3.2.2019
Armutsforscher: „Soziale Spaltung des Landes schreitet voran“ | Remscheid
Armutsforscher: „Soziale Spaltung des Landes schreitet voran“ rga.de/lokales/remscheid/soziale-spaltung-landes-schreitet-voran-11699169.html 4. Februar 2019
Interview der Woche Aktualisiert: 03.02.19 12:25
+ War auch bei der jüngsten Wahl eines Bundespräsidenten am Start und kommt am Samstag noch einmal nach Remscheid: der renommierte deutsche Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge. © Doro Siewert Am Samstag ist der Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge in Remscheid – der RGA sprach mit ihm über sein Thema. Von Thomas Wintgen Herr Prof. Dr. Butterwegge, zwei Tage nach Ihrem Vortrag in Remscheid reisen Sie als Mitglied der Gutachter-Kommission für den 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung nach Berlin. Haben Sie darüber nachdenken müssen, ob Sie mitmachen?
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Butterwegge: Ja, weil ich alle bisherigen Berichte in meinem kürzlich neu aufgelegten Buch über die Armut kritisiere. Vielleicht hat mich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, den ich noch aus meiner Zeit als engagiertes SPD-Mitglied kenne, in das Gremium berufen, um einen Kritiker einzubinden. Er hat mir allerdings beteuert, dass er an Gesichtspunkten interessiert sei, die sonst vielleicht untergingen. Deshalb beteilige ich mich. Wie lange wird die Arbeit dauern? Butterwegge: An sich muss der Bericht bis September/Oktober vorliegen – zur Hälfte der Legislaturperiode. Aber die Regierung hält sich fast nie an diese Terminvorgabe des Bundestages. Ein Grund dafür ist, dass sie länger über die Änderung oder Streichung von Passagen streitet, die dem Kanzleramt und den unionsgeführten Ministerien unangenehm sind. Am 23. Januar ist die vierte Auflage Ihres Buches über die Armut in Deutschland erschienen. Woher stammen Ihre statistischen Daten? Butterwegge: Vom Arbeits- und Sozialministerium, vom Statistischen Bundesamt und vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Hauptsächlich stütze ich mich auf den Mikrozensus, die aussagekräftigste Statistik zur Armut in Deutschland. Nach den neuesten Mikrozensus-Daten für 2017 sind hierzulande 15,8 Prozent der Menschen - das sind immerhin 13,4 Millionen Menschen - „armutsgefährdet“. Sie nennen das anders … Butterwegge: … „einkommensarm“, denn das ist ehrlicher. Theoretisch kann ein Alleinstehender unter der für ihn aktuell 999 Euro pro Monat betragenden „Armutsrisikoschwelle“ liegen, aber im Eigenheim wohnen – ohne Mietkosten wäre er gar nicht arm. Nur dürfte Wohnungseigentum im Niedrigeinkommensbereich kaum vorkommen. Wie ist die Tendenz der sozialen Ungleichheit, wenn Sie die vier Auflagen ihres Buches miteinander vergleichen?
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Butterwegge: Selbst während der Zeitspanne von zwei oder drei Jahren sind die Reichen reicher und die Armen zahlreicher geworden. Um extremen Reichtum zu charakterisieren, führe ich im Buch das Beispiel der reichsten Geschwister unseres Landes an: Stefan Quandt (52) und Susanne Klatten (56), denen fast die Hälfte aller BWM-Aktien gehören. Sie erhielten im Frühjahr 2016 eine Rekorddividende in Höhe von 994,7 Millionen Euro; im Frühjahr 2017 waren es bereits 1,074 Milliarden Euro und im Frühjahr 2018 sogar 1,126 Milliarden. Das Kardinalproblem ist, dass der Konzentrationsprozess beim Vermögen fortschreitet und dass sich das Ganze global abspielt. Sie werfen der Öffentlichkeit vor, Armut zu verharmlosen und Reichtum zu verschleiern. Weshalb? Butterwegge: Wer in Kalkutta eine Lehmhütte bewohnt, gilt zu Recht als arm. Wer in Köln keine Arbeit und keine Wohnung hat, gilt als „Drückeberger“, „Faulenzer“ und „Sozialschmarotzer“ oder jammert angeblich auf hohem (Hartz-IV-)Niveau. Dass die reichsten 45 Familien in Deutschland so viel Vermögen besitzen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung – über 40 Millionen Menschen – zusammen, weist kein Armuts- und Reichtumsbericht aus. Aber ein Studienrat gilt bereits als „einkommensreich“, weil er mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Dort beginnt für die Bundesregierung der Reichtum. Lesen Sie auch: Vielen Arbeitslosen fehlt das Geld für vollwertige Mahlzeit Sie haben über den monetären Aspekt hinaus ein politisches Problem mit den Besitzverhältnissen. Butterwegge: Wer reich ist, ist auch politisch einflussreich; er kann die Entwicklung der Gesellschaft und die Gesetzgebung nach seinen Interessen formen. Wer arm ist, fühlt sich eher ohnmächtig und ist bestimmt nicht einflussreich. Wie könnte man das ändern? Was schlagen Sie vor?
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Butterwegge: Die soziale Ungleichheit gehört zu einer marktwirtschaftlich oder kapitalistisch organisierten Gesellschaft. Erklärungsbedürftig ist, dass sie auch in Deutschland wächst. Worin sehen Sie Ursachen? ZUR PERSON CHRISTOPH BUTTERWEGGE Prof. Dr. (68), Politikwissenschaftler, ist aus dem Münsterland, promovierte 1980 (Bremen), wurde 1990 dort habilitiert, war von 1994-97 Prof. Politik und Sozialpolitik (Potsdam), ab 98 in Köln. Aktuelle Bücher: 4. Auflage von „Armut“ (Januar), „Rechtspopulisten im Parlament“ (2018). Ferner sind just erschienen „Hartz IV und die Folgen“ und „Grundeinkommen kontrovers“. Butterwegge: 1. in der Deregulierung des Arbeitsmarktes durch die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze. Um den Standort Deutschland noch attraktiver zu machen, wurde der Niedriglohnsektor, in dem fast ein Viertel aller Beschäftigten arbeiten, zum größten in ganz Westeuropa gemacht. Erwerbsarmut und soziale Ungleichheit stiegen. 2. in der Demontage des Sozialstaates – etwa durch die Riester-Reform und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe. Statt dieser, seinen Lebensstandard einigermaßen sichernden Lohnersatzleistung – bis 2004 betrug sie für einen Langzeitarbeitslosen mit Kind 57 % des letzten Nettogehalts – gibt es mit Einführung von Hartz IV nur noch eine Fürsorgeleistung – das Arbeitslosengeld II. Die Kinderarmut hat sich seither fast verdoppelt. Bei der gesetzlichen Rente wurden das Niveau gesenkt und das Prinzip der Lebensstandardsicherung gleichfalls aufgegeben. Mehr Altersarmut ist die Folge, zumal Geringverdiener nicht privat vorsorgen können. 3. in einer unsozialen Steuerpolitik. Seit Helmut Kohls Kanzlerschaft sind alle Kapital- und Gewinnsteuern abgeschafft oder gesenkt worden, etwa der Spitzensteuersatz; Vermögensteuer wird nicht mehr erhoben, obwohl sie im Grundgesetz steht. Auch weil Banken die auf 25 Prozent gesenkte Kapitalertragsteuer anonym abführen, weiß der Staat heute gar nicht mehr, was die Reichen besitzen. Firmenerben zahlen kaum noch Erbschaftsteuer. Angehoben
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wurde hingegen die Mehrwertsteuer. Sie trifft Arme stärker als Reiche, weil sie ihr gesamtes Einkommen in den Alltagskonsum stecken müssen. Wie stehen Sie zur Abschaffung des „Solidaritätszuschlags“, der im Volksmund „Soli“ genannt wird? Butterwegge: Pro Jahr erbringt der Soli rund 19 Mrd. Euro – damit könnte man gut die skandalös hohe Kinderarmut bekämpfen. Die SoliAbschaffung würde die Kluft zwischen Arm und Reich dagegen weiter vertiefen. Auf kleine und mittlere Einkommen fällt überhaupt kein Soli an, während die reichere Hälfte der Bevölkerung 98,3 Prozent des Gesamtaufkommens zahlt. Friedrich Merz fordert vehement die Totalabschaffung des Solidaritätszuschlags – er würde dadurch als Einkommensmillionär rund 24 000 Euro pro Jahr sparen. Die AfD will ihn ebenfalls abschaffen, denn sie ist keine „Partei der kleinen Leute“, wie Alexander Gauland behauptet, sondern eine Partei des großen Geldes. Sie fordern, dass nicht länger eine Umverteilung von unten nach oben stattfinden dürfe. Butterwegge: Ich sehe mit Sorge, dass ganz systematisch die soziale Spaltung des Landes vorangetrieben wird. Großstädte spalten sich in Luxus- und Elendsquartiere; Arme beteiligen sich kaum noch an Wahlen; Angehörige der Mittelschicht wählen vermehrt Rechtspopulisten aus Angst vor dem sozialen Absturz.
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