echoonline.de
http://www.echoonline.de/lokales/suedhessen/muellabfuhrfuerversagenderpolitik_16587704.htm
"Müllabfuhr für Versagen der Politik" Südhessen 27.01.2016
Was kommt hier auf uns zu? Polizistinnen bei einer BlockupyDemonstration 2012 in Frankfurt. Archivfoto: Hans Dieter Erlenbach Von Hans Dieter Erlenbach SÜDHESSEN Schon als kleines Mädchen gab des für Nadja M. (Name von der Redaktion geändert) nur einen Wunsch: Sie wollte Polizistin werden. Eltern und Freunde hatten ihr abgeraten. Doch sie ließ sich den Berufswunsch nicht ausreden. Heute, nach einigen Dienstjahren im Streifendienst im Bereich des Polizeipräsidiums Südhessen, sind sämtliche Illusionen verschwunden, berichtet sie im Gespräch mit dem ECHO. Statt Respekt und Anerkennung erfährt Nadja M. im Dienst fast täglich Respektlosigkeit, Angriffe auf Körper und Seele und vor allem viel Frust. "Man vergißt, dass wir Menschen sind", sagt sie. Und: "Wir haben doch auch Gefühle". Polizistin sei längst nicht mehr ihr Traumjob, "denn die Arbeitsbedingungen sind Wahnsinn". Polizistin wird ignoriert oder beschimpft Und dann sind da die Ausdrücke, die sie sich fast täglich anhören muss, berichtet sie. "Du Schlampe" sei
da beispielsweise häufig zu hören. Ganz schlimm wird es für Nadja M., wenn sie beispielsweise von muslimischen Jugendlichen komplett ignoriert wird. Egal was sie sage, und wozu sie die jungen Männer auffordere sie lachten sie aus und gäben ihr durch Gesten zu verstehen, was sie von einer Frau in Polizeiuniform halten. "In diesen Situationen hat man das falsche Geschlecht", meint die Polizistin. Nadja M. ist im Dienst schon öfter körperlich angegriffen worden. Aber nicht als Frau, sondern weil sie zur Ordnungsmacht gehört, wie sie sagt. Gleichzeitig betont sie, dass sie ausdrücklich nicht die Keule gegen Muslime schwingen möchte. Im Gegenteil: Vor allem von Frauen muslimischen Glaubens erfahre sie immer wieder Zuspruch. Wie Nadja M. berichtet, sei es den Frauen oft peinlich, wie Männer ihr Machogehabe raushängen lassen. Dies sei so aggressiv, dass sich die Polizei oft aus Deeskalationsgründen zurückziehe, als die Übeltäter zur Rechenschaft zu ziehen, berichtet Nadja M.. "Lieber mal einknicken und verletzungsfrei aus einer prekären Situation herauskommen, statt sich durchzusetzen", laute oft das Motto. Dies habe aus Sicht von Nadja M. die Folge, dass die Polizei von Tätern noch weniger ernst genommen werde. Während des Gesprächs mit dem ECHO hat Nadja M. das Buch von Tania Kambouri vor sich liegen, einer griechischstämmigen Polizeibeamtin, die drastisch die Situation der Polizei in Bochum schildert, von Parallelgesellschaften schreibt, die in rechtsfreien Räumen leben. Das Buch ist ein Bestseller geworden. "Bei uns ist es nicht viel anders", sagt Nadja M.. Erfahrungen im Dienst machen mürbe Es sind nicht nur die täglichen Erfahrungen im Streifendienst, die Polizistinnen wie Nadja M. im Lauf der Jahre mürbe gemacht haben. Wegen der geringen Personalausstattung der Polizei folgt immer öfter auf einen Nachtdienst direkt ein Tagdienst. Die Krankenstände werden immer höher, die Aufgaben immer mehr. Fast täglich gebe es zudem gefährliche Situationen, berichtet die Polizistin. "Es geht täglich gegen das eigene Leben." 50 bis 60 Stunden pro Woche sind für Nadja M. ebenso wie für ihre Kolleginnen und Kollegen, eher die Regel als die Ausnahme. Einsätze bei Demonstrationen, bei Fußballspielen, in Flüchtlingsheimen, der normale Streifendienst und dann noch die Schreibarbeiten im Büro würden die Arbeit nicht selten zur Qual machen. Die Überstunden würden immer mehr, Chance, sie abzufeiern, gäbe es nicht. Viel Frust bei Zeugenauftritten Den größten Frust bringen Nadja M. ihre Zeugenauftritte vor Gericht. "Man hat den Eindruck, dass wir die Täter sind und nicht die Angeklagten", berichtet sie aus dem Zeugenstand. Menschen, die offensichtlich Straftaten begangen hätten, kämen vor den Gerichten viel zu milde davon, ist ihr Eindruck. "Die wissen, dass ihnen bei Gericht kaum etwas passiert", beklagt Nadja M.. Sie fordert, Richter, Sozialarbeiter und Politiker sollten die Polizei mal ein paar Wochen bei ihrer täglichen Arbeit begleiten, damit sie wüssten, dass die Realität nichts mit dem gespielten reumütigen Auftreten von Tätern im Gerichtssaal zu tun habe. "Ich wollte eigentlich als Polizistin auf die Straße, um bedrohten und hilfsbedürftigen Menschen zu helfen." Der Slogan von der Polizei als Freund und Helfer hatte sich früher bei Nadja M. tief eingeprägt. Heute gehöre zum Alltag, Beleidigungen einzustecken und Frust herunterzuschlucken. Von Umstehenden bei Einsätzen gefilmt Besonders prekär werde es für die Polizei, wenn sie bei Kontrollen oder anderen Einsätzen von den Umstehenden mit Mobiltelefonen gefilmt werde. Solche Videos landeten umgehend mit hämischen Kommentaren im Netz. Die Polizei werde niedergemacht, kleinste Fehler würden den Beamten angekreidet, berichtet Nadja M.. Dass es manchmal im Einsatzstress zu Fehlentscheidungen kommt, gibt die Polizistin offen zu. In vielen
Situationen müsse in Sekundenbruchteilen entschieden werden, wie die Polizei reagiere. "Die Leute erwarten Roboter, die alle Gesetze im Kopf haben, immer gut drauf sind und immer korrekt handeln." In ihrem Freundeskreis verschweigt Nadja M. oft ihren Beruf. Denn auch dort gebe es viele Vorurteile. "Ihr Bullen fühlt euch cool, weil ihr mit einer Waffe rumlauft", habe mal jemand zu ihr gesagt. Mehr Personal bei der Polizei sei dringend notwendig, sagt Nadja M.. Doch die gesellschaftlichen Probleme seien alleine mit mehr Beamten nicht zu lösen. "Wir spielen die Müllabfuhr für das Versagen der Politik", platzt es im Gespräch plötzlich aus ihr heraus. Sie beklagt, dass Missstände jahrelang aus falsch verstandener Rücksicht nicht benannt und unter der Decke gehalten wurden. Vor allem nicht von der Polizeiführung. Erst nach den Vorfällen in der Silvesternacht in Köln und anderen Städten dämmere der Politik, welche Probleme es gäbe. Die Polizei sei nicht der Reparaturbetrieb, um das wieder hinzubiegen. Die Politik müsse jetzt endlich die Ängste der Menschen akzeptieren und den Respekt vor den staatlichen Institutionen wieder herstellen, fordert Nadja M. im ECHOGespräch. Sonst müsse sich niemand über das Erstarken rechtsextremer Gruppen und über Bürgerwehren wundern. Zur Übersicht Südhessen