16.1.2019
(6) Rechtsanwalt Volker Gerloff - Beiträge
Rechtsanwalt Volker Gerloff Gestern um 21:12 ·
Heute: Teilnahme an der Verhandlung zu Sanktionen im SGB II vor dem BVerfG (als Vertreter der AG Sozialrecht im Deutschen Anwaltverein – sachkundiger Beteiligter https://dav-sozialrecht.de/de/). Hochinteressant, so eine Verhandlung! Die Verhandlungsgliederung findet sich hier: https://www.bundesverfassungsgericht.de/…/20…/bvg19-004.html Ein paar Eindrücke von der Verhandlung: Insgesamt fiel auf, dass alle Richter*innen des Senats des BVerfG sehr kritische Fragen stellten und offenbar der Sinn und Zweck von Sanktionen in Frage gestellt wird. Dabei ist klarzustellen: Es geht nur um Sanktionen wegen Pflichtverletzungen (30%, 60%, 100%) – NICHT um Meldeversäumnisse oder U25Sanktionen! Es taten sich zwei Welten auf: 1) die Welt der Bundesregierung und der Bundesagentur für Arbeit/JobCenter, wonach ein fast perfektes System des Förderns und Forderns bestehe, in dem die Sanktionen ein wichtiger Baustein seien – nur so sei erfolgreiche Eingliederung in den Arbeitsmarkt möglich und 2) die Welt der Sozialverbände, Beratungsstellen, Anwaltschaft, die beschrieben, dass Sanktionen in weiten Teilen kontraproduktiv seien und vor allem „besonders Schutzbedürftige“ in eine weitere Abwärtsspierale gestürzt werden, die mit Arbeitsmarktintegration nichts zu tun habe. Weiter wurde deutlich, dass die Richter*innen überwiegend beide „Welten“ als real annehmen – die Evaluation der Sinnhaftigkeit von Sanktionen haben einige Richter*innen jedoch sehr deutlich bemängelt – sinngemäß: „Wenn das System so gut funktioniert, wo sind die harten Zahlen, die das belegen?“ Ich persönlich fand es auffällig, dass die Vertreter der „Sanktionsverteidigung“ selbst Widersprüche aufwarfen: 1) Wenn das System so gut funktioniert, warum braucht es dann aktuell ein Teilhabechancengesetz? Das Teilhabechancengesetz wird damit begründet, dass es „eine zahlenmäßig bedeutsame Gruppe von arbeitsmarktfernen Langzeitarbeitslosen [gibt], die seit langem Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) beziehen und ohne besondere Unterstützung absehbar keine realistische Chance auf Aufnahme einer Beschäftigung haben“ – das neue Gesetz soll also das bestehende System reparieren; einer Reparatur bedarf aber nur ein defektes System! 2) Wenn das System so gut funktioniert, warum wird dann EU Bürgern der Zugang zum SGB II weitgehend verwehrt? Die Annahme zugrunde gelegt, dass SGB II gleichbedeutend mit Eingliederung in Arbeit ist, würden die betroffenen EU Bürger schnell und effektiv in Arbeit gebracht werden und würden Steuern und Abgaben zahlen. Der Ausschluss von EU Bürgern macht insofern nur Sinn, wenn der Gesetzgeber seine eigene Annahme des „funktionierenden Systems“ selbst nicht glaubt. 3) Wenn das System gut ist und die JobCenter stets den Einzelfall betrachten, aufwändig ermitteln, beraten und individuelle Eingliederungskonzepte erarbeiten, partnerschaftlich und auf Augenhöhe mit den Betroffenen (so die Darstellung der BA und der JobCenter), dann erstaunt es, dass gegen die Einführung von Ermessen bzgl. der Sanktionen die Handlungsunfähigkeit der JobCenter an die Wand gemalt wird (das tat ebenfalls die BA) – gerade ein Ermessen würde doch die partnerschaftliche Arbeit weiter stärken(?). 4) Wenn das System so gut ist, warum sind dann die Erfolgschancen vor den Sozialgerichten so hoch? Und wenn die JobCenter so gut ermitteln und beraten, warum beklagen dann Sozialgerichte, dass die eigentliche Sachverhaltsaufklärung fast immer erst vor den Gerichten stattfindet? Die Bundesregierung stellte dar, dass Sanktionen kein Eingriff in die Menschenwürde seien, sondern eine Ausgestaltung der Menschenwürde. Teil der Menschenwürde sei schließlich auch die Eigenverantwortung = wenn jemand bewusst eine Sanktion riskiert, dann hat er sich eigenverantwortlich dafür entschieden und dann sei diese Entscheidung auch von der Menschenwürde geschützt. Die Selbsthilfeobliegenheit stünde über allem – wer sich nicht selbst helfen will, der müsse sanktioniert werden. Das brachte deutliche Fragestellungen von den Richter*innen hervor: bspw. (sinngemäß) „Meinen Sie also wirklich, dass die Menschenwürde erkauft werden soll?“ oder „Meinen Sie, es gehe an, Menschen die Menschenwürde als Einschränkung entgegenzuhalten?“. Schließlich ging es um die Frage, ob die geltenden Normen ausreichend Spielraum für die Beachtung der Einzelfälle/Härtefälle zulassen. Auch hier gingen die Meinungen weit auseinander und auch hier waren die Fragen der Richter*innen überraschend kritisch. Die These, ohne Sanktionen könnten JobCenter nicht https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=2165954423668430&id=1428328704097676&__xts__[0]=68.ARBLG0nnY_s-FoRnIn-5ryZ_f…
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effektiv für die Betroffenen arbeiten, schien nicht so recht zu verfangen. Zumal die Bundesregierung auch vortrug, dass ein Absehen/Verkürzen von Sanktionen bei einer Nachholung der Kooperation nicht in Frage kommen könne – das führte doch zu einigem Stirnrunzeln, da so der Strafcharakter deutlich wurde und der behauptete Hilfecharakter unglaubwürdig wurde. Als Alternativen zum jetzigen System wurden diskutiert: - Komplette Streichung von Sanktionen - Gutscheine statt Geldkürzungen - Zeitweise keine Eingliederungsangebote mehr machen (z.B. keine Leistungen mehr, die in einer Eingliederungsvereinbarung zugesichert sind oder Fortbildungen, Umschulungen, Coachings etc.) - Sanktionszeiträume kürzen - Stufensystem: erst bei wiederholten Pflichtverstößen abgemilderte Sanktionen - Sanktionen nur nach Ermessen - Keine Kürzungen von Kosten der Unterkunft - Keine 100% Sanktionen mehr - Aufhebung der Sanktion bei Kooperation im Nachhinein Abschließend noch zu dem aufgekommenen Vorwurf der Befangenheit gegen den Vorsitzenden des 1. Senats des BVerfG, Stephan Harbarth: Solche Vorwürfe sind sicher wenig hilfreich! In der Verhandlung war keine Spur von Befangenheit zu erkennen, stattdessen eine sehr souveräne Verhandlungsführung! Was auch immer am Ende herauskommt: Vor allem die Arbeit des Vereins Tacheles kann wohl nicht hoch genug eingeschätzt werden! Der Senat des Gerichts hat die sehr umfassende und fundierte Stellungnahme von Tacheles mehrfach in Bezug genommen und offenbar hat auch diese Stellungnahme keinen geringen Einfluss auf die kritische Haltung des Senats gehabt. Auch Caritas, Diakonie und weitere Verbände haben hier ganze Arbeit geleistet. Mehr Infos: https://www.sueddeutsche.de/…/arbeitsmarkt-foerdern-und-ueb… #HaraldThomé
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Kommentieren ... Equal Pay +10% Herzlichen Dank für dein Engagement und Einsatz!
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