Material und Redeskript von DGBRegionssekretär Horst Raupp für die Veranstaltung der Grünen im Odenwaldkreis „Sozialökologisches Wirtschaften im Odenwaldkreis – eine Chance?“ am 16.10.2014 in Michelstadt die wirtschaftliche Lage und Perspektiven im Odenwaldkreis aus gewerkschaftlicher Sicht: Die Wirtschaft im Odenwaldkreis ist geprägt von überwiegend klein und mittelständischen Unternehmen mit einem vergleichsweise hohen Anteil des produzierenden Gewerbes. in diesem Bereich sind rund 44% der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer/innen beschäftigt. Weitere wichtige Bereiche sind: der Öffentliche Dienst, die Bereiche Gesundheit und Pflege, der Handel, private Dienstleistungen und das Gastgewerbe. Von großer Bedeutung für den Odw. ist das Handwerk, das zahlreiche Arbeitsplätze und in erheblichem Umfang Ausbildungsplätze bereit stellt. In der Landwirtschaft arbeiten aktuell noch 0,6 Prozent der Beschäftigten. Auch wenn das Lohnniveau und die Steuerkraft im Odenwaldkreis insgesamt betrachtet eher unterdurchschnittlich sind, hat der Odenwald wirtschaftliche Stärken. Eine dieser Stärken ist ein breiter und vielfältiger Mix verschiedener Branchen. Firmen wie Pirelli, BoschRexroth und Trelleborg sind das Rückgrat der industriellen Produktion im Landkreis. Dazu kommen mittelständische Betriebe in Bereichen wie Z.B. Metall und Elektro, Maschinenbau und Automobilzulieferer. Etliche dieser Betriebe sind mit innovativen Produkten hervorragend auf dem deutschen und den internationalen Märkten plaziert. Für uns als DGB ist klar: Der Odenwald braucht auch in Zukunft hochwertige Industriearbeitsplätze. Allein von der Kartoffelwoche oder dem Tourismus kann der Odenwaldkreis nicht leben. Aber: es gibt im Odw. erhebliche Probleme, wenn wir uns die Arbeitsmarktentwicklung ansehen. Die Zahlen sprechen eine sehr deutliche Sprache. In den letzten 10 Jahren, von 2003 bis 2013, ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Landkreis minimal gestiegen, von 24.304 auf 24.509. Betrachtet man sich die Zahlen näher, dann ist festzustellen, dass die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze (VZAP) im gleichen Zeitraum stark rückläufig ist: 2003: 20.348 VZAP, 2013: 17.930 VZAP. Das bedeutet einen Verlust von 2.418 VZAP innerhalb von nur zehn Jahren! Die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze iist hingegen von 3.950 auf 6.578 massiv angestiegen. Das ist ein Zuwachs von 67 Prozent innerhalb von nur 10 Jahren. Geradezu explosionsartig vermehrt haben sich die sog. Minijobs (2003: 6524, 2013: 9.412). Von den 9.412 MinnerjobberInnen (MJ) im Odw. arbeiten ausschließlich auf MJBasis: 6.041 Menschen, nebenberuflich: 3.371. Mehr als 2/3 der MJ sind weiblich. Die massive Vermehrung der MJ ist in vor allem auf folgende Gründe zurückzuführen: 1. In vielen Bereichen, z.B. im Handel, wurden Voll und Teilzeitarbeitsplätze massenhaft durch MJ ersetzt. 2. Immer mehr Beschäftigte üben zwei Jobs aus, weil sie von einem AP allein nicht mehr leben können („MultijobberInnen“). 3. Immer mehr Rentner/innen sehen sich gezwungen, ihre unzureichende Rente mit einem MJ aufzubessern. Viele der in den letzten Jahren neu entstandenen Arbeitsplätze im Odw. sind miserabel bezahlt, befristet, Leiharbeit oder Werkverträge. Dazu kommt der Missbrauch von Praktikumsarbeitsverhältnissen, entweder schlecht bezahlt oder im Zweifel überhaupt nicht bezahlt. Das alles trifft vor allem die junge Generation. Die meisten jungen Menschen haben noch nie einen unbefristeten Arbeitsvertrag gesehen.
In atypischen Beschäftigungsverhältnissen (TZ, LA u. MJ) haben 2003 34 % aller Beschäftigten gearbeitet – also mehr als ein Drittel! , dieser Anteil ist 2013 auf 48,9 Prozent gestiegen. Das bedeutet das: Fast jede/r 2. Beschäftigte im Odw. arbeitet in atypischen Verhältnissen! Diese 48,9 Prozent teilen sich wie folgt auf: 19,4 % TZ, 27,7 % MJ, 1,8 % LA. Während Männer zu 30% in aty. BV arbeiten, liegt dieser Wert bei Frauen bei 70 Prozent. Es gibt im Odenwaldkreis ca. 1.350 „Aufstocker“, also erwerbstätige Hartz IVBezieher/innen, die so wenig verdienen, dass ihre Löhne aus Steuermitteln aufgestockt werden müssen. Ich halte das für einen Skandal. Es kann nicht Aufgabe der SteuerzahlerInnen sein, die Profite der Lohndrücker zu subventionieren, die sich durch Lohndumping eine goldene Nase verdienen. Im Odenwaldkreis gibt es zudem 650 LeiharbeiterInnen (LA). Die Zahl der LA ist deutlich gesunken, weil es durch gemeinsames Handeln von Betriebsräten und Gewerkschaften gelungen ist, LA einzudämmen und zurückzudrängen. Von den Vollzeitbeschäftigten (VZB) im Odw. arbeiten 30 % das sind 5.093 Menschen zu Löhnen unterhalb der westdeutschen Niedriglohnschwelle, die bei 1.890 brutto liegt (einschl. Urlaubs und Weihnachtsgeld, soweit es überhaupt gezahlt wird). Von den VZB mit Berufsabschluss arbeiten 22,2 Prozent unterhalb der NLSchwelle. Selbst von den VZB mit Hochschul oder Fachhochschulabschluss arbeiten 8,8% im Niedriglohnbereich. Wesentlich dramatischer sind die Zahlen für Frauen. Von den weiblichen VZB arbeiten 51,8 Prozent unterhalb der NLSchwelle, selbst von den vollzeitbeschäftigten Frauen mit abgeschlossener BA befinden sich 43,7% im NLBereich. Lohnarmut und Altersarmut sind in erster Linie weiblich. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes im Odenwaldkreis hat Folgen – auch im Alter. Minilöhne bedeuten im Alter Minirenten. Nach Berechnungen des DGB muss fast jeder dritte VZB im Odw. künftig mindestens 47 (!) Jahre arbeiten, um eine Rente zu bekommen, die knapp oberhalb der Grundsicherung liegt. Diese dramatische Entwicklung hat zwei Gründe: :Zu einem wird knapp jeder Dritte VZB im Odw. wird mit Niedriglöhnen abgespeist, zum anderen soll das Rentenniveau von jetzt knapp 50 Prozent auf 43 Prozent abgesenkt werden. Bei einem Rentenniveau von 43 Prozent würde die Durchschnittsrente im Odw. deutlich unter der Grundsicherung landen. Das Ergebnis wäre eine Welle von Altersarmut. Wenn es nicht gelingt, prekäre Beschäftigung und Ausbeutungsarbeitsverhältnisse zurückzudrängen und gute Arbeit und anständige Löhne durchzusetzen und das Rentenniveau mindestens auf dem jetzigen Niveau zu stabilisieren, dann wird Altersarmut in Zukunft zu einem Massenphänomen, das bis weit in die Mittelschicht hineinreicht. Die Altersstruktur der Beschäftigten ist mit den umliegenden Kreisen vergleichbar, es gibt allerdings überdurchschnittlich viele Beschäftigte über 50, die mittelfristig das Rentenalter erreichen werden. Deshalb ist es wichtig, die Ausbildungsanstrengungen zu intensivieren, wie dies der BR bei BoschRexroth öffentlich angemahnt hat. Bereich Ausbildung: die meisten Betriebe wollen gut ausgebildete und qualifizierte Fachkräfte – aber immer weniger Betriebe bilden aus. Das passt nicht zu den Klagen vieler Arbeitgeber über angeblichen oder drohenden Fachkräftemangel. Hinzu kommt, dass im Odw. die Zahl der vorzeitigen Vertragsauflösungen im Bereich der beruflichen Ausbildung auffällig hoch ist, weil viele Ausbildungen vor ihrem regulären Abschluss beendet werden. Viele Auszubildende müssen in einen erheblichen Teil ihrer
Ausbildung ausbildungsfremde Tätigkeiten verrichten, die nichts mit den Ausbildungsinhalten und Ausbildungszielen zu tun haben. Viele müssen gegen geltendes Recht regelmäßig in erheblichem Umfang Überstunden machen. So werden Azubis oft als billige Arbeitskräfte missbraucht. Statt über die angeblich fehlende Ausbildungsreife von Jugendlichen zu klagen, muss festgestellt werden, dass viele Betriebe schlichtweg nicht ausbildungsreif sind. Auf der anderen Seite, auch das sei hier deutlich gesagt, gibt es viele Odenwälder Betriebe, in denen junge Menschen mit viel Engagement ausgebildet werden. Und das ist dringend notwendig: Wer heute nicht ausbildet, produziert den Fachkräftemangel von morgen. Das beste Argument gegen Fachkräftemangel ist eine qualifizierte Ausbildung junger Menschen, ihre Übernahme nach bestandener Ausbildung in ein festes Arbeitsverhältnis und die Zahlung von Ausbildungsvergütungen und Löhnen, die jungen Menschen in selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Bei der Arbeitsagentur für den Geschäftsstellenbezirk Erbach sind aktuell 3.058 Arbeitslose registriert . Arbeitssuchend gemeldet sind 5.179 Personen. Von den 3.058 registrierten Arbeitslosen sind 410 jünger als 25 Jahre. Dazu kommen auch zahlreiche junge Menschen, die in Maßnahmen geparkt sind und Warteschleifen drehen. Bei der Bewertung des Odenwälder Arbeitsmarktes fällt zudem auf, dass die Arbeitslosigkeit älterer Beschäftigter auf hohem Niveau verharrt, während sich Langzeitarbeitslosigkeit zunehmend verfestigt. Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt hat Folgen auch für Kinder: Fast 2.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren im Odenwaldkreis leben in Hartz IVBedarfsgemeinschaften. Kinderarmut ist eine Schande für dieses reiche Land. Festzustellen ist zudem, dass die Erwerbsquote von Frauen ist im Odw. stark unterdurchschnittlich ist. Während im hessischen Durchschnitt 49,4 % der Frauen berufstätig sind, liegt dieser Anteil im Odw. bei 41,1 Prozent. Dies hat sicherlich viel zu tun mit dem Fehlen einer ausreichenden Zahl von bezahlbaren Kindertageseinrichtungen. Hier besteht ebenso erheblicher wie dringender Handlungsbedarf. Notwendig ist gute Bildung von Anfang an. Das beginnt mit der Schaffung eines ausreichenden Angebots von bedarfsgerechten und bezahlbaren Kinderbetreuungseinrichtungen. Ebenso müssen der Ausbau von Ganztagsschulen deutlich beschleunigt und die duale Berufsausbildung gestärkt werden. Wichtig für den Odw. ist die Sicherung und der Ausbau von Einrichtungen wie das BAW, das eine anerkannt gute Arbeit leistet und in den zurückliegenden Jahren hunderte von arbeitslosen, schwer vermittelbaren und auf dem AM benachteiligten Jugendlichen zu einem Ausbildungsabschluss verholfen und auf dem ersten AM vermittelt hat. Das BAW ist und bleibt als arbeitsmarktpolitisches Instrument des Kreises unverzichtbar. Wir brauchen auch im Odenwaldkreis einen dauerhaften öffentlich geförderten zweiten Arbeitsmarkt. Hier müssen im öffentlichen Interesse erforderliche Arbeiten und Dienstleistungen erbracht und tariflich entlohnte, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden. Unverzichtbar für die Schaffung von guten Lebensbedingungen, Chancengleichheit und Teilhabe ist ein starker und leistungsfähiger öffentlicher Sektor, der auch angemessen finanziell ausgestattet sein muss. Der Markt ist nicht in der Lage, eine leistungs und zukunftsfähige Infrastruktur zu schaffen. Notwendig ist deshalb eine demokratisch gesteuerte und demokratisch kontrollierte Infrastrukturpolitik in öffentlicher Trägerschaft, die einen flächendeckenden, gleichberechtigten und bezahlbaren Zugang zur öffentlichen Infrastruktur gewährleistet Klar ist oder klar sollte zumindest sein: Arbeit und Umwelt sind keine Gegensätze. Nur ökologisch sinnvolle Arbeitsplätze sind auf Dauer auch sichere Arbeitsplätze.
Durch gezielte Zukunftsinvestitionen in Kinderbetreuung, Schule und Bildung, Gesundheit und Pflege, in die soziale Infrastruktur, Umwelt und Klimaschutz und Kultur können zahlreiche neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Durch den Ausbau der sozialen Infrastruktur wird zugleich die Lebensqualität der Menschen unmittelbar vor Ort verbessert. Die Energiewende zum Beispiel ist ein Jobmotor gerade für den ländlichen Raum. Die Energiewende muss genutzt werden, um die Energieversorgung zu dezentralisieren und zu demokratisieren. Ziel des DGB ist ein möglichst hoher Anteil an Energieerzeugung in kommunaler oder bürgerschaftlichgenossenschaftlicher Trägerschaft, so dass ein möglichst hoher Anteil der Wertschöpfung in der Region bleibt statt in die Kassen der großen Energiekonzerne abzufließen. Das ist gut für Region und schafft neue und zukunftsfähige Arbeitsplätze. Auch die energetische Sanierung von Wohnungen schafft neue Arbeitsplätze sie rechnet sich mittelfristig durch die deutliche Senkung der Energiekosten, sie schont wertvolle Ressourcen und das Klima. Deshalb ist es wichtig, dass die Energiewende im Odenwald nicht vor sich hindümpelt, sondern vorangetrieben wird. Die Energiewende muss endlich zur Chefsache gemacht werden. Der Odenwald steht vor schwierigen Herausforderungen – aber der Odenwald hat auch viele starke Seiten. Trotz anhaltend knapper Finanzmittel wurde hier in den letzten Jahrzehnten viel erreicht. An diesen Erfolgen gilt es wieder anzuknüpfen. Klar ist aber auch: Die Haushalte der Gemeinden, Städte und Landkreise sind chronisch unterfinanziert, insbesondere in Hessen. Für viele wichtige Projekte fehlt das Geld. Selbst die gesetzlichen Pflichtaufgaben sind unterfinanziert. Deshalb setzt sich der DGB für eine grundlegende Gemeindefinanzreform ein, die die Einnahmeseite und damit die Investitionskraft der Gemeinde, Städte und Landkreise stärkt und die und die verfassungsmäßig garantierte kommunale Selbstverwaltung wieder herstellt. Zur Stärkung der Einnahmeseite des Staates gehört ganz zentral die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Lebenswerte Städte und Gemeinden sind das Fundament unserer Gesellschaft – und das Fundament unserer Demokratie. Dieses Fundament müssen wir erhalten und ausbauen. Ökologische Nachhaltigkeit und die Schaffung von sozialer Gerechtigkeit sind die zentralen Gegenwarts und Zukunftsherausforderungen für die Menschheit. Hier ist politisches Handeln gefordert – auf internationaler Ebene, im Bund, in den Ländern – und auf kommunaler Ebene, also unmittelbar „vor Ort“ auch hier im Odenwald. Sozialökologisches Wirtschaften lohnt sich – für den Odenwaldkreis und für die Menschen in der Region.