06.01.23, 09:53
Die Erbacher Ganserte singen wieder | Echo Online
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Der Gänsgretelverein „Gi-Gack“ pflegt sein skurriles Image auch nach der Corona-Auszeit. 4. Januar 2023 – 03:00 Uhr Hans-Dieter Schmidt ERBACH. Sehr deutlich hebt sich in der Kreisstadt ein alteingesessener Traditionsclub von anderen Zusammenschlüssen ab. Was führt zu einer derart herausragenden Eigenschaft? Es ist die Tatsache, dass es sich um einen reinen Männerclub handelt. Frauen können nicht Mitglied werden und haben keinen Zutritt zu Versammlungen. Ändern wird sich daran nichts, stellt der Vorsitzende klar. Die Gemeinschaft ist aus einer Männerfreundschaft heraus entstanden und pflegt diese bis heute auf humorige Weise als einziges Vereinsziel. Eine Anerkennung der Gemeinnützigkeit wird nicht angestrebt. Und die Partnerinnen der Mitglieder tragen das Hobby ihrer Männer gerne mit, wie beim zeremoniellen Altstadtrundgang auch zu erfahren war.
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Die Rede ist vom Gänsegretelverein „Gi-Gack“ 1827, der in vier Jahren schon seinen 200. Geburtstag feiern kann. Die Geschichte dahinter erscheint skurril und bedarf der Erklärung. Ganserte, so nennen sich die Männer selbst, und sie bezeichnen ihre Frauen liebevoll als Wiwwelen. Die Herren aus allen Bevölkerungsschichten nehmen sich also selbst nicht tierisch ernst. Clubgrundlage ist die Vereinslegende. Dieser ist zu entnehmen, dass Anfang des 19. Jahrhunderts fünf junge Männer um die Gunst der hübschen Gretel buhlten. Die war Gänsemagd, und sie verdrehte den Burschen gehörig die Köpfe. Die Verliebten gerieten in Streit; ihre Freundschaft zerbrach. Erfolg hatte keiner der fünf bei ihrer Angebeteten. Als sie das kapierten, kam die Vernunft zurück. Sie fanden wieder zusammen, versöhnten sich, und ihre Freundschaft lebte neu auf. Schließlich wurde aus der Freundesclique ein kleiner Verein, der bald wuchs. Und seither feiert man jährlich am 2. Januar diese Versöhnung im „Gänsestall“. Als solcher diente den Ganserten immer ein Erbacher Lokal. Seit vielen Jahren ist das nun schon der Sternensaal der Gaststätte Erbacher Brauhaus. Zum Jahrestreffen wurde und wird der Raum mit einer dünnen Strohschicht als Einstreu (für artgerechte Haltung!) ausgestattet. Die Ganserte selbst tragen weiße Kutten mit ihren Vereinsnamen auf der Brust. Dazu eine Gänsefeder am oftmals schon etwas lichten Haarschopf und einen Lampion in Gänseform. Jedes Neumitglied muss sich einer kleinen Aufnahmezeremonie unterziehen. Im Saal ist das Gänsegretellied in drei verschiedenen Dialekten vorzutragen, was der Abnahme durch den Zuchtgansert und die Versammlung bedarf. Mit Melodien aus seiner Quetschkommode führen Musikgansert Peter Schmitt (ein Zugvogel aus Amorbach) und der Vorsitzende Obergansert Jürgen Volk die Schar zum Badbrunnen im Eck. Dort wird von Zuchtgansert Hermann Dingeldey die Vereinslegende verlesen. Dann schreitet er zur Tat. Er beendet das Aufnahmeprozedere auf denkwürdige Art. Ein Puhlschepper ist dabei sein wichtiges Utensil. Die Neumitglieder werden mit einer Füllung des Gerätes mit dem kalten Brunnenwasser „getauft“. Der Vereinsname orientiert sich dabei stets an persönlichen Eigenschaften https://www.echo-online.de/lokales/odenwaldkreis/erbach-odenwaldkreis/die-erbacher-ganserte-singen-wieder-2196317
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wie etwa Beruf oder Hobby. Zurück geht es durch den Schlossgraben zum Marktplatz, wo dreimal das Denkmal des Grafen Franz I. umrundet wird. Der deutlich länger währende gemütliche Teil beschließt schließlich bei Geschnatter, Musik, Gesang und Gänsebraten die Feier. Neu zum Verein hinzugestoßen sind der Unternehmer Heinz-Jürgen Breimer und der Bauschlosser Frank Nieratzky. Ob seiner Vorliebe für Urlaube an der Nordsee erhielt Breimer den Vereinsnamen Wattgansert. Nieratzky hat beruflich häufig Eisen zu biegen – „biesche“ sagt der Einheimische. Das führte zum Vereinsnamen Bieschergansert. Alle persönlichen Gebrauchsgegenstände sind damit gekennzeichnet. Außer der Kutte also beispielsweise auch das Bierglas und das Liederbuch. Sie haben richtig gelesen. Die Mitglieder besitzen eigene Hefte mit zu ihrem Genre passenden Liedtexten, die in der langen Festnacht eifrig gesungen werden. Das aber kommt nicht von ungefähr. Immerhin waren schon die Gänse der Gretel für ihre Stimmen und Gesänge bekannt und berüchtigt. Die leidige Corona-Pandemie der letzten beiden Jahre hat auch vor dem Gänsgretelverein nicht Halt gemacht. Umso größer also nun die Freude aller Aktiven, mit Beginn des Jahres 2023 die regionale Tradition wieder aufleben lassen zu können. Der Obergansert machte daraus in seiner Begrüßungsrede keinen Hehl. Sogleich lud er die versammelten Ganserte zur Stimmprobe ein. Im Chor sang man das Gänsegretel- und ein Trinklied. Ein überzeugender Beleg dafür, dass die Pandemie darauf keinen negativen Einfluss hatte.
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