turi2 edition #10, Agenda 2020: Was wirklich wichtig wird.

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»Der Tanz auf dem Vulkan ist weniger grausam als der Ausbruch« Michael Schaper über die alten und neuen Zwanziger Jahre und darüber, was wir aus der Vergangenheit über die Zukunft lernen können – und was nicht Von Peter Turi (Text)

Ach, kommen Sie, wir sind Journalisten – wir dürfen spekulieren. Wie wird das neue Jahrzehnt denn heißen: „die neuen 20er Jahre“ oder die „2020er Jahre“? Vermutlich die „2020er“ – aber ich denke, da wird jemand noch eine bessere Chiffre finden. So wie das angloamerikanische Datum „9/11“ auch in Deutschland inzwischen für die Anschläge vom 11. September 2001 steht, obwohl wir Tage eigentlich umgekehrt datieren. Es fällt auf, dass sich die 00er und 10er Jahre weder im 20. noch im 21. Jahrhundert als Begriff etabliert haben. Woran liegt das? In vielen Sprachen gibt es damit Probleme – es klingt halt nicht gut. In den USA sind die Begriffe „Aughts“ und „Teens“ durchaus gebräuchlich, im Deutschen haben die „00er Jahre“ oder die „10er Jahre“ nicht gerade einen guten Sound. Zum anderen wurde das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eindeutig vom Drama des Ersten Weltkriegs überschattet, weshalb diese Dekade auch nie besonders im Fokus stand. Die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts werden in Deutschland die „Goldenen 20er Jahre“ genannt, in England heißen sie „roaring twenties“, die tosenden 20er Jahre. Zu recht?

Ja, das war schon eine durchgeknallte Zeit: das dekadente Berlin der Weimarer Zeit, das Paris der Surrealisten und von Hemingway, Buñuel und Scott Fitzgerald, das New York des aufkommenden Jazz. Nach der Jahrhundertkatastrophe des ersten industriell geführten Kriegs mit seinen 20 Millionen Toten und Abermillionen Verletzten, nach den Schrecken des Gaskriegs und des elenden Sterbens an der Front, suchten die Menschen Ablenkung und Abwechslung und waren bereit, alles nur denkbar Neue auszuprobieren: ob es dabei nun um Drogen ging, eine neue Musik, die entstehende Theaterund Filmkultur – oder einen anderen Zugang zum Sex.

»Das Mega-Phänomen des nächsten Jahrzehnts ist vermutlich noch gar nicht erfunden« Verklären wir die 20er vielleicht auch deshalb, weil mit den 30er, 40er und 50er Jahren Krise, Faschismus, Krieg und Wiederaufbau kamen? Ganz sicher. Der Tanz auf dem Vulkan ist eben weniger grausam als der eigentliche Ausbruch eines Feuerbergs. Positiv besetzt sind erst wieder die 60er und 70er, als Zeit des Aufbruchs, der Hippies und des Wohlstands. Das geht mir etwas anders. Ich glaube, in Deutschland stehen die 50er Jahre vor einem Comeback. Wir werden erkennen, wie großartig die Wiederaufbauleistung dieser Generation war – trotz der berechtigten Kritik an der anfangs lächerlich schwachen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen; trotz der Wut über Karrieren von Nazi-Mittätern wie Josef Neckermann, dem Deutsche-Bank-Chef Hermann Josef Abs oder auch dem „stern“-Gründer Henri Nannen im Nachkriegsdeutschland; trotz des Hohns über den Muff der Adenauer-Jahre. Wenn man sich die Situation im Mai 1945 vor Augen hält und dann schaut, wo Deutschland zehn Jahre später stand – schon unglaublich.

40 · turi2 edition #10 · Agenda 2020

Foto: Roman Pawlowski

Michael Schaper, Sie haben vor 20 Jahren für Gruner + Jahr das Geschichtsmagazin „Geo Epoche“ erfunden und waren bis Ende 2019 dessen Chefredakteur. Wenn wir mal nach vorne schauen: Wie wird das neue Jahrzehnt und wie werden wir es nennen? Ernsthaft jetzt? Ich weiß in der Welt von Trump, Putin und Xi Jinping nicht einmal, wie die nächsten zehn Monate sein werden, geschweige denn die nächsten zehn Jahre. Kein Mensch hat im November 1988 den Fall der Mauer ein Jahr später vorhergesagt, oder im Sommer 1992 den weltweiten Siegeszug des Internets, oder im April 2018 den Bundesliga-Abstieg des HSV – na, den vielleicht schon. Wir haben 1995 bei „Geo Wissen“ ein Heft über das 21. Jahrhundert produziert – und uns danach geschworen: nie wieder! Voraussagen über die Zukunft sind selten wirklich seriös.


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