Die erschreckende Kehrseite des Kreuzfahrtbooms hd.welt.de/Wirtschaftedition/article159042485/DieerschreckendeKehrseitedesKreuzfahrtbooms.html
Seetourismus Olaf Preuß
Foto: dpa/dpaZB Die Kreuzfahrtbranche boomt, doch das heißt auch: Niedriglöhne für Besatzungen, Umweltverschmutzung, Sicherheitsmängel. Ein neues Buch zeichnet den Urlaub auf See als zweifelhaftes Freizeitvergnügen. Die Kreuzfahrtbranche bedient Träume, fast überall auf der Welt, in allen Preisklassen, mit jedem denkbaren Sonderwunsch. Sie boomt global wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig. Mehr als jeder dritte Deutsche würde gern einmal eine Kreuzfahrt machen, berichtete das Beratungsunternehmen PwC dieser Tage in einer repräsentativen Umfrage. Ganz oben auf der Wunschliste der Befragten: eine Kreuzfahrt durch die norwegischen Fjorde, wahlweise im Mittelmeer – oder am besten gleich eine Weltreise.
Rund 24 Millionen Menschen unternehmen 2016 eine Kreuzfahrt. Auch Wolfgang Gregor, 62, sticht gern in See. 16 Kreuzfahrten mit acht verschiedenen Reedereien seien es in den vergangenen sieben Jahren gewesen, berichtet der freie Journalist. Anfangs war es ein Freizeitvergnügen. Doch bei jeder weiteren Fahrt vertiefte Gregor die Recherchen für seine Bestandsaufnahme einer mittlerweile zwar allgegenwärtigen, aber nur schwer zu durchschauenden Branche. Schon im vergangenen Jahr hatte er bei einer Veranstaltung der Fraktion Die Linke im Hamburger Rathaus der Öffentlichkeit seine Erkenntnisse präsentiert. Nun legte Gregor sein Buch "Der Kreuzfahrtkomplex – Traumschiff oder Alptraum" vor, das man lesen sollte, wenn man sich für die Welt hinter der Kulisse der Kreuzfahrtwirtschaft interessiert.
Haben wirklich alle Platz in den Rettungsbooten? Gregor greift bekannte Probleme auf, etwa die Vielzahl von Schiffen, die Kreuzfahrttouristen wellenartig in ökologisch eher sensiblen Umgebungen wie der Lagunenstadt Venedig anlanden. Er listet die wachsende Schadstoffbelastung durch Kreuzfahrtschiffe auf, die Umweltverbände seit Jahren anprangern und die auch Hafenstädte wie Hamburg trotz neuer Landstromanschlüsse noch nicht im Griff haben. "Die Kreuzfahrtschiffe zerstören unsere Stadt" Hauptsächlich aber widmet sich der Autor den kritischen Seiten der Kreuzfahrt, die nicht offensichtlich sind. Etwa die "100ProzentRegel": Die Vorgabe der internationalen Seefahrtsorganisation IMO, wonach für alle Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord ein Platz in einem Rettungsboot zur Verfügung stehen müsse, könne in Flaggenstaaten wie Panama, Malta, Liberia oder Italien unterlaufen, die Anzahl der Rettungsbootplätze mit Sonderregelungen auf 75 Prozent der Menschen an Bord reduziert werden. Auch dann müssten zusätzliche Rettungsinseln zur Verfügung stehen, doch Gregor bezweifelt, dass diese bei der Havarie eines Großschiffes in schwerer See mit vielen Menschen tatsächlich effektiv einsetzbar seien. "Rettungsinseln sind bei der Evakuierung von Kreuzfahrtschiffen nur ein zweitklassiger Ersatz", schreibt er. "Ein nautischer Mitarbeiter von Aida gab einen Interessenskonflikt offen zu und bezeichnete Rettungsinseln als ,bessere Hüpfburgen, die nur bei Ausflugswetter zu gebrauchen sind'." Havarien, Brände an Bord, schwere Lagen auf See listet Gregor auf, über die in den Medien – anders als beim Unglück der "Costa Concordia" vor der italienischen Insel Giglio im Januar 2012 mit 32 Toten – kaum oder gar nicht berichtet wurden: die "Anthem of the Seas" mit 6000 Menschen an Bord im Februar 2016 in einem Orkan auf dem Weg von New York in die Karibik; die Kollision der "Costa Classica" mit einem Frachter 2010 vor Shanghai; Sturmschäden auf der "Brilliance of the Seas" im Oktober 2009 im Mittelmeer.
Lange Schichten, Angst um den Arbeitsplatz
Vor allem lenkt Gregor den Blick in die Unterwelt der weißen Flotten, auf tief gelegene Decks, auf denen ein Großteil der Besatzungen arbeitet und lebt, auf denen Tausende Menschen Infrastrukturen in Gang halten, die denen von Kleinstädten ähneln. Annähernd 9000 Menschen kann das größte Kreuzfahrtschiff der Welt transportieren, die "Harmony of the Seas" der Reederei Royal Carribean Cruises, die von Florida aus in die Karibik fährt. 2500 Besatzungsmitglieder versorgen rund um die Uhr bis zu 6500 Passagiere. "Die Besatzungen stammen in der Regel aus Entwicklungsländern und arbeiten teilweise unter sklavenähnlichen Bedingungen", schreibt Gregor über die Kreuzfahrtbranche generell. "Endlos lange Arbeitsschichten, Niedrigstlöhne, kaum Tageslichtkontakt und die konstante Androhung des Arbeitsplatzverlustes, sofern sie nicht spuren. Das ist körperlich und psychisch extrem belastend." Jahrelang hat Gregor für sein Buch recherchiert. Er sprach mit Reedereien, mit Hunderten Passagieren und Besatzungsmitgliedern, mit Verantwortlichen in den Hafenstädten. Auch sein beruflicher Hintergrund nützte ihm bei der inhaltlichen Arbeit: In seinen ersten Berufsjahren fuhr Gregor als Offizier und Kapitän zur See, später wechselte er in die Wirtschaft und arbeitete zuletzt im Topmanagement des Leuchtmittelherstellers Osram. Verantwortlich war er dort unter anderem auch für das Thema Nachhaltigkeit. Bei der Ausstattung von Schiffen kam er in Kontakt mit der Kreuzfahrtbranche.
So reagiert die Kreuzfahrtbranche Die reagiert gelassen auf sein Buch. "Die wenigen Passagen, die ich bisher gelesen habe, haben mich doch eher enttäuscht", sagte Helge Grammerstorf, der Chef des Kreuzfahrtverbandes Clia Deutschland. "Herr Gregor stellt an diesen Stellen zwar etliche Behauptungen auf, bleibt dann aber konkrete Beispiele oder Beweise schuldig." Gregors Buch jedoch ist nicht reißerisch, der Ton bleibt durchgehend sachlich und sachkundig. Es ist ein notwendiger Beitrag angesichts der großen und weiter wachsenden Marktmacht der Kreuzfahrtwirtschaft. Hunderte Millionen Euro und Dollar im Jahr investieren die Kreuzfahrtreedereien in Werbung und Marketing. Das Image der Branche ist gut. Dabei müsste heutzutage jedem klar sein, dass Massentourismus immer auch einen Preis hat, den nicht der Kunde zahlt, sondern im Zweifel das Servicepersonal an Bord und die Einheimischen an den Schiffsrouten. Bei Kreuzfahrten ist das ebenso wie in den Bettenburgen an Land. Viele Urlauber sehen das Preis LeistungsVerhältnis allerdings ganz anders. In seiner Umfrage zeigte PwC auch, was aus Sicht der Befragten gegen eine Kreuzfahrt spricht. Der am häufigsten genannte Grund: Kreuzfahrten seien zu teuer.