TRAFFIC News to-go 43

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f r e e p r e s s NEWS TO GO feb ––– mar 2015 NO 43

Das Ende der Freiheit Feuilleton S. 6 Drogenversteck Regenwald Sport S. 8 Grölen bis in den Tod: Der bekannteste Hooligan aller Zeiten 8-Pages S. 11 Rinus van de Velde: The Island Wetter S. 17 Berlin, Shanghai, Cannes & Toronto film S. 18 Foxcatcher-Star Channing Tatum im Interview film S. 20 Das beste Filmverfahren der Welt: Technicolor film S. 22 Stanley Kubricks Schwager und Nachlassverwalter Jan Harlan über dessen Filme kultur S. 24 Video Doesn't Kill the Theatre Star English Appendix S. 26 Arrogant Bastard: The Film Experience ZEITGESCHEHEN S. 4


impressum

Contributors

2 Thomas Abeltshauser

Eva Biringer

Rinus Van de Velde

Thomas Abeltshauser lebt und arbeitet als freier Autor seit 1996 in Berlin. Er studierte dort an der Freien Universität Filmwissenschaft und Publizistik und befasste sich in seiner Magisterarbeit mit dem Begriff des Stars im Werk von John Waters. Seit 18 Jahren schreibt er über Film, Kunst und Gesellschaft sowie Reisereportagen für Monopol, Cicero, GQ, Ray, Die Welt und andere renommierte Magazine und Tageszeitungen. Die drei großen Filmfestivals in Berlin, Cannes und Venedig sind feste Konstanten in seinem Arbeitskalender – wo er Regisseure und Stars interviewt, wie für diese Ausgabe den US-Schauspieler Channing Tatum.

Eva gehört zur schwäbischen Minderheit in Berlin. Hierher kam sie für ihr Studium der Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft, das sie gerade mit einer Masterarbeit über Theaterkritik im Internet abgeschlossen hat. Auch sonst ist sie sehr netzaffin, twittert, instagramt und bloggt als Eva Perla auf milchmaedchenmonolog.de über Männer, Frauen und Theater und auf kuechenperlen.de über kulinarische Entdeckungen. Daneben schreibt sie für Welt Online, Nachtkritik, Zitty und Cee Cee. Wenn sie nicht schreibt, isst und trinkt sie sich durch ihre Wahlheimat.

Rinus Van de Velde (*1983) ist einer der bekanntesten Künstler Belgiens der jüngeren Generation. In seinen großformatigen Zeichnungen inszeniert er sich in unterschiedlichsten Rollen. Für seine neueste Serie, die Ende 2014 in der Galerie Zink in Berlin zu sehen war, lebt sein Alter Ego als Künstlereremit auf einer winzigen Insel, auf der er auf sich allein gestellt ist. Seine Arbeit war unter anderem in Einzelausstellungen im CAC Málaga oder im SMAK in Gent zu sehen sowie in Institutionen wie etwa der Kunsthalle Bielefeld.

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Thomas Abeltshauser, Eva Biringer, Thorsten Denkler, Marc Hairapetian, Jan Harlan, Robin Hartmann, Frances Marabito, Mafalda Millies, Millicent Nobis, Barbara Russ, Jacques C. Stephens, Dr. Inge Schwenger-Holst, Channing Tatum, Adrian Stanley Thomas, Cornelia Tomerius, Rinus Van de Velde © Galerie Zink Berlin

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zeitgeschehen

Die Freiheit, die wir meinen

4 Nicht der Terror ist eine Gefahr für die Freiheit. Es ist die Angst der Menschen. Die sollte aber gröSSere Angst vor dem Sicherheitswahn der Politik haben.

Was ist die richtige Antwort auf die Bedrohung der Freiheit? Richtig. Mehr Freiheit. Lassen wir das mal für einen Moment so stehen. Ein seltsamer Gedanke, nicht? Seit Jahren werden wird darauf trainiert, dass Bedrohungen mit Gegenwehr zu beantworten sind. Die Freiheit müsse mit allen Mitteln verteidigt werden. Auch nach dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo ist das eine oft gehörte Forderung. Und Nährboden für ein großes Missverständnis. Die Forderung ist richtig. Freiheit ist ein hohes Gut. Vielleicht das höchste, das Menschen haben. Diese Freiheit ist durchaus in Gefahr. Aber nicht durch die feigen Attentäter von Paris. Nicht durch die Attentäter vom 11. September, von Madrid oder London. Diese Taten fordern den Rechtsstaat heraus. Die Täter sollen nicht straflos davon kommen. Und gut wäre es auch, wenn der demokratische verfasste, pluralistische und freiheitlich organisierte Rechtsstaat solche Taten sicher verhindern könnte. Das Dumme ist: Die Europäische Union, die westliche Staatengemeinschaft ist im Kern demokratisch, pluralistisch und freiheitlich organisiert. Das schließt absolute Sicherheit geradezu aus. Die Frage ist, welcher Wert wiegt schwerer auf der Waagschale der Demokratie: Freiheit oder Sicherheit?

In den vergangenen Jahren wurde der Sicherheit immer mehr und zu viel Gewicht beigemessen. Es ist die irrationale Angst der Menschen, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit, auch sie könnten an einem regnerischen Morgen in der falschen Bahn sitzen, am falschen Gebäude vorbeigehen, auf dem falschen Platz einen Kaffee trinken. Politiker bedienen sich dieser Ängste. Geben vor, mit immer schärferen Sicherheitsgesetzen werde doch die Freiheit erst wieder möglich gemacht.

Untersuchungen zeigen, dass schon die Annahme, dauernd überwacht zu werden, zu einem anderen Verhalten in der Öffentlichkeit führt. Überwachung verändert die Menschen. Ihr Sozialverhalten, ihre Meinungsfreude, ihre Offenheit. Die Angst vor einem Anschlag, sie sollte der Angst vor totaler Überwachung in nichts nachstehen. Diese Angst nämlich ist weitaus realer. Wie es anders geht, haben die Norweger nach den Breivik-Attentaten gezeigt. Im Sommer 2011 hat Anders Behring Breivik 69 Menschen erschossen – sie waren zu einem Ferienlager auf der Insel Utøya zusammengekommen. Einem von Breivik kurz zuvor als Ablenkung inszenierten Bombenanschlag auf das Büro des Ministerpräsidenten in Oslo fielen acht weitere Menschen zum Opfer. Ministerpräsident Jens Stoltenberg sagte damals: »Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.« Den Norwegern war ihre Freiheit erst einmal wichtiger. Freiheit ist mit Risiko verbunden. Manche Menschen verirren sich in der Freiheit, radikalisieren sich, wenden sich am Ende womöglich gegen die Gesellschaft. Das kann schreckliche Folgen haben. Die dürfen aber nicht dazu führen, das freiheitliche Prinzip in Frage zu stellen. Nach den Anschlägen von Paris mit insgesamt 20 Toten gilt es wieder, die Freiheit zu verteidigen. Gegen jene, die glauben, Vorratsdatenspeicherung könnte solche Anschläge verhindern. Oder die Speicherung von Fluggastdaten. Oder höhere Gefängnisstrafen. Die Totalüberwachung aller Bürger wäre das Ende jener Freiheit, wie wir sie kennen. Nicht ihre Verteidigung. Die Stärke eines freiheitlichen Landes liegt seiner Gelassenheit solchen Anschlägen gegenüber. Nicht darin jedes Mal ein Stück Freiheit zu opfern, in der Hoffnung, dass dies ein Quäntchen mehr Sicherheit bringen würde. Neue Sicherheitsgesetze bekämpfen ohnehin nur die Symptome. Die Gesellschaft kann aber versuchen, Radikalisierung zu vermeiden. In den Schulen, in den Familien, am Arbeitsplatz. Wertschätzung ist ein wichtiges Wort. Von vielen Attentätern ist bekannt, dass ihnen diese oft erst von denen entgegengebracht wurde, die sie später dazu gebracht haben, andere Menschen zu töten. Es ist ein mühsamer Weg. Und auch er verspricht keinen vollkommenen Erfolg. Aber es ist der Weg, den freie Gesellschaften gehen sollten, wenn ihnen ihre Freiheit am Herzen liegt.

Das stimmt nicht. Der 11. September 2001 hat der Welt gezeigt, wie verletzlich ein freies Land sein kann. Wie schnell es Grundüberzeugungen von Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit über Bord wirft, um seinen Bürger ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Die von Edward Snowden aufgedeckte NSA-Affäre hat einen Überwachungswahn bloßgelegt, der ansonsten nur in totalitären Systemen zu vermuten wäre. Als Reaktion auf den 11. September haben die USA den Full Take aller verfügbaren Daten zur obersten Maxime erklärt. Jeder ist verdächtig. Jeder muss überwacht, überprüft, gescannt werden.

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Thorsten Denkler Foto Skirt Jacksonville


123 Städte bauen und pflegen

von Cornelia Tomerius

Sizilien

Eine Küste sucht man im Küstendorf, Drvengrad, vergeblich. Dafür gibt es anderes, was einen Ort attraktiv macht. Prominenz zum Beispiel. Erst vor wenigen Wochen stiefelten etwa Alfonso Cuarón (Regisseur von Harry Potter und der Gefangene von Askaban und Gravity) sowie Amélie-Produzentin Claudie Ossard durch die kleine, verschneite Siedlung am Rande von Serbien. Emir Kusturica sieht man hier ohnehin ständig. Der hat nämlich nicht nur das gleichnamige Filmfestival und den Ort selbst geschaffen, sondern auch in einem der urigen Hexenhäuschen sein Domizil bezogen. Doch Kusturica – in der Welt geliebt für seine skurrilen Balkanfilme, in Serbien für seine nationalistischen Sprüche – ist das Dorf inzwischen zu klein geworden. Nur 20 Kilometer weiter, im nahen Bosnien, hat er sich deshalb eine ganze Stadt gebaut. Mit Häusern und Hauptstraße, einem Kino und einer Kirche. Nein, eine Moschee gibt es nicht. Warum auch? Schließlich gehörte Visegrad, wie das Drumherum heißt, zu einer der ersten Städte, die im letzten Krieg von den Serben ethnisch gesäubert wurden. Die Muslime sind weg und kommen nicht wieder. Stattdessen – kommen Leute wie Kusturica.

So verlockend es sein mag: Eine eigene Stadt macht Arbeit, viel Arbeit. Das weiß jeder Stadtrat, der regelmäßig in stundenlangen Sitzungen die Probleme seiner Kommune lösen soll. Besonders hart aber scheinen die 30 Stadträte in Agrigent an der Südküste Siziliens zu arbeiten. Zu insgesamt 1133 Stadtratssitzungen fanden die sich im letzten Jahr zusammen, also mehr als dreimal am Tag. Blöd nur, dass all der Einsatz offenbar keine Früchte trug: Auf der italienischen Rangliste städtischer Lebensqualität liegt Agrigent nach wie vor auf dem letzten Platz. Es gibt weder Jobs, noch verlässlich Trinkwasser aus der Leitung. Das einzige, was hier ununterbrochen fließt, ist Geld: in die Taschen der Stadträte. Denn pro Sitzung bekommen diese 10 Euro – egal, wie lang sie dauert. Womit auch klar wäre, was in diesen vielen Meetings geschafft wurde: die Anwesenheitsliste, mehr wohl kaum. Denn nach wenigen Minuten trennten sich die Consiglieri wieder. »Bringt sie alle in den Knast!« riefen die Bürger wütend, als sie die Masche durchschauten –und bewiesen damit glatt mehr Problemlösungsvermögen als ihre Stadtväter.

Serbien

Für manches städtische Problem gibt es hingegen eine Lösung, noch bevor es überhaupt zu einem wird. In Stockholm zum Beispiel stellt man sich schon jetzt der Ernährungskrise von morgen – und plant Insektenfarmen für alle Stadtteile. Grillen, zum Beispiel, sind nicht nur sehr nahrhaft und lecker (kross und nussig im Geschmack, wie eine Mischung aus Shrimps und Mandeln) sondern auch besonders sparsam in der Aufzucht: Aus 10 Kilo Futter lassen sich 9 Kilo Grillen produzieren. Beim Fleisch käme nur ein Kilo raus. Aber nicht nur Ressourcen, auch die Umwelt würde geschont, geben Grillen doch bis auf ihr Gezirpe sonst wenig an die Außenwelt ab – im Gegensatz zu den pupsenden Rindviechern und Schweinen. Optisch sind die gläsernen Bauten eine Mischung aus Allianz Arena und Riesen-Donut – größenmäßig liegen sie auch irgendwo dazwischen und haben auf jeder Verkehrsinsel Platz. Ein Designpreis wurde den Entwürfen schon verliehen. Nun kann man nur hoffen, dass sie auch realisiert werden –und wenn vielleicht keine Insekten, so vielleicht all die unliebsamen Grillen kasernieren, die manch anderen so im Kopf umherschwirren.

Schweden

»Richard III.« von William Shakespeare | Regie: Thomas Ostermeier. Foto: Arno Declair

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schaubühne

Shows with English surtitles once a week | www.schaubuehne.de | Box Office: +49.30.890023


Medizin Dr. Inge Schwenger, Medizinerin, Homöopathin und Klinikmanagerin, betreibt derzeit das Schlossgut Schönwalde mit Gästehaus, Restaurant und Polozentrum.

FEUILLETON

Verkauf mir dein Land!

Filmriss

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Wenn man den Mann, neben dem man aufwacht, noch nie gesehen hat, nicht weiß, mit welchem Verkehrsmittel man in der Nacht nach Hause kam oder sich einfach an das Ende der Party am Vorabend nicht erinnert, ist man mit Sicherheit Opfer einer der am häufigsten bekannten mnestischen (Gedächtnis)-Störungen. Die genaue Ursache des in der Regel durch Alkoholgenuss ausgelösten Blackouts wurde erst 2011 u.a. durch den Japanischen Psychiater Kazuhiro Tokuda erforscht: Alkohol, aber auch andere Suchtstoffe, blockieren die Rezeptoren der sog. Botenstoffe an Nervenzellen und verhindern so die Langzeitpotenzierung. Diese umschreibt die Fähigkeit von Nervenzellen, miteinander zu kommunizieren und führt in Regionen wie dem Hippocampus dazu, dass die Gedächtnisleistung eingeschränkt wird. Bereits bei geringen Mengen von Alkohol können durch diese Vorgänge kaum merkliche Gedächtnisverluste, die jedoch noch nicht als Filmriss wahrgenommen werden, entstehen. Ab einem Alkoholpegel von 1,5 Promille ist nahezu sicher mit einem Blackout zu rechnen, wobei Frauen hier deutlich eher gefährdet sind als Männer. Genetische Faktoren bestimmen neben der Menge des getrunkenen Alkohols die Wahrscheinlichkeit eines solchen vorübergehenden jedoch irreparablen Gedächtnisverlustes. Da nicht nur im Gedächtniszentrum Hippocampus, sondern auch in anderen Hirnarealen die Rezeptorbindung durch Alkohol geschwächt wird, gehen auch Verhaltensänderungen wie eine abgeschwächte Impulskontrolle und eine Tendenz zum Treffen gefährdender Entscheidungen mit dem Blackout einher. Im Gegensatz zum Filmriss, der einen Gedächtnisverlust bei vollem Bewusstsein beschreibt, steht die Narkotisierung mit anschließender Amnesie, die z.B. durch sogenannte KO-Tropfen herbeigeführt wird. Dieser Cocktail, oft aus krimineller Absicht und ohne Wissen des „Probanden“ verabreicht, führt zur kurzfristigen Bewusstlosigkeit mit späterem Gedächtnisverlust. Genaueres hierüber erfährt man im Übrigen auf der Webseite kotropfen.net, auf deren Homepage interessanterweise u.a. für das Schlafmittel „Noxtran“ geworben wird ?! Ob dies als Anleitung zum Selbstversuch zu verstehen ist oder als eine peinliche Arabeske neoliberaler Internetpräsenz, mag der interessierte Leser selbst entscheiden.

Wenn du nicht willst, kaufe ich es von deiner Witwe. /O 43 – FEBRUAR / MÄRZ 2015 TRAFFICNEWSTOGO.DE

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FEUILLETON

von Robin Hartmann Jeden Tag werden in Zentralamerika unfassbare Flächen Regenwald abgeholzt. Schuld daran trägt auch die weltweit steigende Nachfrage nach Kokain. Besonders schlimm: Die zwielichtigen Männer hinter dem Geschäft haben kaum noch Gegner.

Die immer weiter steigende Nachfrage nach harten Drogen wie Kokain bedroht nicht nur die Menschheit an sich, sondern auch die Regenwälder in zent1 ralamerikanischen Ländern wie Honduras, Guatemala und Nicaragua. Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die bereits im Jahr 2014 von Wissenschaftlern der Universität von Ohio veröffentlicht wurde. Dr. Kendra McSweeney ist Teil des Forscherteams, und befasst sich bereits seit Jahrzehnten mit den zentralamerikanischen Regenwäldern. Allein zwischen 2007 und 2011 habe sich die Abholzungsrate hier vervierfacht, sagt sie. Obwohl es auf den ersten Blick absurd klingen mag: Der Grund für diese schockierende Entwicklung ist der Krieg gegen den organisierten Drogenhandel. Vom Staat verfolgt, ziehen sich die Drogenbarone in immer unzugänglichere und unberührtere Regionen zurück, um ihren nebulösen Geschäften weiterhin in Ruhe nachgehen zu können. Um ihre Transportwege auszubauen, schlagen sie immer größere Schneisen in den Regenwald, in denen dann Straßen oder sogar Landebahnen für Kleinflugzeuge entstehen – besonders der Handel in die Vereinigten Staaten floriert. Seit nämlich der damalige mexikanische Präsident Felipe Calderón im Jahr 2006 den Krieg gegen die Drogen erklärte, haben die Handelsrouten über Honduras, Guatemala und Nicaragua immer mehr an Bedeutung für die Gangster gewonnen – genauso, wie die Regenwaldabholzung drastisch zunahm. »Früher betrug die Abholzungsrate etwa 20 Quadratkilometer im Jahr«, so McSweeney. »Heute sind wir schon bei 60 Quadratkilometern jährlich, und in einigen Regionen von Guatemala liegt die Dunkelziffer vermutlich sogar höher.« Die Geographin fürchtet, dass die Abholzungsrate sogar bis auf unfassbare 10 Prozent der Gesamtflächen steigen könnte. Was noch schlimmer ist: Der Drogenhandel befeuert auch die Viehzucht und die Palmölindustrie in diesen einst natürlichen Regionen: Die Drogenhändler benutzen diese Wirtschaftszweige, um ganz in Ruhe ihr Geld waschen zu können, und so werden riesige Regenwaldflächen in Weide- und Agrarland umgewandelt. Nachdem dies geschehen ist, verkaufen die Narcos nicht selten sogar das kultivierte Land mit riesigem Gewinn an private Firmen, die nicht zu viele Fragen stellen. Das Problem ist mittlerweile so gravierend, dass sogar Naturreservate wie die Biosphäre um den Rio Platino einfach zu verschwinden drohen. Und angestachelt vom Erfolg der Drogenhändler, mischen auch immer größere Teile der armen Landbevölkerung bei den kriminellen Geschäften mit. Regelmäßig werden Funktionäre bestochen, und Gruppen, die für die Erhaltung der Natur kämpfen, bedroht. Auch Morddrohungen gegen die indigene Bevölkerung sind an der Tagesordnung: »Die Mordrate in Honduras ist mit die höchste der Welt«, warnt McSweeney. »Alle hier wurden zum Schweigen gebracht.« McSweeney und ihre Kollegen wurden erstmals auf die gravierende Abholzung aufmerksam, als sie mit einem Flugzeug große Regionen von Honduras überflogen, um die Ursachen von Wirbelstürmen zu erforschen. Als sie Menschen fragten, warum denn so viel Regenwald verschwunden sei, bekamen sie immer dieselbe Antwort: Wegen den Narcos. Um das auch zu beweisen, benutzen die Forscher Daten von Behörden aus den Ver2 einigten Staaten, die die Bewegung von verdächtigen Flugzeugen und Booten zeigten. Schließlich verglichen sie diese Anhaltspunkte mit Satellitendaten, die die Regenwaldabholzung belegten.

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Seit 2012 kämpfen nun auch die Behörden in Honduras gegen den Drogenhandel, und so ist die Abholzungsrate schon wieder ein wenig gesunken. Das Problem hat sich allerdings nur verlagert, und zwar nach Nicaragua, wo Einsätze des Militärs gegen Drogenhändler stark zugenommen haben. Auch hier ziehen sich die Narcos mittlerweile immer tiefer in den Regenwald zurück, mit denselben katastrophalen Folgen für die Natur. In Kolumbien kennt man diese Probleme. So bedroht der Drogenhandel nicht nur den Regenwald, sondern auch seine Bewohner, zum Beispiel viele Vogelarten. Der kolumbianische Vizepräsident Angelino Garzón ist Teil einer Gruppe, die gegen die Folgen des Drogenhandels kämpft. Auf einem Gipfeltreffen zu diesem Thema sagte er: »Jedes Gramm Kokain zerstört ein paar Quadratmeter Regenwald. Bereits 2,5 Millionen Hektar sind auf diese Weise vernichtet worden.« In Bolivien ist das Problem so gravierend, dass die Behörden die Narcos mit Entlaubungsmitteln à la Agent Orange bekämpfen – die Stoffe töten freilich nicht nur die Koka-Pflanzen, sondern alle anderen gleich mit. Und auch hier besteht das Problem, dass sich Drogenhändler in die Urwälder zurückziehen. Liliana Dávalos vom Amerikanischen Museum für Naturgeschichte sagte dazu der Süddeutschen Zeitung: »Wir vermuten, dass etwa fünf Prozent des gesamten Kokains in Nationalparks fabriziert werden.« Das schadet der Natur auf vielfältige Weise: »Jährlich werden für die Kultivierung der Drogen etwa 100 000 Tonnen Dünger und 1400 Tonnen Herbizide verwendet.« Laut der amerikanischen Antidrogenbehörde DEA werden für die Herstellung von einem Kilo Kokain drei Liter Schwefelsäure benötigt, außerdem bis zu 80 Liter Kerosin und ein Liter Ammoniak – alles Substanzen, die der Natur schweren Schaden zufügen. Wie gesagt, all diese Schadstoffe benötigt man zur Herstellung nur eines einzigen Kilos Kokain – jährlich werden weltweit etwa 900 Tonnen des Giftes fabriziert. Diese Abfälle schaden aber nicht nur der Natur, sondern verursachen auch genetische Krankheiten innerhalb der Bevölkerung – die Folgen können von Schwindelgefühlen über Durchfall bis hin zu Kopfschmerzen und Erkrankungen der Sehnerven und der Atemwege führen. Krebserkrankungen und Totgeburten haben in diesen Regionen ebenfalls drastisch zugenommen. »Nur eine Reform der Drogenpolitik kann hier echte Abhilfe schaffen«, so McSweeney, aber natürlich weiß auch sie darum, wie schwer das sein wird. »Es gibt niemanden, der die Narcos aufhält. Sie haben Waffen und sagen zu den Leuten: ›Verkauf mir dein Land – wenn du nicht willst, kaufe ich es von deiner Witwe.‹«

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Bilder 1 © Jarrett Hines 2 © Jonny Miller 3 © Tom Asterisk


SPORT

Fan bis in die Ewigkeit FuSSballfans singen schon mal gerne davon, dass sie für ihren Verein sogar bis in den Tod gehen würden. Marcelo Amuchastegui hat genau tatsächlich das getan. Von einem, der sein Leben lieSS, um im Tod erst recht zur Legende zu werden.

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mit Anhängern des gegnerischen Teams oder gleich mit der Polizei. Immer im Zentrum ist ein eher unauffälliger Mann von mittlerer Statur, er führt La 22 an, ist bei jedem Scharmützel an vorderster Front zu finden, scheut sich auch nicht, alleine gegen einen ganzen Mob von Gegnern zu stehen. Diesen Mann nennen sie nur erfurchtsvoll den Verrückten aus Eisen. Marcelo Amuchastegui ist wohl bis heute der bekannteste Hooligans aller Zeiten in Argentinien. Die Führung seiner Ultras hat er sich im wahrsten Sinne des Wortes erkämpft, als er dieses Amt von seinem Vorgänger José Luís El Negro Torres übernimmt. Kaum einer ist auf den Straßen von La Plata und darüber hinaus so gefürchtet wie El Loco Fierro. Bei einem Heimspiel seines Teams prügelt er im Alleingang die Anhänger von Vélez Sarsfield zurück in ihren Block, als diese versuchen, die Gimnasia-Tribüne zu stürmen. Als es einmal während einer Partie gegen den Lokalrivalen Estudiantes gilt, eine geraubte Flagge zurückzuerobern, geht Amuchastegui alleine in den gegnerischen Fanblock - niemand traut sich auch nur, ihn anzusprechen. Und wenn gegnerische Ultras anreisen, verabredet er sich höchstpersönlich mit deren Chefs zu einer förmlichen Schlägerei. Er bedroht in seinen Liedern La 12 die Ultras der Boca Juniors und kündigt an, deren Stadion niederzubrennen. Als die Polizei ihn und seine Begleiter vor einem Spiel gegen Boca durchsucht, finden sie neben Marihuana und Kokain auch mehrere Molotov-Cocktails, Messer, sowie zehn Handfeuerwaffen. Der Presse sagt er später über den Vorfall: »Wir kamen bereit für einen Krieg, aber in Boca sind alle Bullen, und deshalb haben diese verdammten Schisser uns zum Teufel geschickt!« Es sind solche Aktionen, die ihn in der Anhängerschaft von Gimnasia y Esgrima schnell zur lebenden Legende werden lassen - und die ihn sowohl bei den gegnerischen Fans als auch bei der Polizei besonders verhasst machen. Denn abseits des Spielfeldes ist El Loco Fierro eigentlich nichts anderes als ein Kleinkrimineller, der den Ordnungshütern immer wieder wegen Waffenbesitz, Drogenhandel und Raubüberfällen in die Finger gerät, auch in zahlreiche Schießereien zwischen rivalisierenden Fanclubs ist er verwickelt. Dem Nachwuchs bei La 22 rät er laut Zeitzeugen trotzdem immer, sich von genau solchen Dingen zu distanzieren, und sagt: »Ich bin für niemanden ein Vorbild. Geht studieren oder arbeitet, versucht, gute und ehrliche Menschen zu werden. Nur so könnt ihr ein würdiges Leben führen.« Mitte Juni 1991 bereitet sich La banda del Loco Fierro für ein Auswärtsspiel gegen Rosario Central vor, als bei Amuchastegui zu Hause das Telefon klingelt. »Wenn du zu dem Spiel fährst, werden wir dich töten«, warnt ihn ein anonymer Anrufer. Was nun folgt, lässt den Verrückten aus Eisen endgültig zu einem unsterblichen Mythos werden: Er geht zur Bank und räumt sein Konto leer, dann kehrt er nach Hause zurück und hinterlässt seiner Frau und seinen sieben Kindern einen Umschlag mit all seinem Geld und einen Abschiedsbrief. Er trifft sich mit seinen Mitstreitern auf dem Bahnhof von La Plata und besteigt den

von Robin Hartmann

Es gibt wohl kaum ein anderes Land auf der Welt, in dem die Liebe der Menschen zum Fußball so sehr an Wahnsinn grenzt wie in Argentinien. Wenn die Fans am Wochenende in die Stadien pilgern, singen sie Lieder von großen Schlachten, historischen Siegen und davon, ihrem Verein bis in den Tod treu zu bleiben. In La Plata singen sie an solchen Tagen auch das Lied von Marcelo Amuchastegui, von El Loco Fierro, dem Verrückten aus Eisen – einem Mann, der für die Liebe zu seinem Club tatsächlich bereit war, sein Leben zu lassen. Mitte der 80er Jahre sind die Ultras von La 22 die gefürchtetsten im ganzen Land. Wo immer diese Hardcore-Fans von Gimnasia y Esgrima La Plata auftauchen, sind Chaos und Prügeleien vorprogrammiert, ob nun

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Zug ins das etwa 350 Kilomter entfernte Rosario. Noch auf dem Weg zum Stadion wird Marcelo El Loco Fierro Amachastegui mit 19 Schüssen hingerichtet. Die Umstände sind bis heute nebulös, der Fall wurde nie aufgeklärt. Aber zwei seiner Freunde sind damals bei ihm, als sie in einen Hinterhalt der Polizei geraten. »Sie hatten es gezielt auf Marcelo abgesehen«, erinnert sich einer von beiden. »Ansonsten hätten sie uns alle drei erschossen.« Noch Jahre später halten sich hartnäckig Gerüchte, die Rosario-Ultras von La Canalla hätten den Mord als Racheaktion in Auftrag gegeben. Fest steht nur, der Verrückte und seine beiden Freunde haben vor dem tragischen Zwischenfall ein Juweliergeschäft überfallen. Laut Version der Polizei habe Amuchastegui dann zuerst geschossen und damit die Beamten zur Selbstverteidigung gezwungen. Die Nachricht von seinem Tod macht schnell die Runde, und ganz La Plata weint, als der Leichnam von El Loco Fierro zurück in seine Heimatstadt gebracht wird. Auch die Fans des Stadtrivalen Estudiantes laufen bei dem Trauermarsch mit, aus Buenos Aires kommt ein komplett überfüller Zug mit Anhängern der befreundeten Mannschaft von Racing an. Tausende trauernde Fußballverrückte säumen die Straßen, muskelbepackte Kerle schluchzen wie kleine Schuljungen. Vor dem Haus, in dem die Totenwache für Amuchastegui gehalten wird, bildet sich eine kilometerlange Schlange, jeder will sich von seinem Freund oder Idol mit einem Kuss auf die Stirn verabschieden. Sein Körper wird verbrannt und seine Asche im Estadio Juan Carmelo Zerillo verteilt, wo Gimnasia bis heute seine Heimspiele bestreitet. Die argentinische Rockband Los Redondos schreibt ihm zu Ehren die Ballade Etiqueta negra: »Er war der König des Dschungels, und für seinen Einsatz kann es nicht genug Wertschätzung geben.« Und noch heute singt bei Spielen von Gimasia y Esgrima La Plata La banda del Loco Fierro in der Heimkurve ein Lied über ihr Idol: »Esta es la banda de Marcelo/ que te alienta desde el cielo porque el loco/ fierro no murió!« Wir sind Marcelos Bande/ und wir unterstützen dich auch im Himmel/ denn der Verrückte aus Eisen ist nicht tot!


Rinus Van de Velde Charcoal on canvas

The Island /O 43 – FEBRUAR / MÄRZ 2015 TRAFFICNEWSTOGO.DE

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Liquid face

155 x 100 cm

The Sailor II

150 x 200 cm

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Liquid legs

210 × 90 cm

the failed escape

150  ×  113 cm previous

the deluge

250 × 360 cm

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the painter

200 x 250 cm

Mit freundlicher genehmigung der galerie zink /O 43 – FEBRUAR / MÄRZ 2015 TRAFFICNEWSTOGO.DE

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wetter präsentiert neue Produkte und Erkenntnisse, die die Menschheit braucht.

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von Barbara Russ

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Shanghai

31 ° 14 ' N , 121 ° 28 ' O Pflaumenregen

Shanghai International Film Festival Das Shanghai International Film Festival (SIFF) ist eines der wichtigsten im asiatischen Raum. Kein Wunder, war doch Shanghai der Geburtsort des chinesischen Films. Im Juni, wenn das 18. SIFF stattfindet, ist es in Shanghai schön warm, etwa 25 Grad durchschnittlich. Allerdings kann es zu starken Regenfälle kommen, denn im Juni ist Meiyu Saison, was soviel bedeutet wie Pflaumenregen. Das humide, subtropische Klima in Shanghai macht also eine sommerliche Garderobe und einen Regenschirm, zum Beispiel von James Smith & Sons, zum Must-Have für den roten Teppich. Stilvoll unterkommen ist in Shanghai allerhöchstens eine Frage des Geldbeutels, an Angeboten mangelt es der 23 Milionen-Stadt auf jeden Fall nicht. Viel cooler als im Waterhouse at the Bund dürfte es aber nicht werden. Der einzigartige Blick auf das geschäftige Treiben auf dem Yangtse Delta von der Dachterrasse der ehemaligen Fabrikhalle alleine ist die Reise wert. www.siff.com

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Toronto

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43 ° 40 ' N , 79 ° 23 ' W frühherbstlich mild

Toronto Film Festival Angenehm – so in etwa kann man die Wetterlage in Toronto im September zusammenfassen, wenn das Toronto International Film Festival (TIFF) abgehalten wird. Leicht unter 20 Grad, noch nicht viel Regen, dafür noch halbwegs viel Sonnenschein, frühherbstlich eben. Das Templar Hotel bietet mit seinem Blick auf den CN Tower und den Lake Ontario den perfekten Hintergund für ein paar entspannte Tage voller Filmgenuss in der kanadischen Finanzhauptstadt. Das darin untergebrachte Restaurant Monk Kitchen, geleitet von Küchenchef Roberto Fracchioni bietet jede Menge italienisch-französischen Genuss für den weitgereisten Foodie. Wer weniger gustatorisch veranlagt ist, dem gereicht vielleicht das japanische Onsen mit Glaspool und die detailverliebte Ausstattung des Boutiquehotels, wie zum Beispiel die schwebenden Treppen aus Bianca Carrara Marmor, die Bettwäsche aus ägyptischer Baumwolle, oder die Körperpflege von Malin + Goetz zur Entspannung. www.tiff.net

52 ° 31 ' N , 13 ° 24 ' O winterlich kalt

Berlinale Mit Darren Aronofsky als Jurypräsidenten zeigt die Berlinale auch in ihrer 65. Auflage wieder einmal ihre internationale Strahlkraft. Und dass dieses Schwergewicht der Filmbranche trotz der Wetterlage, die man Anfang Februar in der deutschen Hauptstadt kaum mehr als bescheiden nennen kann, nach trotzdem zu Besuch kommen möchte, spricht auch für sich. Außerdem, was gibt es nach dem Filmmarathon der Berlinale schöneres, als im Schlosshotel im Grunewald ein Glas 16 Jahre alten Bowmore vor dem Kamin aus dem 17. Jahrhundert zu sich zu nehmen, bevor man sich in die dicken Daunenbetten fallen lässt? Dieses gut gehütete Berliner Schätzkästchen, in dem Modezar Karl Lagerfeld nächtigt, wenn er in Berlin ist, bietet aber noch jede Menge weitere Annehmlichkeiten. Das Spa mit Indoor-Pool wäre da zu nennen, oder das Restaurant mit seinen edlen Holzvertäfelungen und Wandspiegeln, mit kristallenen Lüstern und in Lagerfeld gekleidetem Servicepersonal zum Beispiel. www.berlinale.de

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Berlin

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Cannes

43 ° 33 ' N , 7 ° 1 ' O frühlingshaft warm

Cannes Film Festival Ob Cannes wohl das bekannteste Film Festival geworden ist, weil es das beste Wetter hat? In der nördlichen Hemisphäre ist der Mai zwar an den meisten Orten ein ganz passabler Monat, aber wenn im Süden Frankreichs die Orangen und der Lavendel zu blühen beginnen – damit kann nicht vieles mithalten. Gut beobachten lässt sich dieses Naturschauspiel vom Le Mas Candille Hotel aus, gelegen im Bergdorf Mougins, sieben Kilometer abseits von Cannes, und somit auch vom Trubel der Côte d’Azur. Dieser geheime Ruhepol ist ein ehemaliges Bauernhaus, welches mit viel Liebe zum Detail umgebaut wurde, inklusive zwei beheizbaren Pools und Shiseido Spa. Hier findet sich kein hippes Interieur, kein zurückhaltender Minimalismus, wie er in den meisten Boutiquehotels heute Standard ist, sondern vielmehr eine zurückhaltende Opulenz, die dem provenzalischen Landhausstil ein modernes Update verleiht. www.festival-cannes.com


FILM

Aus dem Schmerz geboren In Foxcatcher liefert Filmstar Channing Tatum seine bisher reifste Leistung. In dem auf Tatsachen beruhenden Wrestlingdrama spielt er den amerikanischen Ringer Mark Schultz, der trotz Olympiasiegs immer im Schatten seines älteren Bruders Dave stand. Er nimmt das Angebot des exzentrischen Milliardärs John du Pont an, auf dessen Anwesen für die Weltmeisterschaft und die Olympiade 1988 zu trainieren. Das Drama ist weniger Sportfilm, als das Psychogramm dieser Männer. Und für Tatum eine physisch wie psychisch anspruchsvolle Rolle, die ihn an seine Grenzen brachte, wie er im Interview verriet.

Wie ein Einzelner sich von du Pont um den Finger wickeln ließ, leuchtet ein, aber was ist mit dem Rest des Ringerteams? Wir reden hier von etwa 50 Sportlern, die über zehn Jahre in diesem Trainingslager waren. Auf dieser Ranch herrschte der Wilde Wilde Westen! Du Pont war ein Durchgeknallter! Er sah irgendwelche Waldwesen, er dachte, im Speicher seines Anwesens versteckt sich jemand, der ihn töten will, er war komplett gaga. Aber diese Jungs blieben, weil sie kaum eine andere Chance hatten. Ringen ist kein Sport, um reich und berühmt zu werden. Das höchste Ziel ist, irgendwann Coach an einem College mit regelmäßigem Einkommen zu sein. Selbst als Olympiasieger winken keine lukrativen Werbeverträge.

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Warum dann der ganze Aufwand? Herr Tatum, wie eignen sie sich eine solch intensive Rolle an? Was ist Ihr Geheimnis? Oder Ihre Methode? Das Körperliche war auf jeden Fall sehr wichtig. Aber es lief vor allem über eins: Schmerz. Als ich Mark Schultz traf, spürte ich, wie viel er noch mit sich herumschleppt. Er ist so ein Hüne von einem Kerl und im Widerspruch dazu emotional so zerbrechlich. Durch den kleinsten Windstoß bricht alles wie ein Kartenhaus zusammen. Bis zum heutigen Tag lässt er niemanden näher als auf Armlänge an sich heran. Er wollte, dass die Leute Angst vor ihm haben und ihn nicht ausstehen können. Er sagte mir: »Ich habe nicht geredet. Ich wollte, dass sie sich vor mir fürchten.« Er dachte, wenn alle glauben, dass er jeden einzelnen von ihnen zerstören könne, dass er dann sicher sei, weil niemand ihn verletzen würde. Er meinte verletzen im körperlichen Sinne, aber viel mehr als er es jemals begriffen hat, sind es vor allem die emotionalen Verletzungen, vor denen er sich so zu schützen versucht. Wie erklären Sie sich diese Unsicherheit? Ich glaube, manche Menschen sind einfach sensibler als andere. Ein guter Freund von mir wird nie wütend, aber er fühlt sich verletzt. Und das ist im Grunde gefährlicher, weil sich dann etwas aufstaut. Wenn man sich ärgert, verarbeitet man bewusst. Wenn man verletzt ist, reagiert man nur mit Unverständnis. Als Reaktion verletzt man dann den anderen oder sich selbst. So ist auch Mark, seine Haut ist nicht besonders dick. Und er leidet an Dingen, die er für ungerecht hält, ohne zu wissen, wie er damit umgehen soll. Und ich glaube, DuPont tauchte in einem entscheidenden Moment auf. Mark lebte damals im Schatten seines Bruders David, der ein so viel besser er Mensch und tollerer Wrestler war. Und alles was Mark tat, wurde in Wahrheit David zugerechnet. Dabei hatte Mark in Wahrheit mehr Titel errungen als sein Bruder. Aber David war der Charismatischere, er wurde für Projekte angesprochen, und Mark war immer nur mit dabei. Und dann kam du Pont und sagte zu Mark, wie besonders er sei und widmete ihm all seine Aufmerksamkeit.

john du pont (steve Carrel) macht marc schultz (channing tatum) ein

Ich weiß es nicht. Es steckt in ihnen, das ist es, was sie ausmacht. Man kann sie auch nicht fragen, weil sie gleich ganz sensibel reagieren und diese Hassliebe zu ihrem Sport nicht erklären wollen oder können. Aber das macht es auch so faszinierend, diese kleine Gemeinschaft von Leuten, die etwas tun, das anstrengend ist und weh tut und kaum etwas bringt und trotzdem tun sie es.

verlockendes angebot

© Fair Hill LLC Wie weit ging das wirklich? Im Film bleibt es bei Anspielungen, dass da womöglich mehr war... Mark ist sicher nicht schwul. Von Außen betrachtet mag Wrestling etwas Homoerotisches haben, das dachte ich anfangs auch. Aber wenn man den Sport kennenlernt, merkt man, dass es zwar intim ist, aber sehr gewalttätig. Ich glaube, du Pont war asexuell. Er hatte keinerlei sexuelle Orientierung, aus vielen Gründen. Seine reale Existenz war mit Sicherheit sehr viel merkwürdiger und mehr neben der Spur als alles, was wir im Film zeigen. Im Film sind Sie selbst im Ring und wirken extrem überzeugend. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet? Wir haben ungefähr fünf Monate trainiert. Ich habe zum Teil mit Mark gearbeitet und auch viel vom ihm gelernt, aber hauptsächlich hat mich Jesse Jantzen gecoacht, ein NCAA Champion in Harvard, der auch zu Daves Wrestlingschule gehörte. Aber was Sie sehen, ist 100% ich. Ich hatte keinen Stuntman, niemand von uns.

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Wie schwer fiel es Ihnen, sich darauf einzulassen? Ich war bereit, ich wollte es, weil ich so etwas noch nie gespielt hatte. Ich habe als Model gearbeitet, bevor ich Schauspieler wurde. Meine zweite größere Filmrolle in Kids – In den Straßen New Yorks war sehr düster, aber seitdem hatte ich die dunkle Seite nicht mehr besucht. Ich habe gerne Spaß und wenn wir ehrlich sind: Es ist nicht gerade so, dass man Filmemachen und Krebsheilen vergleichen kann. Man erschafft für ziemlich viel Geld Illusionen und will damit ein möglichst großes Publikum unterhalten. Dieser Film war anders. Ich glaube, wir alle waren bereit, unseren Schutzmantel abzulegen, uns auszuliefern und damit vielleicht auch ein paar unserer eigenen Schwächen und Probleme in diesen Figuren wiederzufinden. Sie haben in Ihrer Jugend selbst viel Sport getrieben, und Sie haben immer wieder offen etwa über Ihre Schreibschwäche gesprochen. Können Sie sich deshalb mit ihm identifizieren? Wir sind schon ganz anders. Ich habe viel Jiu-Jitsu gemacht und kann mich gut an eine Frage erinnern: Wie wohl fühlst du dich damit, dich unwohl zu fühlen? Es ist, als würde man gewürgt werden, und man fragt sich, ob das jetzt nur schmerzhaft ist oder ob man gleich ohnmächtig wird. Man muss sich dem Schmerz stellen, ohne in Panik zu geraten, auch wenn der eigene Körper nur STOP schreit. Man muss den Unter-


FILM

Mark Schultz (Channing Tatum)

© Fair Hill LLC

Dave (Mark Ruffalo) coached seinen Bruder Mark (Channing Tatum)

© Fair Hill LLC

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Mark Schultz (Channing Tatum) im Wettkampf mit einem Gegner

© Fair Hill LLC

schied kennen zwischen ungemütlich und lebensbedrohlich. Für diesen Film musste ich lernen, mich damit wohl zu fühlen, dass ich mich unwohl fühle. Dieser Film war kein Vergnügen. Es war sogar ziemlich furchtbar, ihn zu drehen. Es war schmerzhaft. Und Bennett hat sich darin geradezu gesuhlt, er liebt es, wenn es weh tut. Wir sind wirklich grundverschieden, aber was wir vielleicht gemeinsam haben, ist diese masochistische Ader: wenn man für etwas leidet, muss es gut sein. Eine dumme Idee, aber uns erschien sie bei diesem Film logisch. Es war auf jeden Fall eine Erfahrung, die mich hat reifen lassen, eine wichtige Erfahrung, aber ich bin froh, dass es vorbei ist. Wie laden Sie danach wieder Ihre Batterien auf?

Interview

Thomas Abeltshauser

In dem ich den nächsten Film mache und in einen anderen Gang schalte. Ich habe gleich im Anschluss Jupiter Ascending mit den Wachowskis gedreht, in dem ich eine sehr physische Rolle hatte, aber ganz anders als in Foxcatcher. Fast genauso schmerzhaft, aber nicht auf der emotionalen Ebene. Es war anstrengend, aber weniger stressig. Und ich kümmere mich um unsere kleine Tochter Everly, die mich ganz schön auf Trab hält. Wirklich erholsam ist das auch nicht.

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Man stelle sich Yimou Zhang’s Hero ohne die flammenden Orangetöne des Indian Summer vor, Darjeeling Limited ohne Safran-Töne, The Shining ohne roten Blut-Tsunami im braunen Hotelgang; die Schlümpfe oder die Ninja Turtles in Schwarz-Weiß. Wie könnte man Michel Angelo von Donatello oder Leonardo unterscheiden? Zwar wären David Cameron’s Avatar ohne 3D-Effect oder T-Rex ohne Imax-Erlebnis nicht ganz so spektakulär, aber wenigstens würden doch immer noch Phantasie anregenden Sinn machen. Aber ohne Farbe? Kein Mensch wüsste, welcher Power Ranger sein liebster wäre, wenn nicht anhand der Farbe des Outfits. Oder wüssten Sie, wie die hießen?

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FILM

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Für einen in den Achtzigern geborenen, schlecht schlafenden TV-Junky wie mich ist die Vorstellung zu schwarz-weiß Fernsehbildern einzuschlafen oder mitten in der Nacht zu erwachen ein absoluter Albtraum! Es wäre einfach nicht dasselbe, wenn all meine Bewegtbilder-Kindheitseindrücke farblos gewesen wären ... Alien ohne Pigmente, doch irgendwie eine Hor3 rorvorstellung! Hand in Hand mit der Retrospektive der 65. Berlinale: Glorious Technicolor. Filme aus dem George Eastman House und weiteren Archiven würde ich daher gerne eine kleine Laudatio auf einen Herrn Dr. Kalmus halten, der mit Color-by-Technicolor und seinem 1915 gegründeten US-amerikanischen Unternehmen Technicolor Corp., den Durchbruch für die Farbe im Film erkämpfte. Dank der Brillanz und Zähigkeit des MITAbsolventen und seiner Mitstreiter Daniel Comstock (ebenfalls: Massachussets Institute of Technology) und W. Burton Wescott, einem genialen Mechaniker, können wir nun seit mehr als hundert Jahren in diversen bunten Realitäten Zuflucht finden, statt in theatralischen grauen Welten, die keiner Wirklichkeit ähneln, außer man ist Hund (die sind nämlich farbenblind, die armen Schweine). Kein Wunder also, dass der promovierte Physiker, einen Stern auf dem Walk of Fame in Hollywood hat.Promovierte Physiker haben offensichtlich ein libidinöses Verhältnis zur Farbe, wie auch Dr. Merkel per Blazer beweist. Immerhin musste bis zum Jahre 1915 jeder Filmstreifen per Hand koloriert werden. Da fummelten selbst Cinemagier wie der Französische Illusionist Georges Méliès oder der Regisseur Segundo de Chomon monatelang an ihren Zelluloidstreifen wie Les Quat'Cents Farces du diable (Melies, 1906) oder Der Frosch (Chomon, 1908). Ja, auch der britische Fotograf George Albert Smith kam mit seinem Kinemacolor dem genialen Kalmus nicht nahe. Kinemacolor war nämlich enorm zeitaufwendig, erlaubte ausschließlich die Nutzung von roten und grünen Farben und ließ die Konturen sich schnell bewegender Objekte sofort ausfransen. Schneewittchen hätte in anderen Worten also einen Frizz gehabt!

Sie wäre doch dann keine Märchenprinzessin, die tatsächlich bis heute nicht gestorben ist! Erst Dank der Erfindung des Technicolor-Verfahrens meines neuen Helden Herbert Kalmus, konnten Farbbilder mittels eines Strahlenteilers direkt hinter dem Objektiv parallel belichtet werden, was erstmalig scharfe Konturen von sich bewegenden Charakteren im Film ermöglichte. Das Prozedere war höchst komplex und zugegebenermaßen tue ich mich etwas schwer, den technischen Vorgang zu verstehen, ge-

schweige denn korrekt wiederzugeben. Ich verweise daher höflichst auf die Möglichkeit, sich diesbezüglich und im Detail auf Wikipedia kundig zu machen. (Spenden nicht vergessen!) Aber selbst nach dem – zumindest technisch – erfolgreichen auf Thackeray’s Novelle Vanity Fair basierenden Kinofilm Becky-Sharp (1935), betrachteten Filmkritiker die Farbe im Film noch immer mit Skepsis, und auch für Studios war der Aufwand groß: Stars verweigerten sich Anfangs und der Prozess war kostspielig: eine 30 cm Filmrolle kostete 24 statt 8 US-Cent, ein ausgedientes Zugabteil musste zum rollenden Vor-OrtLabor The Choo-Choo Lab, ausgebaut 5 werden. Vertraglich wurde den Produktionen ein komplettes Team aufgezwungen, dies beinhaltete einen von Technicolor trainierten Kameramann, das Anmieten einer unerträglich lauten und 170 kg schweren Technicolor Kamera. Um Schattenzonen zu eliminieren, in denen sich die Farben nicht kontrollieren ließen, mussten Technicolor Filme mit extrem viel Licht drehen, was wiederum dazu führte, dass Filmsets bis zu 40 Grad und damit so unerträglich heiß wurden, dass Crew Mitglieder während des Drehs ohnmächtig wurden. Aber vor allen Dingen war Natalie vor Ort, blauäugig, rothaarig, ein ehemaliges Katalogmodell aus Maine und seit ihrem 20. Lebensjahr mit dem nur wenige Monate älteren Professor verheiratet. Bühnen-, Masken- und Kostümbildner wurden von der Gattin drangsaliert. Verständlich, dass ihre Überwachungsmaßnahmen Ressentiments hervorriefen, sogar das Gerücht m sie sei farbenblind, wurde gestreut. Wenn Sie 4 glauben, Kanye und Kim haben Publicity Probleme, ich fand kaum einen Artikel, in dem das Wort witch nicht vorkam. 20 Jahre waren sie verheiratet, 22 weitere erschienen sie als Mann und Frau. Erst fünf Jahre später, 1949 heiratete der 68-Jährige die 25 Jahre jüngere Choreographin und Tänzerin Eleonore King. Trotzden gewann die Firma derartig an Ruhm und Macht, dass der Regisseur Henry Hathaway Technicolor Corporations als ein »kleines Königreich, dessen Macht man brechen muss« brandmarkte. Schließlich war es der große Visionär Walter Elias Walt Disney der unter Haarverlust und mit seinen Töchtern als vernachlässigten Versuchskaninchen mit Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937) den Zauber perfektionierte. 1939 folgte als absoluter Blockbuster The Wizard of Oz (1939). Dorothy, ihre roten Schuhe und der gelbe Ziegelsteinweg wurden zu Hollywoods einflussreichstem Film gekrönt. Der Film beginnt in der schwarz-weißen Realität und verfließt in eine bunte Traumwelt. Kurz vor Weihnachten, am 15. Dezember 1939, in Europa herrschte seit drei Monaten Krieg, dann schließlich: Vom Winde verweht. Für so viel Schönheit und so viele Tränen braucht es Farbe, Licht und Tiefe. Danke. »Für mich ist Farbe nicht etwas, das äußerlich an den Objekten haftet. Farbe, bewusst eingesetzte, intensive Farbe ist eine Spur, die ins Innere der Filme führt und von der Erzähllinie ablenkt. Ein Sprengstoff, der vom Zwang der geregelten Erzählung befreit« kommen-

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tiert die legendäre deutschen Filmkritikerin Frieda Grafe, während der Farbfilmretrospektive der Berlinale 1988. Put on your red shoes Baby, vielleicht ein gelbes Regenmäntelchen so leuchtend wie in Singing in the Rain, darunter ein Negligee so rot wie Rita Hayworths in Blood and Sand, grüne Strumpfhosen gegen die Kälte wie Errol Flynn in Robin Hood (1938), Marylin Monroes Pink (Gentlemen prefere Blonde) finde ich zwar im Februar etwas verfrüht, aber bunt, wie wir wissen, ist wichtig und richtig, also entflieh den grauen Berliner Wintertagen, steh an vor Babylon und Filmpalästen, und: Enjoy.

Bilder 1 –– Gentlemen Prefer Blonde, 1953

© Twentieth Century Fox Film Corporation Inc. 2 –– The Wizard of Oz, 1939

© Turner Entertainment Co. 3 –– She Wore a Yellow Ribbon, 1949

© Kineos GmbH 4 –– Gone With the Wind , 1939

© Warner Bros Ent. 5 –– Snow White and the Seven Dwarfs, 1937

© The Walt Disney Company GmbH


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FILM

Am Gitter rütteln!

2 2 Interview mit Stanley Kubricks Ausführendem Produzenten, Schwager und Nachlassverwalter Jan Harlan

Er war – das ist mit Sicherheit nicht zu hoch gegriffen – die rechte Hand von Stanley Kubrick (26. Juli 1928 – 7. März 1999): Jan Harlan, geboren am 5. Mai 1937 in Karlsruhe, arbeitete über 30 Jahre eng mit dem unvergessenen Meisterregisseur zusammen. Erst als Berater bei 2001: A Space Odyssey (1965 - 68), dann als Produktionsassistent bei A Clockwork Orange (1970/71) und schließlich von Barry Lyndon (1975) bis zu Eyes Wide Shut (1999) als ausführender Produzent. Außerdem war er sein Schwager. Jetzt ist Jan Harlan Dozent an Filmhochschulen, Dokumentarfilm-Regisseur (Stanley Kubrick – A Life in Pictures, O Lucky Malcolm über A Clockwork Orange-Hauptdarsteller Malcolm McDowell) – und Kubricks Nachlassverwalter. Diese nicht einfache Aufgabe erfüllt er mit Umsicht, Pietät, Präzision und Kenntnis, aber auch – man man kann das ruhig mal so schreiben – mit Liebe und Leidenschaft. Marc Hairapetian und Jan Harlan kennen sich seit der deutschen Premiere von Eyes Wide Shut. Das vorliegende Gespräch fand in diesem Januar in seiner Suite im Berliner Hotel Lux 11 anlässlich der Ba2 bylon-Filmretrospektive Clockwork Kubrick statt. Als kurzfristig die Batterie der Spiegelreflex-Kamera streikt, drückt er gut gelaunt dem verdutzten Fotografen sein Smartphone für Aufnahmen in die Hand. Kurz darauf nimmt er den Akku aus der Nikon heraus, pustet ihn an – und siehe da, der Fotoapparat hat wieder Saft! Jan Harlan, der Magier! Ein Gespräch über Kubrick, Kritiker und die Verbeugung vor dem Unbekannten. Marc Hairapetian: Viele Filme Stanley Kubricks sind Langzeiterfolge, die durch Mundpropaganda des Publikums im kommerziellen wie künstlerischen Zuspruch wuchsen und noch immer wachsen. Auch manch verständnislose Kritik konnte seinem Werk nicht schaden, wie zum Beispiel bei 2001: A Space Odyssey, der zuerst als »Hollywood-Amateurfilm mit religiösem Hintergrund« bezeichnet wurde, doch inzwischen weltweit in Umfragen der besten Filme aller Zeiten immer wieder ganz vorne liegt.

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Jan Harlan: 2001 ist ein rein philosophischer Film. Die Verbeugung vor dem Unbekannten. Filmkritiker hinken oft hinterher und sind befangen, wenn etwas Neues kommt und jemand am Gitter rüttelt. »Pushing the envelope«, sagen die Amerikaner. Es muss bei ihnen alles so sein, wie man es erwartet. Ich spreche nicht von Ihnen, sondern von 1000 anderen Leuten aus Ihrer Branche. Ein Beispiel aus der Historie: 1813 schrieb einer der namhaftesten Musikkritiker zur Wiener Uraufführung von Beethovens 7. Sinfonie mit ihrem gewaltigen Crescendo am nächsten Tag in der Zeitung: Das größte Verdienst von Herrn Beethoven sei es ohne Frage gewesen, die Musik auch den Schwerhörigen zugänglich gemacht zu haben. Er kam sich dabei wohl maßlos witzig vor. Und genau so verhielt es sich anfangs oft auch mit der Rezeption eines neuen Films von Stanley. Kubricks Tod vor fast 16 Jahren hat eine große Lücke hinterlassen. Sehen sie aber doch jemanden, der in seine Fußstapfen treten kann? Was halten Sie vom mittlerweile 71-jährigen Terrence Malick, der ebenfalls einen ganz ausgeprägten audiovisuellen Inszenierungsstil hat und dessen Knight of Cups nun im Wettbewerb der Berlinale gezeigt wird? Tree of Life mochte ich sehr. To the Wonder und Knight of Cups muss ich noch sehen. Jede Generation hat große Leute. Jede Generation hat große Komponisten, große Maler, große Regisseure – die sind nur anders und werden auch nicht immer gleich erkannt. Ingmar Bergman wurde zuerst völlig abgelehnt. Inzwischen weiß man, wer Ingmar Bergman ist. Die ganzen französischen Impressionisten waren nicht erfolgreich. Inzwischen brauchen Sie 25 Millionen Euro für ein Original aus dieser Zeit. Kubrick war Ihr Schwager und Sie haben über 30 Jahre intensiv mit ihm zusammengearbeitet. War er Ihnen, als Sie ihm zum ersten Mal begegneten, gleich nah? Er war, wie Sie eben sagten, der Mann von meiner Schwester. Ich war noch so jung, 17 oder 18. Mein ers-


film review von Marc Hairapetian

Inherent Vice

ter Gedanke war: Meine Schwester heiratet einen Amerikaner! Good Luck! Erst als ich dann selbst in Amerika lebte, habe ich ihn gut kennengelernt. Besonders ab 1964, wo er in seiner Wohnung mit Schriftsteller und Ko-Drehbuchautor Arthur C. Clarke an 2001 werkelte. Ich hatte gar nicht daran gedacht, mit ihm zusammen zu arbeiten, empfahl ihm aber als Musikliebhaber, als er etwas Großes für den Auftakt in 2001 suchte, eine Karajan-Schallplatten-Einspielung von Also sprach Zarathustra. Die hat er dann auch tatsächlich verwendet. Ich ging wieder nach Europa zurück und heiratete. 1969 kontaktierte er mich wieder und fragte, ob wir zusammen nach Rumänien gehen wollten, um Teile des dortigen Regiments für die Schlachten-Szenen leihweise zu gewinnen. Stanley reiste an sich nicht gerne, aber am Telefon konnte er sehr extrovertiert sein. Ich ließ mich dann von meiner Firma beurlauben und suchte für ihn Archive auf. Ich habe beruflich immer Betriebsplanungen gemacht. Das Organisieren habe ich auch dann für Stanley übernommen. Ich habe nichts mit dem zu tun, was Sie auf der Leinwand sehen.

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Natürliche Mängel Mit Spannung wurde der neue Film des in jungen Jahren als Wunderkind bezeichneten Paul Thomas Anderson erwartet: Bei der Adaption von Thomas Pynchons als unverfilmbar geltendem kriminalistischem Hippie-Roman Inherent Vice (2009) macht es der Regisseur sich und auch seinen Zuschauern nicht immer leicht. Seine ironisch gebrochene Verbeugung vor den späten 1960er Jahren begeistert aber durch seine detailversessene Ausstattung, die coolen Kostüme und den fantastischen Soundtrack. Thomas Pynchon, geboren am 8. Mai 1937 in Glen Clove auf Long Island, ist einer der bedeutendsten Vertreter der literarischen Postmoderne und zugleich das große Fragezeichen der US-amerikanischen Popkultur. Seit 1963 schottet er sich von der Öffentlichkeit ab und lässt sich nicht mehr fotografieren geschweige denn filmen. Der Vater eines Sohnes, den er zusammen mit seiner Frau und Agentin Melanie Jackson gezeugt hat, lebt vermutlich seit den 1990er Jahren in Manhattan. Sein unkonventioneller Schreibstil glänzt durch stilistische Virtuosität und enzyklopädisches Wissen, ist aber oftmals recht sperrig. Inherent Vice (zu Deutsch Natürliche Mängel) gehört zu seinen weniger umfangreichen und eher leicht zu lesenden Büchern. Die Handlung ist dennoch verzwickt und verläuft nicht immer linear: Hauptfigur ist der bevorzugt barfuß laufende Privatdetektiv Larry Doc Sportello, der in Andersons Film vom mittlerweile recht verbraucht aussehenden Joaquin Phoenix verkörpert wird. Obwohl er inzwischen gleich zwei neue Freundinnen (Joanna Newsom und Reese Witherspoon) hat, trauert er seiner Ex Shasta (Katherine Waterston) nach. Eines Tages kreuzt sie wieder bei ihm auf und erzählt ihm eine unglaubwürdige Geschichte: Sie hat sich in den milliardenschweren Immobilienhai Michael Z. Wolfmann (Eric Roberts) verliebt, der von seiner Frau (Serena Scott Thomas) und ihrem Geliebten gekidnappt werden soll, um ihn dann in eine Heilanstalt abzuschieben. Doch wenig später ist Mickey Wolfmann tatsächlich spurlos verschwunden und einer seiner Leibwächter ermordet worden ... Sportello ermittelt. Es beginnt eine abenteuerliche Jagd durch das nicht immer in Love and Peace schwelgende L. A., wobei unser Held wider Willen, dem zu allem Ärger noch sein verfeindeter ehemaliger Kollege Lt. Det. Christian Bigfoot Bjornsen (Josh Brolin) im Nacken sitzt, allerhand skurrilen Gestalten begegnet: Surfer, Abzocker, Prostituierte, ein verdeckt ermittelnder Saxofonspieler (Owen Wilson als bekiffte Jesus-Figur!), ein mordlustiger Kredithai, Anhänger der Black-Panther-Bewegung, respektive Mitglieder der Arischen Bruderschaft und – nicht zu vergessen – eine geheimnisvolle Organisation namens Golden Fang (zu Deutsch: Goldener Fangzahn), die vermutlich hinter all den Verbrechen steckt, aber vielleicht auch nur ein paar Zahnärzten zur Steuerhinterziehung dient, geben sich ein munteres Stelldichein im Rausch von Flower Power und freier Liebe. Die Inhaltsbeschreibung klingt für Sie krude? Das ist die Geschichte in der Tat auch, doch Regisseur und Drehbuchautor Anderson schafft auch immer wieder inszenatorischen Raum für auf psychedelische Weise poetisch-hypnotische Momente. Inherent Vice - Natürliche Mängel ist Independent-Kino mit Stars, die dem Affen gehörig Zucker geben, um im nächsten Moment traumwandlerisch (und drogenumflort) durch die aufwendig und liebevoll gestalten Sixties-Sets zu wandeln. Wie bei den Tarantino-Filmen ist der Blick in die durchaus enthusiastisch verehrte Vergangenheit dekonstruktivistisch. Ohne Ironie geht es nicht. Naja, der Film, der nochmals ganz anders als alle vorhergehenden Anderson-Werke (Boogie Nights, Magnolia, There Will Be Bood oder The Master) ist, soll auch eine Komödie sein, wobei dem Zuschauer bei manchen ekligen Wortspielen bzw. Dialogen das Lachen im Halse steckenbleibt. Wahrscheinlich um die Hauptzielgruppe der heute 16 bis 21jährigen zu erreichen, wird bei Anderson in den umgangssprachlich noch nicht so vulgären Endsechzigern des letzten Jahrhunderts mitunter wie heute gesprochen. Doch dann gibt es auch immer wieder sinnlich-hypnotische Szenen, die vom fantastischen Originalsoundtrack von Radiohead-Mitglied Jonny Greenwood untermalt werden. Es erklingen allerdings auch Perlen der 1960er Jahre, wie das wundervolle Instrumental Dreamin´On A Cloud, dass vom deutschstämmigen Bassisten Heinz Burt (1942 – 2000) der englischen Band The Tornados komponiert wurde. Beim mit zweieinhalb Stunden etwas zu lang geratenen atmosphärisch dichten Film bleibt die Frage offen, warum all die schönen Mädchen (vor allem die bezaubernde Hong Chau als gutherzige, bisexuelle und auf Bezahlung verzichtende Angestellte eines Massage-Salons) so auf den - um im Anderson-Pynchon-Slang zu bleiben – ziemlich abgefuckt aussehenden Joaquin Phoenix fliegen...

Kubrick arbeitete sehr methodisch und langsam, konnte auch deswegen viele Projekte nicht mehr realisieren. Ihre Schwester Christiane erzählte mir einmal, dass er als Hunde- und Katzenfreund gerne einen Tierfilm gemacht hätte, aber den richtigen Dreh dafür nicht fand. War da aber nicht auch einmal eine große Wikinger-Saga, die ihn interessiert hatte? Richtig. Das war 1978 Eric Brighteyes! (zu Deutsch Eric Hellauge, jetzt endlich wieder in deutscher Neuübersetzung beim Verlag Die Tintenschmiede erschienen – Anm. d. Verf.). Es gab noch kein Drehbuch geschweige denn eine Besetzungsliste. Wir haben zusammen einfach darüber fantasiert, und ich habe Henry Rider Haggarrds 1890 erschienenen Roman sogar für Stanley eingekürzt. Was hat Kubrick daran so fasziniert? Es geht um einen Mann und zwei Frauen im Jahr 1000 kurz vor der Christianisierung in Island. Die eine Frau ist gut und liebt ihn. Die andere ist eine blonde Hexe – und liebt ihn auch. Der Schluss des Films wäre eine riesige Oper geworden. Die gute Frau ist schon tot. Es kommt zu einer riesigen Schlacht. Eric Brighteyes fällt. Die böse Hexe, deren Liebe zu ihm doch größer ist als alles andere, nimmt den Leichnam mit auf ihr Schiff und zündet es an. Und es verbrennt alles – wie in der Götterdämmerung. Auch sie selbst! Das hätte wohl in seiner typisch untypischen Weise einen grandiosen Stanley-Kubrick-Film ergeben!

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von Marc Hairapetian Bilder 1 –– the Shining

© Peter Redin 2 –– Eyes Wide Shut

© Egolitz Moreno 3 –– Jan Harlan

© La Tête Krançien

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kultur

Video killed the Theatre Star 1

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Theater und Video – geht das? Das geht, und zwar ausgesprochen gut. Menschen, die sich selten oder nie dorthin verirren, stellen sich Theater in der Regel so vor: Schauspieler tun so, als seien sie jemand, dessen Geschichte oft rein gar nichts mit den Zuschauern im Parkett zu tun hat. Solcherart Vierte-Wand-Theater – der Begriff meint die hermetische Trennung von Publikum und Bühne, eben die unsichtbare Wand dazwischen – gibt es. Daneben existiert aber auch eine äußerst lebendige Szene ohne Scheu vor neuen Medien. Mitunter wird sogar live getwittert. Den Weg zu solchen Theaterformen hat der Einsatz einer vergleichsweise einfachen Technik geebnet: Video. Was heute keinen Theatergänger mehr aus dem Sitz hebt, sorgte zwanzig Jahre zuvor für Empörung. Video killed the theatre star – so wie das Fernsehen angeblich das Ende des Radios bedeutete und das Internet sowieso das Ende von allem. Den Unkenrufen zum Trotz hat das Theater die Sache nicht nur überlebt, sondern in vielerlei Hinsicht sogar davon profitiert. Ein Beweis in sechs Akten.

Es war einmal eine Drehbühne mit Leinwand Volksbühne Berlin / Residenztheater München Wenn es einen Pionier der Videotechnik im Theater gibt, dann Frank Castorf. In den 90ern wohnte seinen Inszenierungen noch ein gewaltiges Schockpotential inne, es wurde geschrien, verfremdet, Klassiker gefleddert und all das dauerte sehr lange. Teile der Handlung verlegte er in einen für die Zuschauer nicht direkt einsehbaren Raum, eine Vorwegnahme dessen, was später als Post-Dramatik (Hans-Thies Lehmann) theoretisiert wurde: eine Verdichtung des Augenblicks durch doppelte Spielpräsenz. Erst letztes Jahr wurde seine sechsstündige Reise ans Ende der Nacht am Münchner Residenztheater mit einer Einladung zum Theatertreffen geadelt. Vergangenen November hatte Kaputt an der Volksbühne Premiere, deren Intendant er seit 1992 ist. Hier wie da erfolgt der Einsatz der filmischen Mittel flächendeckend – wo Castorf draufsteht, ist Video drin. Pausentipp

Eine Dose Red Bull oder einen starken HalbzeitEspresso, um die folgenden drei Stunden zu überstehen.

Theater liebt Kino Schaubühne Berlin Kameras auf der Bühne, eine Tonkabine am Rand, Mitarbeiter, die über Kabelrollen steigen – ist das noch Theater? Ja, denn hier ist Katie Mitchell am Werk. Die 1964 geborene Regisseurin hat einen unverkennbaren Inszenierungsstil entwickelt, der Cineastik enger verwandt als dem Vierte-Wand-Theater. Das Bühnenspiel fällt zeitgleich mit dessen Übertragung auf der Leinwand zusammen, auf diese Weise dekonstruiert die Britin die Erzählung und zeigt sie als etwas Gemachtes. Was ihre Videotechnik von der anderer Regisseure unterscheidet, ist ihre Perfektion. Hinsichtlich Schnitt, Ton und Kameraperspektive steht die live übertragene Aufzeichnung einem herkömmlichen Film in nichts nach. Mitchell inszeniert europaweit, ihre Reise durch die Nacht war 2013 eine der zehn »bemerkenswertesten« Inszenierungen des Theatertreffens. An der Berliner Schaubühne sind derzeit vier ihrer Stücke zu sehen: Fräulein Julie, Atmen, The Forbidden Zone und Die gelbe Tapete. PausentipP

Popcorn, für das vollkommene Kinoerlebnis.

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kultur

Theater ohne Pathosscheu Centraltheater Leipzig Entweder man liebt ihn oder man hasst ihn: Sebastian Hartmanns Inszenierungen liebäugeln mit dem Größenwahn. Zur Höchstform lief er bei Tolstois Krieg und Frieden am Centraltheater Leipzig auf. Nicht zuletzt dank des Soundtracks des Elektrofricklers Sascha Ring aka Apparat. Musik im Theater mag allzu oft ein einfacher Emotionstrigger sein – hier war sie das fehlende Puzzleteil zum Gesamtkunstwerk. Auch die über der schiefen Bühnenebene schwebende Leinwand trug zum ästhetischen Overkill bei. Ein fast dunkler Saal, eine Leinwand als Lichtquelle, Bewegtbilder im Takt zur Musik: Was sich Musiker und DJs schon lange zu Nutze machen, funktioniert auch im Theater.

Traditionshaus geht mit der Zeit Schauspielhaus Hamburg Das Schauspielhaus Hamburg ist ein Theater mit besonders ruhmreicher Geschichte. Erfreulicherweise ruht es sich nicht auf seinen historischen Lorbeeren aus, sondern geht mit der Zeit. Das Wahnsinnsprojekt Die Rasenden (über 100 Mitwirkende, sechseinhalb Stunden Spieldauer) der Intendantin Karin Beier gehörte zu den beeindruckendsten Theatermomenten des vergangenen Jahres. Kam da auch Video vor? Bestimmt, aber die Details wurden vom Farben-/Stimmen-/Bilderrausch des übrigen Geschehens überdeckt. Nicht überdeckt wurden die Videoimpressionen in Der Sturm, einer Inszenierung von Maja Kleczewska. Josef Ostendorf als König war an sich schon eine imposante Erscheinung, wie er sonnenbebrillt auf dem Rollator durchs Bühnenbild tuckerte. Abgesehen davon filmte die Kamera das immer dankbare Motiv von Essensresten in Schauspielermündern und Rotwein, der sich über Kostüme ergoß.

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Pausentipp

WLAN suchen, um den „Krieg und Frieden“Soundtrack runterzuladen.

von Eva Biringer

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Ganz klassisch Brezel und Sekt, der Tradition zuliebe.

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Bilder 1 © Horn

Zeitloses Drama in Piktogrammform

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2 © Stephen Cummiskey 3 © Birgit Hupfeld 4 © Aurin 5 © Armin Smailovic 6 © Rolf Arnold

Videoroutinier am Werk

Schauspiel Frankfurt

Thalia Theater Hamburg / Deutsches Theater Berlin

Ähnlich wie Stefan Pucher neigt Michael Thalheimer zum gnadenlosen Entschlacken seiner Vorlagen. Wo Castorf sich die Frechheit herausnimmt, die Aufmerksamkeit der Zuschauer fünf, sechs Stunden zu beanspruchen, dampft einer wie Thalheimer seinen Stoff mitunter auf eine Stunde Zehn ein. Eine der eindringlichsten Thalheimer-Momente ergab sich in seiner Inszenierung von Euripides’ Medea am Schauspiel Frankfurt. Constanze Beckers Präsenz in der Titelrolle reichte auch ohne Videodopplung bis in die letzte Zuschauerreihe. Gegen Ende spielte ein aus Piktogrammen bestehender Film das mögliche Leben von Medea und ihrem sie betrügenden Ehemann Jason durch: Kind, Haus, Auto, Trennung, die banale Geschichte eines Paares. Medea entschied sich gegen diesen Verlauf, sie tötete ihre beiden Kinder und die Geliebte ihres Ehemanns. Der Rest war pures Theaterglück.

Stefan Pucher gehört zu den erfolgreichsten Regisseuren seiner Generation. Wie gut er das Spiel mit den Realitäten beherrscht, beweist seine Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum am Hamburger Thalia Theater. Die bereits im Stück angelegte Traumhaftigkeit lieferte eine ideale Vorlage für Puchers Videomagie. Zuletzt inszenierte der 1965 Geborene Brechts Baal am Deutschen Theater Berlin. Da filmte sich Christoph Franken als Baal beim Kauen mit offenem Mund, da wurde aus dem angedeuteten Geschlechtsakt auf der Bühne ein veritabler Leinwandporno, da schritt Tabea Bettin als Baals Geliebte die Zuschauerreihen mit der iPhone-Kamera ab. Solche Dopplungen liebt Pucher – und wer das für einen alten Hut hält, kennt nicht die seltsame Scham, die einen überkommt, wenn man sein eigenes Gesicht auf einer meterhohen Leinwand erblickt.

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Ein Glas Rotwein beruhigt eine Packung Taschentücher

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das klopfende Herz, trocknet alle Tränen.

Champagner – für größenwahnsinnigen

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den angemessen Realitätsverlust.


Arrogant Bastard von Adrian Stanley Thomas, New York

The Film Experience

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Do you ever really believe an actor in front of the camera during a film? I mean, really? Is it possible to completely dismiss reality inside of a dark theater among people you do not know at all in the hope that you’ll be totally convinced of some emotion an actor is trying to convey? The film experience at its core is the relationship that develops in the theater, in the dark with the actors and you. The lines have been memorized and the camera angles marked off with reality in mind of course so that you might actually believe in the story. We humans like to play games with each other. It’s called play time. The modern day movie experience has programmed you into a socialistic routine to hypnotize your mind through film. There’s really no way around it actually. Since the first permanent movie house opened in

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Pittsburgh, Pennsylvania in 1905, the (Nickelodeon) it’s been play-time in the dark. We pay our money, slip into a greasy bacteria filled seat and try to forget about everything for a couple of hours. This is how powerful the mind is; you know that the actor was paid very well even if it was a low budget film. The life of a working actor is littered with special privileges and sweet cash all trying to make you believe in something. Here’s the rub, after the film, you’re sent back into the world that doesn’t afford you the same lifestyle. Becoming an actor was probably a childhood dream, your job as a bus driver probably wasn’t on your list of dream jobs. You still must find a way to suppress your anger and jealousy because holding expensive popcorn and ice cold fructose corn syrup mustn’t go to waste. Psychologically speaking, you probably need therapy. There’s a script and lines the actor has memorized in order to convey the dialog and set up the plot and either attempt to make you laugh, cry, or have nightmares might all be a part of the show. But the question remains, are you ever truly convinced of a performance that it becomes so real that it alters your perception of reality? Or maybe you think about the characters for days and push down the reality sniffles even though consciously it’s not your true desire to do so. The mind is incredibly powerful with all of the necessary tricks that allow you to actually believe what’s happening on the screen. Somehow though, I never really feel convinced completely in most cases. I don’t want to. The only thing that provides the actor with the chance to convince me is anonymity. Once an actor becomes famous, anonymity tends to sift away on the screen. It becomes extremely difficult to create the character in lieu of the superstar status that follows the actor. I think it’s called Living the life. Sean Penn, Meryl Streep, and Jackie Chan are simply too rich and too famous to convince me that they didn’t just leave their respective trailers with an all you can eat buffet just slightly off camera as soon as the director yells cut. Don’t get me wrong. I love film; however, I’ve always had an issue with the blockbuster actors and believability. I think that I’ve figured it out for the most part. The first thing is; the salaries are way too high. It should be minimum wage. Second, the famous actors look famous, rich, and relaxed with glossy skin and veneer teeth. It’s a bit difficult to believe you’re homeless or stranded in the dessert for months with teeth that could shine a Buick.


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