Der Dalai Lama – Religiöses und politisches Oberhaupt Tibets Inhaltsverzeichnis Einführung 1. Teil: Geschichte 1. 1. Der tibetische Buddhismus 1. 2. Der Dalai Lama: Eine Institution entsteht 1. 3. Dalai Lama und Panchen Lama – Einigkeit und Rivalität 2. Teil: Gegenwart 2. 1. Der 14. Dalai Lama – Seine Herkunft, sein Leben, seine Aufgabe 2. 2. Neue Heimat im Exil 2. 3. Gewaltfreiheit und Nichtverletzen – Die Ethik des Dalai Lama 2. 4. „Das stimmt mich hoffnungsfroh“ – Interview mit dem Dalai Lama 2. 5. Warum lieben die Deutschen den Dalai Lama? – Gastbeitrag von Franz Alt 3. Teil: Politik 3. 1. Der Dalai Lama und der chinesische Nachbar 3. 2. Der Dalai Lama und die internationale Politik 3. 3. Separatist – Feudalist – Weltverschwörer? Kritik am Dalai Lama und deren Substanz 3.4. Gastbeitrag von Erich Follath 4. Teil Perspektiven 4. 1. Die Zukunft des Dalai Lama 4. 2. Planspiele um die neue Inkarnation Anhang Zeittafel Literatur zum Thema
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Einleitung
Einleitung
Einführung Dabei macht er es den Chinesen leicht, denn seine Forderung nach Autonomie bewegt sich in dem Rahmen, den der kommunistische Patriarch Deng einmal abgesteckt hat: „Wir können über alles reden, nur nicht über die Unabhängigkeit“. Die Widersprüche zu vereinen, gehört zum Wesen des Dalai Lama. Wer in ihm nur einen „weisen, alten Mann“ sieht, wird ihm ebenso wenig gerecht wie diejenigen, die ihn allein als Kämpfer für Tibet betrachten. Und während andere Führer im Exil rasch vergessen werden, hat sein Leben in Indien seinen Einfluss eher noch gestärkt: „Religiöse Legitimation bedeutet auch politische Legitimation, und da muss man sagen, dass die Figur des Dalai Lama seit dem Exil an Gewicht gewonnen hat innerhalb der tibetischen Gemeinschaft. Der Dalai Lama, so wie er heute angesehen wird von der Mehrheit der Tibeter, ist viel höher geachtet als der Dalai Lama vor 1950 oder
auch der 13. Dalai Lama. Er verkörpert heute die tibetische Nation, er ist Symbol für so viele Dinge, die der letzte Dalai Lama nicht war. Man hat ja früher in Tibet sehr viel regionaler gelebt, man hat teilweise nicht einmal gewusst, dass es einen Dalai Lama gibt“, so Wangpo Tethong einer der wichtigsten Tibet-Aktivisten im Exil. Diese Sonderausgabe von Brennpunkt Tibet nähert sich dem Dalai Lama an. Sie beschreibt den historischen Werdegang der Institutionen, betrachtet das Leben und die Ethik des 14. Dalai Lama, untersucht seine politische Rolle und fragt nach den Perspektiven und Planspielen für die Zeit nach ihm. Ein Interview mit dem Dalai Lama sowie zwei Gastbeiträge von Franz Alt und Erich Follath, beide langjährige Weggefährten des Dalai Lama, runden das Bild ab.
S.H. der 14. Dalai Lama
Tibet ist ohne den Dalai Lama nicht zu verstehen. Die Verehrung, die ihm dort auch noch ein halbes Jahrhundert nach seiner Flucht entgegengebracht wird, und die Kraft, die er den Menschen in ihrem Widerstand gibt, sind für Angehörige anderer Kulturkreise schwer verständlich. Dabei ist der Dalai Lama unter den wichtigen religiösen Institutionen Tibets eine der jüngsten. Jünger ist nur noch der Panchen Lama, den der 5. Dalai Lama institutionalisiert hat, um seinen Lehrer zu ehren. Dalai Lama, ein mongolischer Begriff, wird zumeist mit „Ozean der Weisheit“ übersetzt, was aber die Tradition nicht trifft. Wörtlich übersetzt bedeutet der Name „Meeres-Lehrer“. Er lehnt sich damit an den mongolischen Herrschertitel „Dalai Yinqan“ an, was „Meeres-Kaiser“ bedeutet und die Universalität des mongolischen Machtanspruchs unterstreichen sollte. So wie der Kaiser in weltlichen Angelegenheiten von Meer zu Meer herrschte, so tat es das tibetische Oberhaupt im spirituellen Bereich. Treffender ist also die Bezeichnung „Lehrer des Weltmeeres“. Die Tibeter nennen ihn Kundun, was nichts anderes als „Anwesenheit“ oder „Präsenz“ bedeutet.
Tatsächlich ist der Dalai Lama heute so etwas wie ein Weltenlehrer. Seine Verehrung geht weit über seinen Kulturkreis hinaus. Auch außerhalb der buddhistischen Welt gilt er als der „weiseste lebende Mensch“, und viele Tausende strömen zusammen, wenn er eine Rede hält. Inzwischen fragen manche, ob seine Popularität noch zur Solidarität mit Tibet führt oder eher von der dortigen Situation ablenkt. Die Frage ist müßig; seine Popularität ist ungebrochen, und sie muss für die Sache Tibets genutzt werden. Niemand weiß das so sehr wie der Dalai Lama, und er trägt dem Rechnung. Da sein Reiseprogramm allmählich reduziert wird, die Einladungen aus aller Welt jedoch immer mehr werden und unmöglich alle erfüllt werden können, bevorzugt er Besuche bei Solidaritätsgruppen oder buddhistischen Zentren. Das versteht er ausdrücklich als Stärkung der Tibet-Bewegung. Dabei ist er in erster Linie kein Politiker, sondern ein buddhistischer Mönch. Als solcher ist sein Wissensdurst nahezu unerschöpflich. Über religiös-philosophische Fragen kann er stundenlang reden, während ihn die Politik schneller ermüdet. Und auch in Interviews zeigt er bei theologischen Fragen mehr Engagement. Der Politik stellt er sich, weil es um das Schicksal Tibets geht. S.H. der 14. Dalai Lama
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1. Geschichte
1. Geschichte
1. 1. Der tibetische Buddhismus Keine Persönlichkeit verkörpert eine Religion im öffentlichen Bewusstsein so sehr, wie der Dalai Lama den Buddhismus tut. In Europa und Amerika gilt er als der Repräsentant des Buddhismus schlechthin. Dabei wird leicht übersehen, dass der tibetische Buddhismus eher eine Nebenlinie dieser Religion ist, die zudem sehr spät entstanden ist, nämlich etwa eineinhalbtausend Jahre nach dem historischen Buddha. Dass der tibetische Buddhismus dennoch so populär ist, hängt wiederum mit der Faszination zusammen, die vom Dalai Lama ausgeht. Bisweilen verdeckt die Aufmerksamkeit, die der Person zukommt, sogar den Blick auf die Lehre, die er vertritt.
Siddharta Gautama Der Buddhismus stammt aus dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung und ging aus der hinduistischen Kultur hervor. Sein Stifter war Prinz Siddharta Gautama, der aus Lumbini im heutigen Nepal nahe der indischen Grenze stammt. Sein Geburtsjahr ist nicht eindeutig geklärt. Die südasiatische Tradition geht vom 8. Mai 544 aus, andere Wissenschaftler verlegen das Datum in das Jahr 563. Der Legende nach soll der Neugeborene bereits bei seiner Geburt angekündigt haben, dass er in diesem Leben die Erleuchtung finden würde.
Sein Vater, ein lokaler Fürst und Kriegsherr, hatte für seinen Sohn jedoch eine weltliche Karriere vorgesehen. Fern von allen Ablenkungen bereitete er ihn in der Abgeschiedenheit seines Palastes auf seine zukünftigen Aufgaben vor. Der junge Prinz war jedoch neugierig auf die Welt außerhalb seines goldenen Gefängnisses, und bei heimlichen Ausflügen begegnete er einem Greis, einem Kranken, einem Leichnam sowie einem Asketen. Dadurch wurde er mit Alter, Krankheit, Schmerz und Tod konfrontiert. Die Erfahrungen bewegten ihn so, dass er sich entschloss, sein sorgloses Leben hinter sich zu lassen und nach dem Sinn des Daseins zu suchen. Mit 29 Jahren, kurz nach der Geburt seines Sohnes Rahula, verließ Siddharta Gautama heimlich seine Familie und wanderte jahrelang auf der Suche nach Erlösung als Asket durch Nord-Indien. Doch nicht durch strenge Askese, sondern durch meditative Versenkung erreichte er sein Ziel. Unter einem Bodhi- (Feigen)baum im Gazellenhain von Sarnath bei Varanasi/Nord-Indien gelangte er schließlich in einer Vollmondnacht im Mai des Jahres 528 zur Erleuchtung. Noch am selben Ort hielt er seine erste Predigt vor fünf Gefährten, die ihn als Buddha (Erwachten) erkannten. Damit setzte er das Rad der Lehre in Bewegung, das heute symbolisch auf allen tibetischen Tempeln und Klöstern zu sehen ist. Anschließend zog er über 40 Jahre lang als Lehrer durch den Norden Indiens. Er begegnete Menschen aller Gesellschaftsschichten, Fürsten und Bauern, Priestern und Ausgestoßenen, Geldverleihern und Bettlern, Heiligen und Räubern, die gleichermaßen beeindruckt von ihm waren. Das hinduistische Kastenwesen lehnte er ab, und auch den diskriminierten Frauen gestand er die Möglichkeit zu, Erleuchtung zu erlangen. Im Jahre 480 entschlief er und ging ins Paranirvana ein, den Zustand des endgültigen Verlöschens. Buddhas Lehre ist streng genommen eine atheistische Religion, ohne einen Schöpfergott, denn die Frage nach dem Ursprung des Lebens hat er als irrelevant abgetan. Es gibt in der reinen Form auch keine höheren Mächte, keine göttliche Ordnung, keine Verheißung auf ein Paradies und somit auch keine höhere Instanz, vor der die Menschen Rechenschaft ablegen müssen. Sie sind allein ihren eigene Taten gegenüber verantwortlich, und damit schaffen sie sich ihre Realität. Das ist das Prinzip des Karma, das Prinzip von Ursache und Wirkung, das den Menschen im Kreislauf der Wiedergeburten hält, den es zu durchbrechen gilt.
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Die Grundlage der buddhistischen Lehre Die Vier Edlen Wahrheiten 1. Die edle Wahrheit vom Leiden: Alles Leben ist dem Leiden unterworfen. 2. Die edle Wahrheit von der Ursache des Leidens: Das Leiden resultiert aus den drei menschlichen Grundübeln Gier, Hass und Unwissenheit. 3. Die edle Wahrheit der Beendigung des Leidens: Der Mensch kann sich selbst aus dem Leid befreien, wenn er alle Bedürfnisse und alles Begehren aufgibt. 4. Die edle Wahrheit vom Pfad, der zur Beendigung des Leidens führt: Der Weg zur Befreiung von Leid, dem Eingang ins Nirwana, ist in der Lehre aufgezeichnet. Diese Lehre wird auch als „edler achtgliedriger Pfad“ bezeichnet. Er umfasst -rechte Anschauung, -rechte Gesinnung, -rechtes Denken, -rechtes Reden, -rechtes Streben, -rechtes Handeln, -rechtes Leben, -rechtes Sichversenken.
Der Buddhismus ist ausgerichtet auf ein Nirwana, einen Zustand, in dem alle Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte aufgehoben sind. Jeder ist jedoch für sich allein verantwortlich, dorthin zu gelangen. Bis heute ruht der Buddhismus auf drei Säulen: Buddha, Dharma und Sangha. Dharma meint die Lehre, die zunächst nur mündlich weitergegeben wurde. Erst Jahrhunderte nach Buddhas Tod wurde sie in der damaligen Gelehrtensprache Pali schriftlich niedergelegt. Sangha bedeutet die Mönchsgemeinschaft, die bereits zu Lebzeiten Buddhas entstanden ist. Seine fünf Gefährten bildeten die Keimzelle, die sich rasch vergrößerte. Umstritten war die Frauenfrage. Obwohl sich Buddha über die in seiner Zeit weit verbreitete Diskriminierung hinwegsetzte, tat er sich schwer, Frauen im Orden zuzulassen. Erst kurz vor seinem Tode entschloss er sich aufgrund der Fürsprache seines Lieblingsjüngers Ananda zu diesem Schritt. Bis heute ist die volle Ordination von Frauen im tibetischen Buddhismus nicht vorgesehen. Die Nonnen kommen über die Stufe von Novizen nicht hinaus. Etwa um die Zeitenwende spaltete sich die buddhistische Bewegung in zwei große Schulen, Theravada (oder Hinayana) und Mahayana. Die Theravada-Schule – auch „kleines Fahrzeug“ genannt, ein Begriff, den sie selbst jedoch ablehnt – weist ihren Anhängern den individuellen Weg zur Erleuchtung. Sie ist vor allem in den südasiatischen Ländern Sri Lanka, Birma (Myanmar), Thailand, Laos und Kambodscha verbreitet. Die Mahayana-Schule („großes Fahrzeug“) will die Erleuchtung für alle fühlenden Wesen. Aus ihr entwickelte sich die Tradition der Bodhisattvas, Buddha-Wesen, die den Zustand der Erleuchtung erreicht haben, jedoch darauf verzichten, ins Nirwana einzugehen, bis alle noch nicht erleuchteten Wesen auch auf diesen Weg gebracht worden sind. Die Bodhisattva-Tradition wurde vor allem im tibetischen Buddhismus sehr wichtig. Die Mahayana-Schule ist im ost- und südostasiatischen Bereich wie Vietnam, China, Japan, Korea sowie dem Himalaya verbreitet.
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1. Geschichte
Buddhismus in Tibet Vom Mahayana spaltete sich in Indien noch der Vajrayana-Buddhismus ab, der stark von der hinduistischen Tantra-Tradition beeinflusst ist. Zu seiner Praxis gehören neben Meditation und Visualisierungsübungen auch das Rezitieren von Mantras sowie Rituale, Einweihungen und Yoga. Dabei besteht ein enges SchülerLehrerverhältnis.
Mönche beim Studium
Erst im 7. nachchristlichen Jahrhundert kam der Buddhismus nach Tibet, und er benötigte weitere Jahrhunderte, um dort zur beherrschenden Religion zu werden. Die erste historisch nachweisbare Person, die Buddhas Lehre auf das Dach der Welt brachte, war die nepalesische Prinzessin Brikuti Devi, die 637 den tibetischen König Songtsen Gampo heiratete. Vier Jahre später ehelichte der große König, der die Stadt Lhasa gründete, die chinesische Prinzessin Wen Cheng, ebenfalls eine Buddhistin. Damit gab es am buddhistischen Königshof zwei Traditionen, den indischen Vajrayana-Buddhismus und den chinesischen Chan- oder Zen-Buddhismus. Beide Schulen rivalisierten um die Gunst des Königs und des Adels, was nicht dazu beitrug, ihnen eine Basis in der Bevölkerung zu verschaffen. Dem bereitete König Trisong Detsen in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ein Ende. Er war der mächtigste aller tibetischen Könige, unter seiner Herrschaft hatte das Reich die größte Ausdehnung. Der tibetische Einfluss reichte von Zentralasien bis ins chinesische Tiefland und an den Golf von Bengalen. Gleichzeitig war Trisong Detsen ein großer Förderer des Buddhismus. Im ersten Kloster des Landes, Samye, berief er von 792 – 794 ein großes Konzil ein, auf dem verbind-
1. Geschichte
lich festgelegt wurde, welche der buddhistischen Schulen für Tibet Geltung haben sollte. Der Vajrayana-Buddhismus wurde dort von dem großen Gelehrten Padmasambhava (oder Guru Rinpoche) vertreten, der aus dem heutigen Kaschmir stammte. Seine Persönlichkeit und Gelehrsamkeit überzeugte das Konzil, so dass sich die indische Schule durchsetzte, während der chinesische Einfluss für knapp ein Jahrtausend zurückgedrängt wurde. Während jener Zeit war die vorbuddhistische Bön-Religion in der Bevölkerung noch fest verankert. Sie vereinte alte tibetische Naturreligionen, aber auch Einflüsse aus der Lehre Zarathustras sowie des Manichäismus. Beide stammen aus dem iranischen Kulturkreis und beinhalten ausgeprägte dualistische Vorstellungen. Danach wird die menschliche Existenz durch den Kampf zwischen Gut und Böse bestimmt. König Trisong Detsen und Padmasambhava sorgten dafür, dass der Buddhismus in Tibet Fuß fasste. Der Vajrayana-Buddhismus mit seinen magischen Ritualen war den Tibetern recht vertraut, und Padmasambhava integrierte die alten Gottheiten und Riten in die Lehre Buddhas, statt sie zu bekämpfen. Zudem gründete er den Orden der Nyingmapa, „der alten Schule“. Dadurch erhielt er viel Zulauf, doch erst ab dem 11. Jahrhundert setzte sich der Buddhismus mit der sog. „zweiten Verbreitung der Lehre“ endgültig durch. Zuvor schwächten Kämpfe zwischen Bön und Buddhisten das Land, die zum Zerfall des Königreichs führten. Der letzte tibetische König, der Bön-Anhänger Langdarma, war 842 von einem buddhistischen Mönch getötet worden. Verantwortlich für den endgültigen Siegeszug des Buddhismus war erneut ein Missionar aus Indien, Atisha, der vom westtibetischen Guge aus den Buddhismus zur alles dominierenden Religion und Kultur in Tibet machte. Als Basis seiner Tätigkeit schuf er einen neuen Orden, die Kadampa, und ließ im ganzen Land Klöster errichten. Das berühmteste unter ihnen ist Nethang, 50 km südwestlich von Lhasa gelegen. Dort starb er im Jahre 1054, und dort befindet sich auch sein Grab. Im Gegensatz zu den Nyingmapa mit ihren magischen Praktiken legten die Kadampa mehr Wert auf das Studium der Mahayana-Philosophie. Nur kurz nach Atishas Tod gründete der erste bedeutende tibetische Lehrer, Guru Marpa, die Kagyüpa-Schule, die ähnlich wie die Nyingmapa viel Wert auf Yoga und Meditation legte. Im 12. Jahrhundert spaltete sie sich in vier Hauptlinien. Die letzte große Schulgründung erfolgte im späten 11. Jahrhundert. Die Sakyapa, die eher den Kadampa nahe standen, steuerten wichtige Beiträge zur buddhistischen Logik und Dogmatik bei. Mit Unterstützung weltlicher Fürsten übernahmen sie Mitte des 12. Jahrhunderts die Vorherrschaft in Tibet. Diese vier buddhistischen Schulen und die von ihnen gegründeten zahlreichen Klöster bildeten für Jahrhunderte die Basis der tibetischen Gesellschaft.
Die Reinkarnationslehre Die Reinkarnationslehre, so wie der tibetische Buddhismus sie lehrt, gehört zu den Besonderheiten der Tradition. Sie geht auf die Schule der Kagyüpa zurück. Zwar zählt der Glaube an eine Wiedergeburt bis zum Eingang in das Nirwana zum Fundament des Hinduismus wie des Buddhismus, doch selbst fortgeschrittene Yogis in Indien haben keine Vorstellung von ihren vergangenen Inkarnationen. Anders der tibetische Buddhismus, in dem große Lehrer und Weise auf eine geistige Ahnenreihe in Gestalt ihrer früheren Inkarnationen zurückblicken. Sie gelten als Verkörperung eines Buddha oder eines Bodhisattva. In der materiellen Welt verkörpern sich diese Wesen in einem bestimmten Amt oder einer Position. Stirbt der Amtsinhaber, bleiben das Amt und die damit verbliebene Inkarnationsreihe erhalten, der Verstorbene wird in dem Körper eines Kindes wiedergeboren und muss von hohen Geistlichen aufgefunden werden. Manchmal hat er sogar konkrete Hinweise auf Ort und Zeit seiner Inkarnation hinterlassen. Das Reinkarnationskonzept betont also die geistige Kontinuität im Gegensatz zur europäischen Tradition, wo auf die Familienabstammung und Ahnenreihe großer Wert gelegt wird. Der Dalai Lama gilt als Inkarnation des Bodhisattva Avalokiteshvara, des unendlichen Mitgefühls.
Kublai Khan
Der Ruf der Sakyapa, besonders gelehrsam und glaubensfest zu sein, erreichte auch die Mongolen, die damals führende Macht in Zentralasien. 1247 bat ihr Kaiser Göden den Abt des Sakya-Stammklosters, Pandit Künga Gyaltsen, an seinen Hof nach Karakorum. Dieser „Bitte“ konnte sich der mächtigste Mann Tibets nicht widersetzen. Pandit Künga Gyaltsen legte den Grundstein zur buddhistischen Missionierung der Mongolen. Gödens Nachfolger Kublai Khan ernannte den Neffen des großen Abtes, Drogen Phagpa Lodrö, zum Oberhaupt des buddhistischen Klerus im gesamten mongolischen Reich sowie zum Herrscher über Tibet. Reale weltliche Macht konnte der so Geehrte jedoch nicht ausüben, denn Drogen Phagpa Lodrö blieb die meiste Zeit am mongolischen Kaiserhof, den Kublai Khan nach Peking verlegte. Dort entwickelte der Tibeter mit seinen Gelehrten unter anderem eine mongolische Schrift, die sich am tibetischen Vorbild orientierte. Kublai Khan ernannte ihn schließlich zum „Dishi“, zum „kaiserlichen Lehrer“, ein Titel, der als Vorläufer des Dalai Lama angesehen werden kann. Dank der mongolischen Unterstützung konnten die Sakyapa ihre Vorherrschaft in Zentral-Tibet ausbauen. Damit begann eine Verquickung von weltlicher und religiöser Macht, die Tibet für Jahrhunderte prägen sollte. Zwei Mönche der Gelugpaschule
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1. 2. Der Dalai Lama: Eine Institution entsteht Gegen Ende seines Lebens gründete Tsongkhapa im Raum Lhasa die drei Klöster Drepung, Sera und Ganden, die bis zur chinesischen Besetzung die Säulen der tibetischen Gesellschaft bildeten. Sie waren Stätten der spirituellen Praxis, der Kontemplation, der Lehre und der Forschung. Außerhalb der Klöster gab es keine Möglichkeit zur Ausbildung. In seiner Blütezeit beherbergte Drepung, das größte, 10.000 Mönche. Die Äbte dieser Klöster gehörten zu den mächtigsten Männern im Staat. Bei seinem Tode 1419, war sein Reformwerk gefestigt und seine Nachfolge geregelt. Von den existierenden Schulen schlossen sich die Kadampa der Reform an und gingen in den Gelugpa auf.
Der Siegeszug der Tugendhaften Die Erfolge der Gelugpa blieben auch den Mongolen nicht verborgen. Zwar herrschten sie nicht mehr über China, aber sie waren noch immer eine wichtige Macht in Zentralasien. Die buddhistische Missionierung war ins Stocken geraten, und die alten schamanistischen Traditionen drängten die Lehre des Erleuchteten zurück.
Dem wollte Fürst Altan Khan entgegenwirken. Deshalb erneuerte er das Bündnis mit den Tibetern. 1577 rief er den Abt von Drepung, Sonam Gyatso, zu sich. Er sollte die Mongolen wieder zum Buddhismus führen. Im Gegenzug bot Altan Khan seine militärische Unterstützung in den internen Auseinandersetzungen an, die Tibet seit Jahrhunderten nicht zur Ruhe kommen ließen. Sonam Gyatsos Mission war erfolgreich. Nicht nur der mongolische Hof, auch die Mehrheit der Bevölkerung bekannte sich innerhalb weniger Jahrzehnte zum Buddhismus. Tief beeindruckt verlieh Altan Khan dem Tibeter den Titel Dalai Lama, was zumeist mit „Lehrer des Weltmeeres“ oder „Ozean der Weisheit“ übersetzt wird. Gemäß der tibetischen Tradition wurde die neue Institution gleich in eine Inkarnationslinie eingebunden, um ihre Autorität zu stärken. Sonam Gyatsos beide Vorgänger als Äbte von Drepung erhielten den Titel nachträglich. Der 1. Dalai Lama wurde demnach Gedun Drubpa, Tsongkhapas Lieblingsneffe. Streng genommen ist der Dalai Lama gar nicht das religiöse Oberhaupt der Tibeter, noch nicht einmal der Gelugpa-Schule, doch nachdem er im 17. Jahrhundert zum politischem Oberhaupt geworden war, wurde er im Laufe der Zeit auch als religiöses betrachtet. Das Gelugpakloster Tashilunpo-
Die Auffindung eines Dalai Lama
Tsongkhapa
Stirbt ein Dalai Lama, müssen die höchsten geistlichen Autoritäten seine neue Inkarnation finden. Dabei hat der Verstorbene zumeist Hinweise auf die Gegend und die Zeit hinterlassen, in der er sich wieder inkarnieren will. Die mit der Suche beauftragten Äbte bitten um Träume und Visionen, die ihnen weiterhelfen. Zudem befragen sie das Staatsorakel. Erkennen sie in ihren Träumen eine eindeutig zu identifizierende Erscheinung wie einen See, einen Berggipfel oder ein bestimmtes Kloster, wissen sie, dass sie in dieser Gegend suchen müssen. Um keinen Verdacht zu erwecken, kleiden sie sich zumeist als Bettelmönche. In der richtigen Umgebung angekommen, erkundigen sie sich nach allen Jungen, die in der fraglichen Zeit geboren wurden, denn die Tibeter wollen immer mehrere Kandidaten zur Auswahl haben, die sie dann einer strengen Prüfung unterziehen. Die Prüfungen dauern Monate, und sie umfassen das Verhalten der Kandidaten ebenso wie körperliche Merkmale. Am Ende
Gegen die Säkularisierung des Glaubens wandte sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts der große Reformator Tsongkhapa, „der Mann aus dem Zwiebeltal“. Er hatte 1357 im Osten der Provinz Amdo das Licht der Welt erblickt. Schon früh zeigte er ein großes religiöses Interesse. Die Kluft, die zwischen Buddhas Lehre und der Praxis vieler Mönche klaffte, befremdete ihn jedoch, und so ging er mit sechzehn Jahren auf Wanderschaft. Gleichzeitig verfasste er zornige Anklagen gegen den Missbrauch des Buddhismus durch seine Würdenträger. Dabei stieß er vor allem unter den jungen Mönchen auf große Zustimmung. Tsongkhapas Botschaft lautete: „Zurück zu den buddhistischen Wurzeln!“ Auf dieser Basis gründete er die „Schule der Tugendhaften“, auf tibetisch Gelugpa. Wie der Name verrät, bestimmten strenge Disziplin und eine Abkehr von weltlichen Dingen die Praxis des neuen Ordens. Die Beachtung der 253 von Buddha verfügten Mönchsregeln, darunter das Zölibat und regelmäßige Fastenübungen, waren selbstverständlich, schwarze Magie und Okkultismus wurden streng verboten; bei alledem ging Tsongkhapa mit gutem Beispiel voran, was den Zulauf für die neue Schule noch verstärkte.
muss der als Dalai Lama identifizierte Knabe die 112 Merkmale eines Buddha aufweisen, 32 Hauptmerkmale und 80 Nebenmerkmale. Er muss bescheiden, aber nicht schüchtern sein, Anzeichen von Gier sind verpönt, Führungsqualitäten jedoch gefragt. Wurden den Kandidaten beispielsweise Süßigkeiten gezeigt – ein seltenes Vergnügen im alten Tibet – durften sie sich nicht gleich darauf stürzen, denn Gier ist eines der Grundübel im Buddhismus. Darüber hinaus müssen die Kandidaten Gegenstände des Toten gegenüber ähnlich erscheinenden eindeutig identifizieren, und sie sollten die Personen aus dessen Umgebung erkennen. Hatte ein Junge alle Prüfungen bestanden, wurde noch das Staatsorakel zur Bestätigung angerufen. War auch diese Hürde genommen, wurde der Junge in einer feierlichen Prozession nach Lhasa geführt, wo seine lange, harte Ausbildung begann. Für die Tibeter steht außer Frage, dass ein so hoch entwickeltes Wesen wie der Dalai Lama souverän entscheiden kann, wo und wann es wiedergeboren wird, und dass es sich bereits bei seinem Tode darüber bewusst ist.
Sonam Gyatso
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1. Geschichte
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Der Große Fünfte
Der Potalapalast in Lhasa
Der 1. Dalai Lama, Gedun Drubpa, der von seinem Amt noch nichts wusste, galt bereits als Verkörperung des Avalokiteshvara, und nach seiner Inkarnation war gezielt gesucht worden. Er stammte aus einer armen Nomadenfamilie, war aber eine sehr gebildete Persönlichkeit. Bis ins hohe Alter widmete er sich den Studien. Berührungsängste gegenüber den anderen Schulen besaß er keine, denn unter seinen Lehrern befanden sich Meister aller buddhistischen Richtungen. Insgesamt reiste Gedun Drubpa viel. Darin folgten ihm einige seiner späteren Inkarnationen, vor allem die jetzige, der 14. Dalai Lama. So verbreitete er die Lehre seines Onkels Tsongkhapa weit über den Raum Lhasa hinaus. Er zeigte großes organisatorisches Talent und gründete unter anderem das Kloster Tashi Lhunpo in Shigatse. Seine Wiedergeburt, der 2. Dalai Lama Gedun Gyatso, wurde zunächst Abt von Tashi Lhunpo, dann von Drepung und schließlich auch noch von Sera. Er stiftete Klöster bis an die Westgrenze des tibetischen Siedlungsgebiets und festigte den neuen Orden. Zu seinen Schülern zählten zahlreiche Adelige, die den Gelugpa im Gegenzug Ländereien und Vermögen zur Verfügung stellten. Noch mehr als sein Vorgänger tat er sich als Autor religiöser und weltlicher Texte hervor. Bereits mit 43 Jahren verfasste er eine Autobiografie – 24 Jahre vor seinem Tod. Gedun Gyatso war auch ein kluger Politiker. Bei Klostergründungen in Gebieten, die noch nicht zum Einflussbereich der Gelugpa gehörten, verstand er es, Fürsten für sich zu gewinnen. Sonam Gyatso, der Erste, der den Titel zu seinen Lebenszeiten trug, verbrachte die meiste Zeit am Hof der Mongolen, sein Nachfolger starb bereits mit 27 Jahren.
Auf ihn folgte eine Inkarnation, die von den Tibetern bis heute als „der Große Fünfte“ bezeichnet wird. Unter Ngawang Lobsang Gyatso, so sein Mönchsname, wurden die Gelugpa endgültig zur dominierenden Schule in Tibet. Der 5. Dalai Lama legte damit den Grundstein für die tibetische Gesellschaft, wie sie bis zur chinesischen Invasion von 1949/50 Bestand hatte. Bei seinem Amtsantritt beschränkte sich die weltliche Macht der Gelugpa ungeachtet vieler Klostergründungen auf Zentral-Tibet um Lhasa. Im Osten des Landes verzeichnete die Bön-Religion neuen Zulauf, im Westen schauten die Sakyapa und Kagyüpa misstrauisch auf den wachsenden Einfluss der aufstrebenden Reformbewegung. Es waren die Mongolen, die den Gelugpa schließlich zum Sieg über ihre Rivalen verhalfen. Mit 20 Jahren traf der 5. Dalai Lama den Mongolenherrscher Gushri Khan, der von dem jungen Mann höchst beeindruckt war. Er unterstützte ihn deshalb auf seine Art. Im frühen 17. Jahrhundert besiegte Gushri Khan das Heer der rivalisierenden Bön-Fürsten im Osten. 1642 kam es zur Entscheidungsschlacht in Zentral-Tibet. Eine Armee der Tsang-Fürsten, die mit den Kagyüpa verbündet waren, wurde entscheidend geschlagen. Damit war die Vorherrschaft der Gelugpa mit dem Dalai Lama als Oberhaupt über Tibet gesichert. Drei Jahre nach seinem militärischen Sieg ließ der Dalai Lama das Bauwerk errichten, das heute das bekannteste Symbol Tibets ist und von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt wurde: den Potala-Palast. Er diente bis 1959 als Wintersitz des Oberhauptes. Das
Die Inkarnationsreihe der Dalai Lamas im Überblick 1. Gedun Drubpa (1391 – 1474) 2. Gedun Gyatso (1475 – 1542) 3. Sonam Gyatso (1543 – 1588) 4. Yonten Gyatso (1589 – 1616) 5. Lobsang Gyatso (1617 – 1682) 6. Tsangyang Gyatso (1682 – 1706) 7. Kelsang Gyatso (1708 – 1757) 8. Jamphel Gyatso (1758 – 1804) 9. Lungtok Gyatso (1805 – 1815) 10. Tsultrim Gyatso (1816 – 1837) 11. Khedrup Gyatso (1838 – 1856) 12. Trinley Gyatso (1856 – 1875) 13. Thupten Gyatso (1876 – 1933) 14. Tenzin Gyatso (geb. 1935)
Gebäude mit seinen mehr als 1.000 Räumen überragt hoch heute die tibetische Hauptstadt. Es erstreckt sich über eine Länge von 420 und eine Höhe von 170 Metern und bezeugt die weltliche Macht, die das spirituelle Oberhaupt der Tibeter auch ausgeübt hat. 1651 lud der kurz zuvor an die Macht gekommene Kaiser der mandschurischen Qing-Dynastie den Dalai Lama nach Peking ein, wo er als Staatsgast und nicht als Provinzfürst empfangen wurde, denn China erhob damals keine Ansprüche auf Tibet. Der hochgebildete Dalai Lama zeigte auch ein großes Interesse an der indisch-hinduistischen Philosophie und empfing mit Vorliebe Gelehrte aus dem Süden. Hierin zeigt sich ebenfalls eine direkte Verbindungslinie zur heutigen Inkarnation, die nicht nur in Indien Zuflucht gefunden hat, sondern auch die indischen Wurzeln der buddhistischen Lehre betont. Schließlich tat sich der 5. Dalai Lama als vielseitiger Autor hervor. Zu seinen Werken zählten geschichtliche, philosophische und theologische Ausführungen sowie eine Autobiographie. Während seiner Regentschaft wurde Lhasa zum Anziehungspunkt für Gelehrte und Handelsreisende aus ganz Asien. Neben den Mongolen fanden sich dort Inder, Chinesen, nepalische Newar und sogar Armenier ein. Auch die ersten Europäer, die Jesuiten-Patres Johann Grueber und Albert d’Orville, erreichten die tibetische Hauptstadt, als dort der Große Fünfte regierte.
der 5. Dalai Lama
Der grosse 5. Dalai Lama
Die auf den „Großen Fünften“ folgenden Inkarnationen konnten nicht solche Akzente setzen. Der 6. setzte sich sogar über die Mönchsgelübde hinweg und machte aus seiner Vorliebe für Frauen und Alkohol keinen Hehl. Er wurde deshalb seines Amtes enthoben und in die Verbannung geschickt, wo er nach kurzer Zeit starb. Der 7. und 8. Dalai Lama waren hohe Gelehrte und produktive Autoren, jedoch ohne politische Ambitionen. Die 9., 10., 11., und 12. Inkarnation starben als Kinder oder junge Erwachsene, ohne ihr Amt ausgefüllt zu haben. Um die frühen Tode ranken sich viele Gerüchte.
Die Dachterassevom Potala-Palast
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China auf dem Dach der Welt Die Chinesen nutzten die politisch instabile Zeit nach dem Tod des 5. Dalai Lama, um nach fast einem Jahrtausend der Abwesenheit wieder Ansprüche auf das Dach der Welt anzumelden. Tragischerweise wurden sie von den Tibetern dazu sogar ermutigt. Die Mongolen, die alten Verbündeten der Tibeter, hatten sich immer mehr zu Despoten gewandelt, die Klöster plünderten und maßgeblichen Einfluss auf die Wahl des Dalai Lama nahmen. Um sie zu besiegen, benötigten die Tibeter Unterstützung, und die fanden sie beim Qing-Kaiser in Peking. 1720 vertrieb ein tibetischchinesisches Truppenkontingent die Mongolen vom Dach der Welt. Damit war jedoch die Saat für einen neuen Konflikt gelegt, der das Schicksal Tibets auf tragische Weise bis in die Gegenwart bestimmt. Der Qing-Kaiser in Peking betrachtete sich nicht als Erfüllungsgehilfe der Tibeter, sondern erhob eigene Ansprüche auf Tibet. Zwei Ambane, Gesandte des Kaiserhofs, vertraten bis 1911 die chinesischen Interessen in Lhasa. Auch die rätselhaften frühen Tode der 9. – 12. Inkarnationen des Dalai Lama werden von vielen Tibetologen mit den Qing in Verbindung gebracht, die dadurch ein Machtvakuum erhalten wollten, in dem sie ihren Einfluss ausweiten konnten. Möglich ist jedoch auch, dass hohe tibetische Beamte oder die Regenten ihre Hand im Spiel hatten. Die zeitgenössischen Quellen geben dazu keine verlässliche Auskunft.
Der Große Dreizehnte Erst unter dem 13. Dalai Lama endete die Epoche der Unsicherheit und Instabilität. Im Zuge seiner Ausbildung entwickelte er, wie viele seiner Vorgänger, ein größeres Interesse an geistlichen als an weltlichen Themen. Deshalb bat er darum, nicht schon mit 18 Jahren die Regierungsgeschäfte übernehmen zu müssen, sondern zunächst seine Ausbildung abschließen zu dürfen. Seine bedächtige Art zeigte sich auch darin, dass er erst mit 19 Jahren seine vollen Mönchsgelübde ablegte; später als die meisten anderen Inkarnationen. Politisch hielt sich der Dalai Lama zurück, während sein Land immer mehr in Machtkämpfe zwischen Chinesen, Briten und Russen verstrickt wurde. Er fühlte sich zu unerfahren für die Politik, doch die Regierung drängte ihn. Ein Spruch des Staatsorakels zerstreute schließlich seine Zweifel. Kurz nach seiner Ordination zum Mönch übernahm er das Amt des Staatsoberhaupts. Seine zunächst friedliche Regierungszeit endete 1904. Aufgeschreckt von der Nachricht, Tibet würde sich mit Russland verbün-
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1. Geschichte
den, fiel ein Kontingent der britischen Kolonialarmee unter Oberst Francis Younghusband in Tibet ein und ereichte am 4. August die tibetische Hauptstadt –ohne auf den Dalai Lama zu treffen. Der war zunächst in die Mongolei geflohen und dann über Amdo nach Peking. Dort erreichten ihn überraschende Nachrichten, dass sich die Briten schon wieder zurückgezogen hatten. Sie hatten sich darauf beschränkt, der Regierung einen Vertrag aufzuzwingen, in dem festgelegt wurde, dass allen ausländischen Mächten der Zutritt nach Tibet versperrt blieb. Der Dalai Lama entschloss sich deshalb, in seine Hauptstadt zurückzukehren. Sein Aufenthalt jedoch war einmal mehr nur von kurzer Dauer. Nur ein Jahr später begab er sich erneut auf die Flucht, diesmal vor den Chinesen. Die Qing-Dynastie wollte ihren Machtanspruch auf Tibet noch einmal bekräftigen und entsandte deshalb neue Truppen nach Lhasa. Vor ihnen suchte der Dalai Lama Zuflucht im indischen Darjeeling, wo er zum ersten Mal die englische Verwaltung kennenlernte. Er war sehr beeindruckt von dem, was er sah. Seine Erfahrungen sollten seine Herrschaft über Tibet entscheidend prägen. Auch dieses Exil währte nicht lange, denn am 12. Februar 1912 dankte der letzte Qing-Kaiser, der sechsjährige Knabe Pu Yi, ab, und in China brach ein neues Zeitalter an. In Lhasa vertrieben tibetische Truppen die letzten Chinesen, und der Dalai Lama konnte erneut in seine Heimat zurückkehren.
Notwendige Reformen Seit 1913 war Tibet ein unabhängiger Staat mit den äußeren Insignien wie Flagge und Hymne. Allerdings versäumte es der 13. Dalai Lama, sich um die internationale Anerkennung für den neuen Staat zu bemühen. Das Land schottete sich stattdessen von der Außenwelt ab. Innenpolitisch zeigte sich der Dalai Lama dagegen Reformen und Neuerungen gegenüber sehr aufgeschlossen. Er reduzierte den aufgeblähten Beamtenapparat, straffte die Verwaltung, beschnitt die Macht der gefürchteten Mönchspolizei, schuf eine von Klerus und Adel unabhängige Polizeitruppe und ließ Post- sowie Telegraphendienste errichten. Zudem verbot er die Todesstrafe und kurbelte mit einer Währungsreform die Wirtschaft an. Eines seiner ambitioniertesten Projekte war der Versuch, das Bildungsmonopol der Klöster im Lande zu brechen. Die etwa 6.000 Klöster und Tempel, in denen gut eine halbe Million Mönche und einige zehntausend Nonnen lebten, waren die unumstrittenen geistigen Zentren Tibets, und sie besaßen auch das Bildungsmonopol, über das sie eifersüchtig wachten. Der Versuch, ein weltliches Schulsystem aufzubauen, rief ihren vehementen Widerstand hervor. Dennoch konnte 1922 in Gyantse eine „englische Schule“, errichtet werden. Dort lebten seit dem Feldzug von Younghus-
S.H. der 13. Dalai Lama mit engen Vertrauten
band relativ viele Engländer, die Handel mit Indien trieben. Beim Adel war die neue Institution äußerst beliebt, denn sie sahen darin eine Chance, die klösterliche Macht einzudämmen. Zudem bot die Schule einen fundierten Unterricht in Naturwissenschaft und Sprachen. Doch schon nach vier Jahren scheiterte die erste Bildungsreform der tibetischen Geschichte. Der Klerus hörte nicht auf, gegen die Schule zu agitieren. Da diese auch von den Engländern unterstützt wurde, hatten die Mönche ein für den Dalai Lama gewichtiges Argument zur Hand: Durch die Schule würde Tibet ausländischen Einflüssen geöffnet, ein Vorwurf, der beim Dalai Lama Gehör fand. Im Sommer 1926 veranstaltete die Schule ein Fußballturnier. Darin sahen die Hüter der alten Ordnung einen besonderen Frevel. Während der Spiele zog ein heftiges Unwetter mit Hagel und Sturm herauf. Dies deutete der Klerus als Zeichen, dass die Götter der Schule zürnten, und damit erreichten sie ihr Ziel: Die Schule musste schließen. Dass sich der 13. Dalai Lama dennoch häufig gegen die einflussreichen Äbte und den Adel wandte, hängt mit den Besonderheiten der tibetischen Strukturen zusammen. Der Dalai Lama war ein eigenständiger Machtfaktor, und seine Rolle macht es fragwürdig, das alte Tibet pauschal als „Feudalismus“ zu bezeichnen. Zum Feudalismus gehört die vererbbare Macht, eine Familiendynastie, die ihr Erbe an die nächste Generation weitergibt. In Tibet kannte aber nur der Adel, die schwächste der drei Machtebenen, die vererbbare Macht. Die Klöster, deren Äbte und Mönche sich in der Regel an das
Zölibat hielten, praktizierten diese Art der Kontinuität nicht. Noch mehr fiel der Dalai Lama aus dem Rahmen. Da er bereits als Kleinkind in sein Amt eingeführt wurde, wusste der Klerus nie so genau, ob er sich in seinem Sinne entwickeln würde. Die Geschichte hat gezeigt, dass auch die Erziehung nicht ausgereicht hat, um den Dalai Lama zu einem bloßen Werkzeug des Klerus zu machen, zumal auch die Geistlichkeit untereinander zerstritten war. Wenn der Dalai Lama eine starke Persönlichkeit war, und er das Glück hatte, nicht in jungen Jahren zu sterben, konnte er eigene Impulse geben, denn er war niemandem verpflichtet, auch dem Adel nicht. Nur zwei der bislang 14 Inkarnationen stammten aus adeligen Familien. Die meisten erblickten weit entfernt von der Hauptstadt in einfachen Bauernfamilien das Licht der Welt. In seinen letzten Lebensjahren zeigte sich der 13. Dalai Lama Neuerungen gegenüber weniger aufgeschlossen, was den Vertretern der Tradition Aufwind gab. In seinem Testament malte er ein düsteres Bild von der Zukunft seines Landes: „Unter Umständen werden hier, im Zentrum von Tibet, Religion und Regierung gleichermaßen von außen wie innen angegriffen. Wenn wir nicht unser Land beschützen, werden der Dalai und Panchen Lama, der Vater und Sohn, und alle verehrten Hüter der Wahrheit verschwinden und vergessen werden. Mönche und ihre Klöster werden vernichtet. Die Herrschaft des Gesetzes wird geschwächt. Alle Menschen werden von großem Elend und Schuld ergriffen, die Tage und Nächte voll Mühsal werden nur langsam vorbeigehen.“ Die konservativen Kleriker sahen sich durch die Warnung in ihrer Meinung bestätigt, dass alle Neuerungen bekämpft werden mussten. An Gefahr aus dem benachbarten China dachte kaum jemand. Am 17. Dezember 1933 starb der 13. Dalai Lama im Alter von 57 Jahren. Lhasa verfiel in Agonie, die so lange andauerte, bis die Nachricht von der Wiedergeburt die Hauptstadt erreichte. 19 Monate später erblickte im äußersten Nordosten Tibets der 14. Dalai Lama das Licht der Welt.
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1. Geschichte
1. Geschichte
1. 3. Dalai Lama und Panchen Lama – Einigkeit und Rivalität Lama die letzte Autorität für die Anerkennung des Panchen Lama und umgekehrt. Das Durchschnittsalter des Panchen Lama lag jedoch mit 59 Jahren deutlich über dem des Dalai Lama, der im Schnitt nur 40 Jahre alt wurde. Dadurch verschob sich die Altersdifferenz, und ab dem 12. Dalai Lama Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie etwa gleich alt. Zwischen dem 13. Dalai Lama und dem sieben Jahre jüngeren 9. Panchen Lama brach die Rivalität offen aus. Auslöser waren Reformvorhaben des Dalai Lama, in deren Zuge auch die Ländereien des Panchen Lama und seines Klosters besteuert werden sollten. Da sich der Panchen Lama durch den Dalai Lama dominiert fühlte, begab er sich 1923 in die Mongolei und später nach China. Erst nach dem Tode des Dalai Lama 1933 war er bereit, in seine Heimat zurückzukehren, doch starb er auf der Reise.
Respekt und Verbundenheit
Der 10. Panchen Lama
Eng mit dem Dalai Lama verbunden ist eine weitere Autorität innerhalb der Gelupga-Hierarchie, der Panchen Lama. Panchen ist die Abkürzung von Pandita Chenpo (großer Gelehrter). Bisweilen wird er auch als Panchen Rinpoche (ehrwürdiger Gelehrter) bezeichnet. Der 5. Dalai Lama hat diese Institution geschaffen, um damit seinen Lehrer Lobsang Chokyi Gyaltsen zu ehren, den Abt des Klosters Tashi Lhunpo. Wie beim Dalai Lama selbst, wurde der Geehrte gleich in eine Inkarnationslinie eingereiht, denn Lobsang Chokyi Gyaltsen galt als Wiedergeburt eines Abtes aus dem Kloster Ensa in West-Tibet, dessen Liniengründer einer der Lieblingsjünger Tsongkhapas war. Eingedenk seiner Vorläufer war Lobsang Chokyi Gyaltsen bereits der 4. Panchen Lama. Wenn ein Schüler – wie bedeutend er auch sein mag – seinen Lehrer durch einen Titel ehren will, muss dieser über seinem eigenen stehen. Da der Dalai Lama die Inkarnation des Bodhisattva Avalokiteshvara ist, wurde der Panchen Lama zur Verkörperung des Buddha Amithaba, des Buddha des unendlichen Lichts. In der tibetischen Tradition gelten sie als Gyalwa Yabse – das siegreiche Duo Vater und Sohn. Dabei nahm der Dalai Lama, unabhängig von seinem Alter, stets die Rolle des Vaters ein. Doch ganz so harmonisch war der Verhältnis der beiden nicht immer; bisweilen wurden sie sogar zu Konkurrenten, geschürt von ausländischen Mächten wie den Chinesen. Solange zwischen beiden Inkarnationen ein hoher Alterunterschied lag, war der Dalai
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Seine neue Inkarnation erblickte drei Jahre nach dem 14. Dalai Lama das Licht der Welt. Das bürgerliche – wie zuvor das kaiserliche und später das kommunistische – China verstand es geschickt, sich die Rivalität der beiden bedeutenden Institutionen zu Nutze zu machen, auch wenn die beiden Amtsinhaber als junge Männer wichtige politisch-religiöse Initiativen gemeinsam unternahmen, etwa Reisen nach Peking und Delhi. Der 10. Panchen Lama blieb immer im chinesischen Machtbereich, und die Behörden versuchten, ihn als Gegengewicht zum 14. Dalai Lama, der im indischen Exil lebt, aufzubauen. Öffentlich äußerte der 10. Panchen Lama nie Kritik an China, doch nach seinem frühen Tod 1989 wurde bekannt, dass er dies intern mit Nachdruck getan hatte. Der Dalai Lama schreibt über seine erste Begegnung mit dem 10. Panchen Lama: „Kurz nach seiner Ankunft (Anm.: in Lhasa) begrüßte ich den jungen Panchen Lama auf einem offiziellen Empfang. Anschließend hätten wir ein privates Mittagessen einnehmen sollen, aber leider hatte er einen sehr aufdringlichen Leibwächter bei sich, der uns nicht allein lassen wollte und ständig versuchte, unseren Raum zu betreten. Meine Mönche wollten ihn daran hindern, mit dem Resultat, dass es fast zu einem blutigen Zwischenfall gekommen wäre: Der Mann war nämlich bewaffnet. Schließlich konnte ich dann doch noch einige Zeit mit dem Panchen Lama allein verbringen, der den Eindruck erweckte, ein ehrlicher und glaubwürdiger junger Mann zu sein. … Er hatte noch etwas Unschuldiges an sich, und ich empfand ihn als einen sehr glücklichen und angenehmen Menschen. Ich spürte eine starke Verbundenheit mit ihm. Nur gut, dass damals keiner von uns wusste, was für ein tragisches Leben er führen würde.“ Die chinesische Regierung nahm massiv Einfluss auf die Suche nach der neuen Inkarnation, denn sie sah darin die Gelegenheit, die wichtigste Person für die Anerkennung des zukünftigen Dalai Lama
Gedün Choekyi Nyima, der 11. Panchen Lama
nach ihren Kriterien auszuwählen. Dagegen stellte sich jedoch der Dalai Lama. Damit wurde die Frage nach der Inkarnation des 11. Panchen Lama so brisant wie nie in der tibetischen Geschichte. Kurz nach dem Tod des 10. Panchen Lama 1989 veröffentlichte die
chinesische Regierung Richtlinien zur Suche und Anerkennung der neuen Inkarnation. Deren wichtigste besagte, dass der neue Panchen Lama in letzter Instanz durch die „Zentralregierung“ bestätigt werden müsse. Die Verantwortung für die Suche wurde dem Abt von Tashi Lhunpo, Chadrel Rinpoche, übertragen. Dagegen ließ der Dalai Lama keinen Zweifel daran, dass er die Anerkennung der Inkarnation letztlich bestätigen müsse. Chadrel Rinpoche, der noch nie durch kritische politische Äußerungen aufgefallen war und als loyal gegenüber Peking galt, setzte sich über die Vorgaben der Regierung hinweg und hielt sich an die Tradition. Er informierte den Dalai Lama über den Stand der Suche und schmuggelte eine Liste der Kandidaten ins indische Exil. Aus ihr ernannte der Dalai Lama schließlich den jungen Gedün Choekyi Nyima zum 11. Panchen Lama. Die Chinesen betrachteten das Vorgehen als Verrat, sie verhafteten Chadrel Rinpoche und verurteilten ihn wegen „Spaltung des Mutterlandes“ zu sechs Jahren Gefängnis. Gedün Choekyi Nyima, der 11. Panchen Lama, verschwand. Bis heute gibt es kein Lebenszeichen von ihm. Um die Lücke zu füllen, bestimmte die chinesische Regierung am 29. November 1995 in einem Losverfahren Gyaltsen Norbu als 11. Panchen Rinpoche. Seine Eltern sind Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas. Er lebt in Peking und wird dort im Geist der KP erzogen. Bei den gläubigen Tibetern stößt seine Wahl auf Ablehnung.
Vergebliche Suche nach dem 11. Pachen Lama
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2. Gegenwart
2. Gegenwart
2. 1. Der 14. Dalai Lama – seine Herkunft, sein Leben, seine Aufgabe Wie nahezu alle seine Vorgänger – bis auf den vierten und den fünften – stammt der 14. Dalai Lama aus einer einfachen Bauernfamilie fern der Hauptstadt. Sein Geburtsort ist Taktser, ein kleiner, zuvor unbedeutender Ort im Nordosten der Provinz Amdo. Es war ein Grenzgebiet auf etwa 2.750 Meter Höhe, etwas fruchtbarer als das ansonsten karge Tibet. Neben den Tibetern lebten dort auch Hui, islamisierte Chinesen, und zur Zeit der Geburt des Dalai Lama beherrschte der Hui-General Ma Bufeng die Region. Er war ein enger Vertrauter von General Chiang Kai-shek, der damals, während eines Zwei-Fronten-Kriegs gegen die japanischen Invasoren sowie die kommunistische Volksbefreiungsarmee, nicht wählerisch war mit seinen Verbündeten. Ma Bufeng stand im Ruf, ebenso rücksichtslos wie gierig und brutal zu sein, was die Tibeter noch zu spüren bekommen sollten.
Kinderreiche Familie Der Dalai Lama wurde am 6. Juli 1935 geboren, seine Eltern nannten ihn Lhamo Thondup. Er war das fünfte von sieben Kindern, die das Erwachsenenalter erreichten; insgesamt war seine Mutter Dekyi Tsering 16 mal schwanger; Lhamo Thundop war ihre 9. Schwangerschaft, und sie war damals 35 Jahre alt. Der Vater Chökyong Tsering besaß ein paar Tiere – Dris, die Hochlandkühe, Dzomos, eine Kreuzung aus Hochland- und Tieflandkühen, sowie Schafe und Hühner. Daneben baute die Familie Gerste an. Von dem Vater hieß es jedoch, er habe sich mehr für Pferdemärkte interessiert, als für die Feldarbeit, die er gern bezahlten Handlangern oder seiner Frau überließ.
S.H. der 14. Dalai Lama
Der Dalai Lama schreibt in seiner Autobiografie über seine Eltern: „Mein Vater war etwa mittelgroß und sehr jähzornig. Ich erinnere mich, wie ich einmal an seinem Schnurrbart zupfte und dafür gleich heftig geschlagen wurde. Er konnte aber auch sehr gutherzig sein und war alles andere als nachtragend…. Meine Mutter war eine der gütigsten Personen, die ich je gekannt habe. Sie war sehr liebevoll, und ich bin sicher, dass alle, die sie kannten, sie auch mochten. Sie war äußerst mitfühlend.“ Die ältesten Geschwister – zwei Jungen und ein Mädchen – hatten das Haus bereits verlassen, als der Dalai Lama geboren wurde. Tsering Dölma, die Erstgeborene, war 16 Jahre alt und stand kurz vor ihrer Eheschließung. Der drei Jahre jüngere Zweitgeborene Thubten Jigme Norbu, war als Inkarnation eines hohen Lamas aus dem nahe gelegenen Kloster Kumbum anerkannt worden und wurde dort ausgebildet. Der darauf folgende Gyalo Thondup war sieben Jahre alt und besuchte eine Schule im Nachbardorf. Der zwei Jahre ältere Lobsang Samten war der einzige echte Gefährte des jungen Lhamo Thondup und die beiden verband über die Kindheit hinaus bis zum Tod von Lobsang Samten 1985 ein starkes Band. Heute ist der Sohn des Lieblingsbruders, Tenzin Taklha, Privatsekretär und rechte Hand des Dalai Lama. Die beiden jüngsten Geschwister, Jetsun Pema und Tenzin Chögyal, wurden später in Lhasa geboren. Neben Lobsang Samten ist auch Tsering Dölma inzwischen verstorben. Da Tsering Dölma bereits einen Tulku geboren hatte, und selten zwei in einer Familie auftraten, rechnete niemand mehr damit, dass der junge Lhamo Thundop die bedeutendste aller Inkarnationen in Tibet werden sollte. Als er zwei Jahre alt war, tauchte eine Delegation aus Lhasa in Taktser auf. Träume und Vorzeichen hatten die Äbte aus Lhasa hierher geführt. Die ersten Hinweise auf Amdo gab es bereits kurz nach dem Tode des 13. Dalai Lama. Dessen einbalsamierter Leichnam war nach Süden hin aufgerichtet worden, doch nach wenigen Tagen hatte sich der Kopf nach Nordosten gewendet – ein klares Zeichen, dass die nächste Inkarnation aus der Richtung zu erwarten sei. Visionen des Regenten Reting Rinpoche, der eingesetzt worden war, um die Amtsgeschäfte bis zur Volljährigkeit der neuen Inkarnation zu führen, deckten sich mit den Beobachtungen. Er sah die drei tibetischen Buchstaben „A“, „Ka“ und „Ma“ sowie ein dreistöckiges Kloster mit goldenen und grünen Dächern und ein Haus mit türkisfarbenen Ziegeln und einer auffälligen Dachrinne. „A“ interpretierten die hohen Geistlichen als Symbol für die Provinz Amdo, „Ka“ als Hinweis auf das Kloster Kumbum und „Ma“ als Zeichen für das Kloster Karma Rolpai Dorjee, das oberhalb des Dorfes Taktser liegt.
Die Familie des 14. Dalai Lama
Hoher Besuch Angeführt wurde die Delegation von Kyitsang Rinpoche, einem hohen Lama aus dem Kloster Sera, der sich als einfacher Diener verkleidet hatte, damit niemand seine Funktion erkennen konnte. Dennoch lief der kleine Lhama Thundop auf ihn zu und begrüßte ihn mit den Worten: „Sera Lama, Sera Lama“. Die Gruppe blieb über Nacht bei der Familie, damit Kyitsang Rinpoche den Kandidaten in Ruhe beobachten konnte. Der ließ den hohen Lama jedoch nicht in Ruhe, und war vor allem von einer Mala fasziniert, die der Gast unter seiner Kleidung um den Hals trug. Sie hatte dem 13. Dalai Lama gehört. Als sie am nächsten Morgen abreisten, war der Kleine sehr enttäuscht.
100.000 chinesische Dollar (etwa 55.000 €) als „Ausreiseabgabe“, die sie mit Mühe aufbringen konnten. Doch wenn sie geglaubt hatten, endlich abreisen zu können, hatten sie sich getäuscht. Als die Karawane zum Aufbruch nach Lhasa drängte, erschienen erneut Ma Bufens Truppen. Der Kriegsherr von Amdo habe es sich anders überlegt und verlange die dreifache Summe, erklärten sie. Das übertraf die Möglichkeiten der Tibeter bei Weitem, doch muslimische Händler, die sich auf dem Landweg nach Mekka befanden und in der tibetischen Hauptstadt Station machen wollten, waren bereit, den Tibetern die Summe vorzustrecken. Es war eine stattliche Karawane, die sich schließlich im Sommer 1939, kurz nach Lhamo Thondups viertem Geburtstag, auf den Weg nach Lhasa machte. 1.100 strapaziöse Kilometer lagen vor ihnen. Seine Eltern sowie sein Bruder Lobsang Samten begleiteten ihn. Unterwegs schlossen sich immer mehr Pilger und Händler an; nur die wenigsten von ihnen wussten, in welch prominenter Begleitung sie sich befanden. Erst als sie den Machtbereich von General Ma Bufeng verlassen hatten, gab Kyitsang Rinpoche offiziell bekannt, dass die Karawane dabei sei, die neue Inkarnation des Dalai Lama nach Lhasa zu geleiten. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer und zahlreiche weitere Gläubige stießen zu der Karawane. Im Kloster Reting traf der Junge zum ersten Mal den Regenten. Nach drei Monaten, am 8. Oktober 1939, erreichten sie endlich ihr Ziel. Obwohl der Dalai Lama gerade vier Jahre alt war, wurde er formell bereits als geistliches Oberhaupt Tibets eingesetzt. Die Zeremonie dauerte einen Tag lang. In seiner Autobiografie schreibt er darüber, er habe das Gefühl verspürt, „wieder zu Hause zu sein“. Bei der Zeremonie erhielt er den Mönchsnamen Yeshe Tenzin Gyatso. Am 22. Februar 1940 wurde er als weltliches Oberhaupt eingesetzt, auch wenn der Regent bis zu seinem 18. Lebensjahr die Staatsgeschäfte weiterführen sollte. Ein Jahr später begann die Ausbildung im Potala-Palast.
Ein paar Tage später erschien die Delegation jedoch erneut und offenbarte der Familie, dass ihr Sohn Lhamo Thondup der erste Anwärter für die 14. Inkarnation des Dalai Lama sei. Die Vermutung bestätigte sich rasch, denn der Junge unterschied sicher alle Gegenstände aus dem Besitz des 13. Dalai Lama von ähnlich aussehenden. Ihre Erkenntnis hielten sie jedoch zunächst geheim. Sie wussten um den unberechenbaren Herrscher der Region; zudem trieben zahlreiche Räuberbanden ihr Unwesen, die versucht hätten, durch die Entführung des Kleinen ein stattliches Lösegeld zu erpressen. Um den Jungen in Sicherheit zu bringen, geleiteten sie ihn gemeinsam mit seinem Bruder Lobsang Samten in das Kloster Kumbum. Dort begannen die zähen Verhandlungen mit Ma Bufeng über die Ausreise. Seine Spitzel hatten dem Hui-General zugetragen, dass eine Delegation aus Lhasa nach einer hohen Inkarnation suchte, doch ahnte er nicht, dass es sich dabei sogar um den Dalai Lama handelte. Dennoch waren die Verhandlungen schwierig und sie zogen sich über 18 Monate hin. Der General verlangte von den Tibetern S.H. der 14. Dalai Lama bei der Zeremonie
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2. Gegenwart
Die Unterrichtsfächer des Dalai Lama Der Lehrplan für die höhere Mönchslaufbahn umfasste die fünf großen und fünf kleinen Wissenschaften. Die Hauptfächer waren: - Dialektik, die Kunst des Debattierens - Tibetische Kunst und Kultur - Grammatik und Sprachwissenschaften - Medizin - Buddhistische Philosophie Bei den Nebenfächern handelte es sich um: - Poesie - Musik und Drama - Astrologie - Metrik und Ausdruck - Wortschatz
2. Gegenwart
Zwei Österreicher, die am 15. Januar 1946 überraschend in Lhasa auftauchten, sorgten für Abwechslung im gewohnten Rhythmus des jungen Dalai Lama. Peter Aufschnaiter und Heinrich Harrer hatten auf der Flucht vor britischer Gefangenschaft während des Zweiten Weltkrieges in einem zweijährigen Fußmarsch über den Himalaya die „verbotene Stadt“ erreicht. Trotz anfänglicher Ablehnung durften sie bleiben und öffentliche Aufgaben übernehmen. Aufschnaiter, ein Agrarwissenschaftler, wurde Berater der Regierung in landwirtschaftlichen und städtebaulichen Fragen. Harrer, ein Sport- und Geografiestudent, arbeitete als Übersetzer, Berater und Fotograf für die Regierung und kam schließlich mit dem jungen Dalai Lama in Kontakt. Der war sehr interessiert daran, mehr über die Welt jenseits seiner Berge zu erfahren. Er setzte durch, dass ihm der fremde Gast ganz unprotokollarisch begegnen durfte, also auch außerhalb der Audienzen. Beide blieben bis zu Harrers Tod im Januar 2006 freundschaftlich verbunden und trafen sich häufig.
Chinesische Bedrohung Im Herbst 1949 zog die kommunistische Volksbefreiungsarmee Mao Tsetungs siegreich in Peking ein und proklamierte am 1. Oktober 1949 die „Volksrepublik China“. Die neuen Herrscher erhoben unverblümt Ansprüche auf Tibet, das „ins Mutterland heimgeholt“ und „vom Imperialismus befreit“ werden sollte. So äußerte sich Mao gegenüber Indiens Staatspräsident Nehru. Die „imperialistische Präsenz“ bestand aus sechs Personen. Neben Harrer und Aufschneiter befanden sich der britische Gesandte Hugh Richardson, die Funker Reginald Fox und Robert Ford sowie der russische Abenteurer Nedbailoff, der aus einem kommunistischen Gefangenenlager in Sibirien geflohen war und sich durch China nach Tibet durchgeschlagen hatte, im Lande. Die letzten US-Amerikaner, die Schriftsteller und Journalisten Lowell Thomas senior und junior, hatten das Land kurz vorher verlassen. Von den Tibetern selbst wollte niemand „befreit“ und ins „chinesische Mutterland“ zurückgeführt werden. Selbst die sozialen Reformer, die nach der Einsetzung des 14. Dalai Lama neuen Aufwind bekommen hatten, orientierten sich an Indien und der dortigen Kommunistischen Partei. Mao ließ sich davon nicht beirren, und die ersten chinesischen Truppen drangen bereits im November 1949 in Amdo auf tibetisches Territorium vor. Am 7. Oktober 1950 schließlich überquerte die Volksbefreiungsarmee den Yangtse-Fluss, der die Grenze nach Tibet markierte, und marschierte auf breiter Front ein. Die internationale Staatengemeinschaft kümmerte sich nicht um den Gewaltakt. Die Menschen in Lhasa reagierten verängstigt und setzten ihr Vertrauen wie gewohnt auf ihr geistliches und weltliches Oberhaupt, obwohl das seine weltlichen Ämter noch gar nicht übernommen hatte.
Bodhgaya Tempel in Indien
Feigenbaum in Bodhgaya
Als der Einmarsch begann, war der Dalai Lama gerade 15 Jahre alt und mitten in seinen Studien. Dennoch sollte er vorzeitig die weltliche Macht übertragen bekommen. Als das Staatsorakel dem zustimmte, stand der Inthronisierung des Minderjährigen nichts mehr im Wege. Die Zeremonie fand am 17. November 1950 statt, doch statt der üblichen Freudenfeiern herrschte in der Hauptstadt eine gedrückte Stimmung. Zu bedrohlich waren die Nachrichten aus dem Osten. Die Regierung war um die Sicherheit des neuen Oberhauptes sehr besorgt und entschloss sich deshalb zur Flucht in das Chumbi-Tal, eine leicht erreichbare Region auf dem Weg nach Sikkim und Indien. Dort verbrachten die mächtigsten Institutionen Tibets den Winter. Derweil bemühte sich die chinesische Führung, der Invasion einen legalen Anschein zu geben. Sie stoppte vorübergehend den Vormarsch ihrer Truppen und bestellte im Mai 1951 eine hochrangige tibetische Delegation unter dem jungen, ehrgeizigen Minister Ngapo Ngawang Jigme zu Verhandlungen über den Status von Tibet nach Peking. Die Delegierten wurden gedrängt, ein „17-PunkteAbkommen zur friedlichen Befreiung Tibets“ zu unterzeichnen, das die Eigenständigkeit des Landes aufhob, gleichzeitig jedoch den Tibetern weitgehende innenpolitische Autonomie zusicherte.
So heißt es in Punkt 1 „Das tibetische Volk soll sich zusammenschließen und die imperialistischen Angreifer aus Tibet vertreiben; das tibetische Volk soll in die große Völkerfamilie des Mutterlandes – der Volksrepublik China – zurückkehren.“ Unter Punkt 4 ging es um die Rechte der Tibeter: „Die Zentralbehörden werden das bestehende System in Tibet unverändert lassen. Die Zentralbehörden werden außerdem den bestehenden Status, die Funktionen und Befugnisse des Dalai Lama nicht antasten. Die Beamten der verschiedenen Rangstufen sollen ihre Ämter ausüben wie bisher.“ Und Punkt 7 verspricht: „Die Politik der religiösen Glaubensfreiheit, wie sie im Allgemeinen Programm der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes niedergelegt ist, soll wirksam werden. Religion, Sitten und Gebräuche des tibetischen Volkes sollen respektiert und die Lamaklöster geschützt werden. Die Zentralbehörden werden den Klöstern unverändert ihre Einkünfte belassen.“ Der Dalai Lama und das übrige Kabinett reagierten empört auf das Abkommen. Zu einem solchen Schritt war die Delegation nicht autorisiert gewesen. Dennoch bildete das 17-Punkte-Abkommen einige Jahre die Grundlage, auf der sich auch der Dalai Lama um eine friedliche Koexistenz der ungleichen Nachbarn bemühte.
Heinrich Harrer
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2. Gegenwart
Die Volksbefreiungsarmee in Lhasa Als die Chinesen von der Flucht des Dalai Lama erfuhren, versuchten sie, ihn zur Rückkehr nach Lhasa zu bewegen, denn ohne ihn würden sie von der tibetischen Bevölkerung nicht akzeptiert werden. Die Umgebung des Dalai Lama war gespalten. Seine älteren Brüder rieten ihm dringend, in Indien um Asyl nachzusuchen. Er selbst widersetzte sich jedoch dieser sicheren Lösung. Dem tibetischen Volk gegenüber fühlte er sich verpflichtet, nach Lhasa zurückzukehren, auch wenn er sich damit in die Hände der Chinesen begab. Mitte August 1951 traf er wieder in der Hauptstadt ein, was von den Menschen mit Erleichterung und Freude aufgenommen wurde.
2. Gegenwart
auf, die alten Strukturen zu reformieren und mehr soziale Gerechtigkeit durchzusetzen. Er sah, wie reformbedürftig sein Land war. Um der Veränderung eine Basis zu geben, rief er eine Kommission ins Leben, die Vorschläge für Reformen erarbeitete. Viele Bauern befreite er aus der Schuldknechtschaft, indem er per Dekret alle Schulden, die älter als acht Jahre waren, tilgte und bei den jüngeren die Zinszahlungen aussetzte. Auch die Pacht der Bauern für das Land, das sie bewirtschafteten, reduzierte und vereinfachte er, so dass es sich letztlich nur noch um eine Grundsteuer handelte, die nicht willkürlich verändert werden konnte. Der Dalai Lama beschnitt sogar die Macht der Provinzbeamten, die selbst bestimmten, was sie von den Bauern und Nomaden eintrieben und davon nur einen kleinen Teil an die Regierung abführten. Schließlich begnadigte das Oberhaupt die Häftlinge, die im Gefängnis von Shöl, unterhalb seines Palastes, inhaftiert waren und machte das Gefängnis überflüssig.
Als Pilger in Indien
Tibetische Wiederstandsbewegung in Lhasa
Nur drei Wochen später erreichten 3.000 Soldaten der Volksbefreiungsarmee die tibetische Hauptstadt. Sie trugen rote Fahnen und gigantische Portraits von Mao und Verteidigungsminister Marschall Zhu De mit sich. In den ersten Jahren gab es eine relativ friedliche Ko-Existenz von traditioneller tibetischer Verwaltung und chinesischem Militär. Der Dalai Lama versuchte das Beste aus der Lage zu machen. So griff er die Initiativen seines Vorgängers
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Seine nächste große Reise führte den Dalai Lama im November 1956 nach Indien, wo er unter anderem die heiligen Stätten des Buddhismus besuchen wollte. Anlass waren die Feiern zum 2.500. Geburtstag von Buddha, genannt Buddha Jayanti, doch die Chinesen blockten zunächst ab. „Aus Sicherheitsgründen“ sei ein solcher Besuch nicht erwünscht, hieß es. Zudem werde das Oberhaupt im Lande benötigt, um im „Vorbereitenden Komitee zur Errichtung der Autonomen Region Tibet“ mitzuarbeiten. Der Dalai Lama möge einen Vertreter zu den Feierlichkeiten schicken. Der akzeptierte die Begründung nicht. Die indische Regierung, die damals noch gute Kontakte zur chinesischen pflegte, schaltete sich ein und unterstützte das Begehren. Daraufhin konnte Peking nicht mehr absagen. Dennoch war die Reise auch weiterhin mit großen Schwierigkeiten verbunden.. Unmittelbar vor seiner Abreise gab der chinesische Oberbefehlshaber, General Zhang Jingwu, dem Dalai Lama eine von der KP ausgearbeitete Rede für die Feiern mit auf den Weg – die der Dalai Lama in Indien allerdings nie gehalten hat. Darüber hinaus warnte er ihn unverblümt, wie sich der Dalai Lama erinnert: „Er sagte, dass es vor kurzem in Ungarn und Polen Unruhen gegeben habe. Sie seien durch kleine Gruppen unter dem Einfluss ausländischer Imperialisten angezettelt worden, aber die Sowjetunion habe auf den Hilferuf des ungarischen und polnischen Volkes unverzüglich gehandelt und die Reaktionäre ohne Schwierigkeiten niedergeworfen. Die Reaktionäre suchten immer nach Möglichkeiten, in den sozialistischen Ländern Unruhe zu stiften, aber die Solidarität innerhalb des sozialistischen Lagers sei so groß, dass es
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stets jedem dieser Länder zu Hilfe kommen werde. Er sprach darüber so ausführlich, dass ich verstand, was er meinte: es sollte eine Warnung sein, dass sich kein anderes Land in Tibet einmischen dürfe“. In Delhi empfing Ministerpräsident Jawarharlal Nehru den Dalai Lama mit militärischen Ehren eines Staatsoberhauptes am Flughafen. Nach dem offiziellen Teil, an dem auch Chinas Ministerpräsident Chou Enlai teilnahm, konnte der Dalai Lama zum ersten Mal vertrauliche politische Gespräche mit Nehru führen. Mit deutlichen Worten beschrieb er die Situation in seiner Heimat und fügte hinzu, dass er erwäge, nicht mehr dorthin zurückzukehren, bis sich die Lage verbessert habe und die Chinesen aufhörten, die Religion zu bekämpfen. Nehru riet ihm davon ab. Er könne keine Unterstützung durch die Welt erwarten und solle besser zurückkehren, um auf der Basis des 17-Punkte-Abkommens das Beste für sein Volk durchzusetzen. Chou Enlai gab sich bei Gesprächen im vertrauten Rahmen versöhnlich. Er sprach von Verfehlungen einzelner und versprach, die Anliegen des Dalai Lama Mao persönlich vorzutragen. Der Dalai Lama brach von Delhi zu einer Pilgerreise an die heiligen buddhistischen Stätten Varanasi (Benares) und Bodh Gaya auf, wo Buddha 534 v. Chr. der Überlieferung nach unter einem Feigenbaum die Erleuchtung erlangt hatte. Doch für die Religion blieb dem Dalai Lama nicht viel Zeit. General Zhang Jingwu berichtete aus Lhasa, Reaktionäre und Spione planten einen Aufstand, und er müsse deshalb umgehend zurückkommen. Zudem hieß es, Minis-
S.H. der 14. Dalai Lama mit dem indischen Ministerpräsidenten J.Nehru
terpräsident Zhou Enlai sei eigens nach Delhi zurückgekehrt und wolle ihn unverzüglich sprechen. So viel Druck konnte sich der Dalai Lama nicht entziehen. Im März 1957, als die ersten Pässe nach Tibet wieder passierbar waren, machte er sich schweren Herzens auf den Rückweg. Am 1. April traf er wieder in Lhasa ein.
Volksaufstand und Flucht Seit dem Besuch des Dalai Lama in Peking hatte sich der chinesische Terror vor allem in der osttibetischen Provinz Kham drastisch verschärft. Ursache dafür war die Indoktrination der Kinder. An größeren Orten errichteten die Chinesen Schulen, in denen die Kinder der Khampas im Sinne der Kommunistischen Partei erzogen werden sollten. Massenhaft weigerten sich die Eltern jedoch. Sie brachten ihre Kinder lieber auf Klosterschulen, in denen die eigenen Tradition gepflegt und der Respekt vor dem Dalai Lama hoch gehalten wurde. Daraufhin besetzten Soldaten die Dörfer und nahmen alle Männer gefangen, die nicht rechtzeitig geflohen waren. Vor den Augen des restlichen Dorfes mussten sie ihre Schuld bekennen und wurden dabei permanent geschlagen, manchmal bis zur Bewusstlosigkeit. Warfen sich Frauen dazwischen, wurden sie vor den Augen des Dorfes vergewaltigt und gefoltert. Im Laufe der Zeit entwickelten die Besatzer dabei eine besonders perfide Strategie: Sie zwangen die
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2. 2 Neue Heimat im Exil Tibeter, sich gegenseitig zu quälen. Wer sich weigerte, war das nächste Opfer. Diejenigen, die den Terror überlebten, wurden als Zwangsarbeiter beim Straßenbau eingesetzt, die Kinder auf Schulen in die Volksrepublik verschleppt. Die Internationale Juristenkommission schätzt, dass Mitte der fünfziger Jahre insgesamt etwa 15.000 tibetische Kinder ihren Familien entrissen und in China in Parteischulen gesteckt wurden. Von den meisten haben ihre Angehörigen nie wieder etwas gehört. Gegenüber den Tibetern wurde die Maßnahme damit erklärt, dass sie ohne die Kindererziehung mehr Zeit hätten, sich ganz auf ihren Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung des Mutterlandes zu konzentrieren. Anfang März 1959 erhielt der Dalai Lama eine Einladung zu einer Theateraufführung in das Hauptquartier der Volksbefreiungsarmee. Bedingung war allerdings, er müsse ohne seine Leibgarde erscheinen. Als die Menschen in Lhasa davon erfuhren, versammelten sie sich zu Tausenden um den Norbulingka Palast, den Sommerpalast, in den der Dalai Lama gerade eingezogen war. Es war der 10. März 1959. Der Palast lag nicht weit vom chinesischen Hauptquartier entfernt. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre es für den Dalai Lama unmöglich gewesen, der chinesischen Einladung Folge zu leisten. Den menschlichen Schutzwall seiner Anhänger konnte er nicht durchbrechen. Also schickte der Dalai Lama einen Brief an die Chinesen, in dem er sich für die Einladung bedankte und bedauerte, dass er sie aufgrund der aktuellen Entwicklung nicht annehmen könne. Als die Spannung stieg, bat Minister Ngapo Ngawang Jigme, der sich im chinesischen Hauptquartier befand, den Dalai Lama um genaue Informationen, in welchem Teil der weitläufigen Palastanlage sich das Oberhaupt aufhalte. Die Volksbefreiungsarmee wolle die Rebellion auflösen, und wenn sie die Position des Dalai Lama kenne, werde der Teil verschont. Damit war der tibetischen Führung klar, dass China auf eine militärische Lösung setzte, deren Folgen unabsehbar sein würden. Jetzt entschloss sich der Dalai Lama zur Flucht, und er wollte keine Zeit mehr verlieren. Seit Beginn der Spannungen war eine Woche vergangen. Nach Einbruch der Dunkelheit verließen der Dalai Lama, seine Familie, die Mitglieder der Regierung und die wichtigsten Äbte in vier Gruppen mit einer halben Stunde Abstand den Palast. Sie waren als Dienstboten oder Soldaten verkleidet. Sie gingen zum Kyichu-Fluss, wo Angehörige der Guerillabewegung Chushi Gangdruk warteten, die sie übersetzten und mit ihnen Richtung Indien flohen. Am nächsten Morgen überschlugen sich die Gerüchte in Lhasa. Der Dalai Lama sei nicht mehr im Palast, hieß es. Er sei geflohen, berichten die einen; er sei in der Hand der Chinesen, die anderen. Die Menschen – Mönche und Flüchtlinge, Frauen und Kinder, Adelige und Nomaden – rüsteten sich zum Kampf. Sie hoben gemeinsam
Schützengräben aus und errichteten Barrikaden, hinter denen sie sich verschanzen konnten. Alle Standesunterschiede, die das alte Tibet immer bestimmt hatten, waren verschwunden. Im Hauptquartier der Volksbefreiungsarmee wussten die Verantwortlichen zumindest, dass sich der Dalai Lama nicht in ihrer Hand befand. Und sie waren alarmiert von den Gerüchten und der Entwicklung. In der folgenden Nacht eröffneten chinesische Kanonen das Feuer auf den Norbulingka. Der menschliche Schutzwall, müde und zermürbt von denen vielen Tagen und Nächten im Freien, aber auch von der Ungewissheit über den Verbleib des Dalai Lama, konnte der militärischen Übermacht wenig entgegensetzen. Am Morgen brachen die Kämpfe in voller Härte auch im Zentrum von Lhasa aus. Bereits nach wenigen Stunden glichen Teile der Stadt einem Inferno, und es wurde immer schwieriger für die Tibeter, ihre Stellungen zu behaupten. Die chinesischen Soldaten waren besser bewaffnet und erheblich erfahrener. Nach zwei Tagen waren die Tibeter geschlagen, doch die Chinesen konnten sich über ihren Sieg nicht freuen. Der Dalai Lama war unauffindbar. Sie mussten davon ausgehen, dass dem wichtigsten Tibeter die Flucht gelungen war. S.H. der 14. Dalai Lama mit dem indischen Ministerpräsidenten Jawarharlal Nehru
Der Dalai Lama hatte zunächst nicht die Absicht, sein Land zu verlassen, sondern er wollte in der Befestigung Lhuntse im Süden Tibets Zuflucht suchen, bis sich die Krise in Lhasa gelegt hatte. Chushi Gangdruk-Kämpfer mit Verbindungen zum amerikanischen Geheimdienst CIA wussten jedoch zu berichten, dass Mao Zedong den Befehl gegeben hatte, den Dalai Lama „festzunageln, wo immer er sich aufhält.“ Da die Chinesen vermuteten, er wolle nach Bhutan fliehen, zogen sie in aller Eile an der dortigen Grenze ihre Truppen zusammen. Aufgrund dieser Informationen entschloss sich der Dalai Lama, in Indien um Asyl zu bitten. Nach 32 Tagen erreichte er die indische Grenze. Darüber schrieb er später: „Das Überschreiten der Grenze hatte nichts Dramatisches an sich. Das Land war auf beiden Seiten der Grenze gleichermaßen öde und unbewohnt. Ich sah es nur durch einen Nebel, denn ich war krank, erschöpft und unglücklich – viel unglücklicher, als ich es zu sagen vermag.“ Dem Dalai Lama folgten in den nächsten Wochen etwa 80.000 Menschen, die dem chinesischen Terror entkommen konnten. Zunächst ließ sich der Dalai Lama in Mussoorie nieder, doch 1960 wies ihm der indische Premierminister Nehru in Dharamsala eine neue Heimat zu. Die Hintergründe wurden nie genau geklärt. Mussoorie liegt erheblich näher an Delhi, und bis heute halten sich Gerüchte, dass Nehru mit Rücksicht auf China nicht wollte, dass der prominente Flüchtling zu nah am indischen Machtzentrum lebte und damit mehr Einfluss auf die internationale Politik nehmen konnte. Während Nehru deutlich machte, dass politische Aktivitäten der Ti-
beter nicht erwünscht waren, setzte er sich mit Nachdruck für die sozialen Belange der Tibeter ein. Durch seine persönliche Vermittlung fanden die Flüchtlinge im indischen Himalaya ebenso wie in einigen südindischen Bundesstaaten, vor allem dem heutigen Karnataka (früher Mysore) eine neue Heimat. Heute leben in Indien etwa 120.000 Tibeter, in Nepal 15.000 und in Bhutan 1.000. Über 3.000 haben in Europa und 10.000 in Nordamerika Zuflucht gefunden.
Große Herausforderungen Ungeachtet der schwierigen Lage verharrten die Tibeter nicht in Agonie und Verzweiflung. Sie bauten eine effektive Exilverwaltung auf, mobilisierten die internationale Gemeinschaft, kümmerten sich um die soziale und medizinische Betreuung der Neuankömmlinge, errichteten Klöster, in denen die Religion nach den Zerstörungen in Tibet neu belebt werden konnte und organisierten die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen in der eigenen Tradition. Letzteres ist eng mit den Namen Tsering Dolma und Jetsun Pema verbunden, der älteren und der jüngeren Schwester des Dalai Lama. Sie gründeten die „Tibetan Children Villages“, Internatsdörfer, die bis heute die Unterbringung, Versorgung und Ausbildung tausender Flüchtlingskinder sicherstellen und ausländische Hilfsangebote koordinieren. Tsering Dolma begann diese Arbeit, und nach ihrem frühen Tod 1964 übernahm ihre jüngere Schwester die Verantwortung.
S.H. der 14. Dalai Lama auf der Flucht nach Indien
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2. 3 Gewaltfreiheit und Nichtverletzen – Die Ethik des Dalai Lama Während die sozialen Herausforderungen von allen Tibetern getragen wurden, traf der Dalai Lama mit einer anderen Initiative auf weniger Unterstützung: Die Demokratisierung der alten Strukturen, die ihm ein besonderes Anliegen war. Am 10. März 1963 verkündete der Dalai Lama eine provisorische Verfassung, die ein wichtiger Schritt auf dem Weg in eine demokratische Gesellschaft war. Im Vorwort dazu schrieb er: „Dieser Verfassungsentwurf soll dem tibetischen Volk neue Hoffnung und eine neue Vorstellung geben, wie Tibet nach Erlangung seiner Unabhängigkeit regiert werden soll … Er soll dem tibetischen Volk ein demokratisches System sichern, das sich auf Gerechtigkeit und Gleichheit stützt.“ Inzwischen verfügt die Exilgemeinschaft über ein Parlament mit direkt gewählten Abgeordneten und einem Kabinett – Kashag genannt – mit sieben Ministerien. Der Regierungschef im Exil – Kalon Tripa – der Mönch und Gelehrte Prof. Samdong Rinpoche, wurde 2001 direkt gewählt und 2006 mit großer Mehrheit bestätigt. Das auf fünf Jahre gewählte Parlament tagt jedes Jahr im März und September für etwa zwei Wochen. Die Exilregierung unterhält Vertretungen in Neu Delhi, Tokio, London, Paris, Genf, Brüssel, New York, Washington, Moskau, Pretoria und Canberra. Die Vertretung in Kathmandu wurde Anfang 2005 auf chinesischen Druck hin geschlossen. Auch wenn die Mehrzahl der Tibeter in Südindien lebt, ist Dharamsala das unbestrittene Zentrum des tibetischen Lebens im Exil. Neben der Residenz des Dalai Lama haben dort die wichtigsten tibetisch-buddhistischen Schulen und das Nationaltheater TIPA (Tibetan Institute of Performing Arts) ihren Sitz. Mit Forschungseinrichtungen wie der Library of Tibetan Works and Archives, dem Norbulingka-Institut für tibetisches Kunsthandwerk, der Medizinschule und
buddhistischen Hochschulen wird die Kultur und Tradition lebendig gehalten. Die Tibeter, denen die lebensgefährliche Flucht über das HimalayaZentralmassiv gelingt, erhalten eine Audienz bei ihrem Oberhaupt – für sie die Erfüllung eines Lebenstraumes. Anschließend werden sie zumeist im Süden angesiedelt. Inspiriert durch den unerschütterlichen Optimismus des Dalai Lama haben die Tibeter in einer schwierigen Situation, die keine kurzfristige Hoffnung auf eine Rückkehr zulässt, blühende Gemeinden aufgebaut, die den Flüchtlingen eine soziale Perspektive geben und ihnen erlauben, ihre Kultur und Tradition zu wahren. Die Mehrzahl lebt nicht von Hilfsgütern oder Almosen, sondern hat sich selbst eine eigene Existenz aufgebaut. Landwirtschaft, Kunsthandwerk und Gastronomie bilden die Säulen der Wirtschaft. Selbst Urwaldgebiete, die von den indischen Behörden im Süden zur Verfügung gestellt wurden, sind in fruchtbare Flächen umgewandelt worden. Wer sich nicht als Bauer, Handwerker, Händler oder Gastwirt sein Geld verdienen kann, arbeitet häufig als Gelegenheitsarbeiter, etwa beim Straßenbau. „Die Exil-Gemeinden spielen eine sehr wichtige Rolle im Kampf um den Erhalt der tibetischen Kultur und Identität. Nur im Exil kann sich die Gesellschaft ohne äußeren Zwang weiterentwickeln. Insofern sind die Exiltibeter diejenigen, die der Welt ein authentisches Bild von Tibet vermitteln, und zwar mit allen Facetten. Ich bin sehr stolz darauf, denn das machen sie sehr gut. Viele der Tibeter haben ihren Platz in der jeweiligen Gesellschaft gefunden, und sie sind dabei Tibeter geblieben“, resümiert der Dalai Lama mit unverhohlenem Stolz. Der Dalai Lama bewegt etwas in den Menschen, das rational schwer zu fassen ist. 2002 hat das Allensbach Institut nachgefragt, wen die Deutschen für den weisesten lebenden Menschen auf Erden halten. Mit 33 Prozent lag der Dalai Lama weit an der Spitze, mit knapp über zehn Prozent folgten der damalige Papst Johannes Paul II, Südafrikas Freiheitsheld Nelson Mandela, der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan sowie der Physiker Stephen Hawkins. 2007 gab der „Spiegel“ eine Umfrage in Auftrag, wer für Jugendliche eher ein Vorbild sei, der Dalai Lama oder der deutschstämmige Papst Benedikt XVI. 44 Prozent votierten für das tibetische Oberhaupt, zwei Prozent mehr als für den Papst. Eine Umfrage in Österreich über vertrauenswürdige Persönlichkeiten sah ebenfalls den Dalai Lama weit vorne, gefolgt von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem aus Österreich stammenden kalifornischen Gouverneur Arnold Schwarzenegger sowie Papst Benedikt XVI. Und diese Bewunderung und Verehrung wird ihm nicht nur im deutschsprachigen Raum zuteil. Es kann nicht an seinem Amt liegen, denn das war bis vor wenigen
Jahrzehnten außerhalb des tibetischen Kulturkreises weitgehend unbekannt und noch zu Beginn der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts reichten Hallen mit einer Kapazität von weniger als tausend Plätzen, um die Nachfrage nach seinen Vorträgen zu bewältigen. Auch war er nicht der einzige „Exot“, der in den siebziger Jahren auf interessierte Neugierde in der westlichen Welt stieß. Die indischen Gurus Osho (Bhagvan) oder Sri Aurobindo, der nicaraguanische Priesterpoet Ernesto Cardenal, der Drogen-Guru Carlos Castaneda haben in der Zeit, als der Dalai Lama zum ersten Mal in Europa und Amerika aufgetaucht ist, ähnlich viele Menschen fasziniert und mobilisiert. Ihre Beliebtheit konnte jedoch nicht annähernd mit der des Dalai Lama mithalten. Was liegt dem zu Grunde? Als erstes beeindruckt er durch seine ruhige, gelassene Ausstrahlung. Seine innere Ruhe und sein Gleichgewicht wirken so gefestigt, dass sie durch nichts erschüttert werden können. Das hat nichts mit Teilnahmslosigkeit oder Distanziertheit zu tun; im Gegenteil, der Dalai Lama zeigt eine Präsenz, die ebenso beeindruckend ist. Sein durch jahrzehntelange Meditation geschulter Geist ist auch nach vielen anstrengenden Terminen noch hellwach. Jedem, dem er gegenüber steht, gibt er das unbedingte Gefühl der ungeteilten Aufmerksamkeit. Nur daraus kann echtes Mitgefühl entstehen, das nichts mit oberflächlichem Trost zu tun hat. Er erweckt den Eindruck, als könne man ihn alles fragen und als wisse er auf alles eine Antwort – und so reagiert die Öffentlichkeit zumeist auch. Ein weiterer wichtiger Grund für seine Ausstrahlung ist seine Authentizität. Jeder, der ihm begegnet, spürt, dass er lebt, was er sagt. Niemals fordert er von seinen Zuhörern etwas, das er selbst nicht praktizieren würde, niemals gibt er Ratschläge, die er nicht selbst erprobt hat. Wenn er nie mit Skandalen in Verbindung gebracht wird, dann deshalb, weil es keine gibt. Zu dieser Authentizität gehört auch, dass er die buddhistische Gleichheit ernst nimmt. Er kümmert sich nicht um Rang und Titel derer, die er trifft; er wertet nicht, sondern richtet sich im Dialog allein danach, mit welcher Präsenz das Gegenüber ihm begegnet. Die ethischen Grundsätze, die der Dalai Lama vermittelt, sind weder spezifisch buddhistisch, noch ganz neuer Natur. Er fordert zu Mitgefühl und Toleranz auf; die christliche Feindesliebe hat er etwas modifiziert: Er predigt unentwegt, den vermeintlichen Feind als Lehrmeister zu sehen und ihn dadurch zu entwaffnen. Gewaltfreiheit und Nicht-Verletzen sind für ihn die Basis des Zusammenlebens. Das Selbstverständnis Über sich selbst sagt der so hoch Verehrte: „In erster Linie bin ich Mensch und ich rede als Mensch über das, was in unser aller Verantwortung liegt. In zweiter Linie bin ich buddhistischer Mönch
Dharamsala
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2. 4 „Das stimmt mich hoffnungsfroh“ nen, dass ihre politische Strategie, mich zu isolieren, nicht immer erfolgreich ist, auch wenn sich konkrete Folgen in ihrer Politik nicht zeigen. Frage: Würden Sie gerne nach Tibet zurückkehren? Dalai Lama: Wenn die Bedingungen dafür gegeben wären, würde ich das gern. Es gab in den frühen achtziger Jahren, als China eine liberale Politik gegenüber Tibet verfolgt und sich für vergangene Verfehlungen entschuldigt hat, derartige Pläne. Leider wurde nichts daraus. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Kürzlich war ich in Ladakh auf Pässen von über 5.000 Meter Höhe, ich wollte testen, ob ich noch tibet-tauglich bin (lacht). Stellen Sie sich vor, je höher ich kam, desto besser ging es mir, desto stärker habe ich mich gefühlt. Ich bin also noch tibet-tauglich. S.H. der 14. Dalai Lama und Klemens Ludwig
Interview mit dem Dalai Lama In einem Interview mit Klemens Ludwig äußert sich der Dalai Lama zur internationalen Tibet-Politik, den Perspektiven für Tibet in einer sich wandelnden chinesischen Gesellschaft, der Bedeutung der Solidaritätsbewegung sowie den Olympischen Spielen in Peking 2008
S.H. der 14. Dalai Lama ist dem Wohlergehen aller verpflichtet
und an meine Gelübde gebunden; erst an dritter Stelle bin ich Tibeter, das Oberhaupt eines Volkes, dem die Freiheit geraubt wurde.“ Als Mensch und als buddhistischer Mönch liegt ihm daran, menschliche Werte wie Mitgefühl, Selbstlosigkeit, Respekt, Rücksichtnahme, Gewaltlosigkeit zu fördern. Außerdem engagiert er sich sehr für Ausgleich und Harmonie zwischen den Religionen. In seiner religiösen Praxis fühlt er sich dem Wohlergehen aller verpflichtet: dem der Nicht-Buddhisten ebenso wie dem der Buddhisten; dem der spirituell Entwickelten ebenso wie dem der Orientierungslosen; dem der Chinesen ebenso wie dem der Tibeter. Darüber hinaus sind diese Verpflichtungen zeitlos; er wird ihnen bis zum Tode nachkommen und auch in seinen künftigen Inkarnationen, solange bis alle unerlösten Wesen zur Erleuchtung gefunden haben; so will es das Bodhisattva-Gelübde. Seine dritte Verpflichtung, dem tibetischen Volk gegenüber ist zeitlich begrenzt und würde mit der Erlangung der Freiheit Tibets und der Demokratisierung der tibetischen Gesellschaft erloschen sein. Für manche junge Tibeter, aber auch westliche Tibet-Freunde ist
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die Rangfolge der Prioritäten schwer nachvollziehbar. Befremden erregt bisweilen auch, dass sich der Dalai Lama, gemäß seinem ersten Anspruch, für keinen Kontakt zu schade ist. Er gibt der Boulevard-Presse ebenso bereitwillig Interviews wie dem Playboy. Häufig ist dann in anspruchsvolleren Medien zu lesen, der Dalai Lama würde nur triviale „Kalendersprüche“ (so Spiegel-Autor Per Hinrichs) von sich geben. Dabei wird übersehen, dass der Dalai Lama den Menschen dort begegnet, wo sie stehen. Dem Playboy gibt er zu bedenken: „Wenn ich also Ihren Lesern einen Rat geben darf: Echte Befriedigung und innerer Frieden werden durch mentales Training erreicht und nicht durch äußere Stimulanzen.“ Und schließlich ist die Kritik auch deshalb unangemessen, weil der Dalai Lama bei anderen Anlässen zu ganz anderen Themen spricht, etwa über „Die Notwendigkeit, den Geist zu schulen“ oder über „Die Nicht-Auffindbarkeit des Objekts“ oder über „Das abhängige Entstehen“. Mit diesen Ausführungen hat sich noch keiner seiner Kritiker auseinandergesetzt, die ihm vorwerfen, er sei „trivial“. Bei solchen Themen bekennen sogar praktizierende Buddhisten, dass sie große Schwierigkeiten haben, den Lehren des Dalai Lama zu folgen. Er selbst ist davon nicht angetan: „Ich will nicht, dass man mir zuhört ohne zu verstehen“, fordert er immer wieder.
Frage: Eure Heiligkeit, als Sie im September 2007 von der Bundeskanzlerin empfangen wurden, waren viele überrascht, denn sie war die erste in ihrem Amt, die den Mut zu diesem Schritt hatte. Wie ist ihr Verhältnis zur Kanzlerin und was hat Ihnen der Empfang bedeutet? Dalai Lama: Ich betrachte Kanzlerin Angela Merkel als vertraute Freundin, denn ich hatte sie bereits ein halbes Jahr vor ihrer Wahl zur Kanzlerin in Berlin getroffen. Ich habe sehr gute und offene Diskussionen mit ihr geführt, zum Beispiel über den Sozialismus. Natürlich freue ich mich, dass sie mich auch als Kanzlerin empfangen hat. Selbst wenn es bei meinen Auslandsbesuchen keine spezifisch politische Agenda gibt, ist es wichtig, dass mein Volk Unterstützung erfährt, vor allem durch die Europäische Union. Der Zustrom von Millionen chinesischer Siedler macht unsere Lage dramatisch. Frage: China hat heftig protestiert und ist erst nach Monaten wieder zu den normalen diplomatischen Gepflogenheiten zurückgekehrt. Glauben Sie, dass die chinesische Führung hinter den Kulissen von solchen Gesten beeindruckt wird? Dalai Lama: Auf jeden Fall müssen die Chinesen dadurch erken-
Frage: Dennoch stellt sich die Frage, woher nehmen Sie die Hoffnung, dass sich die Tibetpolitik der chinesischen Regierung ändern könnte, bevor es zu spät für Tibet ist? Dalai Lama: Der Wandel, der sich derzeit in China vollzieht, stimmt mich hoffnungsfroh. Dieser Wandel ist rasant, auch wenn er von außen nicht immer gleich wahrgenommen wird. Die Wirtschaft verändert sich, die sozialen Strukturen verändern sich. Auch wenn die Politik davon noch unberührt erscheint, wird sie sich dem auf die Dauer nicht entziehen können. Dann gibt es auch neue Perspektiven für Tibet. Schauen Sie sich die Entwicklung in Ihrem eigenen Land an; den Fall der Mauer hat selbst kurz vorher niemand erwartet.“ Frage: Es mehren sich aber auch kritische Stimmen innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft, die beklagen, dass Ihre sehr zurückhaltende Politik gegenüber China verhindert, Tibet als politischen Konflikt ernst zu nehmen. Sie halten militante Aktionen, die durchaus gewaltfrei sein können, für effektiver. Dalai Lama: Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Dank der Politik der Versöhnung und der Gewaltlosigkeit bekommen wir große Unterstützung, die wir mit militanten Aktionen nicht hätten. Auch die Wirkung solcher Aktionen auf die Chinesen wäre verheerend. Wenn der Wandlungsprozess in China Perspektiven für Tibet eröffnen soll, müssen wir die Menschen dort erreichen. Das liegt im Interesse beider Völker. Es kann nur eine friedliche und vertrauensvolle Koexistenz geben, und die ist durch Gewalt nicht möglich. Frage: Dass China sich wandelt, ist sicher unbestritten. Aber haben Sie schon Anhaltspunkte dafür, dass sich ein solcher Wandel auch auf die Politik gegenüber Tibet auswirkt?
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2. 5 Warum lieben die Deutschen den Dalai Lama? Dalai Lama: Auch da gibt es hoffnungsvolle Ansätze. Nach inoffiziellen chinesischen Erhebungen, die wir noch überprüfen müssen, praktizieren bereits etwa eine Million Chinesen den tibetischen Buddhismus. Diese Menschen begegnen unseren Anliegen mit großer Sympathie, und sie sehen die Politik ihrer Regierung sehr kritisch. Es gibt Schriftsteller, die sich in diese Richtung äußern, und auch das stimmt mich hoffnungsfroh. Frage: Welche Rolle spielt die Tibet-Solidaritätsbewegung bei dieser Entwicklung? Dalai Lama: Zunächst einmal ist es mir ganz wichtig zu betonen, dass ich diese Arbeit sehr schätze und bewundere. Sie macht auch uns Mut. Darüber hinaus möchte ich unseren Freunden im Westen sagen, sie sollen nicht verzagt sein, nur weil die Situation selbst so hoffnungslos erscheinen mag. Neben den vielen wichtigen Aktivitäten, mit denen das Schicksal meines Volkes in der Öffentlichkeit wach gehalten und China deutlich gemacht wird, dass es sich bewegen muss, möchte ich noch eines hervorheben, was häufig leicht übersehen wird: Sie können auch Einfluss auf die vielen chinesischen Studenten nehmen, die im Ausland studieren und nach einigen Jahren zurückkehren. Sie bringen nicht nur Fachinformationen mit nach Hause. Sie haben Freiheit und Demokratie kennen gelernt und sie haben ein großes Bedürfnis, diese Werte auch in ihrer Heimat zu genießen. Dieser neuen Situation wird sich die Regierung über kurz oder lang stellen müssen. Frage: Um zu einer Verhandlungslösung zu kommen, müssen beide Seiten Konzessionen machen und sie müssen die politische Führung erreichen. Die zeigt sich im Moment sehr verschlossen. Was könnten Sie der chinesischen Regierung als Anreiz bieten, mit Ihnen in ernsthafte Verhandlungen einzutreten?“ Dalai Lama: Für China steht viel auf dem Spiel, gerade im Vorfeld der Olympischen Spiele. Das Land möchte als echte Supermacht anerkannt werden. Es verfügt bereits über eine entsprechende demografische, militärische und wirtschaftliche Stärke, aber eines fehlt noch: die internationale Reputation, der Respekt der Weltgemeinschaft. Die chinesische Führung weiß, dass die Lösung der Tibetfrage eine einzigartige Gelegenheit für sie ist, um sich ein gutes Image in der Welt zu verschaffen. Bis jetzt ist die Politik gegenüber Tibet eine Quelle ständiger Kritik für Peking, und das liegt nicht im Interesse der Machthaber. Frage: Sie haben das Stichwort bereits gegeben, die Olympischen Spiele in Peking rücken näher, die Proteste und die Boykottaufrufe werden lauter. Prinz Charles bleibt der Eröffnungsfeier fern und Steven Spielberg hat das ehrenvolle Amt als künstlerischer Berater
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der Spiele zurückgegeben. Was ist Ihre Position zu Olympia 2008 in der chinesischen Hauptstadt? Dalai Lama: China ist die bevölkerungsreichste Nation der Welt und zudem eine alte Zivilisation mit einer bedeutenden Geschichte und Kultur. Deshalb bin ich grundsätzlich der Meinung, dass es China verdient hat, das größte Sportereignis der Welt auszurichten. Frage: Sie lehnen also einen Boykott, wie er von vielen gefordert wird, ab? Dalai Lama: Das ist richtig, ein Boykott erscheint mir zu radikal und der Bedeutung Chinas nicht angemessen. Frage: Kann man daraus schließen, dass Sie für eine strikte Trennung von Sport und Politik plädieren, wie es von vielen Sportfunktionären und Aktiven gefordert wird? Dalai Lama: So einfach ist es nicht, denn alles ist miteinander verbunden. Als die Spiele an Peking vergeben wurden, hat sich die chinesische Führung der Weltgemeinschaft gegenüber verpflichtet, die universellen Werte wie Freiheit, Demokratie, Presse- und Redefreiheit zu respektieren. Insofern war die Entscheidung für Peking mit der Hoffnung verbunden, dass die internationale Aufmerksamkeit dazu beiträgt, diese Werte in China zu stärken. Auch für uns war das übrigens ein Grund, die Wahl zu unterstützen. Frage: Sehen Sie eine solche Verbesserung? Dalai Lama: Menschenrechtsorganisationen haben dazu viel gesagt und auch mir Berichte vorgelegt, die das widerlegen. Die Situation in meiner Heimat ist besonders schwierig, die Repression nimmt zu. Diese Kritiker halten die Austragung der Spiele in Peking deshalb für ein falsches Signal. Frage: Wenn sich Ihre Hoffnungen auf eine Veränderung in China durch die Olympischen Spiele nicht erfüllt haben, welche Möglichkeiten sehen Sie, noch Einfluss auf die Entwicklung zu nehmen? Unterstützen Sie friedliche Proteste? Können die Spiele selbst ein Forum sein, um auf die Schattenseiten Chinas aufmerksam zu machen und Druck auszuüben? Dalai Lama: Lassen Sie es mich so sagen, es ist wichtig und richtig, die chinesische Führung, das chinesische Volk und die internationale Gemeinschaft immer wieder daran zu erinnern, dass die Vergabe der Spiele mit großen Erwartungen verknüpft war. Alles, was in diese Richtung zielt, unterstütze ich.
S.H. der 14. Dalai Lama und Franz Alt
Gastbeitrag von Franz Alt „Der Gott zum Anfassen“ hat ihn der „Spiegel“ genannt. Auf diesen zweifelhaften Titel angesprochen, lacht der Dalai Lama sein gurgelndes Lachen und meint schließlich: „Die Leute im Westen verstehen nicht viel vom Buddhismus. Erstens kennen wir keinen persönlichen Gott und zweitens bin ich ein einfacher Mönch.“ Und was denkt er über die meist gebrauchte Anrede für ihn, „Heiligkeit“? „Das ist doch Blödsinn.“ Und wenn einer wissen will, ob er „als Gottkönig über heilende Kräfte verfüge“ scherzt „Seine Heiligkeit“ ziemlich derb: „Wenn ich tatsächlich über Heilkräfte verfügen würde, täte mir mein linkes Knie im Augenblick nicht so weh. Aber das ist leider so.“ Eine Woche lang erläuterte der Dalai Lama im letzten Jahr in Hamburg den buddhistischen Weg zum gewaltlosen Glück. Über 60.000 Menschen kamen – aus ganz Westeuropa. Da sind viele Projektionen glaubenshungriger Europäer auf einen „Papst“ im Spiel, der in vielem das Gegenteil des Papstes in Rom ist. Viel westliche Sehnsucht nach Erlösung aus dem Osten, die der „Papst des Ostens“ aber weder erfüllen kann noch erfüllen will. Wie man schnell zur Erleuchtung kommen kann, will einer wissen. Sarkastisch empfiehlt der Dalai Lama: „Lassen Sie sich eine Spritze geben!“. Auch in Hamburg betonte er immer wieder, dass westliche Christen im christlichen Abendland verwurzelt seien und es auch bleiben sollten. Der Mann will niemand bekehren. Er will aber anregen, über mehr Menschlichkeit und Gewaltlosigkeit nachzudenken. „Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Gewalt. Es liegt doch an uns allen, aus dem 21. Jahrhundert ein Jahrhundert des Friedens und der Gerechtigkeit zu machen.“ Der Weg dahin scheint einfach. Der Dalai Lama skizziert ihn so: „Erst wenn wir Frieden in uns haben, können wir einen Beitrag zum Weltfrieden leisten. Das kann jede und jeder.“ Manchem seiner deutschen Zuhörer scheint diese These naiv. Aber gibt es eine Alternative? Die Bergpredigt Jesu mit ihren Seligpreisungen der „Friedenstifter“ und der Forderung nach „Feindesliebe“ ist nicht weniger naiv. „Die Bergpredigt ist ein Überlebensprogramm der Menschheit wie der achtfache Pfad Buddhas,“ hatte mir
der Dalai Lama vor 20 Jahren schon gesagt. Warum aber fühlen sich immer mehr Deutsche - auch viele Christen - vom Charisma und der sanften Lehre des Dalai Lama so angezogen? Jeder dritte Deutsche hält den Dalai Lama für „den weisesten Menschen der Gegenwart“. Warum vertrauen dem fremden „Gottkönig“ mehr Deutsche als dem deutschen Papst in Rom? Und warum genießt der Buddhismus bei Umfragen in Deutschland mehr Sympathie als das Christentum? „Ohne Menschen ginge es der Erde besser“, sagte der Dalai Lama in meiner letzten Fernsehsendung und fügte lächelnd – er lächelt fast immer – hinzu: „Aber ich bin Optimist. Wir Menschen können uns ändern.“ Benedikt XVI. ist ein weiser Papst, aber auch ein ängstlich-enger Mensch und Professor für Dogmatik. Er misstraut den Menschen. Ganz anders der Dalai Lama. Die Menschen vertrauen ihm, weil er ihnen vertraut, auch Änderungen zutraut. Das spürt jeder, der ihn kennt oder auch nur hört. Der Papst will missionieren. Der Dalai Lama sagt: „Religion ist nicht so wichtig - Vertrauen ins Leben und ein glückliches Leben sind wichtig. Das ist die wahre Religion.“ Auf meine Frage, was ihn trotz aller Leiden seines Volkes optimistisch stimme, sagt der lebensfrohe Asket: „Gewalt ist immer irrational. Gewaltfreiheit ist langfristig realistischer.“ Deshalb ist sich der Mann zwischen Weisheit und Weltpolitik auch ganz sicher: „Eines Tages wird Tibet frei sein. Wir wollen der ganzen Welt einen neuen, friedlichen Weg zur Freiheit zeigen.“ Er ist der toleranteste aller heute lebenden Religionsführer. In der Schweiz, wo viele tibetische Flüchtlinge leben, fragte ich ihn, ob es ihn störe, dass einige junge Tibeter zum christlichen Glauben übergetreten sind. Seine Antwort ist typisch für seine Toleranz: „Warum sollte mich das stören? Wichtig ist doch nicht, welcher Religion ein Mensch angehört. Wichtig ist, dass er glücklich ist. Wenn junge Tibeter in der christlichen Schweiz zum Christentum übertreten und glücklich dabei sind, dann freue ich mich für sie und mit ihnen.“ Kann man sich vorstellen, dass der Papst in Rom ähnlich tolerant denkt und redet wie der “Papst des Ostens“? Der Dalai Lama ist ein sanfter Verführer zu mehr menschlichem Glück, der Menschenfischer unserer Zeit. Das Thema Liebe ist das Topthema jeder Religion. Der Papst hat dazu eine streng wissenschaftliche Enzyklika geschrieben. Der Dalai Lama sagt zum selben Thema: „Liebe ist, was jeder Mensch von seiner Mutter mitbekommt.“ Dafür lieben und verehren ihn die Deutschen und fast die ganze Welt. Franz Alt ist einer der bekanntesten deutschen Fernsehjournalisten und Publizisten. Seit Jahrzehnten engagiert er sich für Tibet. Gemeinsam mit dem Fotografen Helfried Weyer veröffentlichte er das Buch „TIBET – weites Land zwischen Himmel und Erde“ Koehlers Verlagsges. - ISBN: 3782209184 - EUR 34,00 Weitere Informationen zu seiner Arbeit: www.franzalt.de
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3. Politik
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3. 1. Der Dalai Lama und der chinesische Nachbar Dennoch wollte sich der Dalai Lama in seinem Urteil über China nicht von seinen Ängsten leiten lassen. Besonders aufmerksam studierte er die Veränderungen entlang des Weges, der die Delegation zurück nach Tibet führte. Auch seinen Heimatort Taktser besuchte er – es sollte das letzte Mal in seinem Leben sein. Dort waren die Menschen unzufrieden, denn in dem Grenzgebiet wurden zweifelhafte Reformen wie die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft rücksichtslos durchgeführt. Der gesamte Rückweg wurde über Land absolviert, die Straßenverbindung war inzwischen fertiggestellt worden. Dafür hatten Tausende tibetischer Zwangsarbeiter sorgen müssen, doch das konnten die Chinesen damals noch vor dem tibetischen Oberhaupt verbergen.
Faszination Marxismus
Obwohl der Dalai Lama im äußersten Nordosten des tibetischen Siedlungsgebiets geboren wurde, hatte er während seiner Kindheit und Jugend keinerlei Berührungen mit dem großen Nachbarn – von der chinesischen Invasionsarmee abgesehen. Das änderte sich 1954, als er gerade 19 Jahre alt geworden war. Damals erreichte den Dalai Lama eine Einladung aus Peking, an der ersten Nationalversammlung der Volksrepublik China teilzunehmen und mit dem Vorsitzenden Mao zusammenzutreffen, um sich ein Bild von dem „Leben im Mutterland“ zu machen. Die Menschen in seiner Umgebung fürchteten, ihr Oberhaupt würde nie wieder nach Tibet zurückkehren, doch darüber setzte sich der Dalai Lama hinweg; im Juli 1954 machte er sich an der Spitze von 500 Würdenträgern, Offiziellen und Verwandten auf die 3.500 km lange Reise in die chinesische Hauptstadt, wo ihn Ministerpräsident Chou Enlai empfing. Nach einer Woche traf er mit Mao zusammen, dem er insgesamt zehnmal begegnete. Einmal eröffnete Chinas starker Mann dem Dalai Lama: „Tibet ist ein großes Land. Sie haben eine großartige Geschichte. Vor langer Zeit haben Sie sogar weite Teile Chinas erobert. Aber jetzt sind Sie im Rückstand, und wir wollen Ihnen helfen. Vielleicht sind Sie in zwanzig Jahren im Vorsprung, dann ist es an Ihnen, China zu helfen.“ Neben Empfängen und Banketts wartete auch ein politisches Amt auf den Dalai Lama. Er wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes ernannt. Hinter dem beeindruckenden Titel verbarg sich allerdings wenig Macht. Zweieinhalb Monate blieb die tibetische Delegation zunächst in Peking, dann wurde sie ebenso lange durch China geleitet. Sie sah neue Straßen, Brücken,
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Fabriken, Genossenschaften, Schulen, Universitäten und andere Zeichen des sozialistischen Fortschritts. Aber auch Klöster durfte sie besuchen. Nur eines war ihr nicht möglich: mit der einfachen Bevölkerung in Kontakt zu treten; „aus Sicherheitsgründen“, wie es hieß. Im März 1955 traf sie wieder in Peking ein, um die Rückfahrt nach Tibet anzutreten.
Maos Ratschlag Am letzten Abend seines Chinabesuchs ließ Mao den Dalai Lama eigens zu sich rufen. Er wollte ihm einen abschließenden Ratschlag mit auf den Weg geben: „Wissen Sie, Sie haben eine gute Einstellung. Aber die Religion ist Gift. Zum einen reduziert sie die Bevölkerung, weil Mönche und Nonnen keusch bleiben müssen, und dann verhindert sie den materiellen Fortschritt.“ Für den Dalai Lama war das ein Schock, der alles zuvor Erlebte in ein anderes Licht setzte: „Als er dies sagte, spürte ich ein starkes Brennen auf meinem ganzen Gesicht und hatte plötzlich große Angst. ’Ja’, dachte ich, ’er ist also doch der Zerstörer des Dharma, der Lehren des Buddhismus“.
Je mehr sich der Dalai Lama Lhasa näherte, desto beeindruckter war er von dem, was er sah. In Zentral-Tibet beschränkten sich die Chinesen einstweilen darauf, die Infrastruktur zu verbessern. Mit ihren Reformen hielten sie sich zunächst noch zurück. Gegenüber General Zhang Jingwu bekannte das tibetische Oberhaupt bei der Rückkehr freimütig: „Als ich im letzten Jahr auf dieser Straße nach China gefahren bin, da war ich voller Misstrauen. Nun kehre ich auf dem gleichen Weg voller Vertrauen zurück.“ Noch heute sagt er über seine Erfahrungen mit dem Marxismus: „Als ich in China war, betrachtete ich mich als einen √’Halb-Marxisten’, und so sehe ich mich noch heute. Der Marxismus ist ein Gesellschaftssystem, das Gleichheit und Gerechtigkeit anstrebt, und das begrüße ich sehr, denn es sind Werte, die auch der Buddhismus verfolgt. Der Buddha hat ebenfalls keine Standesunterschiede akzeptiert. Ich wünsche mir schon lange eine Synthese von Marxismus und Buddhismus. Ich bedauere nur, dass sich der Marxismus allein auf die materielle, irdische Welt beschränkt und die Werte der Religion im Allgemeinen nicht versteht.“ Seine versöhnliche Haltung gegenüber dem großen Nachbarn im Osten hat er nie aufgegeben, auch nicht nach den großen Zerstörungen, die seiner Flucht folgten. Als in Peking die radikalen Nachfolger Maos entmachtet worden waren, gab es in Tibet einen kurzen liberalen Frühling, der auch Folgen für das Verhältnis zum Dalai Lama hatte. Sogar eine Rückkehr das Dalai Lama schien möglich. Sein Bruder Gyalo Thondup, der mit einer Chinesin verheiratet war, verhandelte mit der Führung in Peking. Zunächst wurde vereinbart, dass vier Delegationen das Land besuchten und sich ein Bild von der Situation machten. Die Begeisterung der Tibeter war – ungeachtet aller Warnungen – so überwältigend, dass die chinesische Führung danach mit weiteren Offerten an den Dalai Lama vorsichtig war. Jede Konzession könnte die Lage in Tibet unkontrollierbar ma-
chen. Zudem waren die Berichte der Delegationen über die Lage in Tibet erschütternd.
Gesten der Versöhnung Um China dennoch die Hand zu reichen und zu einer einvernehmlichen Lösung für Tibet zu kommen, hat der Dalai Lama sogar die Forderung nach Unabhängigkeit aufgegeben. Am 21. September 1987 legte er vor dem Menschenrechtsausschuss des Amerikanischen Kongresses erstmals einen Fünf-Punkte-Friedensplan vor, der die Basis der Tibeter für Verhandlungen mit der Volksrepublik bildet: Tibet soll zu einer Friedenszone erklärt werden. Die Umsiedlung von Chinesen nach Tibet muss aufhören. Die fundamentalen Menschenrechte und demokratischen Freiheiten müssen respektiert werden. Die Umweltzerstörung muss gestoppt werden. Ernsthafte Verhandlungen zwischen dem chinesischen und dem tibetischen Volk über den Status von Tibet müssen aufgenommen werden. Am 15. Juni 1988 verzichtete er in einer Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg vollständig auf die Forderung nach Unabhängigkeit. Er bot der chinesischen Führung an: „Gesamttibet soll in Assoziierung mit der Volksrepublik China eine sich selbst regierende, demokratisch-politische Einheit werden, die sich (…) dem Allgemeinwohl sowie dem Schutz der Bevölkerung und der Umwelt verpflichtet. Die Regierung der Volksrepublik China könnte auch weiterhin für Tibets Außenpolitik verantwortlich bleiben.“ Diese als „mittlerer Weg“ bezeichnete Initiative wurde seitdem noch modifiziert, doch im Kern hält der Dalai Lama daran fest, der VR China die völkerrechtliche Hoheit über Tibet zuzugestehen, wenn Peking im Gegenzug echte Autonomie gewährt und den Zuzug chinesischer Siedler stoppt. Immer wieder gab es Hoffnungsschimmer, dass die chinesische Führung die Hand der Versöhnung ergreifen und sich um eine Lösung bemühen könnte, so auch als im September 2002 wieder Gesandte des Dalai Lama Tibet und China besuchen konnten. Nach insgesamt sechs Gesprächsrunden, deren letzte im Juni/Juli 2007 stattfand, sprach jedoch der selbst Dalai Lama von einem „Stillstand“. Die gegen ihn gerichtete persönliche Diffamierungskampagne in Tibet hat sich seitdem noch verschärft. Nach den schweren Unruhen vom März 2008 verfiel Peking in die Rhetorik der Kulturrevolution. Das tibetische Oberhaupt wurde als „Inbegriff des Bösen“, „Teufel in Menschengestalt“ und „Wolf in der Mönchsrobe“ diffamiert. Dennoch wächst unter der chinesischen Bevölkerung die Bewunderung für den Dalai Lama, eine Entwicklung, die vielleicht auch einmal die Führung erreichen wird.
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3. Politik
3. Politik
3. 2. Der Dalai Lama und die internationale Politik
Verleihung der Congressional Gold Medal,
S.H. der 14. Dalai Lama und Angela Merkel
die Verleihung des Friedensnobelpreises 1989 hatte eine politische Note, und das Nobelpreiskomitee beklagte, seit Hitlers Wutausbrüchen gegen die Verleihung des Preises an den deutschen Pazifisten Carl von Ossietzky 1935 habe niemand mehr so heftig gegen die Wahl protestiert wie die chinesische Regierung.
Peking unversöhnlich Petra Kelly
S.H. der 14. Dalai Lama und Roland Koch
Von Beginn seines Exils an hat sich der Dalai Lama bemüht, die Situation in Tibet zum Thema der internationalen Politik zu machen. Gegen den Willen der indischen Regierung, die ihre Hilfe auf den humanitären Bereich beschränkte, traf er sich mit Botschaftern verschiedener Staaten, von denen er sich erhoffen konnte, dass sie die Tibet-Frage auf die Tagesordnung der UNO bringen würden. Von den beiden Konfliktparteien gehörte niemand den Vereinten Nationen an. China wurde bis 1971 von Taiwan vertreten; Tibet war nie einer weltumspannenden Organisation beigetreten. Irland und der Malaiische Bund (der Vorläufer des heutigen Malaysia) beantragten beim Lenkungsausschuss der Vollversammlung eine Tibet-Resolution. Am 21. Oktober 1959 verabschiedete das oberste UN-Gremium mit 45 gegen neun Stimmen bei 26 Enthaltungen eine erste Resolution zu Tibet. Zwei Jahre später wurde die Tibet-Frage noch einmal in der UN-Vollversammlung diskutiert. Neben Irland und dem Malaiischen Bund hatten Thailand und El Salvador eine Resolution eingebracht, die am 20. Dezember 1961 mit 56 gegen 11 Stimmen bei 29 Enthaltungen angenommen wurde. Eine dritte Resolution verabschiedete die UN-Vollversammlung am 18. Dezember 1965, die in Wort und Sinn an die vorhergehenden anknüpfte. Seitdem war Tibet kein Thema mehr in der UN-Vollversammlung. Heute kann die VR China als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats ohnehin jede pro-tibetische Initiative mit einem Veto blockieren.
Otto Graf Lambsdorff
Tibet im Blickpunkt Es dauerte bis in die 1980er Jahre hinein, bis sich ein grundlegender Wandel in der politischen Wahrnehmung des Dalai Lama durchsetzte. Eine neue Generation von Politikern gewann an Einfluss, die in Fragen der Ökologie, der Verteidigung, aber auch der Außenpolitik einen neuen Kurs forderte. Grundlegende Völker- und Menschenrechte sollten nicht länger nur von engagierten Bürgern eingefordert, sondern zu einem Anliegen der Politik werden. Darüber hinaus ließ der Zerfall des Kommunismus in Osteuropa viele Politiker mutiger für die Opfer totalitärer Regime Partei ergreifen. Der Verdienst, den Dalai Lama in der deutschen Politik salonfähig gemacht zu haben, gebührt der Grünen Bundestagsabgeordneten Petra Kelly. Bemerkenswert ist jedoch, dass Tibet und der Dalai Lama über jeder Parteipolitik stehen. Es waren immer einzelne Persönlichkeiten, die wirtschaftspolitische Erwägungen ignoriert und sich durch ihre Solidarität mit dem Dalai Lama der Kritik Chinas ausgesetzt haben. Neben Petra Kelly gilt das vor allem für den FDP-Ehrenvorsitzenden Otto Graf Lambsdorff sowie den CDUMinisterpräsidenten Roland Koch. Darüber hinaus hat die SPD-Politikerin Annemarie Renger im politischen Bonn das Eis gebrochen. Sie erschien 1973 als amtierende Bundestagspräsidentin und zweite Frau im Staat auf einem Empfang zu Ehren des Dalai Lama. In den neunziger Jahren wurde der Dalai Lama von den meisten Staats- und Regierungschefs der westlichen Welt empfangen, darunter von den US-Präsidenten Bush sr., Clinton und Bush jr. Auch
So geht es bis heute, wenn dem Dalai Lama internationale Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Ungeachtet aller Versöhnungsangebote bleibt die Regierung dabei, dass der Dalai Lama ein „Separatist“ sei, der die „nationale Integrität des Mutterlandes“ gefährde und damit gegen das Völkerecht verstoße. Empfänge des Dalai Lama auf der internationalen Bühne wertet die Führung in Peking deshalb als „Einmischung in innere Angelegenheiten“, und sie bemüht sich sehr, das tibetische Oberhaupt international zu isolieren – inzwischen mit wachsendem Erfolg. Politikern, die ihn treffen wollen, wird unverblümt mit Sanktionen gedroht. Wie ernst es Peking damit meint, wurde deutlich, als sich Bundeskanzlerin Merkel im September 2007 über alle Drohungen hinweggesetzt und den Dalai Lama empfangen hat. Drei Monate später sind Italiens Ministerpräsident Prodi und Papst Benedikt XVI vor Peking eingeknickt. Bei einem Italien-Besuch des Dalai Lama hatte die Kurie eine Zusammenkunft mit dem Papst sogar schon öffentlich gemacht, doch als die chinesische Regierung unverblümt negative
S.H. der 14. Dalai Lama und Joschka Fischer
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Klaus Havel
Konsequenzen für die Katholiken im Reich der Mitte ankündigte, machte der Papst einen Rückzieher. Romano Prodi war trotz vieler pro-tibetischer Stimmen aus seiner Koalition von Beginn an nicht zu einem Empfang zu bewegen gewesen. Einen besonders fragwürdigen Erfolg erzielte China auch, als dem Dalai Lama im Januar 2007 ein Visum für das Welt-Sozialforum in Nairobi/Kenia verweigert wurde. Sollten sich dort doch die Repräsentanten treffen, die für eine gerechte und friedliche Welt eintreten. Aber es gibt auch weiterhin andere Beispiele, etwa die Verleihung des höchsten Zivilordens in den USA, der Congressional Gold Medal, im Oktober 2007, sowie der kanadischen Ehrenbürgerschaft. Zu beiden Anlässen kam der Dalai Lama mit den jeweiligen Regierungschefs zusammen. In dem Zusammenhang ist vor allem das Engagement von George Bush hervorzuheben, denn der Dalai Lama hat dessen Vorgehen gegenüber dem Irak mehrfach deutlich kritisiert. Selbst wenn Politiker und Vertreter des öffentlichen Lebens bei Treffen mit dem Dalai Lama seine religiöse Rolle betonen, machen die vehementen chinesischen Proteste deutlich, dass der Dalai Lama niemals nur ein religiöses, sondern auch ein politisches Oberhaupt ist. Seine öffentlichen Auftritte sind deshalb immer auch Kundgebungen für das Recht des tibetischen Volkes auf Selbstbestimmung. Der Schlüssel, das Problem zu lösen und die Kritik zum Verstummen zu bringen, liegt in Peking.
S.H. der 14. Dalai Lama und der österreichische Kanzler Gusenbauer
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3. Politik
3. Politik
3. 3. Separatist – Feudalist – Weltverschwörer? Kritik am Dalai Lama und deren Substanz. Es gibt auch Kritik am Dalai Lama, die nicht politisch motiviert ist. Davon zeugen Buchtitel wie „Der Schatten des Dalai Lama“ „Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs“ oder „Und der Dalai Lama lächelte – Die dunklen Seiten des tibetischen Buddhismus“. Am weitesten gehen die Münchner Publizisten Herbert und Mariana Röttgen, die unter dem Pseudonym Trimondi schreiben. Ihr Buch, „Hitler – Buddha –Krishna. Eine unheilige Allianz vom Dritten Reich bis heute“ bringt den Friedensnobelpreisträger sogar in die Nähe der Nazis. Der Buddhismus sei keinesfalls so friedfertig, wie er im Abendland wahrgenommen werde, heißt die Kernthese der Kritik. Es handele sich im Gegenteil um eine militante, dogmatische Religion, die vor politischem und rituellem Mord nicht zurückschrecke. Letztlich strebe sie die Weltherrschaft an und bereite sich auf einen Endkampf mit dem Islam vor. „Angebliches Friedensritual des Dalai Lama soll Soldaten rekrutieren“. „Buddhokratie: Noch radikaler als fundamentalistischer Islam“ lauteten einige der Schlagzeilen, die von der konservativen Kirchenpresse gern aufgegriffen werden, denn sie sieht im Dalai Lama unverblümt einen Rivalen. Ein weiterer Vorwurf lautet, der Buddhismus hege eine tief verwurzelte Verachtung gegen Frauen und Mädchen und benutze sie in sexualmagischen Praktiken als bloße Energiespender zum Ausbau der patriarchalen Macht.
Das Buch der Publizisten Herbert und Mariana Röttgen
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Alte Nazis reaktiviert Um den militanten Charakter des Buddhismus zu untermauern, bezichtigen die Kritiker den Dalai Lama enger Kontakte zu alten und neuen Nazis und betonen das Interesse der NS-Ahnenforschung an östlichen Kulturen. Dass es unter den Nationalsozialisten Gruppierungen gab, die eine spezifische NS-Religion mit dem rassereinen arischen Menschen ins Leben rufen wollten, ist unbestritten. Deren Wurzeln orteten sie im Osten. Von den indischen Veden bis zur japanischen Samurai-Tradition kam ihnen alles gelegen was „arisch“ und militant erschien. Ihr führender Protagonist war Walther Wüst, Orientalist, Rektor der Universität München und SS-Standartenführer. Auch andere aus dem Kreis der „Deutschen Glaubensbewegung“ waren Orientalisten oder Indologen. Bei dem ReichsführerSS Heinrich Himmler fanden sie ein offenes Ohr. Tibet zählten die SS-Ahnenforscher zur Basis einer arischen Urkultur. Drei Tibetexpeditionen, die mehr aus Naturwissenschaftlern als aus Anthropologen bestanden, waren die Folge. Ihr Leiter, der Biologe und Zoologe Ernst Schäfer von der Universität Göttingen, zeigte in seinen Schriften jedoch wenig Respekt vor den „Urariern“. Die Sherpa beschreibt er als „anmaßendes, niederträchtiges Geschmeiß“. Über eine Begegnung mit Nomadenfrauen erregt er sich: „Und erst diese schwarzen, tierischen, unglaublich verwahrlosten Frauen der Phari-Tibeter! Abstoßenden Zwerginnen ähnlicher als menschlichen Wesen, sind sie das ekelerregendste an Weiblichkeit, was ich je zu Gesicht bekommen habe... Ein wahrer Abschaum der Menschheit!“ Insgesamt spielte die Asienbegeisterung innerhalb der SS eine untergeordnete Rolle; nach dem Überfall auf Polen wurde sie gänzlich aufgegeben. Die heutige Kritik übersieht zudem, wie einseitig der Austausch war. In Tibet hat sich niemand für die vermeintliche geistige Verbundenheit interessiert. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Dalai Lama später einen der Expeditionsteilnehmer, den als Kriegsverbrecher verurteilten Bruno Beger, empfangen hat. Das war gewiss keine sonderlich kluge Entscheidung, doch offenbart sie Unbedarftheit und nicht Sympathie für nationalsozialistisches Gedankengut. Das gleiche gilt für den Kontakt mit dem japanischen Sektenführer und Giftgas-Attentäter Soko Ashahara, der in den einschlägigen Publikationen sogar zum „engen Freund“, oder „Bruder im Geiste“ des tibetischen Oberhauptes mutiert. Die Wirklichkeit ist viel banaler. In den achtziger Jahren tauchte Ashahara zweimal in Dharamsala auf. Er hat sich als japanischer Buddhist ausgegeben und damit das Interesse des Dalai Lama geweckt. Aus der Zeit stammt auch ein kurzer Briefwechsel. Zudem haben Ashaharas Anhänger soziale Projekte der Flüchtlingsgemeinden in Nordindien unterstützt. Der Dalai Lama ging jedoch rasch auf Distanz, als sich herausstellte, dass Ashahara den Kontakt nur für seine eigene Popularität in Ja-
pan benutzte. Das war lange vor den terroristischen Aktivitäten des Sektenführers.
Islamische Eroberung Neben den Nazi-Orientalisten verweisen die Kritiker auf den Kalachakra-Mythos, um den militanten und expansiven Charakter des tibetischen Buddhismus zu beweisen, der sich vor allem gegen den Islam richte. Er enthält militante Passagen, die jedoch aus ihrem Entstehungszusammenhang heraus verstanden werden müssen. Die Wurzeln des Kalachakra, das für den Dalai Lama in der Tat ein sehr wichtiger Text ist und auch als „Rad der Zeit“ bezeichnet wird, verlieren sich im Dunkel der Geschichte. Die Mythologie führt die Überlieferung in das Königreich Shambhala (auch als Shangri-la bekannt) zurück, ein „reines Land der Vollkommenheit.“ Das Kalachakra, wie es heute überliefert ist, stammt aus der Zeit, als der Buddhismus in seinem Ursprungsland Indien nahezu ausgelöscht worden war. Zwar hatte die Lehre Buddhas den Höhepunkt ihrer Ausdehnung in Südasien bereits überschritten und der Hinduismus, aus dem sie hervorgegangen war, war wieder zu führenden Religion geworden. Es gab jedoch eine friedliche Koexistenz und selbst militante Hindus tun sich leicht, den Buddhismus als eine Richtung ihrer ohnehin sehr heterogenen Religionen zu akzeptieren. Den Todesstoß erhielt der Buddhismus in Indien durch islamische Eroberer. Besonders traumatisch war die vollständige Zerstörung der Kloster-Universität von Nalanda in Bihar im Jahre 1202 durch Muhammad Bakhtyar Khalji. Sie war damals mit über 10.000 Studenten und 1.000 Gelehrten das geistige Zentrum der gesamten buddhistischen Welt. Diese Barbarei führte zu einer großen Fluchtbewegung buddhistischer Gelehrter und Künstler nach Tibet und Birma. Für die Buddhisten sitzt diese Erfahrung so tief wie für die Muslime das Trauma der Kreuzzüge – nur mit dem Unterschied, dass sich die christlichen Kreuzritter nicht lange im „heiligen Land“ halten konnten, während die Muslime nahezu sechs Jahrhunderte über Indien geherrscht haben und heute zwei Staaten auf dem indischen Subkontinent bilden. Dennoch werden die Kalachakra-Texte rein symbolisch interpretiert; sie sind keine konkrete Handlungsanweisung. Die Bilder von kriegerischen Schlachten dienen dazu, metaphysische Vorgänge verständlich zu machen. Es geht dabei um den Kampf zwischen Gut und Böse, den jeder für sich ausfechten muss. In dem Sinne lehrt der Dalai Lama das Kalachakra, und er steht damit in einer Tradition von Mahatma Gandhi, einem der radikalsten aller Pazifisten. Gandhi war ein großer Verehrer der Bhagavad Gita, eine der ältesten indischen Überlieferungen, die von Kriegen und Schlach-
Ein Kalachakra Mandala
ten geprägt ist. Gandhi wusste jedoch, dass damit nicht der Krieg verherrlicht werden sollte, sondern der Mensch angespornt, sich in den täglichen Versuchungen auf die Seite des Guten zu schlagen.
Die Praxis als Maßstab Auch der Vorwurf der Frauenfeindlichkeit kann nur im historischen Zusammenhang gesehen werden. Dass der Buddhismus aus einer extrem patriarchalen Tradition heraus entstanden ist und Buddha sich – wie die meisten Religionsstifter - schwer getan hat mit der Frauenfrage, ist unbestritten. Erst auf wiederholte Fürsprache seines Lieblingsjüngers Ananda hin hat er der vollen Ordination von Frauen zugestimmt, ihnen jedoch noch mehr Pflichten auferlegt als den Mönchen. Der tibetische Buddhismus tut sich damit bis heute schwer. In seiner Tradition können Frauen nur das Novizengelübde ablegen. Wer das volle Nonnengelübde ablegen will, muss dafür nach Taiwan oder in andere buddhistische Länder reisen. Um diesen Zustand zu beenden, fand im Juli 2007 in Hamburg ein Kongress von tibetisch-buddhistischen Nonnen statt, an dem auch der Dalai Lama teilnahm. Er bekundete den Nonnen seine Sympathie und Unterstützung, bedauerte jedoch, eine solche Entscheidung nicht allein treffen zu können. Das widerspreche dem Ordensrecht. Im Hintergrund schwelen handfeste Meinungsverschiedenheiten,
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3. Politik
3. Politik
3. 4. Gastbeitrag von Erich Follath (Chefkorrespondent des Spiegel) duzieren... Diesem partiellen Rückzug soll in ein paar Jahren dann meine vollständige Pensionierung als Politiker folgen.“ Aber auch wenn der Dalai Lama auf die vorhandenen Strukturen eines demokratisch legitimierten Exilparlaments hinweist: Er ist ein zu cleverer und vorausdenkender Staatsmann, um nicht zu wissen, wie entscheidend der genaue Zeitpunkt für einen Rücktritt ist.
S.H. der 14. Dalai Lama und Dr. Erich Follath
Der Dalai Lama und seine Rücktrittsdrohung
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denn das klerikale Establishment, das vor allem in den großen Klöstern Süd-Indiens seine Basis hat, steht der vollen Ordination von Nonnen ablehnend gegenüber. Zwar äußert sich kaum jemand offen dagegen, aber hinter vorgehaltener Hand geben viele Konservative besorgt zu bedenken, ob es die Nonnen überhaupt schaffen könnten, all ihre Gelübde einzuhalten. Vielleicht sollten sie sich doch lieber auf die Novizen-Gelübde beschränken. Die Entscheidung steht noch aus, und die Nonnen werden darauf drängen, dass die Diskussion nicht im Sande verläuft. Sie hoffen, dass ihr Oberhaupt sein Versprechen einhält und seine Autorität die Gegner zum Schweigen bringt. Letztlich muss die konkrete Praxis beweisen, wie es eine Religion in Sachen Krieg und Frieden oder Gleichheit der Geschlechter hält. Jeder Tibet-Reisende kann erkennen, dass nirgendwo in Asien Frauen eine so selbstbewusste Rolle in der Gesellschaft spielen wie in Tibet. Das ist der Maßstab, um die tibetisch-buddhistische Gesellschaft zu bewerten. Ähnliches gilt für die religiöse Toleranz. Der Dalai Lama warnt immer wieder davor, die eigene Religion leichtfertig zu verlassen. Er akzeptiert den Übertritt zum Buddhismus nur nach einer langen Phase der Prüfung. Viele christliche und
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islamische Traditionen heißen Konvertiten nicht nur gern willkommen, sondern treiben bis heute eine offensive Missionierung; im Falle des Islam bisweilen sogar mit brutaler Gewalt. Kritiker, die dem Buddhismus Expansion und Militanz unterstellen, sollten Beweise für militärische Trainingscamps vorlegen oder Hinweise auf buddhistisch motivierte Terroranschläge und Flugzeugentführungen geben. Statt Fakten heißt es beispielsweise bei der konservativen Agentur kath.net, die sich gern auf die Trimondis beruft, nebulös: „Einigen Experten zufolge hat der Dalai Lama bei zahlreichen Masseninitiationen bereits über eine Million Soldatenfür den Shambhala-Krieg rekrutiert“. So schreibt einer vom anderen ab, und die Quellen bleiben völlig im Dunkeln. Eine solche Kritik am Dalai Lama ist jedoch nicht nur substanzlos, sie ist auf dem Hintergrund der Situation in Tibet im höchsten Maße zynisch und menschenverachtend. Wenn der Buddhismus tatsächlich so militant ist, wie seine radikalen Kritiker glauben machen wollen, dann erscheint die Zerstörung der tibetischen Kultur durch die chinesischen Besatzer geradezu wie eine Präventionsmaßnahme gegen den Terrorismus.
„Wenn die Dinge außer Kontrolle geraten, dann bleibt mir nur der Rücktritt“. Also sprach der 14. Dalai Lama Ende März in Dharamsala. Und alles hielt einen Moment inne – selbst die Ausfälle des höchsten Pekinger KP-Funktionär in der „Autonomen Region Tibet“ , der den Friedensnobelpreisträger gerade einen „Wolf in einer Mönchskutte, einen Teufel mit dem Gesicht eines Menschen, aber mit dem Herzen einer Bestie“ genannt hatte, traten in den Hintergrund. Kein anderes Zitat aus den Tagen nach den blutigen Auseinandersetzungen von Lhasa erregte solches Aufsehen. Wie hatte der Dalai Lama das gemeint, was bezweckte er mit seiner Äußerung? Kann sich Seine Heiligkeit, Verkörperung des „Buddha mit dem grenzenlosen Mitgefühl“, spiritueller ebenso wie politischer Führer des tibetischen Volkes einfach so aus dem Verkehr ziehen und in Rente gehen? Für jemanden, der den Dalai Lama und seine Stellungnahmen über die letzten Jahrzehnte genauer verfolgt hat, ist die Rücktrittsdrohung weniger sensationell; ihre Wiederholung zum jetzigen Zeitpunkt aber dennoch höchst bemerkenswert. Sein Ausspruch muss richtig eingeordnet werden. Tibets Gottkönig kann und will sich nicht von seinen geistlichen Aufgaben entbinden, er wird sich niemals in seiner Eigenschaft als spiritueller Führer des tibetischen Volkes „pensionieren“ – gemeint ist sein Rückzug von der Position als Staatsoberhaupt. Bei allen meinen drei Gesprächen im Jahr 2007 bezeichnete sich der Dalai Lama bereits als „semi-retired“, er habe seinen „halben Rückzug“ aus seiner offiziellen politischen Position vollzogen: „Der Kampf um Tibet hängt nicht von einem Einzelnen ab, er darf sich nicht immer auf mich konzentrieren. Genau das wollen die Chinesen doch, diesen Kampf auf eine Symbolfigur re-
Er bezweckt mit seinem jetzigen Vorpreschen in dieser Sache wohl zweierlei: Er will den im Widerstand gegen die chinesischen Besatzer auch zu Gewaltaktionen bereiten Hitzköpfen in den eigenen Reihen signalisieren, dass er für diesen Weg nicht zur Verfügung steht. Er versteht die Ungeduld der Jugend, gibt zu, dass sein „Mittelweg“ der Kompromisse bisher wenig gegen den „kulturellen Genozid der Chinesen“ ausrichten konnte. Das Konzept einer Auseinandersetzung mit Waffengewalt aber hat seiner Meinung nach ausgedient. „Früher mag es so etwas wie militärische Siege gegeben haben. Aber heute, da wir hochgradig voneinander abhängig sind, durch Klimafragen, die Umweltproblematik, grenzüberschreitende Krankheiten, können uns nur noch Konfliktlösungen im Dialog weiterführen. Die Kriege von heute bringen – siehe Irak – nur noch Verlierer hervor.“ Die Rücktrittsdrohung mit dem Hinweis auf eine „außer Kontrolle geratende Lage“ dürfte aber auch ein Zeichen Richtung Peking gewesen sein, ein womöglich letzter, verzweifelter Hinweis an die KP-Machthaber, die Chance zur Versöhnung zu nutzen. „Ich bin wahrscheinlich der einzige tibetische Führer, mit dem Peking noch eine friedliche Einigung erreichen könnte“, hat der 14. Dalai Lama in unserem letzten persönlichen Gespräch vor einigen Monaten gesagt. „Ich verstehe die harte, sich immer mehr verhärtende Haltung der kommunistischen Führung mir gegenüber überhaupt nicht“, sagte der Dalai Lama. Er sei doch wirklich kein Spalter, habe auf die staatliche Unabhängigkeit längst verzichtet. „Was wollen die denn noch?“ Das Angebot des 14. Dalai Lama: Herrschte in Lhasa auch nur „ein gewisses Maß an Freiheit und Rechtssicherheit “, dann würde er in die alte Heimat zurückkehren, seine historische Autorität der lokalen Regierung unterordnen. „Dann will ich nicht mehr Oberhaupt der tibetischen Regierung sein und es wird es um meine Person keine Konflikte mehr geben. Dann sollten der Dalai Lama und alle Mönche nicht mehr in Parteipolitik verwickelt sein. Und nichts spräche dagegen, die Institutionen von Religion und Politik zu trennen.“
Dr. Erich Follath ist Reporter des SPIEGEL und Autor des 2007 in der Collection Rolf Heyne (München) erschienenen Buches „Das Vermächtnis des Dalai Lama“.
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4. Perspektiven
4. Perspektiven
4. 1. Die Zukunft des Dalai Lama
4. 2. Planspiele um die neue Inkarnation
Der 14. Dalai Lama wird sein Heimatland vermutlich nicht mehr wiedersehen. Eine grundlegende Veränderung in China, als wichtigste Voraussetzung dafür, ist nicht in Sicht. Auch er selbst sieht das so und nimmt es mit dem ihm eigenen Humor: „ Jeder Tibeter hat das ausgeprägte Bedürfnis, wieder in seine Heimat zurückzukehren, ich auch. Als Tibeter hat man das Bedürfnis. Als buddhistischer Mönch hat man aber nicht viele Bedürfnisse.“ Zudem macht sich der Dalai Lama ständig bewusst, dass auch er den biologischen Gesetzen unterworfen und somit seine Zeit auf der Erde begrenzt ist. Und er betont, er werde sich so lange wieder inkarnieren, wie das tibetische Volk es wünsche. Da sich das tibetische Volk in der dramatischsten Phase seiner Geschichte befindet, dürfte es an einem solchen Wunsch keinen Zweifel geben. Die Zeit nach dem Ableben und der Auffindung eines Dalai Lama war immer eine kritische Phase in der tibetischen Geschichte; die jetzige Herausforderung stellt jedoch alles in den Schatten. Insofern dürfte die 15. Inkarnation nicht lange auf sich warten lassen. Der Dalai Lama wird wiederkehren als Mensch, als Mönch und als tibetisches Oberhaupt. In seiner ersten und zweiten Rolle wird er – bei aller Anteilnahme und allem Mitgefühl am Leiden seines Volkes – erneut auf die Bedürfnisse vieler Menschen eingehen; er wird erneut zum Weltenlehrer werden und erst danach fragen, was für sein Volk nützlich ist.
Spiel auf Zeit Offensichtlich will die chinesische Führung in der Tibet-Frage auf Zeit spielen. Vermutlich hofft sie, mit dem Ableben des Dalai Lama verstumme auch die weltweite Kritik an ihrer Tibet-Politik. Das ist ein fataler Irrtum. Seit Langem bietet der Dalai Lama der chinesischen Führung eine Lösung an, die sich in dem Rahmen bewegt, den Deng Xiaoping abgesteckt hat, mit seinem Angebot: „Wir können über alles reden, nur nicht über die Unabhängigkeit.“ Wenn die KP-Führung darauf eingehen und den Tibetern echte Autonomie unter der roten Fahne gewähren würde, wäre das Tibet-Problem aus der Welt geschafft und die weltweite Kritik verstummt. Diese Kritik stört die Verantwortlichen in Peking viel mehr als sie vorgeben, sonst würden sie gelassener reagieren, wenn der Dalai Lama in Berlin, London, Washington oder Ottawa auf höchster Ebene empfangen wird. Dass die kommunistische Führung zu verstockt dazu ist, ist für Ti-
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bet fatal und für China wenig nützlich. Die Ansiedlung von Millionen Chinesen in Tibet verändert die dortige Gesellschaft grundlegend. Für die Lösung der demografischen und sozialen Probleme von 1,3 Mrd. Chinesen aber ist es nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein – ein teuer bezahlter zudem. Allein der Bau der Eisenbahnlinie nach Lhasa durch Permafrostgebiet, an dem 38.000 Arbeiter beteiligt waren, hat etwa 3,3 Mrd. Euro gekostet, ein Betrag, der niemals wieder hereingeholt wird. Einer der wichtigsten Initiatoren des Projekts, der frühere KP-Generalsekretär Jiang Zemin, hat in einem Interview mit der New York Times die Gründe offen dargelegt: „Einige Leute haben mir geraten, dieses Projekt nicht weiter zu verfolgen, denn es trägt sich wirtschaftlich nicht. Ich habe ihnen gesagt, dies ist eine politische Entscheidung, wir werden das Projekt um jeden Preis weiterverfolgen, auch wenn es wirtschaftlich ein Verlust wird.“ Wenn keine befriedigende Lösung zu Lebzeiten des 14. Dalai Lama gefunden wird, dürften die ungeduldigen, jungen Tibeter Aufwind bekommen und provokantere oder sogar militantere Aktionen gegen Einrichtungen der VR China durchführen, die ihrerseits mit noch mehr Terror reagieren und versuchen wird, Tibet zum „Terrorismus-Problem“ zu stempeln. Mit Sicherheit wird die tibetische Kultur nicht untergehen. Womöglich werden auch Chinesen sie weitertragen, denn die wachsende Zahl derer, die den tibetischen Buddhismus praktizieren, ist den Behörden ein Dorn im Auge. Die Klosterschule Serthar im osttibetischen Kham, die größte und erfolgreichste nach dem Vernichtungsfeldzug der sechziger Jahre, wurde von der chinesischen Führung 2001 geschlossen und teilweise zerstört, weil sich dort über 1.000 Chinesen befanden, darunter manche aus Übersee. Dennoch macht Serthar weiter, und die Anlage wächst neuerdings wieder, denn das Bedürfnis nach einer fundierten religiösen Ausbildung ist stärker als die Angst vor Repressalien. Es ist das große Verdienst des 14. Dalai Lama, dass der tibetische Buddhismus im indischen Exil und sogar darüber hinaus Wurzeln geschlagen hat und sich weiterentwickeln kann. Damit erfüllt sich die alte Prophezeiung des großen buddhistischen Lehrers Padmasambhava, der bereits im achten Jahrhundert vorhergesagt hat: „Wenn der Eisenvogel fliegt und die Reitpferde auf Rädern rollen, wird der Mann aus dem Schneeland seine Heimat verlassen müssen und der Dharma wird die Länder des rotwangigen Mannes erreichen.“
waren. Die wirkliche Inkarnation Gedün Choekyi Nyima wurde unter ihrer Herrschaft geboren und konnte deshalb gleich nach seiner Anerkennung entführt und von der Öffentlichkeit isoliert werden. Doch die tibetische Bevölkerung erkennt den chinesischen Kandidaten in ihrem Herzen nicht an, und ihm selbst kommen offenbar auch Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Rolle. In diesem Sinne äußerte er sich, nachdem er im August 2003 mit der alten Mutter des 10. Panchen Lama, Sonam Drolma, zusammengetroffen war, die ihn vermutlich über die Hintergründe aufgeklärt hat. Sonam Drolma wurden daraufhin alle Ehrentitel aberkannt. Der tibetischen Bevölkerung einen kommunistischen Dalai Lama aufzuzwingen, wenn der wahre ausserhalb ihres Machtbereichs aufwächst, ist aussichtslos, und auch der Dalai Lama hat diesen Pläne eine klare Absage erteilt: „Falls China nach meinem Tod einen Nachfolger bestimmt, würde ihn das tibetische Volk nicht unterstützen“, ließ er verlauten. Die chinesische Führung hat häufig erfahren, wie viel sein Wort in Tibet gilt.
Ungewöhnliche Initiativen
Weil sich der Dalai Lama den Tod ständig bewusst macht, kümmert er sich rechtzeitig um sein Erbe. Unmissverständlich hat er deutlich gemacht, dass eine neue Inkarnation im Machtbereich der Volksrepublik China unter den gegebenen Umständen nicht in Frage kommt. Das ist eine klare Positionierung, und die Tibeter gehen davon aus, dass es eine so hohe Inkarnation selbst in der Hand hat zu bestimmen, wo und wann sie wiedergeboren wird. Dennoch bereiten sich auch die Chinesen auf die Zeit danach vor, und sie hegen offenbar den Plan, einen eigenen Kandidaten als Dalai Lama zu präsentieren. Im September 2007 hat das Büro für Religiöse Angelegenheiten der Regierung einen Erlass veröffentlicht, wonach Inkarnationen von religiösen Führern nur dann anerkannt werden dürfen, wenn sie im chinesischen Machtbereich gefunden werden. Damit missachtet Peking die spirituellen Traditionen des Buddhismus besonders eklatant, denn geistliche Lehrer werden sich bei der Frage nach ihrer Inkarnation nicht der Gesetzgebung einer kommunistischen Macht unterwerfen. Selbst beim Panchen Lama ist es der chinesische Führung nur auf einer sehr oberflächlichen Ebene gelungen, einen eigenen Kandidaten durchzusetzen, obwohl die Voraussetzungen ungleich besser
Gleichzeitig wartete er selbst mit unerwarteten Planspielen um seine Nachfolge auf. In der Punjab-Metropole Amritsar erklärte er: „Wenn meine körperliche Kondition schwach wird, sollten ernsthafte Vorbereitungen für ein Referendum getroffen werden. Dabei sollten alle traditionellen Buddhisten im tibetischen Hochland und in der Mongolei abstimmen.“ Eine Woche zuvor hatte er in Japan in einem Interview mit einer japanischen Zeitung gesagt, er könne sich durchaus eine Nachfolgewahl zu seinen Lebzeiten vorstellen. Ein Referendum um die neue Inkarnation des Dalai Lama hat es in der tibetischen Geschichte noch nicht gegeben. Obwohl derartige Überlegungen tief in die tibetisch-buddhistische Tradition eingreifen, geht es dem Dalai Lama mehr darum, die politischen Reformen anzutreiben. Mit einem Referendum über seine Inkarnation soll auch über ein neues Führungssystem abgestimmt werden. Der Dalai Lama möchte die Führung des tibetischen Volkes in demokratischen Händen wissen; auf keinem Fall soll sie von einer Person abhängen. Von den Gruppen abgesehen, die die politische Führung des Dalai Lama kritisieren, gab es keinerlei zustimmende Äußerungen aus der tibetischen Gesellschaft. Selbst bei denen, die der politischen Reformierung ihrer Strukturen offen gegenüberstehen, gibt es keine ernsthafte Unterstützung für eine religiöse Reformierung der Tradition. Insofern wird sich an der wichtigsten Institution des tibetischen Buddhismus nicht viel ändern. Die Menschen beten für ein langes Leben der 14. Inkarnation, und wenn er doch den Weg geht, den jeder irdische Körper gehen muss, hoffen sie auf eine rasche Wiederkehr und Auffindung.
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Anhang
Anhang
Anhang Zeittafel 637 Heirat von König Songtsen Gampo mit der nepalesischen Prinzessin Brikhuti Devi, die den Buddhismus nach Tibet bringt. 792 – 294 Konzil von Samye, indischer Vajrayana-Buddhismus wird zur Staatsreligion. 1357 – 1419 Tsongkhapa, Gründer der Reformschule der Gelugpa (=Tugendhaften). 1391 – 1451 Erster Dalai Lama Gedun Drubpa, posthum anerkannt. 1578 Ernennung von Sonam Gyatso zum Dalai Lama („Lehrer des Weltmeeres“) durch den Mongolenfürst Altan Khan. 1617 – 1680 Fünfter Dalai Lama, Begründer der Herrschaft der Gelugpa in Tibet. 1878 – 1933, 13. Dalai Lama. 1935, 6. Juli, Geburt des 14. Dalai Lama als Lhamo Thondup in Taktser, Nordost-Tibet. 1937, Sommer Anerkennung des Zweijährigen als Reinkarnation des 14. Dalai Lama.
1957, März, Rückkehr nach Lhasa. 1959, 10. März, Volksaufstand in Lhasa als der Dalai Lama nach Peking entführt werden soll. Flucht nach Indien. 1960, April, Wohnsitz in Dharamsala, im Nordwesten des indischen Himalaya. 1963, 10. März, Provisorische Verfassung im Exil. 1979/80 Besuch von drei Delegationen des Dalai Lama in Tibet. 1985 Tibet-Besuch einer vierten Delegation. 989, 10. Dezember, Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo. 1990, 4. Oktober, Empfang des Dalai Lama durch Bundespräsident Richard von Weizsäcker. 1994, Oktober, Verbot von Dalai Lama-Bildern in Tibet.
1939, 8. Oktober, Feierlicher Einzug in Lhasa.
1998, Juni, Appell von US-Präsident Bill Clinton im chinesischen Fernsehen an Chinas Staatschef Jiang Zemin, Verhandlungen mit dem Dalai Lama aufzunehmen.
1940, 22. Februar, Inthronisierung, Verleihung des Mönchsnamens Tenzin Gyatso. Ausbildung im Potala Palast.
2002, September, Besuch von persönlichen Gesandten des Dalai Lama in China und Tibet.
1950, 17. November, Vorzeitige Machtübernahme als geistliches und weltliches Oberhaupt Tibets aufgrund der chinesischen Bedrohung; Flucht nach Süd-Tibet.
2006, Juli, Verleihung der kanadischen Ehrenbürgerschaft an den Dalai Lama durch das Parlament in Ottawa.
1951, 23. Mai, Aufgabe der tibetischen Souveränität durch eine unautorisierte Delegation der tibetischen Regierung in Peking. August, Rückkehr des Dalai Lama nach Lhasa. 9. September, Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Lhasa. 1954, Juli, Reise nach Peking; Zusammentreffen mit Mao Tsetung, Chou Enlai und anderen KP-Führern. 1955, Mai, Rückkehr nach Lhasa.
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1956, Dezember, Reise nach Indien anlässlich der 2.500-Jahrfeiern von Buddhas Geburt. Zusammentreffen mit Jawaharlal Nehru und Chou Enlai; Pilgerfahrt zu buddhistischen Stätten.
2007, 23. September, Empfang des Dalai Lama durch Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundeskanzleramt. 17. Oktober, Verleihung der „Congressional Gold Medal“ durch den US-Kongress in Washington, die höchste zivile Auszeichnung der USA. Dezember, Weigerung von Papst Benedikt XVI. und Ministerpräsident Romano Prodi, den Dalai Lama anlässlich eines Italien-Besuchs zu empfangen 2008, 10. März, Beginn von Massendemonstrationen in Lhasa und Teilen Ost-Tibets, brutales Einschreiten der Sicherheitskräfte, chinesische Regierung beschuldigt Dalai Lama, Drahtzieher der Proteste zu sein.
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Literatur zum Thema: Barraux, Roland: Die Geschichte der Dalai Lamas. Göttliches Mitleid und irdische Politik, Frechen 2000 Bell, Charles: The Great Thirteenth. Portrait of a Dalai Lama, London 1946 Binder, Franz: Dalai Lama, München 2005 Brauen, Martin: Die Dalai Lamas. 1391 bis heute, Stuttgart 2005 Brück, Michael von: Der Weg des Dalai Lama, München 2005 Craig Mary: Kundun. Der Dalai Lama und seine Familie, BergischGladbach 1998 Dalai Lama XIV: Mein Leben und mein Volk. Die Tragödie Tibets, München 1962 Dalai Lama XIV: Das Auge einer neuen Achtsamkeit. Traditionen und Wege des tibetischen Buddhismus, München 1987 Dalai Lama: Yoga des Geistes, Vorträge zur Geistesschulung, Hamburg 1989 Dalai Lama XIV: Das Buch der Freiheit, Bergisch-Gladbach 1990 Dalai Lama: Tibet. Ort der Götter – Land der Tränen, Freiburg 1996 Dalai Lama: Mitgefühl und Weisheit, Freiburg 2004 Dalai Lama: Unterwegs für den Frieden, mit Fotos von Manuel Bauer, München 2005 Dalai Lama: Mit weitem Herzen, München 2005 Dalai Lama mit Chan, Victor: Die Weisheit des Verzeihens, Bergisch Gladbach 2005 Follath, Erich: Das Vermächtnis des Dalai Lama, München 2007 Goleman, Daniel: Dialog mit dem Dalai Lama, München 2006 Golzio, Karl-Heinz & Bandini, Pietro: Die vierzehn Wiedergeburten des Dalai Lama, München 2002 Grasdorff, Gilles van: Der Dalai Lama, Frankfurt 2004 Hicks, Roger & Chögyam, Ngakpa: Weiter Ozean – Dalai Lama, Essen 1985 Kranti, Vijay: Dalai Lama. The Nobel Peace Laureate Speaks, Delhi 1990 Laird, Thomas: Tibet – Die Geschichte eines Landes. Der Dalai Lama im Gespräch mit Thomas Laird, Frankfurt 2006 Levenson, Claude B.: Dalai Lama, Zürich 1990 Levenson, Claude B.: Ein Dalai Lama wird geboren, Freiburg 1999 Löhr, Sabine: Dalai Lama XIV. Sein Leben, sein Wirken, seine Botschaft, Reinbek 2005 Ludwig, Klemens: Dalai Lama, Botschafter des Mitgefühls, München 2008 Norman, Alexander: Das geheime Leben der Dalai Lamas, Bergisch Gladbach 2007 Günther Schulemann: Die Geschichte der Dalai Lamas, Leipzig 1958 Stewart, Whitney: Der Weg zum Löwenthron, Planegg 1991
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