23.8.2021
Die publizistische Welt eines Buchhändlers aus Michelstadt
Die publizistische Welt eines Buchhändlers aus Michelstadt echo-online.de/lokales/odenwaldkreis/michelstadt/die-publizistische-welt-eines-buchhandlers-ausmichelstadt_24340208 23. August 2021
Der Wahl-Odenwälder Peter Bosse hat mit seinem Neuthor-Verlag vielen zuvor unbeachteten Themen zu Öffentlichkeit verholfen. Die Titel bleiben nun im Kreisarchiv erhalten.
Von Gerhard Grünewald Redaktionsleiter Odenwälder Echo
Ein Stück Zeitgeschichte hat Peter Bosse mit seinem Verlag und seinem Buchladen geschrieben, die beide nach dem Michelstädter Neuthor benannt sind. (Archivfoto: Guido Schiek)
ERBACH/MICHELSTADT - Ein per Schaufenster einsehbarer schnörkelloser Raum, darin Regale, Schränke und Tische voller oft unkonventioneller Bücher, Heftchen und Zeitungen inklusive des hauseigenen „Mitbürger“, dazwischen ein verhinderter Gymnasiallehrer, der zu all dem und der Welt drumherum viel zu sagen hat – Peter Bosses Buchladen am Neuthor in Michelstadt war im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts vor allem deshalb eine Institution, weil sein Inhaber es war. Was der Neuthor-Verlag des Wahl-Odenwälders hervorbrachte, kommt deshalb in jeder Hinsicht als Papier gewordene Zeitgeschichte daher – und hat als solche nun den passenden Platz gefunden. Geführt werden die Stammausgaben aller von Bosse herausgegebenen Titel nämlich nun beim Kreisarchiv im Odenwälder Landratsamt, der Nachschlagestelle für alle Materialien mit regionalgeschichtlichem Hintergrund. Mit 72 Jahren zwar umtriebig
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geblieben, aber doch Ruheständler geworden, hat Bosse nämlich seine Bestände nun der Erinnerungsabteilung des Landratsamts übergeben. Das tat er zum im Vorjahr vollendeten vierzigjährigen Bestehen seines einzigartigen Verlags gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Reinhard Gossenauer, der eine Werkschau in Form eines aufwendig gestalteten Katalogs hinzufügte. „Ich freue mich sehr über die Neuzugänge in unserem Bestand, denn die Geschichte des Verlags ist Teil und Zeugnis der Odenwälder Regionalhistorie“, würdigte Archivleiterin Anja Hering bei der Übergabe das Material und seine Herkunft. Darin ist der Michelstädter „Wunderrabbi“ Seckel Löb Wormser ebenso vertreten wie der Revolutionär und Demokrat Ludwig Bogen oder ein Verzeichnis der amtlichen Flurnamen im Odenwald. So weit nämlich reichten die Themen, die Peter Bosse die Herausgabe von Büchern Wert waren. Die historischen Auswanderungswellen aus dem Odenwald, den Bahnverkehr im Kontext der Umweltpolitik sowie diverse Texte von Heimatdichterinnen und -dichtern nennt der Pressesprecher des Odenwaldkreises, Stefan Toepfer, als weitere Zeugnisse dieser Vielfalt. Fotos
Der Fundus aller Titel findet sich nun im Kreisarchiv, wo zur Übergabe (von links) Bosse-Weggefährtin Hedwig Seiler, der Verleger, Archivleiterin Anja Hering und Verlags-Mitarbeiter Reinhard Gossenauer zusammentrafen. Foto: Stefan Toepfer/Kreisverwaltung Das inhaltliche Schleifchen um dieses Sammelsurium herum bildet dabei das umfassende gesellschaftliche und historische Interesse des Buchhändlers und Verlegers. Denn seine feste politische Verortung – in diesem Fall auf der linken Seite – hat Bosse nicht etwa voreingenommen, sondern neugierig gemacht. Und so schickte sich der Ladeninhaber an, den Odenwäldern und dem Publikum weit darüber hinaus https://www.echo-online.de/lokales/odenwaldkreis/michelstadt/die-publizistische-welt-eines-buchhandlers-aus-michelstadt_24340208
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erstmals die Kunde von Themen oder Persönlichkeiten nahezubringen, die sich heute breiter Aufmerksamkeit erfreuen. Den Wert von Bau- und Kulturdenkmälern etwa hat Bosse schon zu einer Zeit beschrieben, da in der Region noch allzu gern vom „alten Kram, der wegmuss“ die Rede war. Mit dem „Mitbürger“ gab Bosse sogar jahrelang eine lokale Zeitung heraus, die sich den damaligen blinden Flecken der Stadt- und Kreispolitik widmete. Der Dreh- und Angelpunkt all dessen befand sich zunächst in der südwestlichen Neuthorstraße knapp jenseits der inneren Altstadt, wo Bosse 1980 seinen Laden gegründet hatte. Später zog die Bücherei dann in Richtung Marktplatz um. Ganz in der Welt von Literatur und Information aufgegangen ist damit ein Zeitgenosse, der eigentlich nach dem zweiten Staatsexamen Gymnasiallehrer für Geografie, Politik und Geschichte werden wollte und bereits am Gymnasium in Michelstadt dazu ansetzte. „Ich bekam aber immer nur die Mitteilung, in meinen Fächern herrsche eine Lehrerschwemme“, zitiert Toepfer den Verleger. „Da ich während meines Studiums an der TH Darmstadt schon im Buchhandel tätig war, kam ich auf die Idee, einen linken und alternativen Buchladen zu gründen“, schildert er. Fünfundzwanzig Jahre lang gab es den Laden. Eng zusammengearbeitet hat der Inhaber dabei mit Hedwig Seiler aus Bad König, die unweit seines Geschäfts ein Antiquariat betrieben hatte. Der Verlag wurde ebenfalls 1980 gegründet, weil immer wieder der Wunsch nach „Texten mit kritischer Regionalgeschichte“ geäußert wurde, wie Bosse selbst erklärt. Das Verlagsprogramm umfasste aber auch andere Titel, etwa die in Deutsch und später auch in Türkisch herausgegebene Autobiografie von Serap Çileli, in der sie auch über ihre Zwangsheirat schreibt, die Textsammlung einer Michelstädterin über den Kampf und die Kultur nordamerikanischer Ureinwohner und vor allem zahlreiche Veröffentlichungen über Lettland und Estland. Bosses Eltern stammen aus der lettischen Hauptstadt Riga. „Meine Familie wurde, wie die meisten Deutsch-Balten, 1939 vom NS-Regime umgesiedelt“, schildert Bosse, der 1948 geboren wurde und in Frankfurt aufwuchs. Nach dem Studium in Darmstadt zog er 1978 nach Michelstadt. Den Odenwald hatte Bosse aber schon früh kennengelernt, ohne dass er je dort gewesen wäre – nämlich über die Odenwälder Sagen und Märchen, die ihm seine Mutter einst vorgelesen hatte. Vor allem jene aus dem Werk „Das Buch Rodenstein“, das der bekannte Schriftsteller Werner Bergengruen, ein Großonkel Bosses, verfasst hatte, der ebenfalls aus Riga stammt. Es gibt noch Themen aus dem Odenwald, die ihn als Verleger sehr interessieren, vor allem eine Biografie des Polarforschers Carl Weyprecht und die vielfältige Disco-Kultur in den Achtzigerjahren. „Ob daraus Bücher werden, weiß ich jetzt noch nicht. Aber die Geschichten dieser Region sind längst noch nicht alle erzählt.“
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