, die als subversiv interpretiert werden konnten, nicht einmal unschuldige Kommentare. Er sagte, das erregt Aufmerksamkeit. Mit Humor in den Sendungen ging er kein Risiko ein. Jeder hatte Angst, dass die Genossen [n.a. Nicolae und Elena Ceausescu] zuschauen würden. Wenn jemand das Pech hatte, dass Ceausescu seine Sendung sah und sagte, dass sie ihm nicht gefiel, würde er seinen Job verlieren.”
Bevor wir nach strengen Methoden suchen, die uns helfen könnten, die fragwürdige Natur der vom kommunistischen Regime produzierten Dokumente zu durchschauen, stellt sich eine andere Frage: Übersehen wir nicht, dass der Akt des unentschlossenen Hinterfragens der Wahrheit –eine Praxis, die eine Vielzahl von Formen annehmen kann, von Skepsis über Zynismus bis hin zu Misstrauen und Unglauben – Teil des Erbes eines Mediensystems und einer Gesellschaft sein kann, die ein politisches Regime erlebt hat, in dem die Propaganda die Wahrheit auslöschte und gleichzeitig das Vertrauen der Menschen zerstörte, in der die Autonomie des Einzelnen, verlässliche Entscheidungen darüber zu treffen, wem, was und wann man vertrauen kann, auf eine harte Probe gestellt wurde und in der die eigene Orientierung an der Welt von dem eingeflößten Glauben an das geprägt war, was Hannah Arendt 1951 als „alles war möglich und nichts war wahr” beschrieb?
Der Akt des unentschlossenen Hinterfragens der Wahrheit unterscheidet sich vom Akt des kritischen Fragens. Der Mangel an Entschlossenheit rührt in erster Linie von einem tief verwurzelten Gefühl der Ohnmacht, des Misstrauens und der Hoffnungslosigkeit her, denselben Gefühlen, die die kommunistische Erfahrung der Mehrheit der Rumän:innen in Ceausescus Rumänien beschrieben. Es ist die Sammlung von Gefühlen, die in der psychosozialen Erfahrung eines von Propaganda geprägten und repressiven Regimes verwurzelt sind – die der öffentlich-rechtliche Rundfunk durch seine Positionierung als Vermittler zwischen der politischen Sphäre des Regimes und den häuslichen Räumen der zivilen Zuschauer dokumentiert hat
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–, die ein immaterielles Erbe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks darstellt, ein Erbe, das umso wichtiger ist, als es bisher unbeachtet geblieben ist.
Die Erforschung dieses immateriellen Erbes führt uns zu den Erfahrungen der Menschen mit Ceausescus Propaganda und Kontrolle. Dies zeigt uns, wie die Propaganda funktionierte, obwohl die Menschen in der Lage waren, Fakten von Fiktion zu unterscheiden und die Lügen des Regimes nicht glaubten. Hört auf, uns diese gottverdammten Lügner zu zeigen!” wütete eine Fernsehzuschauerin am 15. März 1988 in einem Telefonat mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. „Das Ergebnis einer konsequenten und totalen Ersetzung der faktischen Wahrheit durch die Lüge ist nicht, dass die Lüge nun als Wahrheit akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der Sinn, mit dem wir uns in der realen Welt orientieren - und die Kategorie von Wahrheit und Lüge gehört zu den geistigen Mitteln zu diesem Zweck - zerstört wird”, argumentierte Hannah Arendt. Aus dem immateriellen Erbe der kommunistischen Vergangenheit Rumäniens, das durch die Linse des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dokumentiert wird, lässt sich lernen, dass es eine ganz bestimmte psychosoziale Erfahrung ist, die Propaganda wirksam macht. Diese Erfahrung ist nicht auf Überzeugung zurückzuführen, sondern auf eine spezifische soziale Organisation, in der die Fähigkeit der Menschen, Fakten von Fiktion zu unterscheiden, ihnen keine Entschlossenheit und keinen Schutz vor der Durchdringung und Beständigkeit von Lügen mehr bietet. In Ermangelung einer solchen Entschlossenheit und eines solchen Schutzes entstehen Gefühle der Ohnmacht, des Misstrauens und des Unglaubens an die Herrschaft der Tatsachen über die Fiktion sowie ein verinnerlichtes Gefühl der Selbstdisziplinierung als Mittel zur Anpassung an eine inkongruente äußere soziale Organisation.
Die heutige Verbreitung von Desinformation macht das historische Erbe der öffentlichen Medien in den ehemaligen totalitären Regimen Europas, wie z. B. in Rumänien, dringend erforderlich. Was heute als „PostWahrheits-Ära” bezeichnet wird, ist keineswegs neu, sondern verweist auf Phänomene, die bereits vor dem Aufkommen des Internets weit verbreitet waren, so dass es „nie eine ‚Wahrheits-Ära‘ gegeben hat” (Dutilh Novaes & de Ridder, 2021, S. 156-157). Das Neue an diesen Phänomenen ist, dass sie sich an die technologischen und kommerziellen Möglichkeiten der OnlineMedien angepasst haben und sich weltweit ausbreiten (ebd.). Was uns die kommunistische Vergangenheit Rumäniens lehren kann, ist, dass Propaganda und Desinformation nicht dadurch gedeihen, dass die Massen von Lügen überzeugt werden, und auch nicht durch die Annahme, dass die Menschen nicht zwischen Fakten und Fiktion unterscheiden können. Sie gedeihen unter bestimmten psychosozialen Bedingungen, die durch ein allgemeines und ungelöstes Gefühl des Misstrauens, der Machtlosigkeit
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und des fehlenden Glaubens an eine Welt gekennzeichnet sind, in der die Herrschaft der Fakten über die Fiktion eine Atempause von unerwünschten Zuständen bringen würde. Solche psychosozialen Bedingungen sind mit Machtasymmetrien verwoben und können durch diese konstruiert, manipuliert oder ausgenutzt werden.
Dies ist sowohl eine Lehre als auch eine Warnung, eine Warnung, die Hannah Arendt bereits 1951 formulierte: „Totalitäre Lösungen können durchaus den Untergang totalitärer Regime überleben, und zwar in Form von starken Versuchungen, die immer dann auftauchen, wenn es unmöglich erscheint, politisches, soziales oder wirtschaftliches Elend in einer menschenwürdigen Weise zu lindern.” Um die Diskussion auf das Erbe der öffentlichen Medien der früheren totalitären Regime in Europa zurückzuverweisen, ist es gerade das immaterielle Erbe von Gefühlen, Einstellungen und Diskursen über das eigene Selbst, das seinen Ursprung in den propagandistischen Regimen der Vergangenheit hat und in der Gegenwart ein lebendiges kulturelles Archiv bildet, das Einblicke in die conditio humana bietet, die es in der heutigen Desinformationskampagne zu bewahren gilt. Während Daten, Technologien zur Überprüfung von Fakten, Medienliteratur und die aktive Bekämpfung von Unwahrheiten wichtig sind, ist die Sorge um den Schutz vor einem psychosozialen Klima, in dem die Anfälligkeit der menschlichen Natur für die Gefahren der Desinformation ungebremst ist, von größter Bedeutung. Dies gilt umso mehr, als bei der Betrachtung der Mediengeschichte der kommunistischen Propaganda in Rumänien vor allem der Zustand der menschlichen Natur innerhalb eines spezifischen psychosozialen Klimas, das von einem propagandistischen Regime geschaffen wurde, übersehen wurde. Diese Bedingung anzuerkennen würde bedeuten, das Erbe, das die kommunistische Vergangenheit hinterlassen hat, anzuerkennen, zu erforschen, kritische Fragen zu stellen und Verantwortung dafür zu übernehmen – ein Erbe, das vom Kommunismus bis zum Postkommunismus weitergegeben wurde und bis heute weiterlebt. Dieses Erbe prägt eine heutige Orientierung an der Welt, an sich selbst, an Europa, an der Gegenwart und an der Zukunft und ebenso an der Vergangenheit, die zum postkommunistischen Rumänien ebenso gehört wie zum Europa der Nachkriegszeit.
Literaturverzeichnis
Michel Foucault, The archaeology of knowledge and the discourse on language, Pantheon Books, 1972
Gloria Wekker, White Innocence, Duke University Press, 2016
Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, Penguin Classics, 2017 (originally published in 1951)
Catarina Dutilh Novaes, Jeroen de Ridder, “Is fake news old news?” in: S. Bernecker, A. K. Flowerree, & T. Grundmann (eds.), The Epistemology of Fake News, Oxford University Press, 2021, p.156-179.
Katherine Verdery: Secrets and Truths: Ethnography in the Archive of Romania’s Secret Police, Central European University Press, 2014.
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SLOWENIA | SLOWENIEN |
VON DER VIELFALT
DER BLASEN
KSENIJA HORVAT
RTV SLOWENIEN
Die slowenischen öffentlichen Medien, RTV Slovenija, sind ein hervorragendes Beispiel dafür, wie leicht öffentliche Medien undemokratischen Tendenzen erliegen können. In jüngerer Geschichte hat sich gezeigt, dass nur wenige Personen in Schlüsselpositionen die Programmrichtlinien eines bedeutenden Medienunternehmens zugunsten der herrschenden politischen Agenda umlenken und es in eine Propagandamaschine verwandeln können.
In Slowenien haben unabhängige Journalist:innen innerhalb des öffentlichen RTV in den Jahren 2022/23 durch einen journalistischen Streik und die Teilnahme an einem Referendum, das deutlich die Erwartung der Öffentlichkeit zum Ausdruck brachte, dass der öffentliche Rundfunk unabhängig von der Politik arbeiten sollte, um einen wichtigen Raum für autonome Arbeit gekämpft. Jetzt stehen wir vor der äußerst schwierigen Aufgabe, wie wir diese erworbene Freiheit nutzen können, um Rundfunk zu betreiben, der die demokratische gesellschaftliche Entwicklung unterstützt.
Die Umgebung ist feindselig. Unter jungen Zuschauer:innen sind wir kein beliebtes Medium, da ihre Art der Medienkonsumption sich weit von linearem Fernsehen entfernt hat und RTV in den letzten zehn Jahren nicht aggressiv genug in den modernen digitalen Medienmarkt eingetreten ist.
Wir verlieren an Halt in ländlichen Gebieten, wo der öffentliche Rundfunk als von der sozialen Realität abgekoppelt, unnahbar und weniger zuschauerfreundlich im Vergleich zum leichteren Inhalt kommerzieller Konkurrenten angesehen wird. Können wir sie mit qualitativ hochwertigen Inhalten in ansprechenden Formaten erreichen? Wie können wir sie entwickeln? Wie können wir populär sein, ohne populistisch zu sein?
Da Slowenien aufgrund weitergegebener Traditionen grundsätzlich eine eher populistische rechte Bevölkerung beherbergt, gilt der öffentliche Rundfunk dort als Hochburg der extremen Linken (was weit von der Wahrheit entfernt ist). Dennoch hegen lautstarke Gegner:innen des öffentlichen Rundfunks den Verdacht auf Voreingenommenheit in öffentlichen Debatten, was den Gedanken der linksextremen bis zu einem
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gewissen Grad schürt. Auch das allgemeine Umfeld ist problematisch, da die Stärke des öffentlich-rechtlichen Rundfunks selbst in Österreich, Italien, Kroatien, und nicht zuletzt Ungarn oft herausgefordert wurde.
Mit dem Abgang der politisch motivierten vorherigen Führung und einem starken Referendumssieg, bei dem Journalist:innen die Änderung des Gesetzes unterstützten, die zur Depolitisierung der Aufsichtsgremien führte, wussten Journalist:innen, dass sie einen bedeutsamen Sieg errungen hatten. Allerdings stellten wir fest, dass die finanzielle Situation des Hauses sich stark von jener unterschied die von der früheren Führung vorgesehen wurde. Die finanziellen Reserven waren aufgebraucht, und die Folgen der Tatsache, dass der RTV-Beitrag in Slowenien seit 2012 nicht erhöht und in dieser Zeit nicht an die Inflation angepasst wurde, wurden klar sichtbar.
Die aktuelle Regierung von Robert Golob versprach während der Referendumskampagnen eine langfristige stabile Finanzierung, was bisher nicht eingetreten ist. Der öffentliche Rundfunk befindet sich seit mehreren Monaten am Rande der Insolvenz. Wir wissen, dass allein eine Anpassung an die Inflation uns Millionen an jährlichen Einnahmen bringen könnte, –Geld für Innovationen und das Finden von Abkürzungen zum Publikum, das wir verloren haben oder noch nicht gewonnen haben. In solchen Bedingungen ist es äußerst schwierig, erfolgreich neue Fernsehformate zu entwickeln, einen zuschauerfreundlichen Fernsehdienst zu schaffen, erfolgreich die Herausforderungen anzugehen, junge Zuschauer:innen zu gewinnen, ländliche Gebiete zu erobern und professionelle Standards zu festigen. Mit Ausnahme der Zeit, als die ehemalige, rechtsgerichtete regierungsfreundliche Führung ihre Leute aus den Parteimedien-Satelliten ins Fernsehen brachte, gibt es bei RTV seit vielen Jahren ein Einstellungsverbot. Das Durchschnittsalter unserer Mitarbeiter:innen beträgt fast 50 Jahre, und es fehlt uns an jungen, ehrgeizigen und begeisterten Mitarbeiter:innen in allen Bereichen. Dies spiegelt sich auch im Programm selbst wider. Es wundert nicht, dass das vorherrschende Publikum des öffentlichen Fernsehens über 60 Jahre alt ist. Die Tatsache, dass wir in Slowenien im öffentlichen Sektor bei RTV beschäftigt sind und somit Staatsbedienstete sind, bedeutet auch, dass wir ebenfalls Beschwerden des öffentlichen Sektors haben.
In vielen Bereichen erfüllt das öffentliche Fernsehen immer noch erfolgreich die gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben, wie zum Beispiel die Programme für kulturelle und ethnische Minderheiten. Auf speziellen Frequenzen haben wir außergewöhnlich weitreichende und vielfältige Programme, die auf die ungarischen und italienischen autochthonen
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Minderheiten ausgerichtet sind und von ungarisch- und italienischsprachigen Journalist:innen und Produktionsmitarbeiter:innen vorbereitet werden. Kein Nachbarland widmet der Fernsehproduktion für Minderheiten so viel tägliches Programm wie Slowenien. Andererseits könnte sich schon auch die Fragen stellen, ob diese Menge unverhältnismäßig zur Qualität steht. Diesbezüglich verfügen wir aber über keine expliziten Daten die darauf hindeuten würden, dass diese Programme unter Angehörigen von Minderheiten eine höhere Zuschauerquote vorweisen als in der allgemeinen Bevölkerung.
Wir bereiten auch eine deutlich bescheidenere Show für Angehörige von Minderheiten aus dem ehemaligen Jugoslawien vor. Die meisten Shows in unserem Fernsehen sind mit modernen Systemen ausgestattet, die es gehörlosen, schwerhörigen und sehbehinderten Zuschauer:innen ermöglichen, dem öffentlichen Fernsehen zu folgen. Kürzlich haben wir uns verpflichtet, in unseren Talkshows, wo immer möglich, nach gleichberechtigter Beteiligung von Frauen und Männern zu streben. Was noch? Während der Wahlkämpfe muss das öffentliche Fernsehen speziell strenge Regeln für den Wahlkampf einhalten. Die Essenz der Regeln ist die gleichberechtigte Teilnahme aller Kandidat:innen an vorwahlkampflichen Fernsehshows. Die Konsequenz ist eine faire, aber oft nicht die spannendste vorwahlkampfliche Medienaktivität in unserem Fernsehen, da wir gesetzlich verpflichtet sind, auch Parteien und Bewegungen, die keine Chance haben, die parlamentarische Schwelle zu überschreiten, Medienberichterstattung zu bieten. Das öffentliche Fernsehen widmet religiösen Gemeinschaften, insbesondere der katholischen, besondere Aufmerksamkeit. Wir fangen an uns zu öffnen. In diesem Jahr haben wir das Gebet zum Eid al-Fitr erstmals live übertragen. Bisher musste die muslimische Gemeinschaft in Slowenien dieses im kroatischen öffentlichen Fernsehen ansehen. Diese Übertragung ist ein wichtiger Schritt zur Anerkennung der zuvor unerkannten Bedürfnisse zahlreichen muslimischen Gemeinschaft in Slowenien.
Noch einmal: Diese Schritte sind Schritte hin zur Vielfalt und Demokratie, aber nicht unbedingt hin zu höheren Zuschauerzahlen und damit zu einer größeren Reichweite und Einfluss in der Gesellschaft.
Die bevorstehende Umstrukturierung des öffentlichen Rundfunks von RTV Slovenija verspricht bedeutende Veränderungen, die das Medienunternehmen in eine neue Ära führen werden. Durch die engere Verknüpfung aller Bereiche – Radio, Fernsehen und Digital – wird eine verbesserte Integration angestrebt. Insbesondere wird eine verstärkte Vernetzung der Redaktionen angestrebt, um die Zusammenarbeit und Effizienz zu steigern.
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Ein zentraler Bestandteil dieses Vorhabens ist die Einführung neuer professioneller Standards, die die bisherigen Richtlinien aus dem Jahr 2000 ablösen sollen. Diese neuen Standards sollen besser die Realität des gesellschaftlichen Lebens widerspiegeln und den Mitarbeiter:innen von RTV Slovenija eine klare Orientierung bieten. Besonderes Augenmerk liegt auf der Schulung aller Mitarbeiter:innen bezüglich der Bedeutung und Umsetzung des Kodex, was dazu beitragen soll, Fehler und Ausrutscher im gesamten Programm zu reduzieren und die Reputation des Senders im Bereich der unparteiischen und professionellen Berichterstattung zu stärken.
Des Weiteren wird eine Stärkung der lokalen Berichterstattung angestrebt, die einen wichtigen Programmplatz im Fernsehen einnimmt. Die Einführung einer neuen Primetime-Show, die sich gezielt mit lokalen Themen befasst, soll die Relevanz und Vielfalt des Programms weiter erhöhen.
Zusätzlich zu diesen Maßnahmen wird das Netzwerk der lokalen Korrespondenten reformiert, wobei gleichzeitig die Verbindung zum Radiobereich verstärkt wird. Trotz der Herausforderungen im Zusammenhang mit der Finanzierung des öffentlichen Rundfunks, insbesondere bei einer möglichen Beibehaltung des RTV-Beitrags auf dem Niveau von 2012, wird angestrebt, die Qualität und Vielfalt der Berichterstattung aufrechtzuerhalten.
Diese geplanten Veränderungen verdeutlichen das Bestreben von RTV Slovenija, mit den sich wandelnden Medienlandschaften Schritt zu halten und den Zuschauer:innen ein zeitgemäßes und vielfältiges Programm zu bieten. Wir sind uns bewusst, dass das Fernsehprogramm nicht nur als lineares Fernsehen, sondern auch in seinen digitalen Formen gedeihen muss. Mit kontinuierlichen Verbesserungen an unserem RTV 365 Player verbessert sich auch die Sichtbarkeit von Fernsehinhalten in der digitalen Welt. Registrierte Nutzer:innen können jetzt die Funktion „Mein 365” verwenden, um RTV-Inhalte zu abonnieren und zu speichern und über das Web, das Mobiltelefon, den Smart-TV oder den Multimedia-Player darauf zuzugreifen. Darüber hinaus können Nutzer:innen die Wiedergabe unterbrochener Inhalte vom Unterbrechungspunkt aus fortsetzen. Innerhalb der Anwendung haben Nutzer:innen auch Zugriff auf die „Filmoteka” - einen Online-Shop für slowenische Spielfilme, Dokumentationen und animierte Filme.
Obwohl wir möglicherweise nicht direkt mit den digitalen Giganten konkurrieren können, können wir unser Angebot in slowenischer Sprache stärken (was große Konzerne wie Netflix nicht priorisieren). Es gibt noch
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viel Raum für Verbesserungen, z. B. die Vorbereitung von TV-Inhalten ausschließlich für digitale Medien für ein digitales Publikum, und wir sind ungeduldig, da der gesamte Prozess unserer Meinung nach zu langsam ist. Mit zusätzlichen finanziellen Ressourcen und neuem Wissen könnten wir jedoch viel schneller sein.
Während wir die formale Trennung von Radio-, Fernseh- und Digitalredaktionen beibehalten, arbeiten wir wie nie zuvor zusammen. In den letzten Monaten haben wir das Projekt „Prvič” erfolgreich abgeschlossen, ein Fernseh-Radio-Web-Projekt, das sich an ein junges Publikum richtet. Wir werden eng zusammenarbeiten, um die Europawahlen zu decken, um gemeinsam das größtmögliche Publikum zu erreichen. Interessanterweise hat der ehemalige Direktor von TV Slovenija beschlossen, nicht um die vom Europäischen Parlament für die Berichterstattung über diese Wahlen bereitgestellten Mittel zu konkurrieren, mit der Begründung, dass „wir keine europäische Propaganda benötigen”. Trotz aller Verzögerungen ist es der aktuellen Verwaltung gelungen, einen speziellen redaktionellen Zuschuss für die Berichterstattung über die Europawahlen auszuhandeln, was bedeutet, dass wir mehr Ressourcen für dieses Thema bereitstellen können, ein vielfältigeres, ehrgeizigeres Programm vorbereiten und wichtige Vergleiche mit den Ereignissen vor den Wahlen in anderen europäischen Ländern anstellen können. Wir betrachten umfassende, gründliche und einladende Berichterstattung über die Europawahlen als unsere grundlegende Mission in einer Zeit, in der starke Kräfte der Zersplitterung in der Europäischen Union wirken und in dem insbesondere junge Wähler:innen ihre Beziehung zu europäischen (und anderen) politischen Strukturen verlieren. Jedoch muss auch darauf hingewiesen werden, dass sogenannte europäische Themen, gelinde gesagt, keine hohen Einschaltquoten erreichen. Daher müssen wir die richtigen Wege finden, um europäische Themen auf benutzerfreundliche Weise zu vermitteln.
Mit Inhalten, die speziell auf junge Menschen ausgerichtet sind, streben wir danach, sie sowohl im Fernsehen als auch in digitalen Formaten zu erreichen, wo immer sie sich befinden - sogar auf sozialen Medien und anderswo online, wenn nötig. Es ist wichtig insbesondere für junge Menschen zu verstehen, dass die Inhalte, die vom öffentlichen Fernsehen bereitgestellt werden, unabhängig von Politik und Kapital sind und dass wir als Redakteur:innen ihres Vertrauens würdig sind.
Dies stellt einen entscheidenden Aspekt der Medienkompetenz dar, bei der Slowenien im Allgemeinen hinter etablierten europäischen Praktiken zurückbleibt. Hier werden wir neue Ansätze zur Bewältigung von
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Problemen wie Verschwörungstheorien, Fehlinformationen, Filterblasen, Quellenverlässlichkeit und Faktenüberprüfung untersuchen. Insbesondere werden wir uns auf künstliche Intelligenz konzentrieren, die ebenfalls den slowenischen Raum betritt, und für die Fragen, die sie aufwirft, fehlen uns derzeit Antworten. Wir werden die ersten Erfahrungen anderer europäischer Medien in dieser Hinsicht genau verfolgen.
Für ein Medienunternehmen, das sehr schwierige finanzielle Zeiten durchlebt, sind all diese Aufgaben äußerst anspruchsvoll, aber auch spannend. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat eine wichtige Mission: Er muss eine transzendente Vielzahl von unzähligen Blasen sein, in denen wir individuell unser Medienleben führen. Mit anderen Worten: wir müssen gemeinsam an einer Gesellschaft bauen und eine Plattform bereitstellen, die die Öffentlichkeit nutzt, um Ideen für eine demokratische Zukunft zu kommunizieren.
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SLOVAKIA | SLOWAKEI |
DER PSM IN DER SLOWAKEI: HERAUSFORDERUNGEN MEISTERN UND INTEGRITÄT BEWAHREN
DR. IN LUCIA VIROSTKOVA COMENIUS UNIVERSITÄT BRATISLAVA
Jüngste Gesetzesvorschläge zur Umstrukturierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Slowakei haben Besorgnis über mögliche politische Einmischung und deren Auswirkungen auf die Medienfreiheit ausgelöst. Diese Entwicklungen werfen ein Schlaglicht auf allgemeinere europäische Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Medien und des Rechts der Bürger:innen auf Information. Darüber hinaus haben gesellschaftliche Spaltungen, die durch Ereignisse wie die Pandemie und den Krieg in der Ukraine verschärft wurden, zu einer verstärkten Kontrolle der traditionellen Medien geführt. Infolgedessen wenden sich einige Bürger:innen zunehmend Online-Plattformen als bevorzugte Informationsquellen zu, was die öffentlich-rechtlichen Medien vor die neue Herausforderung stellt, ihr Publikum von ihrer unvoreingenommenen Nachrichtenberichterstattung und ihrer Fähigkeit zur Moderation öffentlicher Debatten zu überzeugen.
Der wichtigste Beitrag der öffentlich-rechtlichen Medien zur Demokratie liegt in der Einhaltung der grundlegenden Funktionen, die in den nationalen Rechtsrahmen festgelegt sind und in denen die für das öffentliche Interesse wesentlichen Werte zusammengefasst sind. In der Slowakei ist das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen (RTVS) gesetzlich als „die nationale, unabhängige, informative, kulturelle und bildende Institution, die Radio- und Fernsehdienste für die Öffentlichkeit anbietet” (Zákon o RTVS 532/2010 Z.z.) festgelegt. Die Gesetzgebung unterstreicht die demokratischen Grundsätze als grundlegend für den Inhalt der Nachrichten und Programme und verlangt die Einhaltung der wesentlichen Standards der Unparteilichkeit, Überprüfung, Genauigkeit, Ausgewogenheit und des Pluralismus. Dieses Mandat soll die Fähigkeit der Öffentlichkeit zur unvoreingenommenen Meinungsbildung gewährleisten. Die Bewertung der Einhaltung dieser Kriterien durch RTVS geht jedoch je nach Standpunkt weit auseinander. Um Bedenken auszuräumen, wurden sowohl interne als auch externe, von Expert:innen geleitete Gremien eingesetzt, um bestimmte strittige Fälle zu bewerten, die von der Öffentlichkeit, Wissenschaftler:innen oder anderen Fachleuten vorgebracht wurden.
In der Forschung über die öffentlich-rechtlichen Medien der Slowakei werden verschiedene Herausforderungen hervorgehoben, die während
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des Übergangs des Landes zum Aufbau glaubwürdiger demokratischer Institutionen nach der Samtenen Revolution im Jahr 1989, zunächst als Teil der Tschechoslowakei und seit 1993 als unabhängiger Staat, aufgetreten sind. Mehrere Wissenschaftler:innen weisen darauf hin, dass es Mitte der 1990er Jahre, unter der Regierung von Vladimír Mečiar, besonders schwierig war, die Integrität und Professionalität der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten und ihrer Mitarbeiter:innen aufrechtzuerhalten, die als getrennte Einheiten - das Slowakische Fernsehen und der Slowakische Rundfunk - arbeiteten (Sámelová, 2018). Nach der Gründung von RTVS im Jahr 2011 gab es unter den Akteur:innen im Medienbereich und in der Öffentlichkeit weiterhin Bedenken hinsichtlich möglicher Verstrickungen zwischen Management und Staatsmacht sowie Kompromisse, die die redaktionelle Unabhängigkeit beeinträchtigten.
Die jüngste Entscheidung des slowakischen Kulturministeriums, die Führung von RTVS neu zu besetzen, hat erneut Bedenken hinsichtlich der künftigen Ausrichtung und der Grundwerte der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt geweckt. Mit der neuen Gesetzgebung wurde eine quasi neue Einheit geschaffen, die unter dem Namen Slowakisches Fernsehen und Radio (STVR) firmiert und überarbeitete Managementstrukturen aufweist, die den Einfluss des Kulturministeriums stärken sollen. Im Gegensatz zur früheren Regelung für RTVS, bei der das Ministerium keine direkten Beauftragten in der Managementhierarchie hatte, sieht die neue Regelung vor, dass das Ministerium vier Mitglieder des Verwaltungsrats selbst auswählt, während die übrigen fünf vom nationalen Parlament bestimmt werden. Dieses Gremium wird die Befugnis haben, den Generaldirektor oder die Generaldirektorin des STVR auszuwählen. Eine weitere wichtige Änderung ist die Einrichtung eines beratenden Gremiums für den Vorstand, der neunköpfigen Ethikkommission, die die Einhaltung der Statuten für die Angestellten und Mitarbeiter:innen des STVR sowie anderer ethischer Grundsätze überwachen soll. Einige Reporter:innen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks haben jedoch ihre Besorgnis darüber geäußert, dass diese Einrichtung möglicherweise dazu benutzt werden könnte, kritische Journalist:innen ins Visier zu nehmen, was an frühere Fälle erinnert, in denen ethische Normen als Vorwand für Strafmaßnahmen angeführt wurden.
Die umstrittene Gesetzesinitiative hat sich zu einer aussagekräftigen Fallstudie entwickelt, die einen breiteren europäischen Einfluss auf die nationalen Regulierungsbehörden veranschaulicht, insbesondere in Bezug auf Grundprinzipien wie die Medienfreiheit und das Recht der Bürger:innen auf Information. Ursprünglich wurde der Gesetzesentwurf am Vorabend der Plenardebatte des Europäischen Parlaments zum Europäischen Medienfreiheitsgesetz am 12. März in Straßburg vor-
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gestellt und löste eine warnende Reaktion von EU-Kommissarin Vera Jourova aus. Sie warnte vor einem Eingriff in die redaktionelle Unabhängigkeit der Journalist:innen in der Slowakei und betonte die Bedeutung robuster öffentlich-rechtlicher Medien, die als unparteiische Plattformen und nicht als Sprachrohr für politische Interessen dienen (TASR, 2024). Jourovas Kritik stieß bei verschiedenen Expert:innen und Journalist:innenorganisationen, die in slowakischen Medienberichten zitiert wurden, auf Resonanz und wurde in Live-Debatten zwischen Vertreter:innen des Ministeriums und der Slowakischen Nationalpartei, die in der Regierungskoalition von Ministerpräsident Robert Fico das Kulturressort innehat, hervorgehoben.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen stießen auf internen Widerstand: Mehr als 1200 RTVS-Mitarbeiter:innen und externe Mitarbeiter:innen unterzeichneten eine Petition, in der sie ihre Einwände darlegten, und organisierten öffentliche Demonstrationen, um gegen die Initiative zu protestieren. Daraufhin wurde der Vorschlagsentwurf einem raschen öffentlichen Konsultationsverfahren unterzogen, zu dem Hunderte von Kommentaren eingingen, darunter auch kritische Stellungnahmen von journalistischen Fakultäten der Universitäten. Als Reaktion auf den wachsenden Druck schlug das Ministerium einen überarbeiteten institutionellen Aufbau vor und bestätigte auch die Streichung einer der am stärksten kritisierten früheren Bestimmungen - die Befugnis des Verwaltungsrats, den STVR-Direktor ohne Angabe von Gründen zu entlassen -, da dies gegen das EU-Mediengesetz verstoße.
Mehrere Kritiker:innen argumentieren jedoch, dass jegliche Gesetzesänderungen, die darauf abzielen, die derzeitige Leitung der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalt abzusetzen, gegen das EU-Recht verstoßen, und drängen die EU-Institutionen, ihre Kritik gegenüber der slowakischen Regierung zu äußern oder möglicherweise Maßnahmen gegen sie zu ergreifen.
Weitere schwierige Fragen
Abgesehen von den innenpolitischen Turbulenzen in der Slowakei gibt es noch tiefere und schwierigere Fragen, die nicht nur innerhalb des Landes, sondern auch in anderen europäischen Ländern und ihren öffentlich-rechtlichen Sendern eine Rolle spielen. Die Folgen der Pandemie und des Einmarsches Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 haben die gesellschaftliche Spaltung auf dem gesamten Kontinent verschärft und dazu geführt, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung die Glaubwürdigkeit und Relevanz der traditionellen Medien in Frage stellt, insbesondere was ihre Berichterstattung betrifft.
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In der Slowakei ist ein wesentlicher Grund für diese Skepsis der Ansturm von verbalen und Online-Angriffen auf die Medien, die von genau den Politiker:innen ausgehen, die sich für umstrittene Reformen des öffentlichen Rundfunks einsetzen. Diese Angriffe beschränken sich jedoch nicht auf die derzeitige Regierung, sondern stehen teilweise oder auf andere Weise mit früheren Regierungen oder Oppositionsparteien in Verbindung, indem sie den übergreifenden Ansatz der Journalist:innen bei der Berichterstattung über umstrittene Themen wie COVID-19-Maßnahmen, Impfungen und Russland verurteilen. Bestimmte Mitglieder des Medienpublikums werfen den etablierten Medien Voreingenommenheit und Parteilichkeit vor, indem sie die Argumente einer begrenzten Anzahl von Expert:innen und Meinungsgruppen verstärken. Umgekehrt loben diese Kritiker:innen diverse Online-Plattformen, die von Medientheoretiker:innen als „Desinformationsplattformen” oder „alternative Medien” bezeichnet werden, und preisen sie als unparteiische Informationsquellen (Hacek, Virostkova, 2022).
Die Notwendigkeit einer ausreichenden Meinungsvielfalt und Unparteilichkeit ist eine zentrale Erwartung an PSM, ebenso wie ihre zentrale Rolle bei der Bekämpfung von Fehlinformationen und Fake News. Aus den ersten Ergebnissen unserer Forschung an der Fakultät für Journalismus der Comenius-Universität in Bratislava geht hervor, dass zwischen slowakischen Politiker:innen, Journalist:innen und der breiten Öffentlichkeit erhebliche Unterschiede in Bezug auf die Auslegung einer „objektiven Berichterstattung” und den optimalen Ansatz für PSM bestehen, um diese zu erreichen. Insbesondere bei umstrittenen Themen wie der Pandemie und dem Konflikt in der Ukraine wurde PSM dafür kritisiert, dass bestimmte Stimmen – darunter solche, die die Wirksamkeit der Impfung oder die Realität des Virus leugnen, sowie pro-russische Argumente – verstärkt oder ganz weggelassen wurden: Während einige Journalist:innen und Analyst:innen diesen Ansatz als „falsche Ausgewogenheit” bezeichnet haben, beklagen Kritiker:innen auf der anderen Seite des Spektrums den offensichtlichen Mangel an durchsetzungsfähigeren Perspektiven in RTVS-Programmen. Sie argumentieren, dass dadurch die Grundsätze der Unparteilichkeit, Ausgewogenheit und Objektivität untergraben werden (Virostkova, 2022).
Die wachsende Unzufriedenheit bestimmter Teile der Öffentlichkeit und der Politiker:innen mit der derzeitigen Leistung der PSM wird maßgeblich durch die Online-Sphäre und die sozialen Mediennetzwerke geprägt. Die Verbreitung extremerer oder radikalerer Stimmen im Internet weckt die Erwartung, dass diese in den Mainstream oder in den traditionellen Medien berücksichtigt werden. Die Nichtberücksichtigung die -
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ser Stimmen wird von einigen als Beweis für die Voreingenommenheit der Medien gewertet, vor allem, wenn dieses Narrativ von politischen Persönlichkeiten aufgegriffen und gebilligt wird. Ein bemerkenswerter Vorfall in der Slowakei veranschaulicht diesen Trend, bei dem prominente Mitglieder der Smer-SD-Partei an Online-Fernsehdebatten an der Seite eines Neonazi-Verschwörungstheoretikers teilnahmen, der von der slowakischen Polizei wegen Extremismusverdachts gesucht wird. Innenminister Matúš Šutaj Eštok verteidigte seine Teilnahme mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, sich im „alternativen Raum” zu engagieren, um die Anhänger von Verschwörungstheorien zu erreichen, und erklärte: „Ich diskriminiere nicht zwischen Menschen” (The Slovak Spectator, 2024). Die Vorstellung, dass die Verweigerung einer Plattform für einen Rechtsextremisten während einer Debatte über aktuelle Themen als Diskriminierung ausgelegt werden könnte, unterstreicht die Komplexität des Themas. Darüber hinaus haben die Koalitionsparteien trotz der angeblichen Bereitschaft des Ministers, sich mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen auseinanderzusetzen, vor kurzem auf Einladungen zu politischen Talkshows im kommerziellen Fernsehen verzichtet, weil sie negative Gefühle gegenüber bestimmten Moderator:innen und deren Interviewstil hegten (Osvaldová, Mikušovič, 2024). In diesem Zusammenhang kommt der Rolle von PSM bei der Förderung politischer Debatten entscheidende Bedeutung zu. Angesichts der Änderungen bei RTVS und der Rhetorik bestimmter Politiker:innen in der Vergangenheit besteht jedoch die Gefahr, dass auch dort Maßnahmen ergriffen werden, um kritische Journalist:innen und Moderator:innen zum Schweigen zu bringen.
Auf der Grundlage meiner Erfahrungen im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen, meiner laufenden journalistischen Tätigkeit und meiner akademischen Forschung vertrete ich die Auffassung, dass PSM in der Slowakei vor zwei zentralen Herausforderungen steht:
• aufgeschlossene und dennoch kritische Diskussionen mit politischen Führungspersonen inmitten des Aufschwungs der sozialen Medien zu führen, die alternative Wege für den Dialog mit den Wähler:innen bieten und die traditionelle journalistische Aufsicht umgehen.
• das Vertrauen der Öffentlichkeit trotz anhaltender Angriffe von Politiker:innen aufrechtzuerhalten, indem ein wirklich pluralistischer Ansatz für die Berichterstattung und Programmgestaltung verfolgt wird, der faktenbasierten Journalismus, demokratische Grundsätze und Rechtsstaatlichkeit in den Vordergrund stellt.
Der Erfolg dieses Unterfangens hängt nicht nur von den Journalist:innen und Medienunternehmen ab, sondern auch von der Förderung eines
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Mentalitätswandels bei den slowakischen Politiker:innen, die die redaktionelle Unabhängigkeit als Eckpfeiler der journalistischen Integrität anerkennen und aufrechterhalten, wie es in der gesamten Europäischen Union erwartet wird. Ebenso wichtig ist es, die Medienkompetenz der slowakischen Öffentlichkeit zu verbessern und sie in die Lage zu versetzen, sich in der digitalen Landschaft zurechtzufinden und zwischen verifizierten Nachrichten und Fehlinformationen zu unterscheiden, einschließlich der Bekämpfung von Hassreden auf sozialen Medienplattformen.
Literaturverzeichnis
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Osvaldová, L. Mikušovič, D. (Denník N, 12.4.2024) Ficova koalícia bojkotuje reláciu Na telo v Markíze. Available at: https://dennikn.sk/3937352/koalicni-lidri-sa-dohodli-ze-ich-ministri-budu-bojkotovat-na-telopodobny-model-pouzili-pred-koncom-na-hrane-na-joj/?ref=tit1
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The Slovak Spectator (20.3.2024): Slovak Interior Minister on Show with Wanted Neo-Nazi Conspiracy Theorist. Available at: https://spectator.sme.sk/c/23298897/slovak-interior-minister-on-show-with-wanted-neo-nazi-conspiracy-theorist.html
Virostková, L.: Nestrannosť, vyváženosť, objektivita: Teória a prax v sovenských médiách. Available at: https://www.researchgate.net/publication/368919071_Nestrannost_vyvazenost_objektivita_teoria_a_ prax_v_slovenskych_mediach
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| SPAIN | SPANIEN |
DAS ÖFFENTLICHE FERNSEHEN IN SPANIEN: SPEZIFISCHE MERKMALE EINES MEDIENMODELLS IM EUROPÄISCHEN KONTEXT
PROF. IN DR. IN AURORA LABIO-BERNAL
UNIVERSITÄT VON SEVILLA
Der Beitritt Spaniens zur Europäischen Union im Jahr 1986 war ein Schritt zur Internationalisierung des Landes im Zusammenhang mit seinem Übergang zur Demokratie. Die Franco-Diktatur (1939-1975) hatte die wirtschaftliche und politische Entwicklung Spaniens sowie die Entwicklung des Mediensektors geprägt. Die alten autoritären Strukturen brachen endgültig zusammen, als das Land 1977 seine ersten demokratischen Wahlen seit über vier Jahrzehnten abhielt und im Jahr darauf eine neue Verfassung ratifiziert wurde. In diesem Artikel wird die Bedeutung der Einrichtung und Regulierung öffentlicher Medienorganisationen, insbesondere von Fernsehsendern, für die Gewährleistung des Pluralismus und die Aufrechterhaltung der Demokratie erörtert, wobei auch die mit solchen Initiativen verbundenen Probleme kritisch analysiert werden. Bei der Entwicklung seines eigenen Mediensektors orientierte sich Spanien natürlich an anderen europäischen Ländern, die bereits über bedeutende öffentliche Medienkonzerne und Rundfunkanstalten verfügten, wie etwa die BBC im Vereinigten Königreich. In den frühen 1980er Jahren erforderten die Demokratisierung Spaniens und seine Integration in die Gemeinschaft der europäischen Nationen die Einführung neuer Strukturen in allen Bereichen, einschließlich der Nachrichtenmedien. Das alte, an die Diktatur gebundene Pressesystem wich so neuen Initiativen, die sich an anderen europäischen Ländern orientierten. Ein Beispiel dafür ist die 1976 gegründete spanische Tageszeitung El País, das erste Unternehmen der PRISA-Gruppe, die später Anteilseigner der französischen Zeitung Le Monde werden sollte.
Ein neuer öffentlicher Fernsehsender für ein neues Land Spanien versuchte, seine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt als Instrument der neuen demokratischen Ära und der künftigen Entwicklung des audiovisuellen Sektors des Landes zu definieren. Obwohl seine Ursprünge auf das Jahr 1946 zurückgehen, als der erste öffentliche Radiosender Spaniens auf Sendung ging, und auf die Gründung des ersten öffentlichen Fernsehkanals im Jahr 1957, war der öffentliche Rundfunk in Spanien in Wirklichkeit immer als Instrument des Franco-Regimes betrachtet worden. So erließ die demokratische Regierung
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Spaniens 1980, wenige Jahre nach dem Tod des Diktators, das RTVEStatut, das den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach den Grundsätzen der Objektivität, Wahrhaftigkeit, Unparteilichkeit und der Achtung des politischen, religiösen, sozialen, kulturellen und sprachlichen Pluralismus definierte. Schon in der Präambel der Satzung wird der Einfluss anderer europäischer öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten deutlich, indem auf Ideen wie die Notwendigkeit der Unabhängigkeit der Organisation von der politischen Macht verwiesen wird. Dieser Grundsatz wird beispielsweise von der BBC seit ihrer Gründung hochgehalten; auch die italienische öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt RAI erfuhr 1975 einen bedeutenden Wandel, als die Kontrolle über den Sender von der Regierung auf das Parlament überging, um ihm mehr Unabhängigkeit und Pluralität zu verleihen (Cipriani, 1995); und die ARD wurde mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit dem festen Ziel gegründet, zu einem dezentralen und unabhängigen Mediensystem beizutragen.
Die Bezugspunkte für die neue spanische öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt waren also, zumindest theoretisch, die Schaffung wesentlicher öffentlicher Rundfunk- und Fernsehdienste, die vom Staat betrieben werden. Seit seiner Gründung wurde RTVE jedoch aufgrund zweier grundlegender Probleme unter die Lupe genommen: zum einen aus wirtschaftlicher Sicht und zum anderen aus Gründen der Reputation (Zallo, 2011). Einerseits begann RTVE Anfang der 1990er Jahre mit hohen Ausgaben, um mit den neuen privaten Sendern konkurrieren zu können, was zu einer massiven Verschuldung führte, die schließlich 2006 im Rahmen eines Rettungspakets für den Sender vom Staat übernommen werden musste. Andererseits ist der Ruf von RTVE seit vielen Jahren durch die Skepsis der Öffentlichkeit gegenüber seiner Unabhängigkeit getrübt. Natürlich hatten auch andere öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten Probleme dieser Art, wie die BBC in der Ära Tony Blair während des Irakkriegs (Lundberg, 2008) und die RAI unter den Regierungen Berlusconi (Pavli, 2010). Der Europarat ergänzte diese Kritik im Jahr 2004, indem er auf den politischen Druck hinwies, dem die öffentlich-rechtlichen Medien in Griechenland, Italien, Portugal und Spanien ausgesetzt sind (La Voz de Galicia). Einige Jahre später forderte der belgische Europaabgeordnete Ivo Belet, dass Lösungen gefunden werden müssten, um die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu gewährleisten, und schlug vor, dass die Ernennung von Verwaltungsräten auf den Kriterien „Kompetenz und Vertrautheit mit dem Mediensektor” basieren sollte (Europäisches Parlament, 2010). Gleichzeitig forderte er eine stabile langfristige Finanzierung, um politische Einmischung durch jährliche Haushaltsentscheidungen zu verhindern.
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Reformen und Anpassung an europäische Richtlinien
Der Klientelismus, der sich auf die Tätigkeit von RTVE auswirkte, führte zum Vorschlag einer Reform (Gesetz 7/2006), um diese Situation zu ändern. Infolgedessen erlebte die öffentlich-rechtliche Körperschaft von 2006 bis 2012 eine Zeit, die durch ihre „größte Unabhängigkeit seit der Wiederherstellung der Demokratie” gekennzeichnet war (Fernández Alonso et. al., 2017: 103). Mit einer neuen Reform, die die konservative spanische Regierung 2012 durchführte, wurde jedoch die staatliche Voreingenommenheit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wieder eingeführt, was zu einer Periode ständiger Vorwürfe der staatlichen Zensur und Manipulation führte.
Eine wichtige Entwicklung in diesem Zeitraum war die Umstellung des digitalen Fernsehens in Spanien im Jahr 2010, zwei Jahre vor dem für das übrige Europa geplanten Termin. Im selben Jahr fanden zwei weitere wichtige Ereignisse statt: das Ende der Werbung auf RTVE und die Verabschiedung des spanischen Gesetzes über audiovisuelle Medien (Ley General Audiovisual). Das erste dieser beiden Ereignisse hat eine lange Vorgeschichte, denn jahrelang hatten die privaten Fernsehsender gegen die Möglichkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks protestiert, zwei Finanzierungsquellen anzuzapfen, und sich sogar bei der Europäischen Kommission beschwert, weil dies mit den EU-Vorschriften über den fairen Wettbewerb unvereinbar sei (Linde Paniagua, 2005: 41). Im Rahmen von Rechtsvorschriften wie dem Vertrag von Amsterdam schien die EU jedoch die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sowohl durch Werbung als auch durch staatliche Mittel genehmigt zu haben. Diese EU-Ermächtigung wurde jedoch im Zuge der Abschaltung des analogen Rundfunks und der Verbreitung digitaler Kanäle nach der Einführung des DVB-T in Frage gestellt. Die privaten Betreiber wussten, dass ihr Anteil am Werbekuchen im neuen digitalen Kontext begrenzt war und hatten wiederholt gefordert, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk werbefrei sein sollte. Die Maßnahme wurde vom sozialistischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero als neuer Schritt zur Konsolidierung von RTVE angekündigt, um „mehr öffentlichen Dienst und weniger kommerzielle Interessen” zu gewährleisten (RTVE, 2009). In der Praxis wurden die Ausgaben von RTVE weiterhin durch die Vereinbarungen zwischen der Regierung und der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt gedeckt, während die privaten Sender von den 600 Millionen Euro an Werbeausgaben profitierten, die dadurch frei wurden (Martin Meden, 2009).
Darüber hinaus erließ die spanische Regierung im Jahr 2010 das Ley General Audiovisual, mit dem die Bestimmungen der Richtlinie 2007/65/
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EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 über Fernsehdienste umgesetzt wurden. Dieses neue Gesetz legt die Grundsätze fest, die die Tätigkeit der öffentlich-rechtlichen Rundfunkund Fernsehanstalten sowie der Anbieter interaktiver Dienste im audiovisuellen Sektor untermauern sollen. Wie in der Präambel festgelegt, sollten sich diese Grundsätze „an den EU-Vorschriften und Empfehlungen zur öffentlichen Finanzierung im Einklang mit dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, zur unabhängigen Kontrolle durch die Regulierungsbehörden und zur Gewährleistung und zum Schutz der Rechte orientieren” (BOE, 2010). Die Regierung nutzte dieses Gesetz, um die Definition der Rolle eines öffentlichen Dienstes wie folgt zu aktualisieren: eine wesentliche Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse mit dem Auftrag, Inhalte zu verbreiten, die die Grundsätze und Werte der Verfassung fördern, zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen, das Bewusstsein für die kulturelle und sprachliche Vielfalt Spaniens zu schärfen sowie Wissen und Kunst zu verbreiten, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der Pflege einer audiovisuellen Kultur liegt. Darüber hinaus sollen die öffentlich-rechtlichen Anbieter audiovisueller Mediendienste Bürger und gesellschaftliche Gruppen bedienen, die von den Mainstream-Programmen nicht erreicht werden. (BOE, 2010)
Dieser letzte Punkt, der sich mit dem Konzept des kulturellen Pluralismus deckt, das in der unabhängigen Studie über Indikatoren für Medienpluralismus in den Mitgliedstaaten (Europäische Kommission, 2009) enthalten ist, ist für alle öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten von besonderer Bedeutung. Eine vor einigen Jahren durchgeführte Studie (Labio-Bernal & García-Prieto, 2022) analysierte die Unterrepräsentation von Minderheitengruppen, einschließlich Menschen mit Behinderungen, und die Bedingungen für den Zugang zu audiovisuellen Inhalten bei BBC und RTVE. Die Ergebnisse zeigten deutliche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Sendern in Bezug auf die Einbeziehung der Gebärdensprache in ihre Nachrichtenprogramme, da beide Sender Simulcasts verwendeten, um Gebärdensprache in die täglichen Berichte ihres Nachrichtenkanals einzubauen. Es gab klare Parallelen zwischen den beiden öffentlich-rechtlichen Sendern in Bezug auf die Ansätze zur Integration der Gebärdensprache, ähnliche Mängel und ein ähnliches Maß an Verbesserungsmöglichkeiten, um die universelle Zugänglichkeit im Einklang mit den Grundsätzen des Pluralismus und der kulturellen Vielfalt zu gewährleisten.
Die Idee des öffentlichen Dienstes neu überdenken
Im Sommer 2022 führten die Veränderungen im audiovisuellen Sektor schließlich dazu, dass der spanische Abgeordnetenkongress eine Än-
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derung des bestehenden Ley General Audiovisual verabschiedete, um die EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste von 2018 in spanisches Recht umzusetzen. Mit der Änderung wurde die Quote von 51% Sendeprogramm europäischer Produktionen für traditionelle Fernsehsender, einschließlich RTVE, beibehalten. Zum ersten Mal wurde jedoch auch eine Quote für Streaming-Plattformen festgelegt, die nun mindestens 30% ihres Katalogs europäischen Produktionen widmen müssen. Das geänderte Gesetz verpflichtet die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten außerdem, 6 % der förderfähigen Einnahmen für die Vorfinanzierung europäischer audiovisueller Produktionen zu verwenden (eldiario.es). Die Änderung legt besonderen Wert darauf, dass diese Mittel für Produktionen in den Amtssprachen Spaniens oder seiner autonomen Gemeinschaften sowie für Produktionen von Frauen oder unabhängigen Produzent:innen verwendet werden. Außerdem wird besonders auf den Schutz von Kindern und die Zugänglichkeit von Inhalten für alle Zielgruppen hingewiesen.
In gewissem Sinne wird mit diesen Rechtsvorschriften ein Konzept des öffentlichen Dienstes gestärkt, das überprüft werden sollte, um seine praktische Anwendung zu gewährleisten. Wie Ramón Zallo (2011) argumentiert, muss die Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Übereinstimmung mit einer Reihe von Fragen neu definiert werden, wie z. B. die Artikulation eines Raums für Kultur und Kommunikation, der Aufbau eines kollektiven kulturellen Gedächtnisses und die Förderung der sprachlichen Standardisierung. Ein öffentlich-rechtlicher Fernsehsender sollte auch als Kraft für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und als Vehikel für den Aufbau einer vielfältigen und pluralistischen Gemeinschaft fungieren, indem er der Information Vorrang einräumt und Qualitätsproduktionen fördert. Es scheint auch klar zu sein, dass ein echter politischer Wille erforderlich ist, um die Manipulation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu verhindern, sowie interne Regelungen, die über den Rahmenvertrag hinausgehen, um seine Unabhängigkeit zu stärken. Wichtig ist auch das journalistische Engagement der Mitarbeiter:innen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und ihr Beitrag zur Bereitstellung korrekter Informationen. Darüber hinaus muss die Rolle des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Spanien angesichts eines jüngeren Publikums und neuer OTT-Plattformen, die einen großen Teil der Zuschauer:innen vom herkömmlichen Fernsehen abziehen, neu definiert werden. Trotz der guten Einschaltquoten einiger europäischer öffentlich-rechtlicher Sender wie der dänischen und deutschen Sender, die ihren Marktanteil im Zeitraum von 2015 bis 2019 steigern konnten, ist das Wachstum der Online-Plattformen eindeutig unaufhaltsam. Im gleichen Zeitraum gingen die Einschaltquoten der
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öffentlich-rechtlichen Sender in Portugal und Spanien aufgrund der neuen Sehgewohnheiten auf Abruf zurück (Servimedia, 2022).
All diese Aspekte werfen Fragen zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Spanien und in Europa insgesamt auf. Während die Bedeutung des nationalen öffentlich-rechtlichen Fernsehens als demokratisierendes Instrument unbestritten ist, sind die Herausforderungen, die sich aus den aktuellen technologischen Entwicklungen und der zunehmenden politischen Polarisierung ergeben, ebenso unbestreitbar. Der Vorschlag einer Europäischen Nachrichteninitiative, eines kollaborativen Nachrichtendienstes, der das Publikum mit zuverlässigen Inhalten versorgen soll, könnte eine gute Richtung für die Zukunft darstellen. Die Initiative, an der sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands (BR/ ARD), Belgiens (RTBF), Spaniens (RTVE), Finnlands (YLE), Frankreichs (France Télévisions), Irlands (RTÉ), Italiens (RAI), Portugals (RTP) und der Schweiz (SWI swissinfo.ch) sowie der europäische öffentlich-rechtliche Sender ARTE beteiligen, ist ein guter Ausgangspunkt für die weitere Erforschung des digitalen Umfelds und der europäischen Identität unter der Leitung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.
Literaturverzeichnis
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Zallo, R. (2011). Estructuras de la comunicación y de la cultura. Políticas para leer en la era digital.
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SWEDEN | SCHWEDEN |
DIE EXTREMEN RECHTEN UND DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHE RUNDFUNK: DER FALL SCHWEDEN
JOSEF HIEN, PHD, MID
UNIVERSITÄT MITTELSCHWEDEN UND INSTITUT FÜR ZUKUNFTSSTUDIEN, STOCKHOLM
ASS.PROF. DR. LUDVIG NORMAN, UNIVERSITÄT STOCKHOLM
Die europäischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wurden in vielen Fällen gegründet, um die demokratischen Institutionen zu stärken und eine gut informierte Bürgerschaft zu gewährleisten. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in ganz Europa sehen sich jedoch zunehmend mit Herausforderungen konfrontiert, die mit der zunehmenden Anfechtung durch rechtsextreme Parteien zusammenhängen, die manchmal als eine Herausforderung für die institutionalisierten demokratischen Normen angesehen werden.
Dies stellt diese Organisationen vor das schwierige Dilemma, einerseits die Erwartungen an die Normen des Pluralismus und der Unparteilichkeit aufrechtzuerhalten und andererseits die demokratischen Normen in Bezug auf die Menschenwürde vor den Bemühungen zu schützen, die oft von rechtsextremen Akteur:innen unternommen werden, um diese Normen zu untergraben.
Der schwedische öffentlich-rechtliche Rundfunk bildet hier keine Ausnahme. Das Aufkommen und die wachsende Wahlunterstützung für die Schwedendemokraten, eine Partei, die in den 1980er Jahren aus dem politischen Umfeld der schwedischen Neonazis hervorging, haben diese Dilemmata in den Vordergrund gerückt.
Ähnlich wie die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in vielen anderen europäischen Ländern sind auch die schwedischen öffentlichrechtlichen Medien an die Erwartung gebunden, demokratische Werte aufrechtzuerhalten und zu reproduzieren. Wie diese kurze Analyse jedoch zeigt, war die Anwendung von Regeln und Richtlinien zur Wahrung dieser Werte alles andere als einfach.
Die Reaktion der schwedischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten schwankte zwischen einer bisweilen selbstbewussten Haltung gegenüber Äußerungen rechtsextremer Vertreter:innen und einer bisweilen vorsichtigen Herangehensweise, insbesondere nachdem sie nach Wahldebatten vor der Parlamentswahl 2018 erhebliche Kritik erhalten hatten. Der schwedische Fall wirft ein Schlaglicht auf die Herausforde -
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rungen und Dilemmata, vor denen viele öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten heute stehen.
Das demokratische Dilemma des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Europa sehen sich heute mit einem allgemeinen Dilemma konfrontiert, das mit den Grenzen zusammenhängt, an denen die liberale Demokratie Ansichten zulassen kann, die die Normen, auf denen ihre Institutionen beruhen, in Frage stellen.
Vielleicht ist es zum Teil eine Folge ihrer wichtigen demokratischen Rolle, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eine wichtige Zielscheibe für systemfeindliche Parteien, insbesondere der extremen Rechten, darstellen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten werden regelmäßig von rechtsextremen Gruppen und Parteien beschuldigt, politisch korrekte Kartelle zu bilden, die oppositionelle Stimmen zum Schweigen bringen, oder als „Feind des Volkes” im Interesse der sozialen und politischen Eliten zu handeln.
Gleichzeitig wurde die Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Bollwerk für die Demokratie durch die Entwicklung der extremen Rechten erschwert – die heutigen rechtsextremen Parteien können ihre politischen Botschaften oft innerhalb der Grenzen des rechtlich Zulässigen verbreiten. Dies ist einer der Hauptgründe, warum öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, ähnlich wie soziale Medienplattformen und andere Einrichtungen des öffentlichen Raums, oft Schwierigkeiten haben, mit den Dilemmata umzugehen, die entstehen, wenn diese Akteur:innen an Bedeutung gewinnen (Hien und Norman 2023; Norman und Beckman 2024). Wie in vielen anderen liberalen Demokratien war dies auch bei den schwedischen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Fall.
Der schwedische Fall
Die demokratische Rolle des schwedischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks wurde in einem Gesetz aus dem Jahr 1966 verankert, in dem es heißt: „Die gesamte Programmtätigkeit soll von den Grundideen des demokratischen Staates und dem Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Menschen sowie der Freiheit und Würde des Einzelnen geprägt sein. Diese „Demokratieklausel” gehört seither zu den Standardformulierungen in der Gesetzgebung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Sie wurde auch erweitert und präzisiert, insbesondere im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter. Sie ist auch eine Bestimmung, die in den Leitlinien für öffentlich-rechtliche Unternehmen hervorgehoben wird (Handbuch des öffentlichen Dienstes, 2014). Die ausdrückliche Rolle, die
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dem schwedischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Verteidiger der Demokratie zugewiesen wird, war jedoch selten Gegenstand öffentlicher Debatten. Dies änderte sich eindeutig mit dem Aufstieg der Schwedendemokraten in den 2010er Jahren. Der Aufstieg der Partei und ihr Verhältnis zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Schweden verdeutlicht die Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser Rolle in der Praxis.
Die Schwedendemokraten und das Dilemma des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Schweden war im europäischen Kontext ein Nachzügler, weil es keine rechtsextreme Partei mit nennenswertem Wählerzuspruch gab. In den 2010er Jahren gewann die SD jedoch bei jeder aufeinanderfolgenden Wahl an Unterstützung, bis sie schließlich bei den Parlamentswahlen 2022 20,5 % der Stimmen erhielt und zu einem wichtigen Partner für die Mitte-Rechts-Regierungskoalition wurde.
Obwohl die SD im Jahr 2012 mitteilte, dass sie „Rassismus und Extremismus” unter ihren Mitgliedern nicht mehr dulden würde (Schwedischer Rundfunk 2012), wurden ihre Vertreter:innen häufig bei rassistischen Äußerungen ertappt, oft online, und wurden, nachdem diese Äußerungen öffentlich gemacht wurden, oft gezwungen, ihre Positionen in der Partei zu verlassen. Offiziell hat die Partei stattdessen eine sozialkonservative, nationalistische und einwanderungsfeindliche Position beibehalten (Schwedendemokraten 2019).
Seit ihrem Eintritt in die politische Szene hat sich die SD mit den öffentlich-rechtlichen Medien Schwedens angelegt und ihre Vertreter:innen haben oft argumentiert, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sehr parteiisch sei. Im Vorfeld der Parlamentswahlen 2010 kam es zu Spannungen, als die SD von der abschließenden, im Fernsehen übertragenen Debatte der Parteivorsitzenden ausgeschlossen wurde. Im Jahr 2022 forderte ein prominenter Parteivertreter eine „grundlegende Reform” des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, nachdem ein Gast in der Hauptnachrichtensendung auf öffentliche Informationen über die extremistischen Wurzeln der Partei hingewiesen hatte (Söder 2022). Die Forderung, dass die öffentlich-rechtlichen Medien aufgrund ihrer mangelnden Unparteilichkeit umgestaltet werden müssen, ist eine wiederkehrende Linie der Partei (Emilsson 2021; SVT 2020). Die SD hat sich auf die ihrer Meinung nach voreingenommene und unfaire Charakterisierung der Partei durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sowie auf die voreingenommene Berichterstattung über politische Themen konzentriert. Die Dinge spitzten sich während der letzten Debatte der Parteivorsitzenden zu, die SVT zwei Tage vor den Parlamentswahlen 2018 unter Beteiligung
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aller Parteivorsitzenden im Parlament veranstaltete. Hier sagte der Parteivorsitzende der SD, Jimmy Åkesson, in Bezug auf Einwanderer: „Warum ist es für diese Menschen so schwierig, einen Job zu bekommen? Das liegt daran, dass sie keine Schweden sind. Weil sie nicht nach Schweden passen” (SBC 2019: 1). Nach diesem Abschnitt der Debatte erklärte der Moderator, dass die Aussage von Åkesson „stark verallgemeinernd” sei und dass „SVT eine Ausnahme” von solchen Aussagen mache (ebd. S. 2).
Die Intervention von SVT löste eine intensive Diskussion darüber aus, ob die Ankündigung mit der „Demokratieklausel” gerechtfertigt werden konnte oder ob SVT tatsächlich gegen seine Verpflichtung zur Unparteilichkeit verstoßen hatte. Bei der schwedischen Rundfunkkommission (SBC), die für die Bearbeitung von Beschwerden gegen die öffentlichrechtliche Rundfunkanstalt zuständig ist, gingen rund 200 separate Beschwerden zu der Debatte ein. Einige argumentierten, dass Åkesson sich der Hassrede schuldig gemacht habe, während viele andere der Meinung waren, dass das schwedische Fernsehen eine politische Position gegen die SD eingenommen und damit gegen das Gebot der Unparteilichkeit verstoßen habe. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass SVT in der Tat seine Verpflichtung zur Unparteilichkeit verletzt hatte, indem es auf diese besondere Weise in die Debatte eingriff (SBC 2019). Die Gegenargumente von SVT konzentrierten sich auf die Vorstellung, dass Åkessons Äußerungen abwertend seien und die Gleichwertigkeit der Menschen in Frage stellten, da die Äußerung so aufgefasst werden könnte, dass eingewanderte Schweden als Nicht-Schweden definiert werden könnten (ibid: 4-5). Die Kommission begründete ihre Entscheidung jedoch damit, dass die Äußerung des SD-Vorsitzenden im Rahmen einer Debatte mit anderen Parteivorsitzenden getätigt wurde und dass die Äußerungen auch Reaktionen von anderen Parteivorsitzenden auslösten. Außerdem verwies sie auf die Nähe zu den Wahlen und die Form der Anprangerung, die den Anschein erwecken könnte, dass SVT eine politische Position einnimmt (ibid. S. 6). Angesichts der Debatte erklärte SVT weiter, dass es von dieser Art der expliziten Anprangerung problematischer Äußerungen absehen und versuchen werde, die „Demokratieklausel” in seine journalistische Praxis und Berichterstattung zu integrieren (SVT 2018).
Fazit
Was sagt uns diese kurze Episode über die Dilemmata, denen sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Europa heute gegenübersehen? Erstens glauben wir, dass sie deutlich macht, wie schwierig es für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten ist, sich in einer zunehmend polarisierten politischen Landschaft zurechtzufinden. Die demokratische Rolle der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist oft in der Gesetz-
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gebung und in einigen Ländern in der Verfassung verankert. Dennoch sind die Dinge in konkreten Fällen, in denen diese Fragen in den Vordergrund treten, oft alles andere als eindeutig. Das bedeutet nicht, dass diese Regeln bedeutungslos sind. Aber eine offene und kontinuierliche Debatte über gut institutionalisierte Grundsätze der journalistischen Ethik ist vielleicht ebenso wichtig.
Zweitens erschwert die angespannte Beziehung zwischen der extremen Rechten und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die Diskussion und macht die Organisationen angreifbar, wenn rechtsextreme Parteien bei den Wahlen an Macht gewinnen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die oft als Sprachrohr linker oder liberaler Eliten angesehen werden, sollten ihre lange Tradition der Überwindung politischer Gräben auch in früheren Zeiten starker Polarisierung hervorheben.
Literaturverzeichnis
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| SWITZERLAND |SCHWEIZ | DIALOGOFFENSIVE
PHILIPP CUENI EDITO
Überlegungen zur Rolle des service public-Rundfunks aus der Schweiz, wo die Debatte zur Aufgabe des öffentlichen Rundfunks gerade aktuell, heftig und sehr breit geführt wird.
Offensive beim Dialog.
Die Frage nach der Rolle des öffentlichen Rundfunks zu stellen provoziert die weitere Frage, wo, von wem das denn diskutiert und beantwortet werden soll? Meine Antwort: Die Organisation der Debatte über die eigene Funktion in der Gesellschaft ist eine der zentralen Aufgaben des öffentlichen Rundfunks.
Europaweit ist in der Bevölkerung eine Entfremdung gegenüber öffentlichen Institutionen zu beobachten, auch gegenüber Medien. Damit ist der öffentliche Rundfunk herausgefordert, sein Verhältnis zu seinen Auftraggebern, den Gebührenzahlenden, zu überprüfen, den Dialog zu intensivieren und seinen gesellschaftlichen Nutzen, Auftrag und Finanzierung zu legitimieren. Zu lange hielten die grossen Radio- und Fernsehanstalten ihren Auftrag für selbstverständlich und unbestritten –und wurden damit in der Reflexion ihres Selbstverständnisses, auch im Dialog zu seinen Nutzer:innen träge.
Die Medien haben für das Funktionieren von Gesellschaft und Demokratie besondere Aufgaben. Schon deshalb sollte für sie - erst recht für den öffentlich finanzierten Rundfunk - ein Überprüfen und Legitimieren der eigenen Leistung eine Selbstverständlichkeit sein. Legitimieren darf aber nicht Deklaration sein. Gefordert ist eine Dialogoffensive der Rundfunkunternehmen gegenüber seinen Steakholdern, dem Publikum. Die eigene Rolle soll im Dialog mit den Nutzern erarbeitet werden. Ein öffentlicher Wert ist erreicht, wenn sich das Publikum zu relevanten Aspekten des Auftrags einbringen kann und sich als Teil des Rundfunksystems vertreten fühlt. Für die Akzeptanz der service public-Medien ist entscheidend, ob über diesen Dialog eine Publikumsbindung erreicht wird. Die öffentlichen Rundfunkhäuser sollen diesen Austausch offensiv gestalten und dafür geeignete Strukturen finden.
In der Schweiz gelten die Traditionen der direkten Demokratie und Bürgerbeteiligung als wichtig. Die SRG SSR, das grosse öffentliche Rundfunkhaus in der Schweiz, ist selbst nach einem partizipativen Modell aufgebaut. Das
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operationelle Unternehmen ist ähnlich strukturiert wie ein kommerzielles Medienhaus. Die Rundfunkgesellschaft, die Trägerschaft, ist jedoch seit der Gründung als Verein konstituiert, organisiert in 14 Regionalgesellschaften. Deren 22’000 Mitglieder bilden die Zivilgesellschaft breit ab, fern von (partei)politischen Einflüssen. Sie können sich über eine Vielzahl von gewählten Vereinsorganen, Arbeitsgruppen, ad-hoc-Gesprächsrunden, Publikumsräten usw. einbringen. Damit sind Dialogstrukturen eingerichtet, welche sich einerseits den Mitgliedern, andererseits dem Unternehmen und den Programmschaffenden anbieten. Über diese können die Rolle des Rundfunks oder programmliche Leistungen debattiert werden.
Der öffentliche Rundfunk ist nicht wie die Marktmedien dem Aktionariat verpflichtet, sondern den Gebührenzahlenden, der breiten Gesellschaft, dem Publikum. Deshalb ist ein Dialog mit einer breiten Trägerschaft ein interessanter Ansatz. Darüber hinaus muss der öffentliche Rundfunk auch in der Schweiz weitere Kanäle und Wege finden, um den Dialog mit der Zivilgesellschaft breit führen zu können.
Volksabstimmung als Chance. In der Schweiz wird die SRG SSR durch eine Volksinitiative auch gezwungen, ihre Rolle zu definieren. Die Volksinitiative aus dem rechtspopulistischen Milieu will die Rundfunkgebühren und damit den Etat der SRG SSR etwa halbieren. Bereits vor sechs Jahren wurde über eine Volksinitiative abgestimmt, welche die Gebührenfinanzierung des öffentlichen Rundfunks und damit faktisch die SRG SSR ganz abschaffen wollte. 71.6 Prozent der Stimmenden lehnten das Begehren ab. Damit erhielt der öffentliche Rundfunk eine Legitimation, die europaweit wohl einmalig war und hatte der SRG SSR den Rücken gestärkt. So konnte man das 2018 annehmen. Die gleichen politischen Kreise legten jetzt aber eine zweite Volksinitiative nach.
Die Ironie: Der Angriff auf die SRG SSR belebt die Debatte um deren Rolle. Kürzlich haben die im eidgenössischen Parlament zuständigen Kommissionen beschlossen, es müsse eine Diskussion über Umfang und Inhalt des Service public im Rundfunkbereich geführt werden. Danach könne der Leistungsauftrag überprüft und dann erst über dessen Finanzierung befunden werden. Zuvor wollte der Bundesrat (Exekutive) die Gebühren schon mal um einen Fünftel senken – angeblich als moderate Variante zur Volksinitiative. Diesen Vorschlag gab der Medienminister in die sogenannte «Vernehmlassung», ein Instrument der direkten Demokratie ähnlich einer breiten Anhörung. Das wiederum mobilisierte nicht nur Parteien und Kantone («Länder») zu Stellungnahmen, sondern eine Grosszahl von Organisationen aus der Zivilgesellschaft. Das waren Stim-
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men aus der Kultur, dem Sport, dem Tourismus, der Kirche, usw. Viele dieser Eingaben begründeten ausführlich, warum die SRG SSR wichtig sei und welche Aufgaben sie erfüllen müsse.
Für die SRG SSR bedeutet diese Unsicherheit über ihre Zukunft eine hohe Belastung. Ihre Leistungen, ihre gesellschaftliche Rolle und letztlich ihre Existenz stehen dauernd zur Debatte. Gleichzeitig ist es eine grosse Chance für den öffentlichen Rundfunk, sich über diese politische Debatte und letztlich die Volksabstimmung eine hohe Legitimation beim Publikum zu sichern. Gelingt ihm das, macht er sein Publikum zu Verbündeten und sichert sich so vor politischer Einflussnahme ab.
Nutzen für das Mediensystem.
Die künftige Rolle des öffentlichen Rundfunks muss auf dem Hintergrund der gesamten Mediensituation gespiegelt werden. Bei den Marktmedien ist das Geschäftsmodell eingebrochen, die Folgeerscheinungen sind massive Etatkürzungen, Leistungsabbau, Konzentration bei Titeln und Besitzverhältnissen. In der Schweiz akzentuiert der sehr kleine Markt, zudem aufgeteilt in vier Sprachregionen, die Situation zusätzlich. Die Konkurrenzsituation verstärkt sich, auch zwischen privaten und öffentlichen Medien. Die Marktmedien kritisieren eine Marktverzerrung durch den öffentlichen Rundfunk und verlangen dessen Auftrag und Wirken zu beschränken. Umgekehrt wird aus der Zivilgesellschaft von der SRG SSR verlangt, sie solle die Defizite der Marktmedien mit ihren programmlichen Leistungen ausgleichen. Allerdings sind die Ressourcen der SRG SSDR selbst unter Druck, sowohl bei den Werbeeinnahmen wie (politisch) bei den Gebühren.
Zur oekonomischen Krise der Medien kommt die Krise beim publizistischen Angebot: nicht mehr alle demokratierelevanten Bereiche werden journalistisch begleitet, parajournalistische Angebote und Fakenews stellen die Glaubwürdigkeit aller Medien zunehmend in Frage.
In dieser Situation muss der Kriterienkatalog für den public value-Anspruch des öffentlichen Rundfunks eine neue Frage erweitert werden: welchen Nutzen bringen der öffentliche Rundfunk dem gesamten Mediensystem?
Die Service public-Medien, nur bedingt unter Marktdruck, sollten beitragen das Mediensystem als Ganzes zu stabilisieren. Der ehemalige Generaldirektor der SRG SSR, Roger de Weck, sprach vor einigen Jahren von «coo-petition» - also Wettbewerb und Zusammenarbeit von öffentlichen und Markt-Medien.
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Integrationsleistung.
Zunehmend droht sich die gesellschaftliche Debatte in Filterblasen zu fragmentieren – auch in der Schweiz. Die gesellschaftlichen Herausforderungen verlangen aber nach gemeinsamen Lösungen, welche wiederum Dialog und Integration voraussetzen.
In der Tradition der kleinen Schweiz sind das Lokale und Regionale, der Foederalismus, die Vielfalt sehr wichtig. Ansprüche von Minderheiten in den Programmen zu bedienen, ist für die SRG SSR wichtig. Andererseits geht es darum, Gemeinschaft und Zusammenhalt zu fördern, Minderheiten in einen gemeinsamen Dialog einzubinden. Diesen vordergründigen Widerspruch setzt die SRG SSR seit Jahrzehnten kreativ um und investiert viel in diese Integrationsleistung. Es war in diesem Land immer eine Herausforderung, die vier Sprachregionen und entsprechenden Kulturen zu einer Gesellschaft, zu einer gemeinsamen Schweiz zusammenzubringen.
So produziert die SRG SSR für die drei grossen Sprachregionen je ein Vollprogramm über verschiedene Kanäle; und zudem ein Programmangebot für die Rätoromanische Sprachgruppe (60‘000 Personen) mit einem Aufwand von 25 Millionen Franken.
Der Rundfunk kann zur Integration einer Gesellschaft, einer Region, eines Landes beitragen, wenn er zivilgesellschaftliches Leben, Kultur, Politik, usw. eines Raums in seiner Vielfalt abbildet und in einen Austausch bringt. Er kann beitragen, gemeinsame Erlebnisse, Beziehungspunkte, Koordinaten herzustellen. Daraus kann sozialer Zusammenhalt und gemeinsame Identität entstehen.
Diese aufwändigen Leistungen lassen sich kaum über den Markt finanzieren. Der öffentliche Rundfunk muss diesen öffentlichen Nutzen erbringen und seine vielfältigen Möglichkeiten, Gemeinschaften medial herzustellen, weiterhin ausspielen.
Unterhaltung.
Identität und Integration herstellen als ein öffentlicher Nutzen des Rundfunks. Über welche programmlichen Angebote soll das realisiert werden? Interessant dazu ist die aktuelle Debatte in der Schweiz. Im Rahmen der Diskussionen über die Gebührenzuweisung an die SRG SSR wird oft argumentiert, bei massiv verkleinertem Etat könne der Rundfunk ja auf den Programmbereich Unterhaltung verzichten. In Fachkreisen ist jedoch bekannt, dass gerade Unterhaltung relevant für den Zusammenhalt einer Gesellschaft sein kann.
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Diese Funktion haben Unterhaltungssendungen, wenn sie für das Publikum Anknüpfungspunkte bieten und mit dessen Lebensrealität zu tun haben. Inzwischen verzichtet die SRG SSR fast vollständig auf internationale Lizenzformate, was allerdings vermehrt (teure!) Eigenproduktionen bedeutet. Bei der SRG SSR werden zurzeit Qualitätskriterien erarbeitet, welche Unterhaltungssendungen erfüllen müssen, um einen öffentlichen Wert zu erzielen. Es geht dabei um Kriterien wie Sinnstiftung, Vorurteile abbauen, Empathie stärken, Anknüpfungspunkte an die Schweizer Gesellschaft, ethische Standards, gesellschaftliche Verständigung, Gemeinschaftsbildung.
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WARUM WIR REGIONALE MEDIEN BRAUCHEN
FERNANDO R. OJEA
CIRCOM REGIONAL
In der Welt der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien scheint sich alles schnell zu verändern. Die Medien und die Gewohnheiten der Nutzer:innen befinden sich in ständiger Entwicklung, solange es immer mehr Informations- und Unterhaltungsquellen, neue Systeme zur Verbreitung von Inhalten - von sozialen Netzwerken bis hin zu OTTPlattformen -, mehr und bessere Endgeräte und eine wachsende Zahl von Inhaltsberater:innen im öffentlichen und privaten Bereich gibt.
Die Medien sind nicht länger ein einseitiger Lieferant von Inhalten, müssen ihrem Publikum zuhören und mit ihm interagieren. Obwohl die Kommunikationssphäre global und hyperaktiv geworden ist, ist das Bedürfnis nach Nähe, Bindung, Identität und eigener Kultur stärker als je zuvor. Wir müssen immer noch wissen, was in unserer Gemeinschaft, in unserer Stadt passiert. Und hier kommen die regionalen Medien ins Spiel.
Regionale öffentlich-rechtliche Medien (PSM) arbeiten im Interesse der regionalen und lokalen Gemeinschaften. Sie spielen eine aktive Rolle im demokratischen Prozess, tragen zur Wirtschaft bei, unterstützen die Vielfalt der Kulturen (welche ein zentraler europäischer Wert ist) und helfen, die Identität der Regionen zu bewahren. Darüber hinaus verbinden regionale Medien auch die regionalen Gesellschaften, die die Länder Europas bilden.
Als internationale Vereinigung von Fachleuten, die im Bereich der öffentlich-rechtlichen regionalen audiovisuellen Medien in 29 europäischen Ländern mit mehr als 25.000 Journalist:innen arbeiten, spielt CIRCOM Regional eine wichtige Rolle, indem es den Mitgliedern ermöglicht zusammenzuarbeiten, um das regionale öffentlich-rechtliche Fernsehen auf dem gesamten Kontinent zu erhalten und zu stärken. Die Organisation steht für einen unabhängigen, starken Regionaljournalismus, der für eine funktionierende Demokratie unerlässlich ist. Gemeinden und Einzelpersonen – beide profitieren davon. Indem sie die Gemeinden mit Informationen über die Regionen und die Arbeit der lokalen Behörden versorgen, fördern die regionalen Medien die Beteiligung am öffentlichen Leben. Sie fördern den Aktivismus der Bürger:innen, drängen auf einen Dialog zwischen den Gemeinschaften und den Behörden und ermöglichen eine wirksame Beteiligung der Menschen an der Verwaltung auf
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den jeweiligen Ebenen. Sie wirken sich positiv auf die Wahlbeteiligung aus, wie auf einem der CR-Foren berichtet wurde.
Die regionalen PSM existiert im größeren Rahmen der lokalen und regionalen Wirtschaft, sie sind ein entscheidender Faktor für die Entwicklung. Sie unterstützt die Kreativwirtschaft und sind eine Quelle für journalistische Talente und Fähigkeiten. Darüber hinaus schaffen sie Arbeitsplätze und Möglichkeiten in den Regionen, entwickeln Talente und fördern die Aktivitäten der Gemeinschaft. Wir arbeiten mit Hochschulen und Universitäten zusammen, um Fähigkeiten und Medienkompetenz zu entwickeln und die intellektuelle Debatte zu fördern, indem wir ein Umfeld schaffen, in dem jeder mitmachen, lernen und sich entwickeln kann.
Die regionalen öffentlich-rechtlichen Medien unterstützen alle Arten von kulturellen Aktivitäten und haben es sich zur Aufgabe gemacht, sich für deren Sichtbarkeit und Vielfalt einzusetzen. Außerdem liefern sie unabhängige lokale und regionale Nachrichten und Informationen, die mit den kulturellen Unterschieden in den europäischen Regionen verbunden sind. Sie können Zweit- und Minderheitensprachen unterstützen. Außerdem fördern sie die lokale und regionale Identität und tragen zu politischer Stabilität und Verständigung bei, was sowohl den Minderheiten als auch den Gemeinschaften als Ganzes zugutekommt.
Regionale Medien sind ein wichtiger Teil des Medienpluralismus in der Gesellschaft. In ihrer Eigenschaft als solche dienen sie dem Schutz des Rückgrats der regionalen Gemeinschaften.
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DIE EBU IN – UND FÜR – EUROPA
DR. IN FLORENCE HARTMANN EUROPEAN BROADCASTING UNION
Die European Broadcasting Union (EBU) ist das weltweit führende Bündnis öffentlich-rechtlicher Medien (PSM) und vertritt 113 Medienorganisationen in 56 Ländern in Europa, dem Nahen Osten und Afrika, mit 31 weiteren assoziierten Mitgliedern weltweit. Mit fast 2.000 Fernseh- und Radiosendern und einer umfangreichen Online-Präsenz erreichen unsere Mitglieder gemeinsam über eine Milliarde Menschen und senden in mehr als 150 Sprachen.
Aber was bedeutet das für Europa? Die EBU steht für Einheit, Kultur und Konnektivität und prägt die Medienlandschaft des Kontinents, während sie sich für Medienfreiheit und Pluralismus einsetzt.
In der EU
Die EU hat die Macht, das Verhalten von Regierungen zu ändern und globale Technologieriesen zu regulieren. In einer Zeit, in der die Medienfreiheit und die bloße Existenz öffentlich-rechtlicher Medien bedroht sind, müssen sie unsere Stimmen mehr denn je hören.
In den letzten fünf Jahren hat die EU in Bereichen Gesetze erlassen, die wir uns zuvor nie hätten vorstellen können. Die EBU war aktiv bei den für die Medien relevanten EU-Dossiers, vom Digital Services Act bis zum KI-Gesetz und vor allem beim Europäischen Medienfreiheitsgesetz (EMFA). Die EBU hat sich für die bestmöglichen Regeln und Vorschriften eingesetzt, damit die öffentlich-rechtlichen Medien gedeihen können.
Bei den EU-Wahlen 2024 fordert die EBU die EU-Entscheidungsträger: innen auf, „das nächste Richtige für Medien und Demokratie zu tun“, denn „öffentlich-rechtliche Medien geben ihr Bestes für Europa“.
Die Kampagne fordert die politischen Entscheidungsträger:innen auf, sich für einen vielfältigen und pluralistischen Mediensektor in Europa einzusetzen und gibt Hinweise auf die notwendigen politischen Maßnahmen, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich mit verlässlichen Nachrichten zu informieren und hochwertige Medien zu genießen. Die EBU ist bereit und willens, ein wichtiger Partner für die Lösung zu sein. Entdecken Sie unsere Kampagne: https://www.ebu.ch/eu-elections.
Europa über die EU hinaus
Die EBU setzt sich für die Sicherheit von Journalist:innen innerhalb der
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Journalist Safety Platform des Europarats ein und trägt als Beobachter :innendes Lenkungsausschusses für Medien- und Informationsgesellschaft (CDMSI) zu deren Arbeit in den Bereichen Medienfreiheit und KI bei.
Die EBU bietet auch führende Sektor-Forschung durch ihren Media Intelligence Service. Das Team identifiziert Themen, die öffentlich-rechtliche Medien betreffen, und liefert den EBU-Mitgliedern verlässliche Daten, vertrauenswürdige Analysen und relevante Argumente, um ihre Position zu stärken. Zu den jüngsten Berichten gehören die europäische Auftragslandschaft, die Finanzierung öffentlich-rechtlicher Medien und Künstliche Intelligenz – Öffentlich-rechtliche Medien nutzen KI.
In einem Zeitalter raschen technologischen Wandels, einschließlich der Auswirkungen künstlicher Intelligenz und sich ändernder Mediengewohnheiten, hält die EBU journalistische Standards aufrecht, liefert zuverlässige, vertrauenswürdige Nachrichten, zieht die Macht zur Rechenschaft, fördert Debatten und bietet qualitativ hochwertige Programme, die informieren, bilden und unterhalten. Wir erleichtern die Zusammenarbeit aller öffentlich-rechtlichen Medien, teilen Geschichten, die zu einer gemeinsamen europäischen Kultur beitragen, und zeigen Europas Vielfalt durch Flagship-Veranstaltungen wie den Eurovision Song Contest.
Letztendlich wollen wir durch den Schutz der Werte und Traditionen öffentlicher Medien alle europäischen Bürger:innen stärken und Europa als Ganzes stärken.
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MEDIENFREIHEIT ALS
DEMOKRATISCHER ECKPFEILER:
EINE ZUSAMMENFASSUNG DER
ARBEIT DER OSZE-BEAUFTRAGTEN FÜR DIE FREIHEIT DER MEDIEN IM
BREITEREN WAHLKONTEXT
TERESA RIBEIRO
FÜNFTE OSZE-BEAUFTRAGTE FÜR DIE FREIHEIT DER MEDIEN
Einleitung: die anhaltende Bedeutung der Medienfreiheit angesichts von Populismus und Autokratie Wir befinden uns inmitten eines „Superwahljahres“, mit den bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament unter vielen Wahlen im Jahr 2024. Es gibt berechtigte Befürchtungen, dass Populist:innen und Autokrate:innen die Integrität des Wahlprozesses untergraben und, allgemeiner, das Vertrauen der Wähler:innen in die Demokratie selbst aushöhlen werden. Sie nutzen die neuesten Informationstechnologien und die Schwächen der Medienregulierung zu ihren Zwecken aus.
Dies ist eine eindringliche Erinnerung daran, die Medienfreiheit im politischen Raum der Region der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (mit 57 Teilnehmerstaaten „von Vancouver bis Wladiwostok“) zu wahren und zu stärken. Ohne Zugang zu verlässlichen Informationen und ohne freie Debatte droht der Wahlprozess von Fehlinformationen und Desinformationen überschwemmt zu werden, was die Bürger:innen verwirrt, falsch informiert und wahrscheinlich zynisch gegenüber dem Konzept von Wahlen macht. In einem „postfaktischen“ Umfeld, in dem Vertrauen in jegliche Information rar ist, wird der Wahlprozess ständig untergraben. Die Rolle der Medien als demokratischer Watchdog gewinnt vor dem Hintergrund des Bertelsmann Transformation Index (BTI) 2024, der besorgniserregende Rückgänge in der Qualität der Demokratie, der wirtschaftlichen Entwicklung und der Regierungsleistung in 137 Ländern berichtet, noch mehr an Bedeutung.
Es ist keine Überraschung, dass Populist:innen und Autokrat:innen direkt die Medienfreiheit und Qualitätsmedien angreifen. Freie und unabhängige Medien sind ihnen ein Hindernis, da sie eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung von Fehlinformationen, Verzerrungen und der Vereinfachung komplexer Themen spielen. Die Strategie dieser politischen Akteure beinhaltet häufig, das öffentliche Vertrauen in Fakten zu
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untergraben, Journalist:innen zu diskreditieren und sie zum Schweigen zu bringen, indem sie Methoden wie Verleumdung, Diffamierung und in extremen Fällen Inhaftierung unter dem Vorwand terrorismusbezogener oder anderer schwerwiegender Anklagen ohne ordnungsgemäßen Rechtsprozess anwenden. Berufsjournalist:innen und etablierte Medien werden als Lügner:innen und Verräter:innen dargestellt, die nationale Interessen verraten. Leider geschieht dies nicht nur in autokratischen Regimen, sondern auch in etablierten Demokratien, wo einige Politiker:innen und öffentliche Persönlichkeiten gezielte und systematische Verleumdungskampagnen gegen freie Medien nutzen, um ihre eigenen politischen Agenden auf Kosten des öffentlichen Interesses zu fördern. Öffentlich-rechtliche Medien werden häufig ebenfalls Ziel solcher Angriffe. Ihre Abschaffung ist eine typische populistische Forderung. Die Abschaffung oder Schwächung öffentlich-rechtlicher Medien geht häufig mit dem Niedergang der Demokratien in verschiedenen Ländern einher. Diese Angriffe auf freie Medien werden durch die unregulierten Geschäftsmodelle großer digitaler Plattformen, die Informationsblasen schaffen, die Verbreitung von Desinformation und Fehlinformation verstärken und die finanzielle Lebensfähigkeit traditioneller Medien untergraben, noch effektiver gemacht.
In meiner Rolle als OSZE-Beauftragte für die Freiheit der Medien (RFoM) habe ich stets die Bedeutung freier Medien für die Demokratie und insbesondere für Wahlen hervorgehoben. Durch die Skizzierung von Maßnahmen, die die Medien in ihrer befähigenden und wachhabenden Rolle in einer demokratischen Gesellschaft stärken würden, habe ich zu zwei wichtigen politischen Erklärungen beigetragen. Die Gemeinsame Erklärung zur Freiheit der Medien und Demokratie, die ich zusammen mit meinen geschätzten Kolleg:innen, die die anderen drei Mandate zur Meinungsfreiheit im multilateralen System innehaben, herausgegeben habe (https:// www.osce.org/representative-on-freedom-of-media/542676), sowie mein Kommuniqué „Zur Medienfreiheit während Wahlen“ (https://www.osce. org/files/f/documents/9/b/554107_0.pdf) stellen ein umfassendes Verständnis der Herausforderungen und Chancen dar, die an der Schnittstelle von Medienfreiheit und demokratischer Regierungsführung liegen.
Oft habe ich diese Positionen durch verschiedene Plattformen, einschließlich Erklärungen, öffentliche Stellungnahmen, Reden und Veröffentlichungen, erwähnt und ausgearbeitet. Dieses Spektrum an Kommunikation dient dazu, die kritischen Ideen aus den Erklärungen zu verfeinern und in eine kohärente Erzählung einzuflechten. Dabei werden nicht nur die breiteren Implikationen für demokratische Wahlen untersucht, sondern auch die Notwendigkeit einer angemessenen Medienregulierung im Zeitalter der digitalen Transformation hervorgehoben. Es ist meine feste
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Überzeugung, dass das Internet, um den Angriffen von Populist:innen und Autokrat:innen auf Freiheit und Demokratie standzuhalten, ein Ort werden muss, an dem Medien von öffentlichem Interesse und Qualitätsjournalismus gedeihen können.
OSZE-Verpflichtungen zur Medienfreiheit und das Mandat der RFoM
Die OSZE hat seit langem die entscheidende Rolle freier Medien bei der Wahrung demokratischer Werte anerkannt, eine Verpflichtung, die bis zum Schlussakt von Helsinki von 1975 zurückreicht. Diese Verpflichtung wurde mit der Einrichtung der RFoM-Rolle im Jahr 1997 weiter gestärkt. Die grundlegenden Prinzipien, die das Mandat der RFoM leiten, sind tief in den frühen Idealen und Vereinbarungen der Teilnehmerstaaten der OSZE verwurzelt.
Als fünfte Vertreterin für die Freiheit der Medien (RFoM) setze ich das Erbe fort, mich für die Freiheit der Meinungsäußerung und die Freiheit der Medien einzusetzen. Von meinem Büro in Wien, Österreich, aus bin ich bestrebt, die relevanten Medienentwicklungen in allen Teilnehmerstaaten aufmerksam zu beobachten, mich für die volle Einhaltung der OSZE-Prinzipien und -Verpflichtungen hinsichtlich der Meinungsfreiheit und der freien Medien einzusetzen und zu fördern. Meine Rolle ist entscheidend bei der Bewältigung ernsthafter Herausforderungen, einschließlich der Behinderung von Medienaktivitäten und ungünstigen Arbeitsbedingungen für Journalist:innen. Es ist mein fester Glaube, dass freie und unabhängige Medien die Säulen jeder demokratischen Gesellschaft sind.
Diese Verpflichtungen sind heutzutage genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, als sie es 1975 waren. Der aktuelle Aufstieg des Populismus stellt erhebliche Herausforderungen für die Medienfreiheit dar.
Schutz der Medienfreiheit
Die Erfüllung dieser Verpflichtungen durch die Staaten beinhaltet aktiv die Förderung eines starken pluralistischen Medienökosystems. Die Gemeinsame Erklärung der vier internationalen Mandatsträger:innen für die Meinungsfreiheit betont insbesondere:
„Durch die Produktion und Bereitstellung verlässlicher Informationen und vielfältiger Perspektiven, Erklärungen und Analysen können die Medien öffentliche Debatten ermöglichen und eine informierte und aktive Bürgerschaft aufbauen. Dies wiederum kann freie und faire Wahlen und andere Formen der öffentlichen Teilnahme, das Engagement der Gemeinschaft und inklusive Entscheidungsprozesse erleichtern, wodurch die demokratische Regierungsführung und Institutionen gestärkt werden.“
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Das bedeutet, dass die Staaten eine positive Verpflichtung haben, ein förderliches Umfeld für die Medienfreiheit zu schaffen, in Übereinstimmung mit dem internationalen Menschenrechtsrahmen.
Insbesondere muss das Design eines solchen Medienlandschafts Pluralismus und Vielfalt sicherstellen. Maßnahmen umfassen die Verhinderung von Fusionen und Übernahmen, die den Medienpluralismus oder die politische Kontrolle negativ beeinflussen könnten; die Sicherstellung der Transparenz der Medieneigentümerschaft; und die transparente und effiziente Nutzung von Subventionen und staatlichen Werbeanzeigen zur finanziellen Unterstützung von Qualitätsmedien. Vielfalt bedeutet auch, dass die Stimmen von Minderheiten in den Medien vertreten sind, und diesem Thema muss mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Mangelnde Vielfalt fördert die Polarisierung und kann zu einem Anstieg extremistischer Ansichten bei einigen Bürger:innen und zur Selbstabgrenzung von der Politik bei anderen führen.
Qualitätsjournalismus spielt in all dem eine äußerst wichtige Rolle. Leider sind, wie oben erwähnt, Journalist:innen Angriffen ausgesetzt, nicht zuletzt von Populist:innen und Autokrat:innen. Sie sind digitalen, physischen, psychologischen und rechtlichen Bedrohungen ausgesetzt. Es ist fast zur Gewohnheit geworden, dass bestimmte Politiker:innen Journalist:innen als „Lügner:innen“, „Verräter:innen des Staates“ oder „ausländische Agent:innen“ bezeichnen, wenn sie kritische Fragen stellen oder kritische Bewertungen ihrer Politiken und Programme schreiben. Es ist eine beunruhigende Entwicklung, die die Glaubwürdigkeit der Journalist:innen untergräbt und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Medien mindert.
Die Staaten haben die Verpflichtung, die Sicherheit aller Journalist:innen zu gewährleisten. Die Verabschiedung der OSZE-Ministerratsentscheidung 3/18 über die Sicherheit von Journalist:innen im Jahr 2018 markierte einen Wendepunkt, bei dem sich die Teilnehmerstaaten verpflichteten, ihre Gesetze, Politiken und Praktiken mit den internationalen Verpflichtungen und den OSZE-Verpflichtungen in Einklang zu bringen. Diese Verpflichtung unterstreicht die Bedeutung der Schaffung eines Umfelds, in dem Journalist:innen unabhängig und ohne ungebührliche Einmischung arbeiten können. Als Reaktion auf die bestehenden Herausforderungen in diesem Bereich hat mein Büro 2022 ein Projekt zur Sicherheit von Journalist:innen gestartet, das wesentliche Leitlinien zur Verbesserung der Sicherheit von Journalist:innen in der gesamten OSZE-Region bietet. Diese Initiative spiegelt einen multifacettischen Ansatz wider, der die Bemühungen anderer Institutionen, wie der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, vereint.
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In meiner Eigenschaft als RFoM achte ich besonders auf die zum Schweigen bringende Wirkung kritischer Berichterstattung durch Politiker:innen, Geschäftsleute und öffentliche Behörden und Einrichtungen durch rechtliche Schritte. Oft habe ich beobachtet, dass die bloße Drohung mit solchen potenziellen Klagen – oft auch als Strategic Lawsuits against Public Participation (SLAPPs) bezeichnet – Journalist:innen zur Selbstzensur veranlasst und sie davon abhält, kritische Geschichten zu veröffentlichen. Staaten müssen solche Praktiken entmutigen und Maßnahmen ergreifen, um deren schädliche Auswirkungen zu mildern. Ebenso müssen
Politiker:innen davon abgehalten werden, Journalist:innen für ihre kritische Berichterstattung anzugreifen, und die positive Rolle unabhängiger Journalist:innen in einer Demokratie anerkennen.
Digitale Transformation: Auswirkungen auf die globale Medienfreiheit
Die Einhaltung der Menschenrechtsstandards gilt auch für die Moderation und Kuratierung von Online-Inhalten, die transparent und schützend für die Privatsphäre und persönlichen Daten sein muss. Drosselung und Abschaltungen des Internets sind Paradebeispiele für Maßnahmen, die nicht mit den Verpflichtungen zur Verteidigung der Medienfreiheit vereinbar sind. In allen Fällen der Verletzung der Medienfreiheit müssen effektive gerichtliche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen. Indem die Eingriffe minimiert und die freie Debatte durch die Moderation von Online-Inhalten gefördert werden, stellen der Staat und die politische Führung sicher, dass Wahlen wirklich demokratisch sind.
Die digitale Transformation der Medien, insbesondere die sozialen Medien und zunehmend künstliche Intelligenz (KI), sind alle zu Instrumenten in den Händen derer geworden, die freie Medien diskreditieren und ihre Existenz untergraben wollen. Besonders während Wahlkämpfen beobachten wir, dass Technologie gegen das öffentliche Interesse eingesetzt wird, insbesondere bei der schnellen Verbreitung von Fehlinformationen und Propaganda. Dies kann potenziell die Wahlergebnisse verzerren und das Vertrauen in demokratische Institutionen erodieren, Polarisierung fördern und Gewalt anstacheln, sogar in gefestigten Demokratien. Digital verstärkte Des- und Fehlinformationen und Propaganda gefährden jeden Aspekt der Menschenrechte, Demokratie, Frieden und Sicherheit. In meiner Rolle als RFoM setze ich mich zusammen mit anderen Mandatsträger:innen für die Meinungsfreiheit für die Regulierung und Selbstregulierung der wichtigsten Akteure im digitalen Raum ein – insbesondere der sozialen Medienplattformen, die so groß und mächtig geworden sind, dass sie das Informations- und Medienökosystem dominieren und die politische Debatte gestalten. Ihr Geschäftsmodell basiert auf der profitorientierten Nutzung von Algorithmen, die den Benutzerzugang
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zu Informationen steuern und Werbeeinnahmen anziehen, die zuvor den professionellen Journalismus finanzierten. In meinem Kommuniqué habe ich darauf hingewiesen: „Das Geschäftsmodell der digitalen Plattformen basiert auf einem System von Klicks, Likes und Shares – nicht auf der Förderung von Inhalten von öffentlichem Interesse.“
Diese Algorithmen und ihre Governance-Prozesse sind undurchsichtig und können Fehlinformationen und Desinformationen in großem Umfang fördern. Sie führen zu selbstverstärkenden „Informationsblasen“ und verringern die Vielfalt an Informationen und Meinungen. In diesem Umfeld werden die Geschäftsmodelle vieler traditioneller Medienunternehmen untragbar. Besonders kleinere und lokale Medienunternehmen gehen aus dem Geschäft, und Medienübernahme durch Unternehmen und Politiker wird in zahlreichen Wahlberichten aus der gesamten OSZE-Region festgestellt. All dies wirkt sich negativ auf den Medienpluralismus und die -vielfalt aus und untergräbt letztendlich die Demokratie. Internetplattformen können auch den Pluralismus des Medien- und Informationsraums verringern, indem sie Inhalte blockieren oder depriorisieren, die von öffentlichem Interesse sind. Der Mangel an Verantwortlichkeit für solche Maßnahmen und das Fehlen von Abhilfemechanismen verschlechtert die Situation weiter.
Gleichzeitig bergen digitale Medientechnologien das Potenzial, demokratische Prozesse durch verbesserte öffentliche Aufklärung und die Förderung informierter Debatten zu stärken. Technologien befähigen Bürger:innen weltweit. Insbesondere werden digitale Werkzeuge in der Ukraine genutzt, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und sicherzustellen, dass die Welt davon erfährt. Wie ich in meinem Kommuniqué hervorhebe, ist für eine nachhaltige Nutzung dieser Vorteile eine gemeinsame Anstrengung der wichtigsten Akteure erforderlich:
„Mit dem richtigen Rahmen zur Förderung von Inhalten von öffentlichem Interesse könnten soziale Medienplattformen Teil der Schaffung und Förderung einer aktiven und gut informierten Bürgerschaft sein. Dafür ist eine gemeinsame Anstrengung erforderlich, die Gesetzgeber, große Technologieunternehmen, die Zivilgesellschaft und internationale Organisationen einschließt, um die Parameter eines solchen Rahmens zu definieren, basierend auf internationalen Menschenrechtsstandards.“
Die Regulierung und Selbstregulierung von Internetplattformen sollte ein integraler Bestandteil dieser Bemühungen sein und dem UN-Framework „Protect, Respect and Remedy“ folgen, das Unternehmen – einschließlich digitaler Plattformen – zur Achtung der Menschenrechte aufruft, zu denen auch die Freiheit der Medien gehört. Offensichtlich haben die Staaten die größere Verantwortung, die Menschenrechte zu schützen und zu achten,
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während im Falle von Verstößen ein wirksamer Rechtsbehelf gewährleistet sein muss. In unserer Gemeinsamen Erklärung rufen wir als multilaterale Mandatsträger:innen für die Meinungsfreiheit die digitalen Plattformen dazu auf, die von ihnen für die Moderation und Kuratierung von Inhalten verwendeten Algorithmen transparent zu machen und Konten oder Informationen als vertrauenswürdig, nicht vertrauenswürdig, staatlich finanziert usw. zu kennzeichnen. Die Plattformen werden weiter ermutigt, Verantwortung für die Förderung des Pluralismus und der Unabhängigkeit der Medien zu übernehmen. Dies beinhaltet die Monetarisierung von Qualitätsinhalten und die Unterstützung von Faktenprüfungsinitiativen. Das kürzlich verabschiedete EU-Digital Services Act ist ein historischer Schritt in die richtige Richtung. Es bietet einen Mechanismus, um sicherzustellen, dass die Plattformen verpflichtet sind, illegale Inhalte zu entfernen und die algorithmische Transparenz hinsichtlich der Kennzeichnung und gezielter Werbung zu verbessern.
Conclusio
Die Instrumentalisierung des Internets gegen die Medienfreiheit stellt eine erhebliche Bedrohung für die Kernelemente unserer demokratischen Gesellschaften dar, insbesondere im Kontext von Wahlen. Gleichzeitig ist es ermutigend zu sehen, dass die regulatorischen Werkzeuge zur Minderung der Auswirkungen dieser Informationsstörung bereits entworfen wurden. In diesem Zusammenhang rufe ich alle Beteiligten in diesem Prozess, sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure, dazu auf, sich zusammenzuschließen, um die Medienfreiheit auf ganzheitliche Weise zu schützen. Dazu gehört die Priorisierung von Medien von öffentlichem Interesse, einschließlich der angemessenen Finanzierung wirklich unabhängiger öffentlich-rechtlicher Medien, und eine Medienregulierung, die effektiv gegen Desinformation, Fehlinformation und Manipulation vorgeht und den Medienpluralismus und die -vielfalt unterstützt. Mein Leitprinzip ist klar: „Es gibt keine Sicherheit ohne Medienfreiheit.“ In diesem entscheidenden Wahljahr hat diese Botschaft mehr Bedeutung denn je.
Literaturverzeichnis
Joint Declaration on Media Freedom and Democracy https://www.osce.org/representative-on-freedom-of-media/542676 Communiqué by the OSCE Representative on Freedom of the Media On Media Freedom during Elections https://www.osce.org/files/f/documents/9/b/554107_0.pdf
RFoM Speeches:
1. Speech for the 3rd Committee of the PA (General Committee on Democracy, Human Rights and Humanitarian Questions) 22nd February 2024
2. Speech on Plattforms Office of the High Commissioner on Human Rights. 2011.
Guiding Principles on Business and Human Rights : Implementing the United Nations ‘Protect, Respect and Remedy’ Framework. United Nations: New York and Geneva
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TRANSFORMING THE INTERNET: EIN MANIFEST FÜR VERÄNDERUNG
DR. KLAUS UNTERBERGER, ORF
UNIV.-PROF.
DR. CHRISTIAN FUCHS, UNIVERSITÄT PADERBORN
Warum brauchen wir ein unabhängiges öffentliches Internet? Was ist falsch an dem bestehenden? Gibt es Alternativen zu Google&Co? Die digitale Transformation hat zu erheblichen Störungen in der Medienwirtschaft und der Medienwahrnehmung geführt. Trotz vieler enthusiastischer Erwartungen hat das Internet eine alarmierende Dominanz von Datenunternehmen geschaffen, die den Markt sowie ihre Verbraucher:innen kontrollieren. Versteckte Algorithmen nutzen und manipulieren ihre Nutzer:innen, Filterblasen unterstützen Fragmentierung und Polarisierung. Das heutige Internet unterstützt und stärkt nicht, sondern gefährdet den öffentlichen Raum demokratischer Gesellschaften. Gibt es Alternativen? Wie können wir qualitativ hochwertige Medien schaffen, die unabhängigen und verantwortlichen Qualitätsjournalismus unterstützen, der Demokratie und Bürgerschaft fördert? Kann öffentlich-rechtliche Medien eine spezifische Rolle spielen, um eine öffentliche digitale Sphäre zu schaffen, die einen öffentlichen Netzwerkwert liefert?
1. Der öffentliche Raum im digitalen Zeitalter
Der öffentliche Raum bildet einen wichtigen Aspekt eines jeden politischen und sozialen Systems. Habermas versteht unter „öffentlich” Räume und Ressourcen, die „für alle offen” sind (Habermas 1991, 1). Deshalb sprechen wir von öffentlich-rechtlichen Medien, öffentlicher Meinung, öffentlicher Bildung, öffentlichen Parks usw. Das Konzept der Öffentlichkeit hat mit dem Gemeinwohl zu tun, mit der Idee, dass Institutionen existieren, die nicht nur von einigen Privilegierten genutzt und besessen werden, sondern allen zugutekommen. Eine idealtypische Öffentlichkeit ist eine Sphäre, die „kritische Öffentlichkeit” (Habermas 1991, 237) und „kritische öffentliche Debatte” (Habermas 1991, 52) organisiert.
In dem Forschungsprojekt netCommons (http://www.netcommons.eu) fand ein Team von Forscher:innen unter der Leitung von Christian Fuchs heraus, dass 82,4% der befragten Internetnutzer:innen Bedenken bezüglich der Nutzung persönlicher Daten durch YouTube und Facebook für Profit äußerten (netCommons 2018). 78,7% sagten, dass es zu viele Werbeanzeigen im Internet gebe. 82% waren etwas besorgt, besorgt oder sehr besorgt über zielgerichtete Online-Werbung, das Hauptgeschäftsmodell der digitalen Giganten. 72,8% waren besorgt über die Steuervermeidungspraktiken großer Internetunternehmen. 87,6% der Befragten
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zeigten Interesse an Alternativen zu YouTube, Facebook, Twitter und Google. Öffentlich-rechtliche Medien sind hervorragend geeignet, gemeinnützige Alternativen zu Plattformen wie YouTube, Amazon Prime, Spotify und Netflix anzubieten. Die Tatsache, dass Internetnutzer:innen die Geschäftspraktiken von Online-Plattformen kritisch sehen, ist nicht neu. Bereits 2009, als Facebook und YouTube populär wurden, führte eine Fallstudie zur politischen Ökonomie sozialer Medien (Fuchs 2009) zu einem größeren Forschungsprojekt (http://www.sns3.uti.at). Die Fallstudie und das anschließende Projekt zeigten, dass Nutzer:innen die von solchen Plattformen angebotenen Dienste sehr schätzen und gleichzeitig sehr kritisch gegenüber ihren Geschäftspraktiken sind.
Die heutigen Internet- und Social-Media-Nutzer:innen sehen sich zehn Problemen gegenüber (Fuchs 2021, Kapitel 14 & 15):
1. Digitaler Kapitalismus/digitale Klassenbeziehungen: Digitales Kapital nutzt digitale Arbeit aus. Es führt zu kapitalistischen digitalen Monopolen und trägt zur Prekarisierung des Lebens bei.
2. Digitaler Individualismus: Digitaler Individualismus besteht darin, dass Nutzer:innen Aufmerksamkeit mit und Zustimmung zu individuellen Profilen und Postings in sozialen Medien ansammeln. Seine Logik behandelt Menschen als bloße Konkurrenten und untergräbt die zwischenmenschliche Solidarität.
3. Digitale Überwachung: Staatliche Institutionen und kapitalistische Unternehmen führen die digitale Überwachung von Menschen im Rahmen des digital-industriellen und überwachungsindustriellen Komplexes durch.
4. Anti-soziale soziale Medien: Soziale Medien sind anti-soziale Medien. Die Enthüllungen von Edward Snowden und der Cambridge Analytica-Skandal haben gezeigt, dass kapitalistische soziale Medien eine Gefahr für die Demokratie darstellen. Rechtsgerichtete Ideologen und Demagogen verbreiten digitalen Autoritarismus in sozialen Medien und greifen öffentlich-rechtliche Medien, unabhängige Medien und Qualitätsmedien als „Medien der städtischen Elite” an.
5. Algorithmische Politik: Soziale Medien sind durch automatisierte, algorithmische Politik gekennzeichnet. Automatisierte Computerprogramme („Bots”) ersetzen menschliche Aktivitäten, veröffentlichen Informationen und generieren „Likes”. Dies hat es erschwert zu unterscheiden, ob Informationen und Zustimmung von einem Menschen oder einer Maschine stammen.
6. Filterblasen: Fragmentierte Online-Publikumsgruppen sind als Filterblasen organisiert, in denen Meinungen homogen sind und Meinungsverschiedenheiten entweder nicht existieren oder vermieden werden.
7. Digitale Boulevardzeitungen: Die digitale Kulturindustrie hat soziale
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Medien als digitale Boulevardzeitungen organisiert, die von digitalen Konzernen kontrolliert werden. Online-Werbung und Boulevardunterhaltung dominieren das Internet und verdrängen das Publikum von politischen und Bildungsinhalten.
8. Influencer-Kapitalismus: Auf sozialen Medien formen sogenannte „Influencer” die öffentliche Meinung, schaffen Machtasymmetrien in Bezug auf Online-Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit und leben eine kommerzialisierte Online-Kultur, die die Welt als endlose Einkaufsmeile und riesiges Einkaufszentrum darstellt.
9. Digitale Beschleunigung: Durch die digitale Beschleunigung werden uns oberflächliche Informationen in sehr hoher Geschwindigkeit präsentiert, was unsere Aufmerksamkeitsspanne strapaziert. Es gibt zu wenig Zeit und zu wenig Raum für Gespräche und Debatten in sozialen Medien.
10. Falschmeldungen: Postfaktische Politik und Falschmeldungen verbreiten sich global über soziale Medien. Im Zeitalter des neuen Nationalismus und des neuen Autoritarismus hat sich eine Kultur herausgebildet, in der falsche Online-Nachrichten verbreitet werden, viele Menschen Fakten und Expert:innen misstrauen und eine Emotionalisierung der Politik stattfindet, bei der das Publikum nicht rational untersucht, was real ist und was Fiktion, sondern annimmt, dass etwas wahr ist, wenn es seiner Denkweise und Ideologie entspricht.
Diese zehn Tendenzen haben zu einer digitalen Öffentlichkeit geführt, die von wirtschaftlichen Interessen, staatlicher Macht und Ideologie kolonisiert und feudalisiert ist, gekennzeichnet durch wirtschaftliche, politische und kulturelle Machtasymmetrien. Das Internet hat sicherlich das Potenzial, menschliche Aktivitäten in Form von Kommunikation, kooperativer Arbeit, Gemeinschaftsaufbau und der Schaffung digitaler Gemeingüter zu sozialisieren. Heute hat die digitale Öffentlichkeit die Form einer kolonisierten und feudalisierten Öffentlichkeit angenommen, die durch die Logik der Akkumulation, Werbung, Monopolisierung, Kommerzialisierung, Vermarktung, Beschleunigung, Individualisierung, Fragmentierung, Automatisierung menschlicher Aktivitäten, Überwachung und Ideologisierung geprägt ist. Öffentlich-rechtliche Medien operieren auf der Grundlage einer anderen Logik. Sie sind Manifestationen und Grundpfeiler der demokratischen Öffentlichkeit. Der Kommunikationswissenschaftler Slavko Splichal gibt eine präzise Definition öffentlich-rechtlicher Medien: „In normativer Hinsicht müssen öffentlich-rechtliche Medien ein Dienst des Publikums, durch das Publikum und für das Publikum sein. Es ist ein Dienst des Publikums, weil es von ihm finanziert wird und von ihm im Besitz sein sollte. Es sollte ein Dienst durch das Publikum sein – nicht nur finanziert und kontrolliert,
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sondern auch produziert von ihm. Es muss ein Dienst für das Publikum sein – aber auch für die Regierung und andere Kräfte, die im öffentlichen Raum handeln. Zusammenfassend sollten öffentlich-rechtliche Medien „ein Eckpfeiler der Demokratie“ werden.“ (Splichal 2007, 255)
2. Von der Krise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hin zu einem öffentlich-rechtlichen Internet
Die ursprüngliche Idee hinter dem europäischen Rundfunk war einfach: öffentliche Medien als öffentlicher Dienst – für alle zugänglich, öffentlich finanziert und unabhängig von Regierungs- und Wirtschaftsinteressen – eine verantwortliche, vertrauenswürdige Informationsquelle, die die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegelt. Zuerst in Großbritannien mit dem Start der BBC in den 1920er Jahren eingeführt, wurde öffentlich-rechtlicher Rundfunk weltweit übernommen und angepasst. In Kontinentaleuropa wurde es nicht zufällig, sondern als Reaktion auf Diktatur und den Zusammenbruch der Demokratie entwickelt: Nach den verheerenden Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs tauchte öffentlichrechtlicher Rundfunk in Deutschland wieder auf, wo er half, die soziale Kohäsion wiederherzustellen, indem er Menschen ansprach, die nicht mehr gehorsame Untergebene, sondern Bürger:innen einer neu geborenen Demokratie waren.
Im Jahr 2022 steht die Welt erneut vor einer schweren, vielfältigen Krise: dem Krieg in der Ukraine, einer alarmierenden Energiekrise, einer globalen Pandemie, beschleunigtem Klimawandel, anhaltenden und tiefgreifenden sozialen Ungleichheiten, zunehmender politischer Polarisierung und einer alarmierenden Infodemie mit vielen Fehlinformationen und Hassreden. Trotz all der großartigen Möglichkeiten, die digitale Technologien der Gesellschaft und den Einzelpersonen geboten haben, sind die Hoffnungen und Erwartungen an ein freies und demokratisches Internet enttäuscht worden. Digitale Giganten, angeführt von Apple, Alphabet/Google, Microsoft, Amazon, Alibaba, Facebook und Tencent, haben beispiellose wirtschaftliche, politische und kulturelle Macht erlangt. Sie untergraben die unverzichtbaren Ressourcen vertrauenswürdiger Informationen, eingehender Analysen, rationaler Debatten und Vielfalt der Darstellung, die es uns ermöglichen, die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, vollständig zu verstehen. Sie haben eine Kommunikationslandschaft geschaffen, die von Überwachung, Werbung, Falschmeldungen, Hassreden, Verschwörungstheorien und der algorithmischen Zuordnung von Benutzern zu kommerziellen und politischen Inhalten geprägt ist, die ihren ausgedrückten Vorlieben und Meinungen entsprechen. Wie das Internet derzeit organisiert ist, trennt und spaltet es, anstatt gemeinsame Räume für die Verhandlung von Unterschieden
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und Meinungsverschiedenheiten zu schaffen. Tatsächlich gefährden die dominanten Formen und Nutzungsmöglichkeiten digitaler Technologien und des Internets die Demokratie.
Angesichts der enormen wirtschaftlichen Macht, die globale Datenunternehmen aus Milliardenumsätzen generieren, scheint es unmöglich, sich der Herausforderung zu stellen oder auch nur mit GAFAM (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) und FAANG (Facebook, Amazon, Apple, Netflix und Alphabet) Schritt zu halten. Der Weg der digitalen Technologie ist jedoch keine Einbahnstraße. In Europa gibt es eine starke und effektive Infrastruktur für nichtkommerzielle Medien, die von der Öffentlichkeit finanziert und kontrolliert wird und auf einem klaren öffentlichen Auftrag beruht, der sich für Universalität, Vielfalt und Unabhängigkeit einsetzt. Wo immer sie tätig ist, bietet sie eine einzigartige Qualität im Vergleich zu kommerziellen Medien, gleicht die negativen Auswirkungen von Boulevardmedien - ob online oder gedruckt - aus und wirkt den Effekten von Filterblasen entgegen, die von sogenannten „sozialen Medien” erzeugt werden. In Anlehnung an den Kernauftrag der BBC, „informiert, bildet und unterhält” der öffentlich-rechtliche Rundfunk, reflektiert die soziale, regionale, wirtschaftliche, politische, kulturelle und religiöse Vielfalt und Komplexität des täglichen Lebens, schafft öffentlichen Wert als universeller Dienst, der allen gleichermaßen zur Verfügung steht, und unterstützt das gesellschaftliche Bewusstsein, die Verantwortung und die Staatsbürgerschaft. Auch wenn öffentlich-rechtliche Rundfunkorganisationen mit schweren Herausforderungen konfrontiert sind, qualifiziert ihre Rolle in der Gesellschaft, ihre Erfahrung und Kompetenz für eine dringend benötigte Alternative zu einer alarmierend zunehmenden neuen Version des digitalen Kapitalismus (Fuchs 2021). Es wäre ein Fehler, die vorhandene Infrastruktur des öffentlichrechtlichen Rundfunks nicht für die Schaffung eines öffentlichen Internets zu nutzen.
Die Transformation des traditionellen öffentlich-rechtlichen Rundfunks in ein global agierendes öffentliches Internet ist jedoch definitiv keine Geschäftsordnung wie üblich. Im Gegenteil, sie erfordert eine klare Vision und eine substanzielle und gemeinschaftliche Arbeit von Institutionen und Gemeingut, von bestehenden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und der Zivilgesellschaft. Die Empfehlung, dass Inhalte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einfach auf von den digitalen Giganten betriebene und kontrollierte kommerzielle Plattformen verschoben werden sollten, ist keine ausreichende Option. Die Einrichtung eines öffentlich-rechtlichen Kanals auf YouTube oder Facebook würde die kulturelle Zentralität der großen digitalen Dienstleister unterstützen und keine Al-
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ternative zu ihren Betriebsverfahren und Geschäftsmodellen bieten. Öffentliche Internetplattformen werden von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten mit einem gemeinnützigen Imperativ und dem digitalen Auftrag betrieben, Informationen, Nachrichten, Debatten, Demokratie, Bildung, Unterhaltung, Teilnahme und Kreativität mithilfe des Internets voranzutreiben. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten sollten ihren Auftrag als digitalen Dienst zur Förderung von Informationen, Unterhaltung, Bildung und Demokratie neu definieren.
Wir brauchen ein neues Internet, das Bürgerschaft und Demokratie dient. Während das zeitgenössische Internet von Monopolen und Geschäftsinteressen dominiert wird, würde sich das öffentliche Internet auf den öffentlichen Zweck konzentrieren. Während das zeitgenössische Internet unter Überwachung steht, wäre das öffentliche Internet datenschutzfreundlich und transparent. Während das zeitgenössische Internet die Öffentlichkeit desinformiert und spaltet, würde das öffentliche Internet-Bürgerschaft fördern, informieren und unterstützen. Während das zeitgenössische Internet vom Profitprinzip angetrieben wird, würde das öffentliche Internet die gesellschaftlichen Bedürfnisse an die erste Stelle setzen. Deshalb müssen wir das Internet neu aufbauen.
3. Das Manifest für öffentlich-rechtliche Medien und öffentliches Internet Auf unsere Initiative hin veröffentlichte eine internationale Gruppe von Wissenschaftler:innen und Medienexpert:innen ein Manifest für ein öffentliches Internet. Es ist weltweit verbreitet und wird bereits von mehr als 1.200 Wissenschaftler:innen, Akademiker:innen und Medienexpert:innen unterstützt, darunter Jürgen Habermas und Noam Chomsky. Seine Vision definiert spezifische Qualitätskriterien:
• Das öffentliche Internet basiert auf vorhandenen Netzwerken, Infrastrukturen und Logistik sowie auf der Kompetenz und Erfahrung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten. Es nimmt den gesellschaftlichen Konsens des öffentlichen Auftrags auf und wendet ihn auf das digitale Zeitalter an. Es schafft eine starke Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, einzelnen Mediennutzer:innen, Bürger:innen und den kreativen, kulturellen und Bildungssektoren.
• Öffentliche Internetplattformen werden idealerweise als internationale Netzwerke betrieben, die von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten kuratiert werden. Öffentliche Internetplattformen arbeiten mit öffentlichen Organisationen (Universitäten, Museen, Bibliotheken usw.), der Zivilgesellschaft, zivilen und Gemeindemedien, Künstler:innen, digitalen Gemeinschaftsprojekten, Plattformgenossenschaften und einer Vielzahl von Qualitätsmedien zusammen. Tatsächlich schaffen sie eine öffentlich-zivilgesellschaftliche Partner-
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schaft unter Verwendung gesellschaftlicher Ressourcen. Öffentlichrechtliche Rundfunkanstalten schaffen gemeinsam mit öffentlichen Interessenorganisationen offene, öffentliche Online-Räume, die das öffentliche Internet bilden.
• Öffentliche Internetplattformen bieten Arbeitsplätze für erstklassige Journalist:innen. In sicherer Entfernung von Unternehmens- und politischer Macht können sie kritischen investigativen Journalismus und hochwertige Programme produzieren, die auf die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters und die Vielfalt der Gesellschaft eingehen. Sie ermöglichen den Bürger:innen neue Formen der Kommunikation, die auf den Erfahrungen, Strukturen und Inhalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunk Models und nutzen das kreative Potenzial der digitalen Inhaltsherstellung durch die Einbindung der Nuter:innen. Der Auftrag des öffentlichen Internets wird daher darin bestehen, einen neuen digitalen öffentlichen Dienst zu schaffen.
• Das öffentliche Internet muss seine Unabhängigkeit verteidigen, um sicherzustellen, dass redaktionelle und kreative Entscheidungen von staatlichen und geschäftlichen Interessen getrennt sind. Die Sicherung der Rolle des öffentlichen Internets als vertrauenswürdige und unabhängige Quelle für Informationen und Analysen sowie als verantwortungsbewusste Vermittler:innen, Kurator:innen und Moderator:innen von unabhängig produzierten und nutzergenerierten Inhalten erfordert transparente Verfahren der Rechenschaftspflicht. Solche Verfahren müssen auf klaren ethischen Grundsätzen der Governance, redaktionellen Leitlinien und Qualitätskontrolle basieren.
• Das öffentliche Internet fördert Vielfalt. Um sicherzustellen, dass die gesamte Bandbreite an Erfahrungen und Stimmen gesehen und gehört werden, bedarf es einer erneuten Verpflichtung zur Erweiterung der sozialen Grundlagen der Rekrutierung. Kreative und institutionelle Positionen müssen für Minderheiten geöffnet werden, die in den Mainstream-Medien unterrepräsentiert sind.
• Das öffentliche Internet wird die kulturelle und Bildungsaufgabe und den Auftrag des bestehenden öffentlich-rechtlichen Rundfunks einschließen, transformieren und erweitern. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk entstand neben einer Vielzahl anderer öffentlich finanzierter kultureller Einrichtungen wie Museen, Bibliotheken, Kunstgalerien, Universitäten, Archiven und Aufführungsräumen. Das öffentliche Internet wird eine zugängliche Plattform für all diese gemeinschaftlichen Unternehmungen bieten.
• Das öffentliche Internet wird, um den Bedürfnissen der Öffentlichkeit gerecht zu werden und die Bürgerschaft zu unterstützen, die ideale Grundlage bieten, um eine neue öffentliche Suchmaschine und Plattform zu schaffen und zu beherbergen, die Benutzer:innen auf die ge -
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samte Palette relevanter frei verfügbarer Materialien von öffentlichen Bildungs- und Kultureinrichtungen lenkt.
• Folglich ist der Datenschutz ein Kernaspekt des öffentlichen Internets. Es bietet vorbildliche Praktiken der Datenverarbeitung. Die Software des öffentlichen Internets ist ein Gemeingut, das für nicht kommerzielle Zwecke wiederverwendet werden kann. Auf den Plattformen des öffentlichen Internets können Benutzer:innen ihre Daten verwalten und ihre selbst kuratierten Daten auf anderen Plattformen herunterladen und wiederverwenden. Die digitalen Giganten speichern jeden Klick und jede Online-Bewegung, um das Verhalten zu überwachen und zu monetarisieren. Die Plattformen des öffentlichen Internets minimieren und dezentralisieren die Datenspeicherung und haben keinen Bedarf, die Internetnutzung zu monetarisieren und zu überwachen. Die Plattformen des öffentlichen Internets experimentieren mit neuen Formen der Inhaltslizenzierung, die die kulturellen und digitalen Gemeingüter für gemeinnützige und nicht kommerzielle Zwecke vorantreiben.
• Die Algorithmen des öffentlichen Internets werden öffentlich kontrolliert. Solche Algorithmen sind Open Source und transparent. Sie sind so programmiert, dass sie den Auftrag des Digitalen öffentlichen Dienstes vorantreiben. Öffentliche Dienstleistungsalgorithmen werden von der Öffentlichkeit für die Öffentlichkeit produziert. Sie helfen, die Plattformen, Formate und Inhalte des öffentlichen Internets durch Empfehlungen und Vorschläge auf der Grundlage transparenter Verfahren, ohne Werbung, Handel und Überwachung zu organisieren. Öffentliche Dienstleistungsalgorithmen spiegeln die Vielfalt der Öffentlichkeit wider und fördern Zugänglichkeit, Fairness und Inklusivität.
• Das öffentliche Internet wird ein Treiber des Wandels sein. Seine Nachrichten- und Unterhaltungsversorgung wird besonderes Augenmerk auf die Entwicklung innovativer Stile der Medienproduktion legen, die Fragen mit weitreichenden sozialen Implikationen und ihren möglichen Folgen hervorheben, erklären und kontextualisieren. Das öffentliche Internet wird auf seinen bewährten Stärken aufbauen, um innovative Programme und Online-Inhalte zu produzieren, die die Bildungsentwicklung von Kindern unterstützen, die gesamte Bandbreite der Interessen und Anliegen junger Menschen ansprechen und umfassende Ressourcen für lebenslanges Erwachsenenlernen bereitstellen. In der digitalen Zukunft, wie auch in der Vergangenheit, werden Unterhaltung, Drama und Sport zentrale Aspekte des öffentlichen kulturellen Ausdrucks und der sozialen Solidarität bleiben. Das öffentliche Internet wird eine zentrale Rolle dabei spielen, den sozialen Wert öffentlicher kultureller Ressourcen zu maximieren
• Das öffentliche Internet muss neue Möglichkeiten zur Beteiligung bieten, um Inklusion und Demokratie zu schützen. Die Zivilgesellschaft
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unterstützt eine Vielzahl von selbstorganisierten, kooperativen, aktivitätsproduzierenden, kollektiven Ressourcen, von Gemeindechören bis hin zu Gruppen, die Lebensräume für Wildtiere schützen oder sich für benachteiligte Gruppen einsetzen, die neue Formen digitaler Aktionen nutzen, von der Erstellung von Open-Source-Software bis zur Mitarbeit an Bürgerwissenschaftsprojekten. Das öffentliche Internet wird das gesamte Spektrum freiwilligen Engagements nutzen und neue Formen der populären Teilnahme in Schlüsselbereichen wie der Produktion von Programmen und der Schaffung von Ressourcen des öffentlichen Internets entwickeln.
• All dies erfordert eine kontinuierliche Verpflichtung zur garantierten öffentlichen Finanzierung, um sicherzustellen, dass der Internetzugang und das öffentliche Internet für alle verfügbar sind. Öffentliche Rundfunkanstalten und ihre Plattformen des öffentlichen Internets benötigen eine nachhaltige Finanzierung. Die Rundfunkgebühr, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk trägt, ist kein Mechanismus der Vergangenheit, sondern einer für die digitale Zukunft. Die digitale Rundfunkgebühr wird die Rundfunkgebühr des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in das digitale Zeitalter ausdehnen und transformieren.
• Genau wie das Internet und die öffentliche Sphäre global sind, sollten auch das öffentliche Internet und seine Plattformen neben regionalen und lokal auch global sein. Solche Plattformen können von jedem, zu jeder Zeit und von überall aus zugänglich sein. Das öffentliche Internet erfordert eine globale Kommunikationsinfrastruktur. Eine solche globale Infrastruktur wird unabhängig von kommerziellen und staatlichen Interessen sein und den Bürger:innen und der Demokratie dienen. Es gibt jedoch keinen Grund, warum das öffentliche Internet nicht auf nationaler und europäischer Ebene geschaffen, etabliert, initiiert oder gestärkt werden sollte. Im Gegenteil, eine Alternative zum rein kommerziell ausgerichteten Internet benötigt die Macht der Staaten, ihren regulatorischen Rahmen und Zugang zu nachhaltiger Finanzierung.
Die bestehende internationale Infrastruktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat das gesamte Potenzial, eine entscheidende Kraft zu werden, die demokratische Kommunikation im digitalen Zeitalter vorantreibt. Wie schon in der Vergangenheit hat die aktuelle COVID-19-Krise die Unverzichtbarkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks deutlich gemacht. Durch die Lockdowns zu Hause, um eine Infektion zu vermeiden, haben sich die Zuschauer:innen massiv dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zugewandt, um vertrauenswürdige Quellen für objektive und unparteiische Informationen, hochwertiges Bildungsmaterial für das Homeschooling sowie vielfältige Unterhaltung und Dramatik zu erhal-
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ten. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat diesen Schwung genutzt, um seine Kompetenz als wichtiger Bezugspunkt in Krisenzeiten zu beweisen. Erneut könnte die Erfahrung, dass Krisen uns alle bedrohen, dass Demokratie und ihre grundlegenden Ressourcen leicht gefährdet werden können, eine unerwartete positive Wende herbeiführen: die Wiederbelebung des Gemeinwohls in der Gesellschaft, in der öffentlichen Sphäre und folglich in der öffentlichen Kommunikation und den Medien.
Obwohl es eine außergewöhnliche Herausforderung sein wird, das bestehende Internet mit öffentlichem Interesse zu „besetzen”, um eine neue öffentliche Sphäre zu schaffen, ein Internet, das der Öffentlichkeit dient, gibt es gute Gründe, dies geschehen zu lassen: Globale Krisen, ob die aktuelle „Pan- oder Infodemie”, haben deutlich gezeigt, dass ein dringender Bedarf an unabhängigen, verantwortungsvollen Medien besteht, die den Bürger:innen und der Demokratie dienen. Im Kampf gegen die Pandemie wurde offensichtlich, dass Nationen, ihre Regierungen und Gesellschaften noch immer die Macht haben, zu handeln, einzugreifen, zu regulieren und den Kurs zu ändern. Da Billionen von Arbeitsstunden und Milliarden von Dollar und Euro in den Kampf gegen die weltweite Ausbreitung des Virus investiert wurden, gibt es keinen Grund, warum es unmöglich sein sollte, in die Qualität der öffentlichen Sphäre zu investieren, die den Bürger:innen dient und die Demokratie schützt.
Die Produktionsmittel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind öffentliches Eigentum. Die Produktion und Verbreitung von Inhalten basiert auf einer Non-Profit-Logik. Der Zugang ist universell, da allen Bürger:innen ein einfacher Zugang zu den Inhalten und Technologien des öffentlichrechtlichen Rundfunks gewährt wird. In politischer Hinsicht bietet der öffentlich-rechtliche Rundfunk vielfältige und inklusive Inhalte, die das politische Verständnis und den Diskurs fördern. In kultureller Hinsicht bietet er Bildungsinhalte, die zur kulturellen Entwicklung von Individuen und der Gesellschaft beitragen. Ein öffentliches und gemeinschaftsbasiertes Internet ist möglich - ein Internet, auf dem Menschen teilen, kommunizieren, entscheiden, diskutieren, spielen, erstellen, kritisieren, vernetzen, zusammenarbeiten, finden, pflegen und Freundschaften aufbauen, sich verlieben, sich und andere unterhalten und sich gemeinsam bilden, ohne dass Unternehmen vermitteln.
Conclusio: Transformiert das Internet! Das hier beschriebene Manifest ist eine Vision, ein Weckruf. Öffentliche Kommunikation ist mehr als Geschäft, sie ist ein öffentlicher Zweck. Demokratische Gesellschaften brauchen mehr denn je Medien und eine öffentliche Sphäre, die den Bedürfnissen ihrer Bürger:innen entspricht.
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Gleichzeitig ist das Manifest ein Aufruf zum Handeln. Es ist ein Aufruf, die demokratische Kommunikation zu retten und voranzubringen, indem der öffentlich-rechtliche Rundfunk erneuert und ein öffentliches Internet geschaffen wird: ein Internet der Öffentlichkeit, von der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit; ein Internet, das die Demokratie und die öffentliche Sphäre vorantreibt anstatt sie zu bedrohen, das einen neuen und dynamischen gemeinsamen Raum für Verbindung, Austausch und Zusammenarbeit bietet; ein Internet, das die öffentliche Sphäre unterstützt, aktive Bürgerschaft und junge Kreative fördert, die die kulturellen Branchen von morgen aufbauen und den sozialen Zusammenhalt fördern werden.
Eine andere Medienwelt ist möglich. Jetzt ist die Zeit für ein öffentliches Internet und revitalisierte öffentlich-rechtliche Medien. Wir rufen alle Medienbenutzer:innen und Expert:innen innerhalb und außerhalb des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, tatsächlich alle Bürger:innen, die sich um die Zukunft der Demokratie in unseren Ländern kümmern, dazu auf, sich an der Suche nach Stärkung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der Schaffung eines öffentlichen Internets zu beteiligen.
Das vollständige Manifest ist hier verfügbar: http://bit.ly/psmmanifesto Sie können das Manifest hier unterzeichnen: http://bit.ly/signPSManifesto
Literaturverzeichnis
Fuchs, Christian. 2021. Social Media: A Critical Introduction. London: Sage. Third edition. Fuchs, Christian. 2009. Social Networking Sites and the Surveillance Society. A Critical Case Study of the Usage of studiVZ, Facebook, and MySpace by Students in Salzburg in the Context of Electronic Surveillance. Salzburg/Vienna: Research Group UTI. http://fuchs.uti.at/wp-content/uploads/SNS_Surveillance_Fuchs. pdf
Habermas, Jürgen. 1991. The Structural Transformation of the Public Sphere. An Inquiry into a Category of Bourgeois Society. Cambridge, MA: The MIT Press. netCommons. 2018. Survey on Interne Attitutdes: Dataset. https://zenodo.org/record/1294040#.YNL0BpMzb8E
Splichal, Slavko. 2007. Does History Matter? Grasping the Idea of Public Service at its Roots. In From Public Service Broadcasting to Public Service Media. RIPE@2007, ed. Gregory Ferrell Lowe and Jo Bardoel, 237256. Göteborg: Nordicom.
PUBLIC VALUE TEXTE
198
ZUR ZUKUNFT ÖFFENTLICH-RECHTLICHER MEDIEN IN DER EUROPÄISCHEN UNION 5 Source: EBU based on Glance (Mediametrie) / Relevant partners and Members’ data EBU Media Intelligence Service – PSM Barometer
S M T V: M A R KE T S H A R E 2022, total individuals. Group 1 performs > 50% above average Group 4 performs > 50% below average Group 1: > 34% Group 2: 23% - 34% Group 3: 12% - 23% Group 4: < 12% Data not available A Av e r a g e 2 3% PERSONNEL PROGRAMMING FUNDING ONLINE OFFER LINEAR OFFER A UDIENCE 9 Source: EBU based on Members’ data EBU Media Intelligence Service – PSM Barometer
T V: W E E KLY R
AC H 2022, total individuals, 15+ minutes consecutive weekly reach, some market definitions vary. Group 1 performs > 20% above average Group 4 performs > 20% below average Group 1: > 65% Group 2: 54% - 65% Group 3: 43% - 54% Group 4: < 43% Data not available A Av e r a g e 54 % PERSONNEL PROGRAMMING FUNDING ONLINE OFFER LINEAR OFFER A UDIENCE 199
P
P S M
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PUBLIC VALUE TEXTE 15 P S M R A D I O : M A R KE T S H A R E 2022, total individuals. Group 1 performs > 50% above average Group 4 performs > 50% below average Group 1: > 54% Group 2: 36% - 54% Group 3: 18% - 36% Group 4: < 18% Data not available A Av e r a g e 36% Source: EBU based on Members’ data EBU Media Intelligence Service – PSM Barometer PERSONNEL PROGRAMMING FUNDING ONLINE OFFER LINEAR OFFER A UDIENCE 19 P S M R A D I O : W E E KLY R E AC H 2022, total individuals, 15+ minutes consecutive weekly reach, some market definitions vary. Group 1 performs > 25% above average Group 4 performs > 25% below average Group 1: > 51% Group 2: 41% - 51% Group 3: 31% - 41% Group 4: < 31% Data not available A Av e r a g e 4 1% Source: EBU based on Members’ data EBU Media Intelligence Service – PSM Barometer PERSONNEL PROGRAMMING FUNDING ONLINE OFFER LINEAR OFFER A UDIENCE 200
AUSTRIA | ÖSTERREICH
NAME: ÖSTERREICHISCHER RUNDFUNK
WEBSITE: HTTPS://ORF.AT/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 4 + 9 WINDOWS
Z.B.: ORF1, ORF2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 12
Z.B.: Ö1, HITRADIO Ö3
BELGIUM | BELGIEN
NAME: VLAAMSE RADIO EN TELEVISIEOMROEP
WEBSITE: HTTPS://WWW.VRT.BE
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 3
Z.B.: VRT ÉÉN, CANVAS, KETNET
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 9 + 5 WINDOWS
Z.B.: RADIO 1, RADIO 2
NAME: RADIO-TÉLÉVISION BELGE DE LA COMMUNAUTÉ FRANÇAISE
WEBSITE: HTTPS://WWW.RTBF.BE/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 4
Z.B.: LA UNE, TIPIK
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 9 + 7 WINDOWS
Z.B.: LA PREM1ÈRE, VIVACITÉ
BULGARIA | BULGARIEN
NAME: BALGARSKA NATIONALNA TELEVIZIJA
WEBSITE: HTTPS://BNTNEWS.BG/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 4
Z.B.: BNT 1, BNT 2
NAME: BÂLGARSKO NACIONALNO RADIO
WEBSITE: HTTPS://BNR.BG/
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 12
Z.B.: RADIO BULGARIA, HORIZONT CHANNEL
CROATIA | KROATIEN
NAME: HRVATSKA RADIOTELEVIZIJA
WEBSITE: HTTPS://HRTI.HRT.HR
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 5
Z.B.: HTV1, HTV2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 11
Z.B.: HR-1, HR-2
CYPRUS | ZYPERN
NAME: CYPRUS BROADCASTING CORPORATION
WEBSITE: HTTP://CYBC.COM.CY/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 4
Z.B.: RIK1 (CYBC1), RIK2 (CYBC2)
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 4
Z.B.: FIRST PROGRAMME, SECOND PROGRAMME
CZECHIA | TSCHECHIEN
NAME: CESKÁ TELEVIZE
WEBSITE: HTTP://WWW.CESKATELEVIZE.CZ/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 7 + 2 WINDOWS
Z.B.: ČT1 , ČT1 (JMO)
NAME: ČESKÝ ROZHLAS
WEBSITE: HTTPS://WWW.IROZHLAS.CZ/
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 26
Z.B.: ČRO RADIOŽURNÁL, RADIOŽURNÁL SPORT
DANMARK | DÄNEMARK
NAME: DR
WEBSITE: HTTPS://WWW.DR.DK/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 5
Z.B.: DR1, DR2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 8 + 20 WINDOWS
Z.B.: P5, P6 BEAT
NAME: TV2/DANMARK
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 7 + 8 WINDOWS
Z.B.: TV 2 ZULU, TV 2 CHARLIE
ESTONIA | ESTLAND
NAME: EESTI RAHVUSRINGHÄÄLING
WEBSITE: HTTP://WWW.ERR.EE/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 3
Z.B.: ETV, ETV2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 5
Z.B.: VIKERRAADIO, RAADIO 2
FINLAND | FINLAND
NAME: OY YLEISRADIO AB
WEBSITE: HTTP://WWW.YLE.FI/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 3 + 10 WINDOWS
Z.B.: YLE TV 1, YLE TV 2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 6 + 25 WINDOWS
Z.B.: YLE PUHE, YLE MONDO
FRANCE | FRANKREICH
NAME: FRANCE TÉLÉVISIONS
WEBSITE: HTTPS://WWW.FRANCETVINFO.FR/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 18 + 24 WINDOWS
Z.B.: FRANCEINFO, FRANCE 2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 9
Z.B.: GUADELOUPE 1ÈRE RADIO, GUYANE 1ÈRE RADIO
NAME: FRANCE MÉDIAS MONDE
WEBSITE: HTTPS://WWW.RFI.FR/FR/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 4
Z.B.: FRANCE 24 (ENGLISH), FRANCE 24 (ARABIC)
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 4
Z.B.: RFI MONDE, RFI AFRIQUE
NAME: RADIO FRANCE
WEBSITE: HTTPS://WWW.MOUV.FR/
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 50
Z.B.: FRANCE CULTURE, FRANCEINFO
GERMANY | DEUTSCHLAND
NAME: ARBEITSGEMEINSCHAFT DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN RUNDFUNKANSTALTEN DER BUNDES-REPUBLIK DEUTSCHLAND
WEBSITE: WWW.ARDKULTUR.DE
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 16 + 24 WINDOWS
Z.B.: DAS ERSTE, ONE
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 77 + 63 WINDOWS
NAME: DEUTSCHE WELLE
WEBSITE: HTTPS://WWW.DW.COM/ ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 5
Z.B.: DW, DW (DEUTSCH+)
NAME: ZWEITES DEUTSCHES FERNSEHEN WEBSITE: HTTPS://WWW.ZDF.DE/ ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 6
Z.B.: ZDF, ZDFINFO
GREECE | GRIECHENLAND
NAME: ELLINIKI RADIOPHONIA-TILEORASSI SA
WEBSITE: HTTPS://WWW.ERTNEWS.GR/ ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 5
Z.B.: ERT 1, ERT WORLD
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 30
Z.B.: KOSMOS RADIO, ZEPPELIN
HUNGARY | UNGARN
NAME: MEDIA SUPPORT AND ASSET MANAGEMENT FUND MEDIASZOL- GALTATAS-TAMOGATO ES WEBSITE: HTTPS://WWW.MEDIAKLIKK.HU/ ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 6
Z.B.: M1, M2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 5
Z.B.: KOSSUTH RÁDIÓ, PETŐFI RÁDIÓ
IRELAND | IRLAND
NAME: TG4
WEBSITE: HTTPS://WWW.TG4.IE/EN/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 2
Z.B.: TG4, CÚLA4
ZUR ZUKUNFT ÖFFENTLICH-RECHTLICHER MEDIEN IN DER EUROPÄISCHEN UNION
201
NAME: RAIDIÓ TEILIFÍS ÉIREANN
WEBSITE: HTTPS://WWW.RTE.IE/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 4
Z.B.: RTÉ ONE, RTÉ2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 4
Z.B.: RTÉ RADIO 1, RTÉ 2FM
ITALY | ITALIEN
NAME: RADIOTELEVISIONE ITALIANA
WEBSITE: HTTP://WWW.RAINEWS.IT/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 21 + 25 WINDOWS
Z.B.: RAI 1, RAI 2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 15 + 20 WINDOWS
Z.B.: RAI RADIO INDIE, RAI RADIO 3
LATVIA | LETTLAND
NAME: LATVIJAS TELEVIZIJA
WEBSITE: HTTP://WWW.LSM.LV/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 2
Z.B.: LTV1, LTV7
NAME: LATVIJAS RADIO
WEBSITE: HTTPS://LATVIJASRADIO.LSM.LV/
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 6
Z.B.: LR1 - LATVIJAS RADIO 1, LR2 - LATVIJAS RADIO 2
LITHUANIA | LITAUEN
NAME: LIETUVOS RADIJAS IR TELEVIZIJA
WEBSITE: HTTPS://WWW.LRT.LT/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 3
Z.B.: LRT TELEVIZIJA, LRT PLIUS
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 3
Z.B.: LRT RADIJAS, LRT KLASIKA
LUXEMBOURG | LUXEMBURG
NAME: CLT MULTI MEDIA
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 19
Z.B.: RTL Z, SOROZAT
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 3
Z.B.: RTL RADIO LËTZEBUERG, RTL RADIO 93,3
MALTA
NAME: PUBLIC BROADCASTING SERVICES LTD
WEBSITE: HTTPS://TVMNEWS.MT/EN/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 2
Z.B.: TVM, TVMNEWS+
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 3
Z.B.: RADJU MALTA, RADJU MALTA 2
NETHERLANDS | NIEDERLANDE
NAME: NEDERLANDSE PUBLIEKE OMROEP
WEBSITE: HTTP://WWW.NOS.NL/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 8
Z.B.: NPO 1, NPO 1
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 9 + 4 WINDOWS
Z.B.: NPO RADIO 1, NPO RADIO 2
POLAND | POLEN
NAME: TELEWIZJA POLSKA SA
WEBSITE: HTTPS://WWW.TVP.INFO/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 22 + 16 WINDOWS
Z.B.: TVP1, TVP2
NAME: POLSKIE RADIO SA
WEBSITE: HTTPS://WWW.POLSKIERADIO.PL/
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 12
Z.B.: JEDYNKA - PROGRAM 1 POLSKIEGO RADIA, DWÓJKA - PROGRAM 2 POLSKIEGO RADIA
PORTUGAL
NAME: RÁDIO E TELEVISÃO DE PORTUGAL
WEBSITE: HTTP://WWW.RTP.PT/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 14
Z.B.: RTP1, RTP2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 8
Z.B.: RDP ÁFRICA, ANTENA 2
ROMANIA | RUMÄNIEN
NAME: SOCIETATEA ROMÂNĂ DE TELEVIZIUNE
WEBSITE: HTTP://STIRI.TVR.RO/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 12
Z.B.: TVR 1, TVR 2
NAME: SOCIETATEA ROMÂNĂ DE RADIODIFUZIUNE
WEBSITE: HTTP://WWW.RADIOTIMISOARA.RO/
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 22
Z.B.: RADIO VACANȚA, RADIO ARAD FM
SLOVENIA | SLOWENIEN
NAME: RADIOTELEVIZIJA SLOVENIJA
WEBSITE: HTTPS://WWW.RTVSLO.SI/ ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 5
Z.B.: TV SLOVENIJA 1, TV SLOVENIJA 2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 8
Z.B.: RADIO KOPER, RADIO MARIBOR
SLOVAKIA
NAME: ROZHLAS A TELEVÍZIA SLOVENSKA
WEBSITE: HTTPS://WWW.RTVS.SK/ ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 4
Z.B.: JEDNOTKA, DVOJKA
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 11
Z.B.: RÁDIO DEVÍN, RÁDIO_FM
SPAIN | SPANIEN
NAME: RADIOTELEVISIÓN ESPAÑOLA
WEBSITE: HTTPS://WWW.RTVE.ES/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 8 + 19 WINDOWS
Z.B.: LA1, 24H
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 5 + 19 WINDOWS
Z.B.: RADIO EXTERIOR, RADIO NACIONAL
SWEDEN | SCHWEDEN
NAME: SVERIGES TELEVISION AB WEBSITE: HTTPS://SVERIGESRADIO.SE/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 5 + 21 WINDOWS
Z.B.: SVT1, SVT2
NAME: SVERIGES RADIO AB
WEBSITE: HTTPS://SVT.SE/
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 35
Z.B.: P1, P2
SWITZERLAND | SCHWEIZ
NAME: SRG SSR
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 3
Z.B.: RADIO SWISS CLASSIC, RADIO SWISS JAZZ
NAME: FRENCH: SRG SSR / RTS
WEBSITE: HTTPS://WWW.RTS.CH/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 2
Z.B.: RTS UN, RTS DEUX
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 4
Z.B.: LA PREMIÈRE, ESPACE 2
NAME: GERMAN: SRG SSR / SRF
WEBSITE: HTTP://WWW.SRF.CH/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 3
Z.B.: SRF 1, SRF ZWEI
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 6 + 7 WINDOWS
Z.B.: RADIO SRF 1, RADIO SRF 3
NAME: ITALIAN: SRG-SSR / RSI
WEBSITE: HTTP://WWW.RSI.CH/
ANZAHL DER TV-PROGRAMME: 2
Z.B.: LA1, LA2
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 3
Z.B.: RETE UNO, RETE DUE
NAME: ROMANISCH SRG-SSR/ RTR
ANZAHL DER RADIOPROGRAMME: 1
Z.B.: RADIO RTR
PUBLIC VALUE TEXTE 202
ZUR ZUKUNFT ÖFFENTLICH-RECHTLICHER MEDIEN IN DER EUROPÄISCHEN UNION 203
PUBLIC VALUE STUDIE
Die Rolle öffentlich-rechtlicher Medien im Internet
Victor Mayer-Schönberger (Oxford University)
Die volkswirtschaftlichen Effekte des ORFFernsehens
Matthias Firgo, Oliver Fritz (WIFO), Gerhard Streicher (Joanneum Research)
Unterhaltung als öffentlich-rechtlicher Auftrag
Gabriele Siegert, M. Bjorn von Rimscha, Christoph Sommer (Universität Zürich)
Public Network Value
Thomas Steinmaurer, Corinna Wenzel (Universität Salzburg)
Generation What
Mag. Daniel Schönherr, SORA
Public Social Value
u. a. Univ.-Prof. in Dr. in Sonja Kretzschmar (Universität München)
Prof. Graham Murdock (Loughborough University)
Univ.Prof. Dr. Jens Lucht, Univ.Prof. Dr. Mark Eisenegger (Universität Zürich)
Der Auftrag: Bildung im digitalen Zeitalter
u. a. Prof. Dr. Hartmut Rosa, Universität Jena
Dr. in Maren Beaufort, ÖAW
Univ.-Prof. in Dr.in Katharine Sarikakis, Universität Wien
Prof. Dr. Bernhard Pörksen, Universität Tübingen
Der Auftrag: Demokratie
u. a. von Prof. Dr. Bernd Holznagel (Universität Münster)
Univ.-Prof. Dr. Christian Fuchs (University of Westminster)
Univ.-Prof. Dr. Stephen Cushion (Cardiff University)
PUBLIC VALUE DOKUMENTE
Gesetze und Regulative | Expert/innengespräch Kultur, Religion I Qualitätsprofile Fernsehen/Info | Fernsehen/Wissenschaft-Bildung-Service-Lebenshilfe | Radioprogramme | Fernsehen/Sport | Fernsehen/Unterhaltung
PUBLIC VALUE TEXTE
Quelle vertrauenswürdiger Informationen
Univ.-Prof. Dr. Dieter Segert, Texte 1
Medien-Unterhaltung als Service Public
Univ.-Prof. em. Dr. Louis Bosshart, Texte 12
Das Naserümpfen der Eliten
Mag. a Dr. in Karin Pühringer, Texte 11
Die komplexe Welt erklären
Dir. Uwe Kammann, Texte 4
Kultur im Fernsehen
Univ.-Prof. Dr. Hannes Haas, Texte 10
Nur was wirkt, hat Wert
Dir. Prof. Dr. Helmut Scherer, Texte 5
Österreichwert oder mehr Wert
Dr. Georg Spitaler, Texte 11
Welche Diversität für welchen Public Value?
Mag. a Dr. in Petra Herczeg, Texte 7
Zum Systemrisiko der Demokratie
Univ.-Prof. Dr. Kurt Imhof, Texte 3
Zwischen Auftrag und Kommerzialisierung
Univ.-Prof. Dr. Minas Dimitriou, Texte 11
Identität und Medien
Univ.-Prof. Dr. Karl Vocelka, Texte 3
Public Value
DDr. in Julia Wippersberg, Texte 2
Public Value als Wertschöpfungsbegriff?
Univ.-Prof. Mag. DDr. Matthias Karmasin, Texte 6
Channelling diversity
Univ.-Prof. in Dr. in Gunilla Hultén, Texte 13
Crisis or dismantlement?
Univ.-Prof. in Dr. in Isabel Fernández-Alonso und Dr. Marc Espin, Texte 13
Den öffentlichen Rundfunk entfesseln
Dr. Vinzenz Wyss, Texte 13
Eurovision and the „new” Europe
Univ.-Prof. in Dr. in Karen Fricker, Texte 14
Pluralism and public service media
Petros Iosifidis, Texte 13
The four horsemen of the post-broadcast era
Univ.-Prof. Dr.Marko Ala-Fossi, Texte 13
We are all Greeks
Univ.-Prof. in Dr. in Katharine Sarikakis, Texte 9
Auf dem Weg zum Publikum
Dr. Florian Oberhuber, Texte 8
Die Zukunft des Fernsehens
Dr. Alexander Wrabetz, Texte 8
TEXTE, DOKUMENTE UND STUDIEN ZUM ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN QUALITÄTSDISKURS (U.A.): zukunft.ORF.at