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Der Engel der Musik
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30 Jahre, nachdem der Kronleuchter zuletzt ins Parkett des Raimund Theaters fiel, lädt das Phantom wieder in die Pariser Oper ...
Auch wenn der erste, nachvollziehbare, emotionale Impuls dagegen lodern lässt: Till Lindemann ist – mit dem aktuellen Wissensstand – vorerst als unschuldig zu werten, formaljuristisch lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt nichts Entgegengesetztes behaupten. Denn: aktuell steht im prestigeträchtigen Fall Rammstein gegen Reihe-0-Konzertbesucherinnen Wort gegen Wort. Und hier darf, vor einer Aufklärung durch die Gerichtbarkeiten, den Äußerungen keiner Seite – ganz gleich in welcher Quantität sie vorliegt – mehr Glauben geschenkt werden. Dabei bedeutet die Unschuldsvermutung kein herabwürdigendes Negieren von vorgebrachten Anklagepunkten; es ist lediglich ein Schutz vor einer Vorverurteilung, die ebenso relevant ist, wie auch (durch bereits aktive behördliche Observation) der Schutz potentieller weiterer Opfer – das zeigt die Vergangenheit: Im vergangenen Jahr wurden anonyme Anschuldigungen gegen die deutsche Band Feine Sahne Fischfilet veröffentlicht. Wer die Vorwürfe geäußert hat und worum es konkret geht, ist bis heute nicht bekannt. Viel ernstzunehmender Lärm, der freilich auch an der Band – die sich geschlossen gegen sexualisierte Gewalt stellt – nicht spurlos vorüber ging. Sie sind um Aufklärung bemüht, doch dingfest wurden die Bezichtigungen bis heute nicht – ein miserabler Graubereich, gerade in dieser Bubble. Noch eklatanter im Fall der polnischen Band Decapitated, die im Herbst 2017 im Zuge ihrer US-Tour verhaftet wurde: Sie sollen in Washington einen Fan missbraucht haben. Die Frau, so sagte sie damals aus, sei in den Tourbus geladen worden, irgendwann sei die Stimmung gekippt und die Musiker hätten sich an ihr vergangen, was die Band jedoch vehement bestritt. Ein halbes Jahr später: Freispruch. Denn die Glaubwürdigkeit des mutmaßlichen
Opfers wurde angezweifelt, weil sie 2014 in einem anderen Fall vor Gericht bereits nachweislich gelogen hatte, und auch diesmal ihre Geschichte zumindest zu weiten Teilen von Zeugen widerlegt werden konnte. Wir erinnern uns auch zurück an den prestigeträchtigen Prozess zwischen den ehemals verheirateten Schauspielern Johnny Depp und Amber Heard aus dem Jahre 2022, an die Prozesse gegen die Moderatoren Andreas Türck und Jörg Kachelmann und aktuell gegen Regisseur Luc Besson. Und auch Marilyn Manson wurde von zahlreichen Frauen vorgeworfen, übergriffig gewesen zu sein – eine der Anklägerinnen, Ashley Smithline, widerrief 2023 ihre Aussage und behauptete, von Mansons ExEhefrau Evan Rachel Wood zur Falschaussage gedrängt worden zu sein. Davor hatte noch Jeff Anderson, Anwalt einer der Klägerinnen, gedonnert: „Raubtiere der Musikindustrie haben zu lange geglaubt, sie stünden über dem Gesetz.” Hier gehe ich d’accord: Ganz gleich ob „mächtiges Raubtier” (die tun sich aufgrund ihrer oft zitierten Machtposition freilich leichter) oder lediglich Otto Normal – ein ungewollter Übergriff ist aufs Schärfste zu verurteilen. Und auch die zuvor benannten Freisprüche händigen nicht automatisch eine blütenweiße Weste aus, Fehltritte werden bewusst und unbewusst vielerorts passiert sein. Auch heißt es nicht, dass die Vorwürfe gegen Till Lindemann, seine Mädchen-Rekrutin Alena Makeeva und Rammstein erstunken und erlogen sind. Sie zeugen von Mut, man muss ihnen Gehör schenken, den Anklagepunkten penibel nachgehen und in aller Öffentlichkeit für Aufklärung und etwaige Konsequenzen sorgen, in aller Strenge. Geahndet können jedoch nur tatsächliche Straftaten werden: Für einen 60jährigen Star blutjunge (aber volljährige) Mädchen „zu beschaffen”, damit jener mit ihnen Sex haben kann, ist cringe (und kein
Rock’n’Roll-Lifestyle), aber nicht strafbar. Bisher wurde von vielen Seiten zwar ein einschüchterndes (und demnach moralisch verwerfliches) Verhalten bestätigt, aber auch, dass ein etwaiges „Nein” akzeptiert wurde; auch Beweise zum Einsatz von Betäubungsmitteln liegen vorerst nicht vor. Dieser Ausgangslage kann heute, in einer Demokratie, kein noch so honorig intendierter Mob vorgreifen. Dem muss sich auch die Frauensprecherin der Grünen, Meri Disoski, fügen – eine Konzertabsage für Wien zu fordern ist ein scheinheiliges Herangehen an ein Grundsatzproblem, ähnlich kurz gedacht wie beim Lindemann verlegenden KiWi-Verlag, der zu Erscheinen seiner Gedichtbände die teils widerwärtigen Inhalte noch vehement als „Lyrisches Ich“ verteidigte, bevor man ihn nun plötzlich angeekelt fallen ließ. Vielmehr ist die gesellschaftliche Frage zu stellen, wie die Bedrohung eines Machtverhältnisses gelöst werden kann; wie trotz Macht eine Eigenermächtigung aussehen kann –denn im Gegensatz zur Podcasterin Alexandra Stanic gehe ich sehr wohl davon aus, dass Frauen auch im patriarchal gefärbten Umfeld selbstbestimmte und nicht bloß fremdgelenkte Wesen sein können. Und nicht zu guter Letzt ist auch zu analysieren, wie wir es als Gesellschaft erreichen können, selbst in Extremsituationen divergierende Parteien zu einem Diskurs zusammenzuführen. Das hat zuletzt bei der Impfpflichtdebatte und den „Klimaklebern” nicht funktioniert, und wenn man die TV-Konfrontationen zur Causa verfolgt: hier ebenso wenig. Im Kern der Sache –Strafverfolgung bei Tatbestand – sind sich sämtliche DiskutantInnen wohl einig, doch am Weg dahin klafft man derart gehässig auseinander, dass einem ob dieser verrohten Unkultur ebenso nur grausen kann.
Stefan Baumgartner (Chefredakteur)