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from Braun EDITION Vol. 8
by UCM Verlag
Wie nutzen wir die Chancen von morgen, Herr Carsten?
Es brauche keine drei, vier Spuren für Autos, sondern attraktive Lebensräume, sagt Zukunftsforscher Stefan Carsten. Im Interview verrät er, wie wir Mobilität und Städtebau neu denken müssen, wenn wir unseren Wohlstand bewahren wollen.
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TEXT: Markus Deisenberger. FOTO: Stefan Carsten.
Sie sind der Verfasser des soeben erschienenen Mobility Reports 2022, der sich mit der Zukunft der Mobilität auseinandersetzt. Können Sie einen kleinen Überblick geben?
In diesem Jahr besonders wichtig ist das Thema Elektromobilität. Dass die Batterie gegen den Verbrenner gewonnen hat, daran müssten sich spätestens jetzt eigentlich alle gewöhnt und ihre Strategie entsprechend umgestellt haben. Ein Automobilhersteller nach dem anderen kippt um und sagt, er werde Verbrenner nur noch bis 2030 oder 2035 bauen. Dass unsere Zukunft nicht mehr in Diesel oder Benzin liegt, ist mittlerweile also jedem klar. Jetzt müssen wir alles dafür tun, dass dieser Übergang so schnell wie möglich vonstattengeht, denn die Luftqualität in den Städten ist katastrophal. Die Lebensqualität wird durch Autos massiv eingeschränkt.
Wieso sind die beharrenden Kräfte so stark?
In jedem der Automobilkonzerne gibt es zigtausende Kompetenzen und Fachkräfte für Diesel und Benzin. Das sind Menschen, die von einem Tag auf den anderen relativ wenig zu tun haben werden, wenn man das radikal umgestaltet. Dass große Organisationen eine gewisse Zeit brauchen, um sich anzupassen, ist also verständlich. Das geschieht auch zum Schutz der Arbeitnehmer. Ansonsten sehe ich die Angst vor Veränderung – sei es beim digitalen Impfpass oder bei der Umstellung der Mobilität, oder bei der Vorstellung, dass wir die Straßen zum Wohle von Fahrradfahrern und Fußgängern zurückbauen. Es herrscht immer noch der Glaube, wir befänden uns im Wohlstand, und alles, was wir verändern, könnte diesen Wohlstand abschaffen. Dabei ist es genau umgekehrt: Wir schaffen es nicht, diesen Wohlstand in den nächsten zu überführen, weil wir immer noch im Gestern leben. Deshalb brauchen wir dringend eine Innovations- und Erneuerungsstrategie, wie wir den Wohlstand auf eine neue Basis stellen.
Die von Ihnen angesprochene E-Mobilität ist nur ein Teil dieser Strategie?
Genau. Die Mobilität verändert sich, die Städte verändern sich. Der Soziologe Andreas Reckwitz sagt, die Städte befinden sich in einem Attraktivitätswettbewerb. Es gibt Städte wie Paris und Mailand, die das 1:1 verstanden haben und ihre Städte umbauen.
Was haben Paris, Mailand oder Sydney einer Stadt wie Hamburg voraus?
Das sind Städte, die keine industrielle Basis haben, sondern in der wissensbasierten Gesellschaft angekommen sind. Eine wissensbasierte Gesellschaft braucht keine drei, vier Spuren für Autos, sondern attraktive Lebensräume, leise und gesund. Es muss möglich sein, dass ich mit meinem Telefon herumlaufen und an Interviews
oder Forschungspräsentationen teilnehmen kann. Das ist in einer industriell geprägten Stadt nicht möglich. Allmählich setzt sich das Verständnis dafür durch, dass die Industrialisierung immer schwächer und weniger bedeutsam wird und andere Kriterien und Standortvorteile notwendig sind, um eine Stadt erfolgreich in die Zukunft zu führen. In Deutschland glaubt man immer noch, dass wir morgens die hauptsächlich männlichen Arbeitnehmer zur Fabrik transportieren müssen und abends wieder nach Hause. Ein wichtiger Trend in der E-Mobility ist, dass wir menschliche Bedürfnisse in der Stadtplanung und Mobilität stärker berücksichtigen müssen, als das in der Vergangenheit der Fall war.
Können Sie das präzisieren?
Viele Menschen haben Angst im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Angst, wenn sie abends durch die Städte radeln. Car-Sharing ist für sie nicht besonders attraktiv, weil die Benutzeroberflächen nach wie vor viel zu komplex sind. Wir brauchen Konzepte, die mehr auf Nahräumlichkeiten und Nachbarschaften ausgelegt sind, statt in großen, monofunktionalen Dimensionen zu denken.
Wie lange wird es dauern, bis wir die coronabedingte Skepsis gegenüber öffentlichen Verkehrsmitteln überwunden haben?
Nach der Spanischen Grippe waren die Züge nach ungefähr drei Jahren wieder voll. Es wird dieses Mal schneller gehen, weil wir den ÖPNV brauchen. Es gibt schon ein Bewusstsein, wonach man vorher die Belegquote checkt, bevor man sich einen Zug bucht. Ist er stark ausgelastet, nimmt man halt den früheren oder späteren. Aber die Menschen werden zu ihrem alten Nutzerverhalten zurückkehren, da bin ich mir sicher. Allerdings muss der ÖPNV seine Attraktivität weiter steigern. In Wien gibt es das 365-Euro-Ticket, mit dem man den ÖPNV ein Jahr lang unbeschränkt nutzen kann. Ich gehe davon aus, dass Ähnliches auch in Deutschland bald umgesetzt wird. Wir werden auch Experimente hinsichtlich eines stellenweise entgeltfreien ÖPNVs erleben. In Augsburg gibt es ein phantastisches neues multimodales Angebot, das beim ÖPNV anfängt und bis zu integriertem Bike- und Carsharing geht. Genau in solche Pakete muss sich der ÖPNV viel stärker integrieren.
Keine andere Art der Fortbewegung verbrennt so viel Energie wie das Fliegen. Mit 11,8 Milliarden Euro wurde der Luftverkehrssektor in Deutschland alleine im Jahr 2016 subventioniert, indem Kerosin von der Energiesteuer und internationale Flüge von der Mehrwertsteuer befreit werden. Muss sich das nicht ändern?
Das wird sich ändern. Im Sommer sind die Flieger zwar ausgebucht, weil die Lust auf Ferne explodiert, und ich verstehe das nur zu gut, weil ich selbst ja auch rauswill. Aber ich erkenne bei vielen Menschen das Bedürfnis, auf das Flugzeug zu verzichten. Die CO2-Zertifikate werden das Flugzeug schon bald stärker berücksichtigen. Alle Akteure arbeiten an abgasärmeren Modellen, und auch die Politik überlegt: Brauchen wir überhaupt eine Flugverbindung von Hamburg nach Köln oder Frankfurt, wo wir doch ein gutes ICE-Angebot dort haben? In Frankreich werden solche Strecken schon verboten. Ähnliches werden wir in Deutschland nach der Wahl auch in der öffentlichen Diskussion haben.
Reicht es dafür aus Ihrer Sicht, an das Bewusstsein zu appellieren?
Nein. Wir appellieren seit Jahrzehnten an das Bewusstsein. Und das Umweltbewusstsein ist ja auch hoch, aber das Umweltverhalten hinkt dem hinterher. Wir müssen die Kosten für solche Strecken empfindlich erhöhen oder solche Strecken überhaupt abschaffen. Da ist die Politik gefordert. In Städten regelt die Politik das ja auch, indem es Durchfahrtsverbote für bestimmte Quartiere und eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h gibt und der öffentliche Parkraum zurückgebaut wird, um Fahrradständer und Kinderspielplätze zu bauen oder Bäume zu pflanzen. Ich sehe die Politik in der Verantwortung, unser Verhalten so zu regulieren, dass wir in Zeiten des Klimawandels überhaupt noch eine Zukunft haben.
In der E-Mobilität gilt Norwegen als das Maß aller Dinge. Jetzt könnte man zynisch sagen: Wenn einen fossile Brennstoffe reich machen – 2018 wurden in Norwegen rund 84 Millionen Tonnen Erdöl gefördert –, kann man sich das auch leisten ...
Jedes Jahr sterben auf der Welt neun Millionen Menschen aufgrund schlechter Luftqualität, vor allem in Städten. Die Lebenserwartung von Menschen, die an einer lauten, großen Straße leben, ist zwischen drei und vier Jahre kürzer. Wir bewegen uns in eine Zukunft, wo 35, 40 Grad im Sommer alltäglich sein werden, was eine außergewöhnlich hohe gesundheitliche Belastung für ältere Menschen bedeutet. Wir müssen umstellen, und wir müssen die Umstellung politisch fördern. Ich bin den Norwegern sehr dankbar dafür, dass sie gezeigt haben, wie es geht, dass ein Land nahezu abgasfrei wird. Viele Länder haben den Ausstieg aus der Verbrennertechnologie schon beschlossen: Norwegen, Großbritannien und Frankreich etwa. Deutschland nicht, weil sich die Autolobby immer noch dagegenstemmt. Aber einzelne Akteure wie Audi, VW und Smart setzen auf die E-Mobilität. Da geht ein Transformationsprozess vonstatten, den wir unbedingt brauchen.
Sie haben mehrfach gesagt, es brauche positive Bilder des Wandels? Norwegen ist so eines. Welche gibt es noch?
Das schönste Beispiel ist Paris, eine autoverrückte Stadt mit allen negativen Begleiterscheinungen. Da hat die Bürgermeisterin gesagt: „Ich will diese Strukturen ändern. Autos sollen in der Zukunft nicht mehr die Bedeutung haben, die sie heute haben. In jeder Straße wird ein Fahrradweg installiert, 70.000 bis 80.000 Parkplätze werden rückgebaut. Wir brauchen Dezentralität und Multifunktionalität, das heißt, jeder soll in 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad jede urbane Funktion, wie Bildungsstätten, Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, Grünflächen, Einkaufs- und Sportmöglichkeiten, erreichen können.“ Um genau das durchzusetzen, wurde eine staatliche Agentur gegründet. Wenn dieser Transformationsprozess abgeschlossen ist, wird Paris eine ganz andere Stadt sein, und ich bin mir sicher, dass jeder Pariser und jede Pariserin sehr glücklich sein wird in dieser Stadt.
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ZUR PERSON: Stefan Carsten ist Zukunftsforscher und Stadtgeograf. In seiner Arbeit kombiniert er die Themenfelder Zukunft, Stadt und Mobilität. Die Zukunft ist dabei Perspektive und Methode, um gegenwärtige Stadt-, Mobilitäts- und Lebenswelten zu hinterfragen und Missstände aufzudecken. Ziel ist es, mit Hilfe von Zukunftsforschung und -beratung eine bessere, weil zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten.
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