Uni:Press #677 (Juni 2014)

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UNI:PRESS STUDIERENDENZEITUNG DER ÖSTERREICHISCHEN HOCHSCHÜLERINNENSCHAFT SALZBURG — #677 JUNI 2014 —

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Endlich vom Schwarz-Blauen Erbe befreit: Die Reform des ÖH-Rechts bringt die Direktwahl zurück. Auf den Seiten 22 – 23 bringen wir die Vorteile und Wermutstropfen dieser Reform. © Fernando H. C. Oliveira (Flickr)

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Begegnungszonen: Die Wiener Polizei prügelt den rechtsextremen Aufmarsch der „Identitären“ gegen AntifaschistInnen durch. Analyse und Bericht auf den Seiten 36 – 39.

Erich Hackl versteht es auf eine besondere Weise, Geschichte und Literatur, Politik und Leben in eine Einheit zu bringen. Er feierte kürzlich seinen 60. Geburtstag. Seiten 60-61.



EDITORIAL

Christopher Spiegl

Marie Schulz

Jürgen Wöhry

Lisa Mitterbauer

Marina Hochholzner

Liebe Kolleginnen und Kollegen Finale – das ist der Schwerpunkt der neuen uni:press. Die Fußball-WM ist allgegenwärtig und auch das Semester neigt sich gepaart mit Lernstress, Abgabefristen und kurzen Nächten langsam dem Ende zu. Wir haben uns auch in dieser Ausgabe wieder bemüht, euch mit einer bunten Mischung aus Aktuellem, Uni, Politik und Kultur zu versorgen – natürlich versehen mit einer kräftigen Prise Gesellschaftskritik. So haben wir uns in Finale kritisch mit dem Thema Fußball und Gesellschaft auseinandergesetzt und Studierende gefragt, was sie von dem großen Zirkus rund um die Fußball-Weltmeisterschaft halten. In Uni & Leben beschäftigen sich unsere AutorInnen mit Fragen rund um den Studienabschluss, wir versorgen euch in dieser Rubrik mit aktuellen Infos zur Uni-Politik, außerdem berichten zwei „Erdlinge“ von einem Selbstversorger-Verein, ein anderer Autor wiederum lernt fliegen.

Über gesellschaftspolitische Themen wie Diskriminierung, Tierschutz und Umweltschutz wird in der Rubrik Politik & Gesellschaft diskutiert. Hier fanden aber auch Artikel Platz, die sich mich Themen wie dem Ersten Weltkrieg und der EU beschäftigen. Zu guter Letzt versorgen wir Euch in Kultur & Menschen mit neuer Musik und Literatur und laden euch wie immer ein, mit unserer Zeitmaschine in der Vergangenheit zu schwelgen. In diesem Sinne wünschen wir Euch viel Spaß beim Lesen und vor allem erholsame Sommerferien – wir lesen uns im Herbst. – Deine Redaktion

P.S.: Falls du uns nicht nur lesen, sondern auch aktiv mitgestalten willst, melde dich einfach kurz bei uns und sag „Hallo!“ unter presse@oeh-salzburg.at.

Impressum Medieninhaberin: Hochschülerinnen- und Hochschülerschaft an der Paris Lodron Universität Salzburg (ÖH Salzburg), Kaigasse 28, 5020 Salzburg, www.oeh-salzburg.at, sekretariat@oeh-salzburg.at / Herausgeber: HochschülerInnenschaft / Pressereferent: Christopher Spiegl (Kontakt: presse@oeh-salzburg.at) / Chefredakteurin: Marie Schulz Redaktion: Marina Hochholzner, Lisa Mitterbauer und Jürgen Wöhry / Layout: Luca Mack / Lektorat: Katharina Zeppezauer-Wachauer und die Redaktion / Anzeigen und Vertrieb: Bernhard Svacina / MitarbeiterInnen dieser Ausgabe: Katharina Schmid, Dominik Gruber, Michaela Jahn, Anna Eder, Marco Stadlberger, Kay-Michael Dankl, Elisabeth Feldbacher, Erik Schnaitl, Antonia Osberger, Stefan Soucek, Sebastian Kugler, Dilara Akarcesme, Selina Schnickers, Jakob Rettenbacher, Stefan Klingersberger, Christina Schneider, Jannick Richter, Markus Kröss und Verena Schaber / Druckerei: Berger. Wienerstraße 80, 3580 Horn (druckerei.office@berger.at) / Auflage: 6.000

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INHALT

in halt

Finale

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Leitartikel: „Die Deutschen sind eine Turniermannschaft…“

Factum: Fußball

Brasilien – Ein Sommeralptraum

Campus Fragerunde – „Was denkst du über die WM in Brasilien?“

Frauenfußball als Randsportart

Kinder als Exportschlager

© Metropolitan Museum of Art

Uni & Leben

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Neues aus dem Vorsitzbüro

Wissen ist für alle da – Monat der freien Bildung Salzburg

Dr. Arbeitslos oder Dr. Sorglos?

Reform des ÖH-Rechts bringt Direktwahl zurück Zwischen Willkür und Wahnsinn – Ein Studium in der Retrospektive Young Investigator Symposium in Salzburg

Lernen macht Schule

Mythen über Veganismus

Mitarbeiten und Mitgestalten für selbstbestimmtes Essen

The Joy of Flying


INHALT

Politik & Gesellschaft

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Begegnungszonen. Wiener Polizei prügelt rechtsextremen Aufmarsch durch.

Walk for IDAHOT

Nicht schon wieder so ein elendiger Tierschutzartikel Das richtige Maß – Wie viel brauche ich für ein gutes Leben?

Hä, EU?

Für ein solidarisches Europa heißt gegen die EU

Hallo, ich bin‘s, dein Plastiksackerl

Interview mit Annemarie Zierlinger

Die Ruhe vor dem Sturm. Wie der 1. Weltkrieg die „schöne Zeit“ beendete

Kultur & Menschen

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Und dann? (Erzählung)

Bananenrock aus Bayern – Ein wahrer Ohrenschmaus! „I sog eich ans: Nu is ned z’spät!“ Rezension zu Sigi Marons neuen Album

Erich Hackls Werk als konkrete Utopie

Zeitmaschine: Salzburgs studentisches Printmedium vor 50 Jahren

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FINALE

finale

„Die Deutschen sind eine Turniermannschaft...“ ...und andere Pseudo-Weisheiten werden für die gesamte Dauer der Fußballweltmeisterschaft des Öfteren den Weg in unsere Ohren finden. Dadurch wird suggeriert, dass andere Teams lediglich wegen Samba und der Copacabana nach Brasilien fahren würden. Ohne jetzt eine Debatte über die Terminologie der Fußballsprache vom Zaun brechen zu wollen - Fakt ist: Fußball ist ein Teil unseres Lebens. Von Christopher Spiegl ußball polarisiert als Teil der Populärkultur: Vermeintliche fanatische „Proleten“ stehen einer sich selbst deklarierenden „Intellektuellenschicht“ gegenüber, für die der aktive wie passive Fußballgenuss lediglich eine barbarische Freizeitbeschäftigung ist. Die oberflächliche Betrachtung trübt den Blick auf die gesamtgesellschaftliche, und somit auch politische Dimension der „schönsten Nebensache der Welt.“ Blickt man zurück in die Geschichte, wurde Fußball schon sehr früh praktiziert. Früheste Quellen gehen davon aus, dass ein ähnliches Spiel in China bereits im dritten Jahrhundert vor Christus ausgeübt wurde. Diese Ballsportart – genannt Zu Qiu – entwickelte sich weiter, indem etwa ein luftgefüllter Ball und ein Regelwerk eingeführt wurden. Im sechsten Jahrhundert dürfte Fußball in China seinen Höhepunkt erreicht haben, ehe er in Vergessenheit geriet. Erst in der Frühen Neuzeit, mit der einhergehenden Industrialisierung, gewann der Fußball wieder an Popularität. In England entwickelte er sich aus einem rauen, unregulierten Volksspiel heraus. – vor allem einfache Bauern und Handwerksgesellen übten diese Sportart aus. Einiges mag heute bizarr wirken: Das Spielfeld war meistens die Distanz zwischen zwei Nachbardörfern und das Tor das jeweilige Stadttor. Spielerzahl: Unbegrenzt. Das klingt nach maximalem Spaß. Dieser war dem einfachen Volk sonst ja wenig gegönnt. Im Laufe der Zeit setzte eine Verbürgerlichung dieses spaßig-anarchistisch anmutenden Spektakels ein. Im Jahr 1848 wurden dem Fußball in seiner fast schon revolutionären Charakteristik die Zähne gezogen, als Schülervereinigungen in England der Sportart striktes Reglement aufzwangen. An den da-

mals üblichen Clubnamen, von denen sich einige bis heute erhalten haben, kann man den bürgerlichen Einschlag und den Corpsgeist der Vereine ablesen: Alemania X, Germania Y und Borussia Z. Diese regulierte Spielart des Fußballs setzte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Massenphänomen durch. Vor allem bei der weißen, männlichen, Industriearbeiterschaft gewann Fußball an immenser Beliebtheit. Mit der Einführung des freien Samstagnachmittags in den 1860er Jahren erlebte der oft heute noch abfällig bezeichnete „Proletensport“ einen kometenhaften Aufstieg. In der Tat bekam es die politische Elite mit der Angst zu tun, da durch diesen neuen Teil der ArbeiterInnenkultur das Selbstbewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl der ArbeiterInnen beflügelt wurde. Im Jahr 1883 setzte es den ersten Schock auf der Insel: Mit Blackburn Olympic gewann erstmals ein Verein der ArbeiterInnenschaft den begehrten Landescup. Die bürgerlichen Amateurspieler aus dem Süden und die Presse reagierten empört und wandten sich „elitären“ Individualsportarten, wie etwa Polo und Cricket, zu. Bei diesen Sportarten konnte man sich durch die wirtschaftliche Überlegenheit und überlieferten Privilegien weiterhin vom verhassten Proletariat abheben. Sechs Jahre später wurde durch eine fadenscheinige Ligareform – es durfte pro Stadt nur ein Verein existieren – Blackburn Olympic verboten. Dies ist nur ein Beispiel davon, wie staatliche Institutionen versuchten, ArbeiterInnenvereinen Steine in den Weg zu legen. Auch in Österreich war das nicht anders: Aus Angst vor behördlichen Schikanen änderte der 1. Wiener Arbeiter Fußball-Klub 1899 seinen Namen auf Sportklub Rapid Wien. Alle Versuche dem aufstrebenden „Proletenkult“ Einhalt zu bieten, taten der Beliebtheit von Fußball freilich keinen Abbruch. Was machte Fußball nun – damals wie heute – so attraktiv? Zunächst bietet Sport, analog zur Kunst, die Möglichkeit sich selbst zu verwirklichen. Spie-


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In der Tat bekam es die politische Elite mit der Angst zu tun, da durch diesen neuen Teil der ArbeIterinnenkultur das Selbstbewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl der Arbeiterinnen beflügelt wurde. lerische Kreativität und Spaß in der Gemeinschaft überwiegen hier, während wir alltäglich Gefahr laufen, im Stumpfsinn des ökonomischen Hamsterrades elendig zu verenden. Arbeit äußert sich im Kapitalismus für die wenigsten von uns als etwas, das als eine sinnvolle und erfüllende Tätigkeit angesehen werden könnte. Fußball bietet hiervon eine Ausbruchsmöglichkeit und fördert menschliche Fähigkeiten. Spielwitz, Einfallsreichtum und die intuitive Erfassung von Spielsituationen kann man FußballerInnen sicherlich nicht absprechen. Auch das ist eine Art Intelligenz. Und trotzdem wird oft noch immer abfällig von „dummen Fußballern“ und „Kampflesben“ gesprochen. Die Möglichkeit der Selbstverwirklichung im Sport bleibt sträflich unbeachtet. Speziell im vermeintlichen Intellektuellenkreisen und kleinbürgerlichen Gedankenkonstrukionen macht man sich lustig über die „unnötige Berichterstattung“ über die rohen und derben FußballerInnen aus der ArbeiterInnenschicht, wie etwa Jimmy Hoffer und Toni Polster. Woher rührt diese Abneigung und Eindimensionalität? Ein näherer Blick auf die mediale und kapitalistische Ausschlachtung des Fußballs mag hierbei hilfreich sein. Nach 1945 setzte man in der Politik nicht mehr auf Ausgrenzung, sondern auf Integration, Kontrolle und Instrumentalisierung dieser Sportart. Dies erreichte man durch die Kommerzialisierung des Spielbetriebs: Zunehmend ersetzten bezahlte Funktionäre traditionell eingesessene Vereinsmitglieder in den Entscheidungsgremien. Dadurch wurde der Einfluss der Spieler (weiblicher Fußball war erst ab 1970 legal; näheres dazu in Artikeln auf den folgenden Seiten) und Fans im Bezug auf das Vereinsgeschehen massiv eingeschränkt. Dieser Prozess ist heute in Österreich sehr weit fortgeschritten. Das ist anhand der Wortmonster deutlich ersichtlich, die im Kontext des österreichischen Fußballs ent-


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stehen. Ligen und Vereine tragen, zum Teil absurd lange, Sponsornamen in der offiziellen Bezeichnung. So wird in Österreich zum Beispiel in der „Heute-für-Morgen Ersten Liga“ aufgespielt. In Deutschland ist der Prozess zumindest an der Oberfläche noch nicht so weit fortgeschritten. Man denke an die Vorwürfe der mangelnden demokratischen Vereinsstrukturen seitens des DFB beim deutschen Zweitligisten RasenBallsport Leipzig. Ein globaler Getränkehersteller aus Österreich hatte sich zu sehr in die Vereinsstrukturen „eingekauft“. Immerhin gibt es in Deutschland auch massiven Widerstand seitens einzelner Fanvereine. Es wurden bereits zahlreiche, bereits fixierte Testspiele gegen RB Leipzig nach Fanprotesten abgesagt. Die UltrasGruppierung Schwabensturm des VfB Stuttgart begründet ihren Protest folgendermaßen: „Das Konstrukt RB Leipzig ist eben kein Fußballverein und sportlicher Kontrahent im herkömmlichen Sinne, sondern einzig und allein das Marketingprodukt eines sich selbst als allgegenwärtig und allmächtig generierenden Brauseherstellers.“ Was jahrelang schleichend ignoriert wurde, wird anhand dieser totalen Kommerzialisierung nun sichtbar: Auch im Fußball bestimmt der Kapitalismus das Geschehen. Die Kritik der Ultras mag berechtigt sein, aber die Wurzel allen Übels liegt länger zurück, als man wohl vermuten mag. Nach 1848 wurde ab den 1950er Jahren der Fußball ein zweites Mal über den Haufen geworfen. Diesmal veränderte man nicht den Spielmodus, sondern man fing an, das Spektakel zu instrumentalisieren. Die Zersetzung der kulturellen Institution Fußball begann mit einer konsequent konsumorientierten Fußballindustrie. Die Massen hatten sich dabei an den bürgerlichen Wertekatalog zu halten: Sitzplatzstadien sollten deeskalierend wirken, nahmen aber de Facto der Stimmung den Wind aus den Segeln. Zunehmend wandelten sich auch die Stadien in Käfige. Spiele erinnerten immer mehr an Gladiatorenkämpfe. Beachtenswert ist, dass der Hooliganismus in den Stadien, bei denen die Vereine die eigenen Ordner stellen und keine massive Polizeipräsenz vorhanden ist, am geringsten ist. Einschaltquoten, Werbungs- und Übertragungseinnahmen gewannen an Einfluss und durch eine marktgerecht gestylte Medienshow wurde Fußball weiter von der einfachen Bevölkerung entfernt, abgehoben und seinem eigentlichen Charakter entfremdet. Der Befreiungschlag aus dem kapitalistischen Weltgeschehen verlor mehr und mehr an

Dynamik. Das kollektive Zusammengehörigkeitsgefühl wurde zerschlagen und durch die Identifikation mit Lokalpatriotismus und Nationalismus ersetzt. Diese Tendenz kann der Boulevard als seinen Erfolg verbuchen: Sportjournalisten heizten mit ihrer nahezu geifernden Kriegsberichterstattung bei internationalen Spielen die verschobene Kritik am Kapitalismus noch mehr an und ermöglichen somit die nationalistisch-rechtsextreme Unterwanderung der Fanszene. Auf der progressiven, politischen Seite wird herzhaft wenig entgegengewirkt. Es gibt zwar einzelne Vereine, die sich egalitären Grundsätzen

Die breite Masse der Menschheit hat kein „Vaterland“ – ihr ist nur das gemeinsame Joch der Ausbeutung auferlegt. verschreiben, und dennoch begegnen manche bürgerlich-linken Meinungen Fußball mit konsequenter Ablehnung. Diese Haltung verdeutlicht nur die Distanz zwischen der realen Politik und dem Klientel, das sie zu vertreten beansprucht. Somit überwiegt im Moment ein überspitzter Vulgärnationalismus in der allgemeinen Wahrnehmung von Fußball. Dieser ungeheure Patriotismus scheitert jedoch an seiner eigenen Widersprüchlichkeit. Hierbei sind einzelne Schicksale oft besonders aufschlussreich: Mesut Özil wird im türkischen TV auf Türkisch interviewt und im Anschluss bricht ein Shitstorm über dessen „bauerntürkischen“ Dialekt aus. Bei Mario Balotelli sind sich die ItalienerInnen uneins: All die wunderschönen Tore Balotellis schützen ihm nicht vor rassistischen Attacken der eigenen (!) Fans. Der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter sprach David Alaba auf Englisch an. Das Individuum geht in einem romantisch-konservativen Bilde von einer Nation unter, in der biologistische und rassistische Diskurse immer noch tonangebend sind. Die breite Masse der Menschheit hat kein „Vaterland“ – ihr ist nur das gemeinsame Joch der Ausbeutung auferlegt. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Weltmeisterschaft in Brasilien. Selbst wenn die Nationalmannschaft den Titel holen würde, blieben die meisten BrasilianerInnen die großen VerliererInnen dieses Events.


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fac tum Die uni:press hat die laufende Weltmeisterschaft als Anlass genommen, verstaubtes Wissen über das runde Leder und sein Umfeld auszugraben. Einiges davon mag heute verblüffen, erstaunen und erhellen. Von Christopher Spiegl © sechtem (flickr)

Hands off! Bis im Jahre 1871 war im englischen Fußball der so genannte „Fair Catch“ erlaubt (d.h. man durfte den Ball mit der Hand herunterstoppen und ein bis zwei Schritte damit laufen). Als das Handspiel verboten wurde, traten aus Protest einige Vereine aus dem Englischen Verband aus und gründeten die Rugby Football Union.

© Thyra (wikimedia commons)

Ins Abseits gerückt: Frauen, die Fußball spielen Als Folge des „Männermangels“ erhielten Fußballerinnenvereine vor allem in England eine erhöhte Aufmerksamkeit nach dem Ersten Weltkrieg: 1920 zog das Fußballspiel St. Helen Ladies gegen Kerr‘s Ladies in Everton immerhin 53.000 zahlende ZuschauerInnen an. Trotz großer Beliebtheit wurde am 5. Dezember 1921 der Sport von höchster Verbandsinstanz in England verboten. Frauen seien „nicht geeignet“ für diesen Sport und sollten deshalb gar nicht erst gefördert werden. Andere Schwierigkeiten gab es in Deutschland: Der 1. DDFC Frankfurt, 1930 gegründet von Lotte Specht, konnte jahrelang keine Spiele bestreiten, da keine zweite Frauschaft existierte. Die rund 40 Clubmitglieder wurden als „Mannsweiber“ diffamiert und mussten damit rechnen, am Sportplatz mit Steinen beworfen zu werden. Bis 1970 war der Sport für Frauen verboten (DFB-Statement anno 1955: „Im Kampf um den Ball verschwindet der weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlichen Schaden und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit und Anstand“). Frauen durften ab nun mit abgeschwächten Regeln dem beliebten Ballsport nachgehen (z.B.: Spieldauer: 2 x 35 min). Seltsame Anerkennung wurde den Siegerinnen der Weltmeisterinnenschaft 1989 dargebracht: Sie bekamen als Siegesprämie ein Kaffee-Set und ein Bügelbrett vom DFB überreicht.

Entdemokratisierung: Der Schiedsrichter betritt das Spielfeld SchiedsrichterInnen müssen vieles aushalten: Hasstiraden, Pfeifkonzerte sowie Drohungen gegen Person (und Auto). Vor 1873, als die so genannten Unparteiischen eingeführt wurden, herrschte ein wesentlicheres Maß an Fairplay: Die beiden Kapitäne der jeweiligen Mannschaften hatten die Spielleitung inne. Der Kapitän unterbrach das Spiel, wenn einer seiner eigenen Teamgefährten einen Regelverstoß ausführte. Ob dies zu hitzigen Spielabbrüchen führte oder zu einem harmonischen, auf Respekt und Dialog basierenden Spielverlauf, ist leider nicht überliefert. © Ingy The Wingy (flickr)

Disziplinierung leicht gemacht: Die Rote Karte Der Platzverweis als legitime Strafe für grobe Spielverstöße existiert schon seit Anbeginn des durchregulierten Fußballs 1848. Als bei der Weltmeisterschaft 1966 jedoch ein Tumult im Spiel Großbritannien gegen Argentinien entstand und die Spieler nicht auf die mündlich (!) ausgesprochenen Platzverweise reagierten, wurde die Dringlichkeit einer sichtbaren Disziplinierung offensichtlich: Die Rote Karte war geboren und wurde bei der WM 1970 erstmals eingesetzt. Allerdings wurde dort kein Platzverweis ausgesprochen.

© Stéfan (flickr)


© Bent Tavener_2 (Flickr)

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Brasilienein Sommeralptraum Es ist wieder soweit! Das Turnier um den wohl begehrtesten Pokal der Welt hat begonnen, verfolgt von Milliarden von Menschen rund um den Globus. Doch während in den Stadien Euphorie herrscht, denkt wohl kaum ein Fan an die wahren VerliererInnen der WM: Jene, die für dieses Großereignis bereits vor dem Anpfiff alles verloren haben. Von Jürgen Wöhry

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restigebauten auf Kosten der Bedürftigen. „Brasilien begeht geradezu ein Verbrechen gegen sich selbst, indem es die WM auf diese Weise organisiert.“ So analysiert einer der renommiertesten Fußballjournalisten des südamerikanischen Staates, Juca Kfouri, die derzeitige Lage. Wie es für sportliche Großveranstaltungen in den meisten Ländern bereits Usus ist, werden gigantische Anlagen wie Stadien und die dazugehörige Infrastruktur aus dem Boden gestampft, nur damit diese für einige Wochen von der Weltöffentlichkeit bestaunt werden können. Was danach damit passiert, ist ungewiss. In einem Wohlfahrtsstaat wie Österreich bleiben kostenkolossale-Bauten wie das ständig leere Wörthersee-Stadion weitgehend unbeachtet. Demgegenüber müssen MegaStadien in Brasilien wie eine unverschämte Provokation wirken. Ebenso unsicher ist die Lage tausender Menschen, auf deren Kosten diese Mammutprojekte verwirklicht werden: Zahlreiche Favelas wurden plattgewalzt, um den nötigen Platz zu schaffen. Die Behörden räumten diese Armenviertel mit brutaler Gewalt, unterstützt von Polizei, Militär und sogar durch den Einsatz von privaten Sicherheitsdiensten. Dies geschah ohne Vorankündigungen, Transparenz und gerechten Abfertigungen. Die von der Regierung zugesprochene finanzielle Unterstützung reicht kaum aus, um für das Nötigste der Vertriebenen zu sorgen. Viele Menschen landen schlussendlich in notdürftig errichteten Behausungen, die nicht selten 30–40 km oder noch weiter vom ursprünglichen Siedlungsgebiet entfernt liegen. Dort fehlt es an Infrastruktur, Schulen und Arbeitsplätzen. Doch das scheint den Staat wenig zu interessieren – er hat vermeintlich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Armen weggeschickt und das

„Scheinbar ist das Schicksal tausender Brasilianerinnen für die FIFA zweitrangig, Hauptsache, die WM geht reibungslos über die Bühne.“ Großkapital angelockt. Hauptsache, der Zeitplan der Bauarbeiten wird eingehalten. Es handelt sich hierbei nicht um Einzelfälle, sondern um eine Repression der Massen: Laut der Gewerkschaftsorganisation CPS Conlutas wurden im Zeitraum von 2011–2014 über 250.000 Menschen zwangsumgesiedelt. Betroffen sind unter anderem die Städte Rio de Janeiro, Sao Paolo und Porto Alegre, um nur einige Beispiele zu nennen. Doch damit noch nicht genug. Favelas, die den Bauten nicht im Weg stehen, werden durch das Militär „befriedet“. Darunter versteht die brasilianische Regierung militärische Operationen und Razzien. BewohnerInnen berichten von Eliteeinheiten mit Sturmgewehren, die ohne Vorwarnung, und oftmals ohne Grund, die Häuser ihrer Familien stürmten. Bei solchen Operationen wurden bereits dutzende Personen getötet. Offiziell wird dieses rigorose und menschenverachtende Vorgehen damit begründet, dass man die Bandenkriminalität bekämpfen wolle. Doch eigentlich geht es darum, der Welt eine schöne heile Welt vorzugaukeln, in der Proteste und Armut nicht existieren. Hierfür werden auch keine Kosten gescheut: Moderne Kriegstechnologien, von Drohnen bis hin zu Kriegsschiffen, werden zur Menschenjagd herangezogen. Kritik und Widerstand. Schon sehr früh wiesen zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen und NGOs auf die


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Gewalt statt Dialog, die Reaktion auf die Proteste. Es wurde versucht, die immer häufiger vorkommenden Demonstrationen und Proteste durch hohe Militär- und Polizeipräsenz im Keim zu ersticken. Gummigeschosse

„Moderne Kriegstechnologien, von Drohnen bis hin zu Kriegsschiffen, werden zur Menschenjagd herangezogen.“ katastrophale Lage in Brasilien hin. 2009 schlossen sich solche in den zwölf Austragungsorten der WM zu sogenannten Comités Populares da Copa (Volkskomitees zur WM) zusammen, um mit einer gemeinsamen Stimme aufzutreten. Die Mitglieder dieser Komitees sind neben den Genannten vor allem akademische Institutionen, Studierende, WissenschafterInnen, AktivistInnen und nicht zuletzt Betroffene. Um sich landesweit zu vernetzen, hielten diese auch bereits mehrere Kongresse ab. Kritisiert werden neben der Gewalt vor allem auch die horrenden Kosten für die WM und die Olympischen Spiele in Rio 2016. Rund 40 Milliarden gibt der Staat aus. Geld, das vor allem im sozialen Sektor dringend benötigt würde: Ein Großteil der Bevölkerung hat keinen Zugang zu ausreichender Bildung. Krankenhäuser und Infrastruktur sind in großen Teilen des Landes extrem veraltet. Nur wenige Eliten profitieren enorm von dem Milliardengeschäft mit dem Fußball, während ein Großteil der Bevölkerung nicht weiß, wie er sich die Güter des alltäglichen Gebrauchs leisten kann. Auch die UNO schaltete sich 2011 ein und kritisierte die Regierung stark, ohne jedoch auf Gehör zu stoßen. Besonders zynisch wirkt die Tatsache, dass seit 2011 mit Dilma Rousseff ein Mitglied der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores) den Staat leitet. Anstatt sich jedoch für die unteren Schichten einzusetzen, geht sie gegen diese vor und wird zur Handlangerin des Großkapitals. Im Juni 2013 erreichte der Protest die breiten Massen: In zahlreichen Städten gingen die Menschen auf die Straßen, um gegen die Missstände zu protestieren. Unter den DemonstrantInnnen befanden sich nicht nur betroffene aus den Favelas, sondern auch zahlreiche Studierende und Angehörige der Mittelschicht. Je näher die WM rückte, desto größer und heftiger wurden die Proteste. Immer mehr Gewerkschaften solidarisierten sich mit den Protestierenden und organisierten Streiks in vielen Städten des Landes. So streikten im Mai die BusfahrerInnen der Millionenmetropole Sao Paolo.

und Tränengas wurden gegen friedliche Protestierende eingesetzt und militärische Sperrzonen um die Stadien eingerichtet. Um ProtestteilnehmerInnen verfolgen zu können wurden Wasserwerfer mit gefärbtem Wasser ausgestattet. Ebenso wurden „präventive“ Verhaftungen im Vorfeld von Kundgebungen durchgeführt. Wer hierbei erwischt werde könne mit schweren Strafen rechnen: Ein „Anti-Terror“ Gesetz, das sich konkret gegen DemonstrantInnen richtet, steht kurz vor der Verabschiedung. Wer bei gewalttätigen Protesten auch nur dabei ist, kann demnach für 15–30 Jahre eingesperrt werden. Egal ob eine Person gewalttätig war oder nicht. Mittlerweile regt sich auch polizeiintern Widerstand gegen den Staat. In zahlreichen Städten kam es bereits zu Streiks. Dies geschah jedoch nicht aufgrund einer Solidarisierung mit den Protesten. Vielmehr fordern die BeamtInnen höhere Löhne. Der Weltfußballbund ist maßgeblich für die Gewaltexplosion von Seiten des Staates mitverantwortlich. Bei einem Besuch der Baustellen im Anfang März äußerte der FIFA-Generalsekretär Jérôme Valcke Bedenken darüber, ob die Stadien bis zum Beginn der Spiele fertiggestellt werden würden. Vor allem die andauernden Proteste könnten dazu führen, dass sich die Arbeiten weiter verzögern. Diese Kritik führte dazu, dass das Gastgeberland die Polizei- und Militärpräsenz nochmals verstärkte. Auch ein aggressiveres Vorgehen war die Folge. Zur Vertreibung der Menschen und den horrenden Kosten äußerte sich Valcke nicht. Scheinbar ist das Schicksal tausender BrasilianerInnen für die FIFA zweitrangig, Hauptsache, die WM geht reibungslos über die Bühne. Wie erfolgreich die Proteste letztendlich sein werden, bleibt ungewiss. Einen Erfolg können sich die jedoch BrasilianerInnen bereits auf die Fahnen heften: Kritische Menschen auf der ganzen Welt wurden auf die schweren Menschenrechtsverstöße im Land aufmerksam und solidarisieren sich mit den Verlierern dieses Großevents. Stell dir vor, es läuft Fußball und keiner schaut fern.

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„Was denkst du über die WM in Brasilien?“ Tobi, 21, Kommunikationswissenschaft Die WM ist ja eh so kommerziell. Das ganze Geld, das für die Meisterschaft aufgewandt wird, wird für Werbezwecke ausgegeben, und nicht dazu, das Land selbst zu fördern. Mittlerweile steht nicht mehr das Sportliche, sondern die Vermarktung im Vordergrund. Sotschi war da doch das beste Beispiel. Auch jetzt ging das wieder die ganzen vier Jahre über so, bis die neue WM ansteht. Vor allem jetzt im letzten Jahr hat man gemerkt, dass alles besonders gepuscht wurde. Mir kommt es so vor, als versuche jeder, jeden zu übertrumpfen. Der Sportgeist bleibt da echt auf der Strecke.

Saskia, 22, und Christine, 21 Also wir denken, dass es in Brasilien dann vor allem für die Touristen gefährlich wird, die zur WM nach Südamerika fahren. In Brasilien herrscht sehr viel Kriminalität und die Fußballfans schweben in Gefahr, beklaut oder vielleicht sogar angegriffen zu werden. Man sieht ja an den ganzen Demonstrationen gegen die FIFA, dass die WM-Gegner ziemlich weit gehen. Da ist es fragwürdig, ob die Sicherheit der Besucher gewährleistet ist. Das brasilianische Volk ist zu Recht zornig, die Arbeitsverhältnisse sind unter aller Sau und es gab schon dutzende Tote bei den Bauarbeiten zu den Stadien. Vor allem jetzt, wo die Fertigstellung dringend erfolgen muss, da bald die WM losgeht, werden die Bauarbeiter noch einmal völlig gestresst und geschunden. Das verleiht der Weltmeisterschaft schon echt einen bitteren Beigeschmack.

Benjamin, 20, Lehramt PP und Latein

Valentine, 26, Anglistik, Amerikanistik Ich bin ein Gegner der WM und werde sie mir vermutlich nicht einmal ansehen. Ich finde es furchtbar, dass die Kinder in Brasilien wegen einer sportlichen Veranstaltung so leiden müssen. Straßenkinder werden eingesammelt und in Heime gepfercht, um den schönen Schein zu wahren. Ich verstehe einfach nicht, wie man das gutheißen kann. Die WM bringt so viel Macht und Geld, da könnte man die Kids doch unterstützen, anstatt sie abzuschieben? Oder man organisiert Spendensammlungen und versucht so, dem Land zu helfen. Mein Vater hat bis vor kurzem in Brasilien gelebt und mit eigenen Augen gesehen, wie schlimm die Situation vor Ort ist. Die Kriminalitätsrate ist sehr hoch und für Touristen ist es sehr gefährlich. Bei so einem negativen Umfeld ist es nicht zu verantworten, dass die Welt die WM feiert, ohne über die Hintergründe nachzudenken.

Ich würde mich eigentlich schon als großen Fußballfan bezeichnen. Aber ein Ticket für Brasilien werde ich mir nicht kaufen. Es ist mir zu teuer und außerdem nicht sicher genug in Lateinamerika. An sich finde ich die Fußballweltmeisterschaft immer ein spannendes und großes Ereignis, aber hier kommt es nicht auf das Was an, sondern das Wo. Man tut manchen Ländern einfach keinen Gefallen damit, die WM in ihnen abzuhalten. Brasilien ist da vermutlich noch nicht einmal das Schlimmste, in 2022 findet sie ja in Quatar statt, da sind die Bedingungen noch viel ärger. Die starke Hitze und die schlechten Arbeitsbedingungen wären da nur zwei Beispiele von vielen. Ich finde einfach, es kommt auf den Sport an und den Spaß, den er allen bereitet. Wenn dann mit der Sache Geldunterschlagungen, Demonstrationen der Bevölkerung und Machtspiele einhergehen, sollte man sich von vorneherein vielleicht überlegen, welche Länder von der WM auch wirklich profitieren können.


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Chris, 25, Rechtswissenschaften Die WM interessiert mich schon, ich mag Fußball eigentlich recht gerne. Aber so, wie es in Brasilien abläuft, kann man einfach nicht mehr nur den Sport betrachten, sondern das ganze Umfeld der WM. Ich habe zwar gelesen, dass mehr Geld in Brasilien reinkommt, als es ausgegeben wird, aber wo kommt das Geld denn dann hin? Dort unten leiden die Menschen nach wie vor. Man bekommt keinen Einblick, was mit diesen Unsummen eigentlich geschieht, die in die Staatskassen Brasiliens fließen. Werden die Gewinne später verstaatlicht? Oder privatisiert? Wer verdient im Endeffekt daran? Die Bevölkerung wohl kaum. Wenn die Polizei schon die Favelas gewaltsam räumen muss, um Platz zu schaffen oder den Touristen ein gutes Bild zu liefern, läuft da meiner Meinung nach etwas falsch. Auch dass bei Protesten der Bürger so krass vorgegangen wird und man nicht auf die Stimme der Bevölkerung hört, zeigt, dass da viel zu viel unter den Deckmantel der WM gekehrt wird.

Theresa, 22, Pädagogik Daniela, 21, Biologie Ich freue mich einerseits schon auf das Public Viewing, das Mitfiebern und die WM-Stimmung. Aber wenn man die Ohren offen hält und darauf achtet, was in Brasilien abläuft, könnte es einem glatt die WM-Stimmung verhageln. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass die WM der Bevölkerung besonders hilft. Ich denke nicht, dass das Leben dort besser wird oder sich Probleme wie Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Obdachlosigkeit durch die WM bessern werden. Ich verstehe auch nicht, wieso so übertrieben viel Aufwand gemacht wird, im Grunde ist es nur eine einzige WM, die in ein paar Wochen wieder vorbei ist. Und für was? Die Spieler müssen sich auf das warme Klima einstellen. Die meisten Fußballfans können die Spiele gar nicht gucken, weil sie erst spätabends sind. Auch für die Brasilianer ändert sich sehr viel, und im Grunde stehen sie dann nach der WM da mit riesigen Schulden und Stadien, die sie vermutlich nie wieder brauchen werden.

Ich halte es schlichtweg für verantwortungslos, die WM in Brasilien auszutragen. Zwar freue ich mich natürlich trotzdem aufs Public Viewing, aber die Schattenseiten bleiben einem ja doch im Hinterkopf. Den Sieg würde ich Brasilien jedenfalls gönnen. Sie haben so viel Aufwand in die Ausrichtung der WM gesteckt und es mussten so viele Bürger darunter leiden, dass sie wenigstens das verdient haben. Wobei ich glaube, dass der Elan für die Weltmeisterschaft für die Brasilianer schon lange verebbt ist. Selbst wir Salzburger hinterfragen ja mittlerweile schon die ganzen Hintergründe und Gegebenheiten im Austragungsland. Ich hoffe trotzdem, dass man es irgendwie schafft, die WM schön zu gestalten und als Fan zu genießen. Wär ja schade, wenn all dieser Aufwand dann auch noch umsonst gewesen wäre.

Edith, 22, Psychologie Ich bin kein ausgesprochener Fußballfan. Ich bin eine von denen, die alle zwei Jahre mal bei der EM und WM ein Spiel sehen. Obwohl die Stimmung rund um die WM schon anstecken könnte. Man kommt ja kaum drum herum – die Zeitungen, das Fernsehprogramm und Werbeclips sind voll davon. Ich hoffe, dass Brasilien die Aufmerksamkeit der Welt dazu nutzen kann, um sie für gesellschaftliche Probleme, wie zum Beispiel die vorherrschende Armut und Prostitution, zu sensibilisieren. Man darf nicht nur die negativen Aspekte ankreiden und sonst nicht handeln. Es ist wichtig, dass nun überlegt wird, wo man ansetzen könnte, um zu helfen und die Missstände zu bessern.


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© Pierre-Yves Beaudouin (Flickr)

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FrauenfuSSball als Randsportart „Deutschland ist im vergangenen Jahrzehnt zweimal Weltmeister geworden!“ „Was?“ „2003 und 2007… die Mädls haben echt gut gespielt!“ „Ach so, ja das zählt ja nicht… aber die eine ist echt scharf, gar nicht so lesbisch wie viele beim Frauenfußball!“ Von Katharina Schmid

ein Dialog, der vorurteilt, wie sich Menschen über Frauenfußball unterhalten. Ein (Vor)urteil, das aus persönlicher Erfahrungen erzählt wird. Nach wie vor wird überrascht nachgefragt oder mit Erstaunen hingenommen, dass frau kickt. Tatsächlich geschah es auch, dass die anschließende Frage sogleich jene nach der sexuellen Orientierung der Frauen war. Ein Umstand, der deutlich macht, welche Assoziationen mit Frauen und Fußball einhergehen und was im Kontext Frauenfußball den Fragenden oftmals wichtig erscheint. Die sportliche Tätigkeit steht von Beginn an im Abseits, und Fußballerinnen durchqueren nicht selten einen Sumpf an Vorurteilen und versuchen diesem mit abwechselnd bewusster Verneinung der Klischees und/oder verstärkter Aneignung dieser Vorurteile zu begegnen, um sich als fußballspielende Frau zu beweisen. Auf die eine oder andere Art ist die fußballende Frau sehr oft Verurteilungen ausgesetzt. Jede Geste, jeder Körpereinsatz oder gar laute Zurufe, wie sie beim Fußballspiel notwen-

“Ab einem gewissen Alter haben Frauen eine andere Aufgabe. Ich will da jetzt nicht konkret werden, aber… Sonst gibt es irgendwann keine kleinen FuSSballerinnen mehr.“ —Joseph S. Blatter, FIFA-Präsident, 25. Juni 2011 dig sind, gelten als primär männlich. Hingegen wird jeder Einsatz, der nach ExpertInnenmeinung halbherzig und ohne volle Hingabe geschieht, als mädchenhaft und nicht „fußballfeldtauglich“ abgestempelt. Der offizielle Weg, dieses eigentlich männliche Problem zu lösen, geht dahin, einen neuen Sport zu etablieren.


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„Sport an sich ist ein männerdominiertes Feld. Der weibliche Körper gilt als nicht konzipiert für physische Anstrengung am Limit und verbissener Ehrgeiz nicht als weibliche Eigenschaft.“

Frauenfußball gilt einem Großteil unserer Gesellschaft heute als eigene Sportart, die sich vom Fußball abgrenzt. Frauenfußball fände als eigenständige Sportart in der Riege der Randsportarten Platz und könne dem männlichen Fußball nicht gleichgesetzt werden, wie Nia Künzer (ehemalige deutsche Nationalspielerin) vor kurzem in der Sendung „Pelzig hält sich“ sagte. Diese offizielle „Nichtvergleichbarkeit“ und die Schaffung einer „neuen“ Sportart sind Versuche, den männerdominierten Fußballsport als diesen zu erhalten. Hierdurch wird jeglicher Auseinandersetzung mit einem binären Geschlechtermodell und mit der Aufrechterhaltung dieser Struktur aus dem Weg gegangen. Sport an sich ist ein männerdominiertes Feld. Der weibliche Körper gilt als nicht konzipiert für physische Anstrengung am Limit und verbissener Ehrgeiz nicht als weibliche Eigenschaft. Der Einstieg für Mädchen in sportliche Aktivitäten wird weniger gefördert und gesellschaftlich wie medial wird jungen heranwachsenden Frauen vermittelt, dass sie innerhalb der Sportwelt nicht die Aufgabe der Athletinnen verkörpern – und wenn doch, dann in einem Kreis begrenzter Sportarten, in denen es möglich ist, auf feminine Art zu agieren. Konfliktpotenzial für ein bestehendes Geschlechterverhältnis und –modell besteht aber nicht nur aufgrund des Fußballspiels durch Frauen an sich, sondern auch wegen der übertriebenen Wahrnehmung des Sports als „Lesben“-Sport, der heteronormative Geschlechterausrichtungen in Frage stellt. Im Zuge einer breiteren Popularität des Frauenfußballs, die sich in den Nullerjahren etablierte, waren Reaktionen darauf, nicht etwa die strenge Geschlechterkonstruktion abzubauen, sondern frauenfeindliche

Vorschläge wie engere Trikots, um den Sport „sehenswerter“ zu machen und die Inszenierung von Weiblichkeit durch Schminke und einen besonders „weiblichen“ Spielstil. Die Geschlechterdifferenz wird verstärkt, indem der Frauenfußball als eigene Sportart etabliert und versucht wird, diesen von seiner „weiblichsten“ Seite zu zeigen. Besonders im Zuge der Weltmeisterinnenschaft 2011 in Deutschland fand diese Inszenierung des Frauenfußballs erhöhte Aufmerksamkeit durch einige Studien und Untersuchungen, die sich mit der medialen Darstellung der Spielerinnen auseinandersetzten. Interessant sind hierzu die Studie von Simone Schöndorfer „Darstellungsarten von Sportlerinnen in deutschen Tageszeitungen. Eine Untersuchung zur Frauenfußball-Weltmeisterschaft 2011“ und der Artikel „Fußball als Inszenierung der Geschlechterdifferenz“ von Bettina Staudenmeyer. Ergebnisse zeigten, dass viele Aussagen von Vertretern der FIFA oder ehemaligen Fußballspielern ein rein männliches Bild des Fußballs unterstützen. Die Medienberichterstattung bezüglich des Frauenfußballs charakterisierte sich hingegen sehr unterschiedlich. Einschlägig abwertende Schlagzeilen oder Statements paarten sich mit anerkennenden, aber auch latent überraschten Berichten. Auch die Berichterstattungs- und Übertragungsdichte der WM-Spiele ließ auf wachsendes Interesse schließen. Jedoch ist festzuhalten, dass die Vermarktung des Großereignisses zum Beispiel von Seiten des deutschen Fußballverbandes sehr wohl auf der Unterscheidung zum Männerfußball basierte und die Kategorie „Ästhetik“ des Frauenfußballs sowie der Spielerinnen stark fokussiert wurde. Der Frauenfußball zeigt sich durch Feminisierung, Erotisierung und der Erstellung eines heteronormativen Weltbildes deutlich geschlechtskonstruktorientiert. Der Sport soll sich in das Verständnis des männlichen Fußballs einordnen ( jedoch nicht in den Sport selbst), dessen Weltbild unterstützen und bestehende Bilder von Weiblichkeit aufrechterhalten.


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Kinder als Exportschlager Über eine etwas andere Form des Kinderhandels berichtet der chilenische Journalist und Autor Juan Pablo Meneses in seinem neuesten Buch. Er verkauft seine Werke in über 20 Länder und widmet sich oftmals Themen, die zu wenig Gehör in der Öffentlichkeit finden. Im Zuge der Fußballweltmeisterschaft in diesem Jahr konzentrierte er sich für sein neuestes Buch auf den beliebtesten Sport der Welt – und brachte Unschönes zu Tage. Von Marina Hochholzner

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rbeiter, die verschüttet werden. Stadionwände, die einbrechen. Massenproteste wegen hoher Ausgaben. Der Bau der WM-Stadien in verschiedenen Städten Brasiliens sorgte in den letzten Jahren immer wieder für Kontroverse. Viele kritisieren die Vorgehensweise der Verantwortlichen. Das Geld könne man für Wichtigeres nutzen, geben viele BrasilianerInnen zu bedenken. Die ArbeiterInnen schuften unter menschenunwürdigen Verhältnissen, sagen andere. Aber auch die Hoffnung, dass das Stadion und die Weltmeisterschaft den Tourismus des lateinamerikanischen Landes steigert, blitzt bei vielen Meinungen durch.


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Doch das diesjährige Veranstaltungsland sorgte in letzter Zeit nicht nur mit den WM-Stadien für Schlagzeilen. Kürzlich enthüllte der chilenische Journalist Juan Pablo Meneses in seinem Buch Niños futbolistas (2013) den Kinderhandel, den die Entwicklungsländer mit fußballambitionierten Kids betreiben. Auch in Brasilien wurden vor Kurzem sogenannte Fußballschulen eröffnet, um darin für die großen Vereine junge Kinder zu Topfußballern heranzuzüchten. Der Handel mit Fußballkindern ist in Lateinamerika und anderen Ländern der Dritten Welt keine Seltenheit. Entweder werden die Jungen von Talentjägern aufgespürt und in die Vereine nach Europa gebracht, oder sie werden via Talent- und Castingshows entdeckt. Vor allem spanischsprachige Fußballclubs werden dabei als Käufer angestrebt, da bei diesen mit den geringsten Sprachbarrieren zu rechnen wäre. Allen voran sieht Meneses den FC Barcelona als Übeltäter. Der Spitzenverein betreibt diese Form der Nachwuchsförderung angeblich schon seit Jahren. Meneses hebt in seinem Buch klar die Problematik hervor, die mit dieser Vermarktung von Kindern, die in den allermeisten Fällen noch unter zehn Jahren alt sind, einhergeht. So kritisiert er, dass diese jungen Menschen ihrem gewohnten Umfeld entrissen werden, um sie andernorts zu fördern. Die Eltern werden mit Jobs oder Häusern geködert, damit sie den Umzug gestatten. Was aber wirklich hinter dem Beitritt des Kindes in eine Fußballschule steckt, ist nur den Wenigsten klar. „Der Druck auf das Kind ist enorm, für alternative Berufswünsche ist kein Platz mehr. Und was mich am meisten beeindruckt hat, ist, dass die Kinder und die Familien sich nicht dagegen wehren, dass ihr Leben fremdbestimmt wird. Sie erwarten dies sogar, da auf diese Weise am meisten Geld verdient werden kann“, erzählt der Autor in einem Interview. Ein Kind besucht also eine Fußballschule, um gut genug für die Spitzenvereine zu werden. Fortan bestimmt der Agent, der das Kind für seinen Verein „eingekauft hat“, über dessen Leben. Es wird behandelt wie Ware, die ständig auf dem neuesten Stand der Technik stehen muss und regelmäßig potenziellen Interessenten angeboten wird. Dass die Jungen ihre Freunde und Heimat für die Fußballzukunft verlassen mussten, wird dabei erfolgreich unter den Teppich gekehrt. Die Kinder werden in ihre sportliche Zukunft geputscht und haben von nun an kein Mitspracherecht mehr, was ihre beruflichen Wünsche betrifft. Kommt es zu Verletzungen oder anderen Vorfällen, die die Fußballkarriere zunichtemachen, werden die Kinder ausgetauscht, zurückgeschickt oder sogar fallen gelassen.

Die Gesetzgebung gegen Kinderhandel und –arbeit kann dabei leicht umgangen werden. FIFA hat ein internationales Verbot des Transfers Jugendlicher erhoben. Dennoch kann dies auf vielen Wegen umschifft werden, unter anderem damit, dass den Eltern eine Anstellung beim jeweiligen Fußballverein angeboten wird. Meneses möchte auf diese Gegebenheiten endlich gebührend aufmerksam machen, weshalb er seine Botschaft in diesem jüngsten Enthüllungsbuch entsprechend elanvoll und eindringlich transportiert. Er betont die Tatsache, dass im Grunde illegaler Kinderhandel betrieben wird. Er nennt das Beispiel eines Jungen, der zu einem Vorspiel wollte, sich dabei jedoch verletzte und zurück in die Heimat geschickt wurde. Hier verkauft er nun Softdrinks. Meneses kritisiert dabei, dass die Jungen wie Ware gehandelt werden, die zurückgegeben und umgetauscht wird, sobald sie kaputt geht. Der Autor lässt dabei aber viele andere Aspekte außer Acht: Für einen großen Teil der Kinder ist das Besuchen einer Fußballschule dennoch sehr förderlich für ihre Zukunft. Sie genießen eine schulische Ausbildung, bei der vielleicht das Augenmerk auf dem fußballerischen Können liegt, aber dennoch Grundkenntnisse in den wesentlichen Fächern vermittelt werden. Selbst wenn die jungen Fußballer es später nicht in die erste oder zweite Liga schaffen, so verdienen sie auch in der dritten oder vierten Liga mehr als so manch Anderer ihrer Herkunft. Mit der Schulbildung haben die Jungen später immer noch bessere Chancen auf einen gefestigten Job, sollten sie keine Profifußballer werden, und es darf auch nicht vergessen werden, dass die Kinder am Ende nicht schlechter dran sind als vor ihrem Beitritt in die Fußballschulen. Natürlich ist diese Form von Kinderhandel und Vermarktung menschlichen Talents mehr als fragwürdig, was Meneses mit seinem Buch auch für die Welt deutlich gemacht hat. Aber in seinem doch sehr einseitig geschriebenen Buch lässt er die Fälle von Jungen außen vor, die durch den Verkauf an einen Verein mehr als profitiert haben. Weltstar Messi wurde so beispielsweise eine kostenintensive Wachstumshormonbehandlung ermöglicht, ohne die er wegen einer seltenen Form von Kleinwüchsigkeit nie über die Körpergröße eines Kindes hinauswachsen hätte können. Fußball ist nun einmal der beliebteste und erfolgreichste Sport der Welt. Fans und Geschäftsleute tun so einiges, damit dies auch so bleibt. Dass dabei nicht nur Positives geschaffen, sondern auch immer wieder rechtlich und menschlich fragwürdig gehandelt wird, zeigen die jüngsten Proteste gegen die Prasserei der brasilianischen PolitikerInnen beim Bau der Stadien. Und auch Meneses hat mit seinem Buch weitere Missstände in der Sportwelt ans Tageslicht gekehrt.

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uni & leben Neues aus dem Vorsitzbüro Das Institut für Höhere Studien (IHS) hat im Auftrag der Universitätenkonferenz (uniko) eine Studie zum Thema Studienabbruch durchgeführt, zu der vor kurzem die ersten Ergebnisse veröffentlicht wurden. Die zentralen Ergebnisse dieser Studie seien in Folgendem kurz dargestellt. Von Dominik Gruber

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ie Anzahl der Studierenden, die früher oder später ihr Studium aufgeben – die so genannten „Dropouts“ –, ist kleiner als bisher angenommen. Dies liegt vor allem daran, dass bisher viele Studierende unter den Begriff „Dropouts“ gefallen sind, die diese Bezeichnung nicht verdienen. Beispielsweise wurden bisher der Wechsel auf eine andere Universität oder auf andere Hochschultypen – wie z.B. auf eine Fachhochschule – und der Abbruch eines Studiums bei Mehrfachinskription – z.B. eines Zweit- oder Drittstudiums – und die Rückkehr in das Heimatland nach einem längeren Aufenthalt in Österreich als Dropout gewertet. Laut Studie wurden in bisherigen Statistiken 38 % aller Abgänge fälschlicherweise als Dropouts ausgewiesen. Gut 40 % der StudienanfängerInnen in Österreich absolvieren in den ersten beiden Semestern keine (24 %) oder nur wenige Prüfungen (16 %). Sie sind laut Studie „studieninaktiv“ oder „prüfungsinaktiv“. In Salzburg wird dieser Wert ebenfalls auf 40 % geschätzt. Diese Personen weisen ein hohes Risiko auf, später tatsächlich aus dem Universitätssystem zu fallen und als (wirkliche) Dropouts zu gelten. Eine weitere Gruppe von Studierenden, die ein erhöhtes „Ausfallsrisiko“ hat, stellen jene dar, die neben dem Studium berufstätig sind. Die Studie stellt außerdem fest, dass Dropouts eine hohe Arbeitsmarktintegration aufweisen. 75 % dieser Studierenden sind nach ihrem Abgang berufstätig. Die Arbeitsquote variiert jedoch nach zuvor gewähltem Studium und ist erwartungsgemäß nicht höher als jene der AbsolventInnen. Dies liegt zum Teil daran, dass AbbrecherInnen öfters mit der Aufgabe betraut sind, Kinder zu betreuen. Der Einkommensvorsprung von AbsolventInnen ist jedoch bereits nach zwei Jahren Berufstätigkeit bedeutend. So viel zu einigen zentralen Ergebnissen der Studie. Nun, welche politischen Implikationen lassen sich aus diesen Erkenntnissen ableiten? Erwartungsgemäß nutzen einige Personen diese Studie erneut dafür, für Zugangsbeschränkungen zu plädieren. So spricht sich der Rektor der WU Wien, Christoph Badelt, in einem Interview mit den Salzburger Nachrichten1 unter anderem für die Einführung von Zugangsbeschränkungen aus,

obwohl dies nicht die Position der uniko ist. Dadurch erhofft sich Badelt ein höheres Maß an Selbstselektion, die in weiterer Folge zu weniger Dropouts führt. Es gibt jedoch andere Implikationen, die viel näher liegen, sofern man folgende Ziele bzw. Forderungen anerkennt: (a) Das Hochschulsystem sollte – als Ausdruck des Grundrechts auf Bildung – möglichst vielen Menschen offen stehen. (b) Der Zugang zum Hochschulsystem sollte nicht sozial selektiv sein (und z.B. Menschen aus sozial schwächeren Haushalten, Frauen oder MigrantInnen benachteiligen). Unter diesen Bedingungen lässt sich aus der Studie die Konsequenz ableiten, dass angehende Studierende und StudienanfängerInnen ein umfassendes Beratungsangebot und eine Orientierungsphase bzw. eine Studieneingangsphase brauchen, in der Studierenden die notwendige Zeit gelassen wird, sich bewusst für ein Fach zu entscheiden. Tatsächlich gehen die meisten Empfehlungen der IHS-Studie in diese Richtung, wenn sie u.a. den Ausbau der Studien- und Berufsberatung oder die Einführung eines verbesserten Unterstützungssystems für Studierende aus sozio-ökonomisch benachteiligten oder bildungsfernen Schichten befürworten. Eine mögliche Unterstützung der Empfehlungen, insbesondere der Orientierungsphase, ist das sogenannte Studium Generale. Dieses soll über zwei Semester Studieninteressierten die Möglichkeit geben, Lehrveranstaltungen aus beliebigen Studiengängen zu besuchen und damit eine gut durchdachte Studienentscheidung, aber auch eine fächerübergreifende Bildung zu ermöglichen. Dies kann darüber hinaus für MaturantInnen einen verbesserten Übergang von der Schule zur Universität im wissenschaftlichen Arbeiten darstellen. Das Studium Generale existiert bereits an einigen Universitäten, beispielsweise am Leibniz Kolleg der Universität Tübingen. Natürlich kosten der Ausbau des Beratungssystems und die Einführung einer umfassenden Orientierungsphase Geld. Dafür muss die Regierung endlich solches in die Hand nehmen und von ihrem kontraproduktiven Sparkurs Abstand nehmen.

1: Link zur Studie „Dropouts ≠ Dropouts. Wege nach dem Abgang von der Universität“ (von Bianca Thaler und Martin Unger): bit.ly/UDMWCy 2: Link zum SN-Artikel: bit.ly/1nH6ak3


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Wissen ist für alle da - Monat der freien Bildung Salzburg „Bildung, so behaupte ich, meint ja die Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, in all den verschiedenen Orten seiner Umwelt. So, dass er darin sich selbst, seine Lebenslinien, seine Lebensgestalt, seine Identität formt!“ – Dr. Hans Thiersch über den Bildungsbegriff bei seinem Vortrag ,,Soziale Arbeit und Bildung“ Von Michaela Jahn & Anna Eder

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er Monat Mai stand an vielen Hochschulen Österreichs ganz im Zeichen der freien Bildung. Neben Leoben, Graz und Wien beteiligte sich auch Salzburg in Form von Vorträgen am Geschehen. Was ist freie Bildung? Und was steckt eigentlich hinter einem akademischen Grad? Der Grundgedanke dieses umfassenden Projekts ist es, den Mythos Universität aufzudecken und mehr Transparenz zu bieten. Bei verschiedenen Vorträgen, die thematisch sehr breit gefächert waren, konnten neben StudentInnen auch SchülerInnen und schon im Berufsleben Stehende, die nicht studiert haben, angesprochen werden. Dr. Andreas Schmoller, Lehrbeauftragter am Fachbereich Geschichte der Uni Salzburg, widmete sich mit seinem Beitrag dem ,,Mythos des stromlinienförmigen Lebenslaufes – Arbeitswellen während und nach dem Studium“. In diesem betonte er die Wichtigkeit des frühzeitigen Netzwerkaufbaus während der Ausbildung. Erste Zugänge, beispielsweise an der Uni, könnten in Form von Mitarbeit an wissenschaftlichen Projekten stattfinden. In diesem Rahmen beteiligte sich auch Dr. Paul Mecheril, Professor für interkulturelle Bildung an der Universität Oldenburg, mit seinem Vortrag ,,Rassismus bildet“ und befasste sich unter anderem kritisch mit der Frage, was wir als Mehrheit von jenen verlangen dürfen, die nicht zur Normbildung legitimiert sind. Der Bildungsbegriff in verschiedensten Jugendgruppen wurde von Dr. Birgitt Bütow, Professorin an der Uni Salzburg, mit ihrem Vortrag ,,Bildungsprozesse von Jugendlichen in Peergroups und Jugendkulturen“ thematisiert. Bildung soll für jeden zugänglich gemacht werden, ganz unabhängig von sozialem Umfeld, finanziellen Mitteln und Herkunft. Diesem Thema widmete sich Dr. Roman Langer in seinem Vortrag über Bildungsungleichheit. Bildung kostet. Wer also über mehr Geld verfügt, hat einen ganz anderen Zugang zu Bildung. Durchschnittlich schlagen Akademikerkinder eher eine universitäre Laufbahn ein als Kinder von Eltern, die nicht studiert haben. Ein Studium kostet viel Geld. Wer also früher ins Erwerbsleben eintritt, kommt schneller an Geld. Bil-

© digital cat (flickr)

dung an sich hat in der Unter- und Oberschicht auch einen ganz anderen Stellenwert. Wie Dr. Hans Thiersch, Professor für Erziehungswissenschaft an der Uni Tübingen, in seinem Beitrag ,,Soziale Arbeit und Bildung“ deutlich machte, ist Bildung ein Konzept der Lebensgestaltung. Nicht nur das formale Schulsystem, die beruflichen Aus- und Weiterbildungen und die Hochschulbildung bilden, sondern auch alle anderen non-formellen Einrichtungen. Bildung ist so viel mehr als nur der Erwerb von ein paar gebündelten Kompetenzen, die dazu befähigen, einen bestimmten Beruf auszuüben. Das Leben ist ein Prozess stetigen Bildens. Wer also lernen möchte, dem sollen auch die Mittel zur Verfügung gestellt werden. In Graz zum Beispiel wurden in Rahmen des Monat der freien Bildung Lehrveranstaltungen an öffentlichen Plätzen abgehalten. Wissen ist für alle da! In diesem Sinne geht der Monat Mai zu Ende in der Erwartung, dem Ziel ,,freie Bildung für alle“ noch näher gekommen zu sein und vor allem in der Hoffnung, mehr Bewusstsein für dieses wichtige Vorhaben in den Köpfen der Menschen erreicht zu haben.

Bildung ist viel mehr als nur der Erwerb von ein paar gebündelten Kompetenzen, die dazu befähigen, einen bestimmten Beruf auszuüben.


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Dr. Arbeitslos oder Dr. Sorglos? Begriffe wie earning potential und employality werden auch in Europa immer maßgebendere Schlagworte in der öffentlichen Diskussion über den postakademischen Werdegang Dieser Artikel soll ein kritischen Beitrag zu einer ewigen Diskussion bilden. Von Marco Stadlberger

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ls 2012 die US-amerikanische Zeitung „The Chronicle of Higher Education“ den Artikel „The PhD now comes with food stamps“ veröffentlichte, entfachte in den USA eine heftige Diskussion über die ökonomische Nützlichkeit und Verwertbarkeit von akademischen Abschlüssen. In den folgenden zwei Jahren sprangen schlagartig all jene ExpertInnen, die es schon immer genau gewusst haben wollten, aus ihren Schlupflöchern hervor und äußerten sich in einer Unzahl an schriftlichen Arbeiten darüber, wie gefährlich geisteswissenschaftliche Abschlüsse seien. Der eingangs erwähnte Artikel1 handelte von einer 43-jährigen, alleinerziehenden Mutter aus dem Wüstenbundesstaat Arizona, die sich nach ihrem Doktorat in Mediävistik von Essensmarken und staatlichen Sonderprogrammen mehr schlecht als Recht durchs Leben schlagen musste. Die Zahl derjenigen DoktorandInnen, die auf Essensmarken angewiesen sind ist in den USA mit etwa 30.000 promovierten AkademikerInnen auf hohem Niveau, verglichen mit dem Vorkrisenniveau von 10.000 (2007). Im deutschsprachigen Raum hat Der SPIEGEL vor 20 Jahren diesem Phänomen auf einem Cover den Begriff „Dr. Arbeitslos“ verpasst. „Der

Status der Akademiker, die jahrzehntelang wie selbstverständlich mit Karrieregarantie ausgerüstet waren, zerbröselt: Aus Herrn Dr. Sorgenfrei wird der Dr. Arbeitslos.“ konstatierte damals der SPIEGEL als eine Neuigkeit, die seither vor allem in Deutschland und der Schweiz periodisch als absolutes Novum regelmäßig aus den Schubladen der Redaktionen hervorgezaubert wird.2 Die USA als „Vorreiter“ dieser Entwicklung zeigen, wohin auch Europa „nachreiten“ könnte, wenn es weiter daran arbeitet, sich im tertiären Sektor dem angelsächsischen Nutzenmodell unterzuordnen: Amerikanische Studierdende werden heute ständig damit konfrontiert, welche (Aus-)Bildung sich „lohnt“:, Career Centers, Potentialanalysen, und Career Coaches informieren über den Break-even-Point eines Studiums – also jenen Zeitpunkt, zu dem die Studiengebühren voraussichtlich wieder durch einen höheren Verdienst „eingearbeitet“ werden können. Omnipräsent sind Rankings, welche das Einkommenspotenzial den potentiellen StudienbeginnerInnen vor Augen halten wollen. Die Prämisse, dass möglichst viel Geld in möglichst kurzer Zeit für alle ein erstrebenswertes Ziel sein sollte, wird dabei


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Growth in Aid Recipients with Advanced Degrees (USA) 2007

2010

DOCTORATE

20 MIO

22 MIO

101.682

MASTER PROFESSIONAL SCHOOL

TOTAL

293.029 24.864 32.719 9.776 33.655 Current Population Survey, 2008 & 2011, US Census Bureau of Labor Statistics

nicht einmal erwähnt, sondern als evident und quasi als common sense vorausgesetzt. Folgt man diesem Modell der Unterwerfung aller Lebensbereiche unter die Macht des Kapitals, müssten wir gemäß Earning Potential Ranking alle ErdölingenieurInnen, NukleartechnikerInnen und DiplomchemikerInnen werden. Auch in Österreich finden wir immer wieder Tendenzen, welche bestimmte Studienfächer als so genannte Orchideenfächer abstempeln und ihre Finanzierung in Frage stellen wollen. Vor allem die MINT Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) sowie Lehre und Berufsschule versucht die Wirtschaftskammer als die Zukunftsfächer schlechthin darzustellen.

national nicht vergleichbar ist. Die Konsequenz, welche die Reihung der amerikanischen Einkommenspotenzial-Liste suggeriert ist, dass sich, wer sich der Tyrannei des Geldes weiter unterwirft und das Leben der Atomenergie oder dem Erdöl widmet, zu den wertvollsten Personen dieser Gesellschaft gehört. Die Entwicklung hin zum angelsächsischen Modell stimmt sehr traurig. Kategorien wie gesellschaftlicher Wert, Freude am Leben oder Leidenschaft für ein bestimmtes Forschungsanliegen müssen wieder Maßstab im Hochschulsektor werden, weil nicht das Geld, sondern der Mensch und das, was ihn und seine Umgebung glücklich macht, Zentren aller Anstrengungen einer lebenswerten Gesellschaft sein sollten. Lassen wir uns nicht von der

„Die Zahl derjenigen DoktorandInnen, die auf Essensmarken angewiesen sind ist in den USA mit etwa um 30.000 promovierten AkademikerInnen auf hohem Niveau, verglichen mit dem Vorkrisenniveau von 10.000.“ Die Angst vor „Dr. Arbeitslos“ ist jedoch nicht vollständig begründet: So waren Anfang 2014 lediglich 700 AkdemikerInnen beim AMS Salzburg arbeitslos gemeldet. Nichtsdestotrotz wird die Ökonomisierung und Ausrichtung auf Nutzenmaximierung im Sinne von möglichst hoher und schneller Kapitalakkumulation und einer möglichst hohen Rendite des Humankapitals als allein selig machendes, primäres Ziel zum Teil unhinterfragt auch in den letzten Nischen unserer Gesellschaft übernommen. Begriffe wie Emanzipation, Befähigung zu einem freien, selbstständigen und eigenverantwortlichen Denken oder Selbstentfaltung kommen in keinem Hochschulindex vor. Was nicht mehr evaluiert wird, scheint auch keine Bedeutung für die Universitäten zu haben, schon gar nicht, wenn es inter-

1: Patton, Stacey (2012). „The Ph.D. Now Comes With Food Stamps“, in: The Chronicle of Higher Education, (6.5.2012), online: http://chronicle. com/article/From-Graduate-Schoolto/131795/

Allmacht des Kapitals durch den Schleier angeblich alternativloser Anpassung aller Lebensbereiche an ein enges Nutzenkalkül zu einer Monokultur von ErdölingenieurInnen versklaven! Auch die zu Beginn erwähnte Protagonistin aus dem Artikel der Chronicle of Higher Education konnte schließlich ihren tenure track als Dozentin für Geschichtswissenschaften an einem College in Tennessee beginnen.3 Es ist an der Zeit, im Diskurs den Menschen und sein Verhalten nicht mehr als Zweck zur Kapitalkumulation, sondern alle Bemühungen auch im tertiären Bildungsbereich auf das größtmögliche Glück der Gesellschaft und des einzelnen Menschen zu richten, damit die Bohrinseln samt einer Ellbogengesellschaft nicht überhand nehmen.

2. N.N (1993). „Im Sturzflug abwärts“ in: Der Spiegel, 42/1993, online: http://wissen.spiegel.de/ wissen/image/show.html?did=13692 474&aref=image036/2006/05/11/cqsp199304200920110.pdf&thumb=false

3: Patton, Stacey (2013). „From Welfare to tenure track“, in: The Chronicle of Higher Education, (25.10.2013), online: https://chroniclevitae.com/news/97from-welfare-to-the-tenure-track

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Reform des ÖH-Rechts bringt Direktwahl zurück Dürfte man bei Nationalratswahlen nur jene Parteien wählen, die im eigenen Ort auch zur Gemeinderatswahl antreten, würden wir uns zu Recht wundern – und vor allem in den kleineren von Österreichs 2.354 Gemeinden über die beschränkte Auswahl ärgern, in denen oft nur wenige Parteien vertreten sind. In der ÖH war dies zehn Jahre lang Normalzustand: 2004 hatten ÖVP und FPÖ die Direktwahl der ÖH-Bundesvertretung abgeschafft. Ein Jahrzehnt später einigten sich ÖH und die Bundesregierung nun auf eine Re-Demokratisierung des ÖHRechts. Von Kay-Michael Dankl

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m 3. April verlautbarten die ÖH-Bundesvertretung und Bundesminister Reinhold Mitterlehner, eine Einigung zur Novellierung des HochschülerInnenschaftsgesetzes (HSG) erzielt zu haben. Am 4. Juni passierte der Entwurf den Wissenschaftsausschuss des Parlaments und am 12. Juni sprach sich der Nationalrat mehrheitlich für die Gesetzesänderung aus. Somit sind die Weichen für die erste direkte Wahl der ÖH-Bundesvertretung durch rund 300.000 Studierende im Mai 2015 gestellt. Die Wiedereinführung der Direktwahl der höchsten Ebene der studentischen Interessensvertretung in Österreich ist das Herzstück der Reform. Doch warum wurde diese Wiedereinführung überhaupt notwendig? Zehn Jahre fragwürdiges schwarz-blaues Erbe. Ab Gründung der ÖH 1947 konnten Studierende bei

den zweijährlichen Wahlen jener Gruppierung ihre Stimme geben, die ihre Interessen auf Bundesebene am besten vertrat. Dies änderte sich erst, als die ÖVPFPÖ-Regierung die Regelung 2004 zu Fall brachte. Die schwarz-blaue Parlamentsmehrheit installierte stattdessen ein kompliziertes Delegiertensystem. Studierende konnten neben der Studienvertretung (StV) nur mehr ihre Hochschulvertretung (z.B. Uni Salzburg oder Uni Wien) wählen. Die Fraktionen auf Universitätsebene wiederum entsandten gemäß ihrer Stärke Delegierte in die Bundesvertretung. Dieses Delegiertensystem hatte gravierende Defizite. Beispielsweise war die Anzahl der Mandate, die pro Hochschule besetzt werden konnten, abhängig von der Studierendenzahl. Um eine Dominanz großer Unis vorzubeugen – jedeR dritteR StudentIn ist


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an der Uni Wien inskribiert, rund 92.000 Studierende –, waren kleine Hochschulen überproportional stark vertreten. Das hatte den grotesken Effekt, dass ein Mandat in der ÖH-Bundesvertretung an kleinen Hochschulen mit weniger Stimmen zu haben war als an großen. Gleichzeitig konnten Studierende nur mehr jene Fraktionen wählen, die an ihrer jeweiligen Hochschule zur Wahl antraten, und hoffen, dass deren Delegierte sich wiederum einem entsprechenden Klub in der Bundesvertretung anschlossen. Aber gerade an kleinen Unis traten oft nur wenige Listen zur Wahl an, sodass etwa Studierende am Mozarteum lange nur eine einzige Fraktion wählen konnten, während an der Uni Wien bis zu zehn Listen kandidierten. Wem du deine Stimme für die Vertretung deiner studentischen Interessen auf Österreich-Ebene geben konntest, hing also davon ab, an welcher der 56 Hochschulen du inskribiert warst. Wer hingegen an mehreren Hochschulen studierte, konnte indirekt mehrere Stimmen für die ÖH-Bundesvertretung abgeben! KritikerInnen vermuteten hinter der Reform der schwarz-blauen Regierung einen Versuch, die Mehrheit der linken und grün-alternativen Gruppen in der ÖH zu brechen. Außerdem sollte das politische Gewicht der ÖH reduziert werden, die in den Jahren zuvor als scharfe Kritikerin der schwarz-blauen Politik agiert hatte. So wurde der Anteil der Bundesvertretung am Gesamtbudget der ÖH von 30% auf 15% verringert. Die Gesetzesänderung reihte sich ein in Bildungsministerin Elisabeth Gehrers (ÖVP) Kampagne gegen universitäre Demokratie und studentische Mitbestimmung. Erst 2002 wurde die inneruniversitäre Demokratie mit der Einführung des „Universitätsgesetzes“ massiv beschnitten. Die ÖH wehrte sich 2004 lautstark gegen die Abschaffung der Direktwahl. Nachdem ÖVP und FPÖ ungeachtet monatelanger Proteste ihre Gesetzesnovelle durchgeboxt hatten, leistete die ÖH-Bundesvertretung jahrelang Überzeugungsarbeit und baute politischen Druck auf, um die Entscheidung von 2004 umzukehren. Zentrale ÖH-Forderungen werden umgesetzt. Ab der nächsten ÖH-Wahl im Mai 2015 können Studierende wieder direkt jene ÖH-Fraktion auf Bundesebene wählen, die sie politisch am überzeugendsten finden. Ein weiteres Anliegen der ÖH, das nach jahrzehntelangem Drängen nun verwirklicht wird, ist die Einführung des passiven Wahlrechts für Studierende aus Nicht-EU-Staaten. Bisher konnten beispielsweise Studierende aus der Türkei nur aktiv wählen (also einer Person oder einer Liste ihre Stimme geben), aber nicht selbst für ein Mandat kandidieren. Diese

schwerwiegende Diskriminierung von Drittstaatsangehörigen wird nun zum ersten Mal in der Geschichte der ÖH aufgehoben. Neu ist auch die Eingliederung der Privatuniversitäten in die Strukturen der ÖH. In Österreich bieten derzeit 23 Privatuniversitäten Studien an, die im Regelfall auf 1-2 Fächer beschränkt sind. Studierende an Privatuniversitäten galten bisher nicht als ÖH-Mitglieder und waren von den Vorteilen der Mitgliedschaft ausgeschlossen, wie etwa der ÖH-Versicherung, Beratung oder juristische Unterstützung. Mit der Gesetzesnovelle sollten zukünftig neben den Studierenden an Universitäten, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen auch jene an Privatuniversitäten unter das Dach der ÖH gebracht werden. Neben diesen demokratiepolitisch zentralen Neuerungen bringt die HSG-Reform eine Reihe von Verbesserungen für die laufende Vertretungsarbeit. So werden etwa die studentischen Vertretungen an Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen aufgewertet. Auch die Arbeit von HochschülerInnenschaften an öffentlichen Universitäten wird punktuell erleichtert. Wermutstropfen. Kritisch ist jedoch die Einführung der Briefwahl bei ÖH-Wahlen zu sehen, da diese nicht mit den Grundsätzen des geheimen, freien und persönlichen Wahlrechts vereinbar ist. Schon die Einführung der Briefwahl bei Nationalrats-, Landtags-, Gemeinderats- und Europawahlen war vom österreichischen Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig eingestuft worden – bevor sie in Verfassungsrang gehoben und damit unangreifbar gemacht wurde. Im Fall der ÖH wird die ÖH-Wahl im Sommersemester 2015 eine erste Bewährungsprobe des neuen Wahlrechts sein, die erstmals eine direkte Wahl der Bundesvertretung und ein volles Wahlrecht unabhängig von der Staatsbürgerschaft zulässt.

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Zwischen Willkür

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und Wahnsinn - Ein Studium in der

JedeR kennt das Gefühl: „Was mache ich denn eigentlich hier?“ In dunklen Momenten erinnert das Studium an die Nachspielzeit eines lahmen Finalspiels, das mit der Entscheidung, die Matura zu machen, anfing, und in dem kein wirkliches Ende in Sicht ist. Ein anonymes Bekennerschreiben über den (un)rühmlichen Verlauf eines geisteswissenschaftlichen Studiums an der ParisLodron-Universität Salzburg.

Retrospektive oder „Gefangen im Hörsaal der Verspannung“


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„Was ist die Uni? Die Uni ist ein hässliches Gebäude mit noch hässlicheren Räumen voll Studenten, die sich freu'n. [...] Sie leben in WGs, wo sie im Plenum diskutieren. Aber nur wenn sie nicht grad' für Klausuren büffeln oder bei StudiVZ (sic!) 'ne neue Gruppe gründen. Uni ist anders als Schule, weil nur Streber übrig sind, die nur Lesen glücklich stimmt [...]“

© bjoern (flickr)

Die Spannung stieg. Nervös saß ich vor dem Zimmer des Professors. Die Minuten verstrichen als handle es sich um Lichtjahre, ehe ich die allererste Prüfung meiner Universitätskarriere ablegen sollte. Noch dazu war ich die Vorhut. Als Erster des gesamten Kurses schritt ich wie ein Lamm zur Schlachtbank. Ich hatte gelernt. Ich war gut vorbereitet. Nicht so wie es oft in der Schule gewesen war, als ich mit null Ahnung zu Prüfungen angetreten war. Schließlich kennt man nach einigen verschulten Jahren, in dieser Kastraktionsstätte der Kreativität namens „Schule“, die Marotten und Macken der Prüfungen der verschiedensten LehrerInnen, um passierlich dem Endziel „Matura“ entgegenzutrotten. Ausserdem lässt es sich in überfüllten Klassen vortrefflich „schummeln“. Gegen diesen Terminus sollte Einspruch erhoben werden, schließlich sind die Ausgestaltungen und die mannigfaltigen Variationen des „Schummelns“ an sich eine Meisterleistung der adoleszenten Schöpfungskraft. Endlich an der Universität, dem Tempel der freien Bildung, angekommen, dachte ich, dass ich dieses schulische Verhalten endlich hinter mir lassen sollte. Nein, dieses Mal sollte und musste es anders sein. Die Tür zum Zimmer des Professors öffnete sich und ich wurde aus meinen Gedanken heraus und in das Prüfungszimmer hinein gerissen. Um es kurz zu machen, die Prüfung lief schlecht. Um nicht zu sagen: unterirdisch schlecht. Ich saß in meinem Sessel wie ein Häufchen Elend und dachte bei mir, kurz bevor es zur Notenverlautbarung kam: „Ich bekomm sicher einen Fünfer. In der Schule hab ich für solche Prüfungen immer einen Fetzen bekommen. Ich hab die erste Prüfung verhaut! Ich brech‘ das Studium ab!“ „Die Uni ist ein Sammelbecken für eine Bande pseudo-elitärer Straßenpenner [...] Und sie halten sich für klug, denn sie lasen mal ein Buch und hatten in Deutsch 'ne Eins in der Schule [...] sie sortieren ihre Stifte und markieren immer alles in den Büchern die sie lesen und noch lieber als Tomte hören sie sich selber reden “

„Naja, Herr X“ begann der Professor „sagen wir, es war ein Befriedigend, aber weil Sie ja als Allererster angetreten sind, bekommen Sie ein Gut.“ Beinahe wäre mir ein kurzer Lacher entkommen. Ein Gut? Ist der verrückt? Das war mein einziger Gedanke. Ich nickte und bedankte mich artig, so als ob ich mit nichts Anderem gerechnet hätte, und verließ das Zimmer. Ein paar Tage später, als die Note letztlich eingetragen war, hatte ich tatsächlich schon das Gefühl, als hätte ich wirklich etwas geleistet. Semester # 2 - 3: Wir sind Elite. Das Studium sollte der Neubeginn von etwas Großem sein. Von etwas Epischem, woran ich mich voller Stolz zurückerinnern würde, und das den Wendepunkt meines erkenntnistheoretischen Horizontes markieren sollte. Denn immerhin war ich nun ein Student. Und das heißt schon was, wenn man an der Universität studiert. Zumindest als Erstgeborener seines Geschlechts, der es bis in die Räumlichkeiten geschafft hat. Und auch wenn man es sich niemals selbst eingestehen würde, so hält man sich fortan dennoch, und wenn es nur ein ganz klein wenig ist, für etwas Besseres. Nun konnte ich auf das „gemeine Volk“ hinabblicken und sagen: „Ich bin Student an der Universität Salzburg!“ „Was ist die Uni? Der Inbegriff einer widerlich stinkenden Inzestfabrik [...] heraus kommen Kommilitonen [...] Ein ewiger Zyklus, ein ekliger Fötus. Später ganz wie die Eltern ein Hippie, ein Öko, ein Fan von Mandela und Gandhi [...]“ Hier wird „wissenschaftlich“, was auch immer das heißen mag, gearbeitet. Kein Wort wurde in den folgenden Semestern inflationärer gebraucht. Es schien so, als müsse man lediglich jedem Substantiv das Adjektiv „wissenschaftlich“ hinzufügen, um nicht als vollkommener Idiot dazustehen. Manche Wörter eignen sich hierfür besonders gut, wie zum Beispiel „Arbeit“. Dadurch wird doch immerhin suggeriert, dass es sich um eine anstrengende Tätigkeit handele, die wir hier leisten, von der der Rest der Gesellschaft, wenn diese auch in einer für ihn unverständlichen Sprache verfasst wurde, unweigerlich profitieren würde. Hier werden Texte zu den verschiedensten und vor allem unverständlichsten Themen veröffentlicht. Keiner versteht, was geschrieben steht, aber jeder muss darüber sprechen und diskutieren. Oberste Devise lautet hier: „Wenn du etwas nicht verstehst, gib es niemals zu!“ Semester # 4 - 9: Das Ab- und Nachsitzen. Die nächsten Semester verliefen fast alle ähnlich. Ich

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machte Party, unterschrieb bei diversen Seminaren und ging nach fünf Minuten wieder, wurde dabei sogar erwischt, wie ich für jemand anderen unterschrieb. Außer dass man mir auf den kleinen Finger geklopft hätte geschah mir nichts. Ich saß also meine Zeit ab. Schon fast wie im Knast. Ich hoffte, wenn ich mich ganz brav und still verhielt, auf eine frühzeitige Entlassung durch gute Führung. Ich bekam jedoch eine Haftverlängerung, weil ich manchmal zu still war und halt nix machte. Die Lehrveranstaltungen vergingen dementsprechend elendiglich langsam. Ich saß im Hörsaal der Verspannung (Thomas Bernhard im Unipark) mit meinen eigentlich durchschnittlich langen Füßen, doch brachte ich meine Knie nicht recht unter. Flucht war unmöglich, da etwa zehn andere Mitleidende hätten aufstehen müssen. Das Elend musste ertragen werden. Wenn schon nicht um meinetwillen, dann um den Willen der Anderen! Zu allem Übel bekam ich auch noch von den grauschwarzen Wänden und dem nicht minder fröhlichen Mobiliar depressive Anfälle. Gerne hätte ich mich erhoben und hätte mich vom Dach des Uniparks gestürzt. Doch das ging nicht! Ich war viel zu verspannt! Glücklicherweise fuhr draußen vor dem einen großen Fenster des Thomas Bernhard-Hörsaals, das durchaus auch als die Brücke eines Sternenzerstörers fungieren hätte können, ein bunt gekleideter Radfahrer vorbei und vertrieb die suizidalen Geister, die durch das Gebäude hervorgerufen wurden. Welcher Idiot hat sich das bitte einfallen lassen? Von Farben noch nie was gehört? Sind wir hier in einer Leichenhalle? Und überhaupt die Hörsäle und Büros. Von außen kann man wie in einen Glassarg hineinschauen. Manch ein „Insasse“ schon mehr totes Schneewittchen als lebendig, windet sich auf seinem Stuhl, der dem Hintern kein wohltuender Gefährte sein will, und siecht dahin, bis es denn endlich um ist. Im Generellen waren die Vorlesungen ein Graus. „[...] Sie sind politisch interessiert und engagieren sich im Asta und sie fahren alle furchtbar gerne Fahrrad. Sie tragen Second-Hand, Trainingsjacken und ha'm alle Dreadlocks. Bei Vorlesungen schreiben sie alle mit auf ihren Laptops und hören immer zu, obwohl sie gar nichts versteh'n. 1933 wär'n sie alle Nazis gewesen.“ Da in den Vorlesungen tatsächlich nur vorgelesen wurde, beschloss ich nach kurzer Zeit, keine Vorlesungen mehr zu besuchen. Lesen konnte ich zuhause auch. Und ich las zuhause. Oder sagen wir besser, ich las nicht zuhause, und ich besuchte auch keine Vorlesung mehr. Außerdem hat die Hauptbibliothek

wesentlich interessantere Literatur auf Lager als so mancher Literaturhinweis aus einer Lehrveranstaltung. Dies führte dazu, dass ich bis zur Beendigung meines gesamten Studiums eine einzige Vorlesung in ihrer Gesamtheit besuchte. Dies hatte aber auch einen Grund, und zwar jenen, dass der Professor die Leute kannte, die bei ihm in der VO saßen, und diese dann bei der Prüfung nicht durchfallen ließ. Genügend ist Gut und Gut ist ein Zweier oder Vier gewinnt. Semester # 10 - 13: Das Finale. Da ich letztlich keine Vorlesungen mehr besuchte und sonst auch recht wenig auf der Uni vertreten war, machte ich alles andere natürlich in ausreichenden Mengen und Variationen. Was dazu führte, dass ich nach etwa fünf Semestern doch schön langsam den ersten Abschnitt absolvieren wollte, dies aber nicht konnte, weil mir drölftausend Vorlesungen abgingen. Der Masterplan bestand also darin, dass ich mit möglichst geringem Aufwand, in möglichst geringer Zeit, soviele Prüfungen wie möglich absolvierte und dabei möglichst nicht durchflog. Die Prüfungen wurden kurz überschlagsmäßig berechnet und es kam die gigantische Zahl von 15 Vorlesungen heraus, die ich am Ende des fünften Semesters absolvieren wollte. Seminare und sonstiges Gedöns Zeugs waren hier nicht eingerechnet. Ehrlicherweise muss man hier sagen, dass ich auch nicht mal im Entferntesten daran dachte, zu lernen. Zumindest nicht an stures Auswendiglernen. Betrügen musste hier das Mittel der Wahl sein, und ich betrog, dass sich die Balken nicht nur bogen. Eigentlich hätten sie brechen und mich unter ihnen begraben müssen. Doch das taten sie nicht und ich entkam. Schaffte 14 der 15 VO Prüfungen und marschierte, als ich auch noch die letzte mit Lug und Trug bestanden hatte, mit wehenden Fahnen in den zweiten Abschnitt ein. „[Ihr] schreibt Texte über Texte und lest Bücher über Bücher. Und zu allem Überfluss lest ihr Bücher über Bücher und schreibt Texte über Texte, wie unkreativ. Merkt ihr nicht das außer euch kein Mensch so etwas ließt. [...] was bringt es bitte diese weltfremden Bücher zu lesen und zu versteh‘n. Ihr könnt noch nicht mal Glühbirnen wechseln.“ Zu meinem Glück wurden die Vorlesungen weniger und die Pflichtveranstaltungen mehr. Auch hier riss ich mich mehr zusammen und ich bestand diese, vor allem deshalb, weil ich bei den Präsentationen brillieren und die Arbeiten anscheinend gut schreiben konnte. Sehr gut. Wobei man auch die Seminare mit ihren hunderten Präsentationen echt in den Mistkübel hätte treten können. Ein mühsames Gribambori-


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um, bei dem man über Themen referieren musste, die einen eigentlich eh nicht interessierten, denn jemand anderes hatte das interessante Thema schon ergattert und man musste sich dann mit den Abfallprodukten der wissenschaftlichen Nebenhöhlen zufrieden geben. Hier entschloss ich mich zu einem Boykott, der mir nicht so recht gelingen wollte.

Die Präsentationsvorbereitungen wurden gegen Ende meines Studiums immer kürzer. Ich versuchte, die Banalität des Themas dadurch herauszukehren, sodass ich beinahe nichts mehr auf Folien brachte. So redete ich zu einem Thema teilweise 45 Minuten und hatte in Summe mit Deckblatt und Übersicht fünf Folien beieinander. Im Generellen wurde ich dann auch noch zum Handoutverweigerer, da ich gar nicht einsah, weshalb ich hunderte und aberhunderte von Zettel kopieren sollte, die dann letztlich sowieso niemanden interessieren und in besagten Mistkübeln landen würden. Meine Ausrede: „Ich bringe das Handout nach.“ Hat immer gezogen, und ich wurde kein einziges Mal dafür gemaßregelt geschweige denn im Nachhinein darum gebeten, es tatsächlich nachzubringen. So musste vielleicht ein Baum weniger sterben. Bei meinem letzten Referat in meiner Unilaufbahn wollte ich es dann wissen und bin vollkommen ohne Powerpointpräsentation und Handout aufgetreten. Hab ein bisschen gelabert – und siehe da, es hat trotzdem gepasst. Der Vortrag wurde sogar als sehr ausführlich und informativ bezeichnet. Und so kam es schließlich, dass nur noch zwei Vorlesungen übrig waren, die ich brauchte, um das Studium abzuschließen. Die Diplomarbeit zähle ich hier jetzt nicht mit. Ich war bei der ersten Vorlesung, da es der dritte Termin war, sehr gut vorbereitet. Betrügen ging hier nicht. Ich hatte mir das Wissen einen Monat lang reingestopft. Schon fast fresssüchtig schob ich mir ein Kapitel nach dem Anderen in den gierigen Geistesschlund und konnte es dann endlich am Tag des Prüfungstermins hinauskotzen in die Welt und auf das Papier, mit dem bedeutungsschwangeren Stempel der Universität. Bulimielernen nennt man das in der Fachsprache. Eine Woche später konnte ich schon nicht mal mehr sagen, worum es in der Prüfung ging. Schade eigentlich. Doch für Wehmut blieb keine Zeit. Es wollte noch eine Prüfung bestanden werden. Also

© ActiVision®...~

„Und sie kaufen sich Kaffee von unabhängigen Händlern aber fressen für 2 Euro jede Scheiße in der Mensa. Und sie träumen von der Revolution, während der Arbeit an der nächsten Power-Point Präsentation Und sie rennen durch die Uni für ein Paar sinnlose Scheine [...]“

musste wieder Bulimielernen her, um alles aufzusaugen, was nötig war, um zu bestehen. Eine Kotzorgie später hielt ich dann meinen letzten Schein in Händen. Semester # 0: Fazit. Rückblickend muss ich zugeben, dass ich gerne vieles anders gemacht hätte. Ich hätte gern mehr gelernt. Ich hätte gerne bessere Noten bekommen. Ich hätte mich gerne vom Dach des Uniparkes gestürzt, wenn ich nicht so verkrampft gewesen wäre. Alles Wünsche, die nicht umgesetzt wurden. Ich hoffe jedoch, dass sich eines Tages die Ohnmacht der Studierenden legen wird und ein Orkan das faschistoide Bologna-System überrumpeln wird. Zu viele sind im Moment noch wie ich, oder noch schlimmer: Sie hetzen von Semester 1 bis zum Abschluss von LV zu LV, als sei es wichtiger, in der Mindeststudienzeit fertig zu werden, als eigenständig und kreativ Wissen zu produzieren. Nur keine Autorität hinterfragen… Aber leiden tun wir alle. „Was ist die Uni ? [...] studier‘n ist für mich noch schlimmer, als zur Bundeswehr zu geh‘n. Frieden sichern, Leben retten - meinetwegen! Aber Studenten fehlt das Rückgrat, Studenten sind Schreibtischtäter.“1 Dennoch möchte ich diese Reise, wie ich sie begangen habe, nicht missen. Habe ich doch auf meine Art und Weise gelernt, wie ich mit Problemen umgehe, ohne zu verzweifeln (oder mich von irgendeinem grauen Flachdach zu stürzen). Ich habe gelernt, wie ich aus schier auswegloser Scheiße herauskriechen und dabei sogar noch glänzen kann. Ich habe gelernt, dass viele Universitätsprofessoren keine Ahnung vom wahren Leben haben und dass die Sonne auch nur mit Wasser kocht, die gelbe Sau.

1: Frei zitiert nach: Antilopengang - F*** die Uni http://bit.ly/1oLBCgg


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© Uni Salzburg

Link zum Facebook-Event:

Young Investigator Symposium in Salzburg JungwissenschaftlerInnen aufgepasst! – Treffen für junge NaturwissenschaftlerInnen im Vorfeld der European Muscle Conferenc im September an der NAWI. Von Markus Kröss

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m Mittwoch, den 10. September, findet an der NAWI ein naturwissenschaftliches Young Investigator Symposium statt. Es bildet den Auftakt zur viertägigen European Muscle Conference (EMC), die von 10.–14. September 2014 in Salzburg abgehalten wird. Die EMC ist eine der weltweit wichtigsten Konferenzen zum Thema Muskeln und wird jährlich in einer anderen europäischen Stadt veranstaltet. Es werden bis zu 300 Experten aus Europa, den USA, Japan, Australien und vielen anderen Ländern erwartet. Das Young Investigator Symposium ist für angehende NaturwissenschaftlerInnen aller Fachrichtungen offen und soll den wissenschaftlichen Austausch fördern. Weltweit führende WissenschaftlerInnen werden zur Bedeutung von Grundlagen- und angewandter Forschung, zu Fragen des wissenschaftlichen

Alltags und zur wissenschaftlichen Karriere Stellung beziehen. Daneben wird es die Möglichkeit des Networkings zwischen wissenschaftlichem Nachwuchs und erfahrenen WissenschaftlerInnen geben. Die Themen des Salzburger Kongresses umfassen alle Gebiete von der Grundlagenforschung bis zur angewandten und klinischen Forschung. Unter anderem werden die neuesten Erkenntnisse zur molekularen Funktion der Muskelkontraktion vorgestellt. Großes Gewicht wird auch auf Veränderungen der Muskulatur bei Training, Regeneration und im Alter gelegt. Laufende Informationen zum Kongress und zum Young Investigator Symposium finden sich auf der Kongress-Homepage (www.emc2014.com) und auf Facebook. Um eine Anmeldung für das Symposium auf der Kongresshomepage wird gebeten. Der Eintritt ist frei!


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„Lernen macht Schule“- Eine Initiative mit Zukunft Von Verena Schaber

„Lernen macht Schule“ bietet Studierenden die Möglichkeit ihre sozialen und pädagogischen Kompetenzen zu erweitern.

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ind Sie sozial interessiert? Haben Sie Freude daran, jungen Menschen aus sozial benachteiligten Familien in Salzburg Zeit zu schenken und ein Stück Welt zu öffnen? Dann ist das neue Mentoring- Projekt „Lernen macht Schule“ genau das Richtige für Sie. Das Projekt ist eine Initiative, die gegen die Tatsache antritt, dass Armut im Elternhaus massiv die Chancen auf Bildung einschränkt. Denn: Bildung ist ein Schlüssel zum friedlichen Zusammenleben in unserer Gesellschaft! „Lernen macht Schule“ ist ein Freiwilligenprogramm, das Studierenden aller Studienrichtungen die Möglichkeit bieten will, sich ehrenamtlich im Sozial- und Bildungsbereich zu engagieren. Dieses Projekt wurde 2010 an der WU in Wien ins Leben gerufen- im Wintersemester 2014/2015 wird das Projekt zum ersten Mal in Salzburg durchgeführt. Ziel dabei ist es, Lernen und Integration durch den Austausch zwischen Studierenden und jungen Menschen aus sozial benachteiligten Familien zu fördern. Damit sollen Kinder und Jugendliche unterstützt werden, die aufgrund von Armut und sozialer Exklusion große Barrieren im Zugang zu Bildung überwinden müssen. Gestartet wird „Lernen macht Schule“ in Salzburg von folgenden Initiatoren: Salzburg Ethik Initiative (SEI), Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg (ZEA), Caritas Salzburg und internationales forschugszentrum für soziale und ethische fragen Salzburg (ifz). Beginnend mit Herbst 2014 betreuen Studierende der Universität Salzburg nach Absolvierung ausgewählter Seminare einmal pro Woche Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien in Kooperation mit der Caritas Salzburg. Neben dem gemeinsamen Lernen für Prüfungen oder Schularbeiten und der Förderung der persönlichen Entwicklung wird auch Zeit für gemeinsame Freizeitgestaltung bleiben. Beraten, begleitet und supervidiert werden die Studierenden der Universität Salzburg von erfahrenen MitarbeiterInnen aus dem sozialpädagogischen Arbeitsbereich. „Lernen macht Schule“ bietet Studierenden die Möglichkeit ihre sozialen und pädagogischen Kompetenzen zu erweitern, ein „Bildungsvorbild“ zu sein und darüber hinaus die Arbeitsweise einer Non-ProfitOrganisation kennen zu lernen. Weitere Informationen zu diesem Projekt finden Sie auf den beiden Webseiten www.lernen-macht-schule. at und www.ifz-salzburg.at.

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Mythen über Veganismus Was ist dran an den Vorurteilen gegenüber einer pflanzlichen Lebensweise? Von Elisabeth Feldbacher

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ythos Nr. 1: Veganismus ist nur ein vorübergehender Trend, der bald wieder vorbeigehen wird.  Falsch. Wenn Lifestyle-Magazine die rein pflanzliche Lebensweise als aktuellen Trend ausrufen, haben sie zwar damit Recht, dass es immer mehr vegan lebende Menschen gibt. Aber der Gedanke, auf tierische Produkte und somit auf die Ausbeutung von Tieren zu verzichten, ist nicht neu. Im Gegenteil, bereits um 500 v. Chr. ernährte sich der griechische Philosoph Pythagoras rein vegetarisch. Der Ausspruch „Solange es Schlachthäuser gibt, wird es auch Schlachtfelder geben“ stammt aus der Feder des russischen Schriftstellers und Philosophen Leo Tolstoi (1828–1910). Und würde Albert Einstein (1879–1955) in der heutigen Zeit leben, hätte er bei seiner Prophezeiung „Nichts wird die Chance auf ein Überleben auf der Erde so steigern wie der Schritt zu einer vegetarischen Ernährung“ den Begriff „vegetarisch“ vielleicht durch „vegan“ ersetzt. Warum das so wäre, wird sich im Laufe der Lektüre noch herauskristallisieren. Mythos Nr. 2: Eine Ernährung ohne Fleisch, Fisch,

Eier, Milch und Honig ist einseitig. Der Mensch braucht tierische Produkte, um gesund zu sein.  Falsch. Genau die Lebensmittel, die uns die Lebensmittelindustrie immer als gesund verkaufen möchte, sind schuld an den zahlreichen Zivilisationskrankheiten wie Herz- und Kreislauferkrankungen, Übergewicht, Diabetes, Alzheimer und Krebs. Betrachten wir zum Beispiel die vermeintlich so gesunde Milch. Allein in einem Glas Kuhmilch sind 75 Mio. Eiterzellen, Cholesterin, zahlreiche Hormone und 12g Fett enthalten. Entgegen der Lügen der Milchindustrie versorgt Milch den Körper nicht mit wichtigem Kalzium, im Gegenteil, das Milcheiweiß entzieht dem Körper wichtiges Kalzium! Wer das alles nicht glauben kann, sollte sich seiner Gesundheit zuliebe dringend genauer informieren und zum Beispiel das Buch „The China Study“ von T. Colin Campbell lesen oder sich den deutschen NDR-Dokumentarfilm „Die Milch-Lüge“ auf Youtube ansehen. Mythos Nr. 3: Wenn ich Fleisch, Eier und Milch aus Bio-Landwirtschaft esse, schade ich damit niemanden. Die Tiere hatten ein glückliches Leben und werden human geschlachtet.

Eine Auswahl an Restaurants in der Stadt Salzburg, wo man leckere vegane Gerichte serviert bekommt: Vegane/Vegetarische Lokale: The Hearth of Joy Café, Franz-Josef-Straße 3 The Green Garden, Nonntaler Hauptstraße 16 Spicy Spices, Wolf-DietrichStraße 1 Gasthof Entenwirt, Hauptstraße 61, 5164 Seeham Vegane Optionen: Indigo (4x in Salzburg) Vitalbistro Leichtsinn, Elisabethstraße 1 Coco, Saint-Julien-Straße 21 BioBurgerMeister, Linzer Gasse 54 Guerilla Burger, Nonntaler Hauptstraße 9


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© Jennifer (Flickr)

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 Falsch. Oft sind die Haltungsbedingungen von BioBetrieben um keinen Deut besser als in konventionellen. Und auch wenn die Tiere das schönste Leben gehabt hätten, müssen sie letzten Endes für einen frivolen Gaumenkitzel sterben. Kein „Nutztier“ wird zu Tode gestreichelt, jede Ermordung ist ein Akt der Grausamkeit und diejenigen, die die Produkte konsumieren, machen sich mitschuldig an dem Leiden unzähliger Tiere. Es ist kein besonders gutes Zeugnis für unsere Zivilisation, dass wir täglich weltweit mehr Tiere in unseren Schlachthöfen töten als bisher Menschen in allen Kriegen der Geschichte zusammen. Der Begriff „humanes Schlachten“ ist ein Euphemismus, den es eigentlich gar nicht geben sollte. Es ist eine Schande, wenn man von der Tötung eines Lebewesens spricht, das Wort „human“ in den Mund zu nehmen. Auch der Begriff „artgerechte Nutztierhaltung“ ist höchst irreführend. Artgerecht ist nur die Freiheit! Darum ist es sehr bedenklich, dass sich wir Menschen uns das Recht herausnehmen, Tiere zu nutzen, besser gesagt auszunutzen, nur weil wir es können. Wenn wir eine friedliche und lebenswerte Zukunft möchten, müssen wir diesen Krieg gegen unsere unschuldigen Mitgeschöpfe beenden. Jedes Lebewesen hat das Recht auf Leben und es ist unsere moralische Pflicht als vernunftbegabte und mitfühlende Wesen, dieses zu achten. Mythos Nr. 4: Veganismus ist auf keinen Fall etwas für mich. VeganerInnen sind ExtremistInnen.  Falsch. Auch das ist eine Frage der Betrachtungsweise: Während FleischesserInnen und VegetarierInnen es extrem finden, auf Fleisch, Fisch, Milch, Eier und Honig zu verzichten, finden VeganerInnen es im Gegensatz dazu extrem, dass täglich bis zu 43.000 Kinder an Hunger sterben, während ca. 40% der weltweit gefangen Fische, ca. 50% der weltweiten Getreideernte und ca. 90% der weltweiten Sojaernte an die „Nutztiere“ der Fleischund Milchindustrie verfüttert werden. Außerdem finden es VeganerInnen extrem, dass z.B. in

Deutschland jährlich 50 Mio. männliche Küken zermust oder vergast werden, die reine Abfallprodukte der Eierindustrie sind. Es ist extrem, dass Milchkühe ständig geschwängert werden und ihnen nach der Geburt ihr Kalb entrissen wird, nur damit die Menschen artfremde Milch trinken können, die wiederum ihre Gesundheit ruiniert. Des Weiteren ist es extrem, dass der Konsum von Fleisch, Milch und Eiern für mindestens 51% der weltweiten von Menschen ausgelösten Treibhausgasemissionen verantwortlich ist, somit die Klimakatastrophe auslöst und die Existenzgrundlage nachfolgender Generationen zerstört. Speziesismus, ein von dem britischen Psychologen und Tierethiker Richard D. Ryder ins Leben gerufener Neologismus, der die Diskriminierung von Individuen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit bezeichnet, wird in Zukunft hoffentlich genauso geächtet sein, wie Rassismus oder Sexismus. Mythos Nr. 5: Als VeganerIn kann man ja fast nix mehr essen.  Falsch: Sicher bedeutet eine vegane Lebensweise zunächst einmal eine Umstellung, ist aber entgegen vieler Vorstellungen nicht von Verzicht oder eintönigem Essen geprägt. Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte und Getreide bilden die Basis einer gesunden veganen Ernährung, und wer zusätzlich oder bei der anfänglichen Umstellung zu Ersatzprodukten wie Reismilch, Tofu oder Sojaschnetzel greift, wird mittlerweile in fast jedem Supermarkt fündig. Es gibt zahlreiche vegane Kochbücher und Blogs, und für beinahe jede Leibspeise existiert ein veganes Pendant. Nach einer anfänglichen Gewöhnungsphase wird man nach einiger Zeit nichts mehr vermissen, im Gegenteil, die rein pflanzliche Küche gestaltet sich sehr bunt und abwechslungsreich. Und wer nicht gerne selber kocht, hat auch in Salzburg ein relativ breites Angebot an Lokalen, die vegane Gerichte anbieten. Also, was hält dich noch auf? Werde Vegan! Für dich. Für die Tiere. Für die Umwelt.

Film- und Surftipps: www.earthlings.com www.provegan.info www.vegan.at Toller Blog einer Veganerin, die in Salzburg lebt: www.totallyveg.blogspot. co.at


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Mitarbeiten und Mitgestalten für selbstbestimmtes Essen Von Erik Schnaitl & Antonia Osberger für die „Erdlinge“

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rnährungssouveränität ist nicht erst wieder seit dem im April 2014 in Goldegg abgehaltenen Nyéléni Kongress ein Thema. Notwendige Veränderungen und Gestaltungsmöglichkeiten des Agrar- und Ernährungssystems werden weltweit seit einiger Zeit diskutiert. Unzählige Initiativen haben sich gebildet und auch in Österreich macht sich ein Trend hin zu kooperativen landwirtschaftlichen Zusammenschlüssen bemerkbar. Das Wissen zur (Re-)produktion von Lebensmittel liegt in immer weniger Händen, oftmals nur mehr bei multinational agierenden Konzernen. Wer weiß zum Beispiel noch, wie aus einer Karotte wieder ein Karottensamen oder aus einem Krautkopf kleine Krautsamen für die nächste Gartensaison gewonnen werden? Wer ist sich schon dessen bewusst, dass Hybridzuchthühner kaum mehr in der Lage sind, Eier auszubrüten, geschweige denn Küken aufzuziehen? Ernährungssouveränität in Form von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ist aber ohne dieses Grundwissen nicht möglich. In der Deklaration des weltweiten Forums für Ernährungssouveränität (Mali, Februar 2007) heißt es unter anderem „…[Ernährungssouveränität] ist das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen.“

Genau an diesen Grundgedanken möchte der im Dezember 2013 in Salzburg gegründete Verein „Erdling“ anknüpfen – Menschen einzuladen, für selbstbestimmtes Essen gemeinsam Bedingungen zur Mitgestaltung und Mitarbeit zu schaffen. Die derzeit manchmal nahezu unüberbrückbar scheinenden Grenzen zwischen jenen Personen, die Lebensmittel erzeugen und jenen, die Lebensmittel konsumieren, sollen verwischen. Sie sollen näher zusammenrücken und dabei zu PartnerInnen werden, indem VerbraucherInnen selbst auch an der Produktion mitbeteiligt und mitverantwortlich sind. Wie wollen wir dies erreichen? Wir glauben durch die Gründung einer kooperativen Landwirtschaft Menschen für die Lebensmittelerzeugung und deren Verarbeitung zu begeistern und Interesse für einen zukunftsfähigen Landbau mit alternativen Vermarktungsformen zu wecken. Gemeinsam wollen wir Land in und um die Stadt Salzburg pachten, um darauf Obst, Beeren und Gemüse anzubauen. Ziel ist es, ganzjährig regionale, saisonale, ökologische und sozial faire Lebensmittel für 100 bis 150 Personen zu produzieren. Zur Umsetzung des Grundgedankens der Ernährungssouveränität haben wir im Verein drei Schwerpunkte gesetzt:


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Die Anlage von Streuobst- bzw. Beerenwiesen mit regionaltypisch, standortökologisch angepassten Obstgehölzen und Sträuchern trägt zum Erhalt der Sorten- und Artenvielfalt bei und sichert die Versorgung mit gutem, gesunden und ausreichendem Obst. Begleitend werden Bienenbeuten zur Bestäubungssicherheit aufgestellt. Eine erste Streuobstwiese wurde Anfang April in Liefering Nähe der Salzachseen mit 20 Hochstammobstbäumen gepflanzt. Seit Mai besteht auch eine Kooperation mit einem Beerenland in Elsbethen. Ab Ende Juni dürfen sich die Mitglieder bereits auf die erste Ernte freuen. Unser nächster und weitreichender Schritt ist der Aufbau einer gemeinschaftlichen Landwirtschaft (GeLa). Auf zwei bis vier Hektar sollen unterschiedliches Gemüse und diverse Kräuter, auch in Folientunneln zur Verlängerung der Erntesaison, für die wöchentliche Versorgung der Mitglieder angebaut werden. Zur Abrundung der ökologischen Kreislaufwirtschaft ist eine Kleintierhaltung in Form eines Streichelzoos vorgesehen – mit dem erhofften Nebeneffekt, dass vor allem durch Besuche mit Kindern die gesamte Landwirtschaft mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhält und das Interesse an Ernährungssouveränität über die Mitglieder hinaus wächst. Diesbezüglich wurden Gespräche mit GrundstücksbesitzerInnen geführt und

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mögliche Kooperationen ausgelotet. Jedoch befinden wir uns nach wie vor auf der Suche nach einer geeigneten landwirtschaftlichen Fläche, gerne auch in Zusammenarbeit mit erfahrenen LandwirtInnen. Als dritte Stütze wird zur Erweiterung der Selbstständigkeit, als ein wichtiger Bestandteil von Ernährungssouveränität, ein vielseitiges Kursangebot aufgebaut. Durch die Vielfalt der beteiligten Personen werden der Austausch und das Voneinanderlernen gefördert. Das so eingebrachte und zusammengetragene Erfahrungswissen in der Landwirtschaft wird allen zugänglich gemacht. Anstelle einzelner fachkundiger ExpertInnen wachsen daraus viele. Beispiele für Möglichkeiten des Wissenstransfers liegen unter anderem in den Bereichen Saatgutvermehrung, Sensenmähen, Holzhacken, Kompostierung und Bodenaufbereitung, Obstbaumschnitt und Obstbaumveredelung, Kräuterwanderung, Wildbienen-Nisthausbau, Weidenflechten, Herstellung von Salben, Einkochen von Kräutersirupen und Marmeladen. All diese Arbeiten werden einerseits durch die Mitarbeit der Vereinsmitglieder, je nach verfügbarer Zeit in Form von koordinierten Arbeitseinsätzen, und andererseits unter professioneller Anleitung von GärtnerInnen für eine qualitativ hochwertige Ernte getragen.


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The Joy of flying

Den Traum vom Fliegen träumte ich schon länger. Immer wieder fand ich die Zeit um in den Himmel zu starren und mir vorzustellen, wie es sein würde, dort oben zu fliegen. Da das Fliegen in einem Flugzeug mir nicht die ersehnte Erfüllung gab und es auch ökologisch und monetär kritisch beurteilt werden muss, mussten Alternativen gefunden werden. Von Stefan Soucek

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n den vielen Momenten, die ich auf den Bergen verbrachte, begegnete ich immer wieder Gleitschirmfliegern, die meinen Traum lebten. Sie verbanden das Bergsteigen und Wandern mit dem Traum vom Fliegen. Doch wie kann es realisiert werden, dass Fußgänger zu fliegen beginnen – und was braucht es überhaupt dazu? Durch Zufall entdeckte ich auf der Seite des Universität Sport Instituts Salzburg (USI) einen ParagleitGrundkurs, der in Werfenweng abgehalten wurde. Ich meldete mich zum Kurs an und nach kurzer, netter Vorbesprechung mit dem Kursleiter und Paragleitpro Stefan Rebernig von der Flugschule Austriafly spürte ich, dass ich bald buchstäblich den Boden unter den Füßen verlieren würde. Nun galt es, die Grundtechniken des Gleitschirmfliegens zu erlernen, sich mit dem Material und der Hundertschaft von Leinen vertraut zu machen. Etwas skeptisch wurde ich das erste Mal, als ich den so unscheinbar wirkenden Gleitschirm vor mir liegen sah und mir bewusst wurde, dass mein Leben an einem Stück Stoff hängen würde. Doch viel Zeit zum Überlegen blieb gar nicht – auf zum Übungshang! Der wirkte schon sehr mächtig und versprach Adrenalinschübe, doch zunächst war es eine schweißtreibende Angelegenheit, die ersten Vorbereitungen zu meistern. Nach einer genauen Einführung ins Mate-

rial sowie einer kurzen Instruktion in Aerodynamik ging es los. Die Leinen ordnen, den Schirm auslegen, einhängen und loslaufen. Der Schirm bewegte sich hinter mir in die Lüfte, aber vom Fliegen war ich noch weit entfernt. Runter rennen so schnell es geht, Schirm ablegen, zusammenpacken und wieder rauf auf den Übungshang. Immer begleitet von hilfreichen Tipps der Trainer Stefan und Sepp Rebernig. Also wieder rauf auf den Berg und ein Stück höher. Das Gleiche nochmal. Und nochmal. Ungezählte Male an diesem Tag erklomm ich den Übungshang und lief ihn wieder bergab. Ich glaubte schon fast, mir vorstellen zu können, wie sich der arme Sisyphos gefühlt haben muss, doch Spaß machte mir die Sache immer noch, und mein Interesse war inzwischen mehr als geweckt worden. Das Gefühl für den Schirm muss man erst einmal entwickeln, hieß es, und ich wusste noch immer nicht, was mein Schirm eigentlich von mir wollte. Doch dann kam der Moment, als meine Füße das erste Mal den Bodenkontakt verloren. Man merkt, dass der Schirm fliegen und dich in die Luft mitnehmen möchte. Die ersten Male brachten nur ein kurzes Abheben vom Boden, und doch schon einen kleinen Vorgeschmack auf das, was da noch kommen würde. Am Nachmittag ging es dann mit Theorie weiter. Wir lernten über Aerodynamik, Wetter, Flugrecht und


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und und. Von den unzähligen Übungshangbesteigungen etwas müde geworden, brachte die Theorie noch mehr Sicherheit darüber, dass es wirklich möglich sein würde, zu fliegen. Am nächsten Morgen gingen wir schon etwas höher auf den Übungshang, und plötzlich verlor ich für mehrere Sekunden den Boden unter den Füßen. Ein unglaubliches Gefühl, das man erst zu schätzen weiß, wenn man wieder festen Boden unter sich spürt. Durch das Funkgerät gaben mir meine Trainer Anweisungen: aufziehen, loslassen, anbremsen und laufen, laufen, laufen. Immer höher geht es hinauf und immer höher fliegt man mit dem Schirm – oder der Schirm mit einem. Nach einem Wochenende hat man schon ein bisschen mehr Gefühl für das Material und die Anforderung des Paragleitens entwickelt, also ging es auf zum ersten Höhenflug. 800 Höhenmeter in St. Johann i. Pg.. Während ich noch im Bus saß, kreisten meine Gedanken um die Frage, warum ich das überhaupt machen würde. Ein Absturz würde aus dieser Höhe langsam wirklich wehtun. Doch nichts konnte mich aufhalten: Schirm auslegen, einhängen und warten, bis die erste Waghalsige vor mir startet. Sie ist in der Luft – es sieht alles so spielerisch und einfach aus! Einfach loslaufen und ab die Post. Wird schon schiefgehen!

Schließlich bin ich bin an der Reihe. Kurz noch mal die Augen schließen. Den Ablauf durchgehen. Hab ich alles geschlossen und kann ich auch nicht herausfallen? Ich ziehe meinen Schirm auf und laufe los. Ich spüre einen Zug – und weg bin ich! Ich fliege!! Man sieht unter sich den Wald und die Straßen vorbeiziehen. Die Autos so klein wie Spielzeug, und es ist einfach wunderbar, die Umgebung von oben zu sehen. Inmitten der Pongauer Bergwelt schwebe ich nach zehn Minuten in der Luft zu Boden – nun heißt es nur noch, sich gut auf die Landung vorzubereiten. Sepp, der mir von unten genau zusieht, weist mich über Funk ein. Der Boden kommt Stück für Stück näher. Kontakt. Auslaufen und … gelandet! Das Gefühl ist berauschend. Ich bin echt geflogen. Unfassbar. Hätte man mir im Vorfeld gesagt, dass ich binnen zwei Wochenenden vom Fußgänger zum Anfängerpiloten aufsteigen kann, hätte ich es bestimmt nicht geglaubt. Ich kann fliegen. Mit Hilfsmitteln, aber ich kann fliegen. Ich kann den Wind in meinem Gesicht spüren und meine Füße hunderte Meter über den Boden baumeln lassen. Sollte der/die eine oder andere nun auch Lust auf das Gleitschirmfliegen bekommen haben, schaut rein in die USI Kurse bzw. wendet euch direkt an die Flugschule AustriaFly. Stefan und Sepp stehen euch bestimmt mit Rat und Tat zur Seite. Erlebt selbst die Faszination der Lüfte und fühlt den Joy of Flying.

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Begegnungszonen

Wie die Wiener Polizei den rechtsextremen Aufmarsch der „Identitären“ mit Schlagstock, Hunden und Pfefferspray gegen AntifaschistInnen durchprügelte. Von Sebastian Kugler


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ür den 17.5.2014 plante die rechtsextreme Gruppe der „Identitären“ einen Aufmarsch in Wien. Was an diesem Tag passierte, ist mittlerweile nicht nur Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Untersuchungen, sondern hat auch eine Debatte über das Verhältnis von Polizeigewalt und antifaschistischem Protest losgetreten, die längst über Wien hinausgeschwappt ist. Um nachvollziehen zu können, wie es so weit gekommen ist, muss zunächst etwas näher auf Vergangenes eingegangen werden. Wer sind die „Identitären“?1 Die „Identitären“ sind der aktuell erfolgreichste und aktivste Teil der so genannten „Neuen Rechten“. Ihren Ursprung haben die „Identitären“ in Frankreich, wo sie sich als „generation identitaire“, als Jugendfront der rechtsextremen Partei „Bloc Identitaire“2, formierten. 2012 traten sie das erste Mal öffentlich in Erscheinung, als sie in einer von Medien vielbeachteten Aktion die Baustelle einer geplanten Moschee besetzten, um gegen „Islamisierung“ und „Multikulturellen Wahn“ zu protestieren. Hier erkennen wir auch ihre ideologischen wie thematischen Schwerpunktsetzungen: Die Hetze gegen Muslima/e im Namen der Verteidigung der eigenen „Identität“. „Identität“ beziehen sie zuallererst auf die eigene nationale Kultur bzw. den eigenen nationalen Charakter, der v.a. durch Zuwanderung „gefährdet“ sei. Gleichzeitig wird aber auch ein allgemeiner europäischer Abwehrkampf gegen eine außereuropäische Invasion inszeniert. „Europa“ ist in dieser Hinsicht eine Art gemeinsamer Nenner verschiedener nationaler Kulturen, die innerhalb dieses Europas innerhalb ihrer (selbstverständlich „natürlichen“) Grenzen, einer Schrebergartensiedlung ähnlich, vor sich hin vegetieren sollen. Ob auf nationaler oder europäischer Ebene: Der zentrale Kampfbegriff der „Identitären“ ist der einer starren, unveränderlichen, ahistorischen „kulturellen Identität“. In diesem Sinne präsentieren sich die Identitären, die sich von Frankreich aus in einige europäische Länder ausbreiten konnten, als „Update“ faschistischer Ideologie. Der klassische Faschismus argumentierte seine völkische Denkweise in erster Linie biologisch und entwickelte „Rassentheorien“. Im Namen des „Ethnopluralismus“ wird nun die separate Existenz „gleichwertiger“ Völker propagiert, die sich stärker über gemeinsame Kultur als über Gene definieren. Ideengeschichtlich beruft man sich nicht mehr auf Hitler, sondern auf Vordenker der „konservativen Revolution“ wie Oswald Spengler. Die Schlussfolgerung bleibt jedoch ähnlich: Jede Berührung oder „Vermischung“ von Völkern stelle eine Übertretung eines Naturgesetzes dar und müsse zum Untergang der „unterwander-

ten“ Kultur führen. Es bleibt bei einem brutalen „Blutund-Boden“-Schema: „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.“3 Das Weltbild der „Neuen Rechten“ bzw. der „Identitären“ ist nichts als eine gefährliche, reaktionäre Utopie. Ein nüchterner Blick auf die Geschichte Europas zeigt, dass „Nationen“ alles andere als ewige Gebilde sind, sondern vergleichsweise neue Phänomene, die mit der Etablierung kapitalistischer Nationalstaaten einhergingen, und seitdem ständigen Umdeutungsprozessen ausgesetzt sind. Kulturell homogene Völker hat es nie gegeben und wird es auch nie geben. Die „Identitären“ jedoch fordern eine neue „Reconquista“4. Dies wäre in einer Gesellschaft, in der Migrationsbewegungen seit Jahrhunderten kontinuierlich passieren, nur durch brutalste ethnische Säuberungen durchzuführen. Die Grenzen zwischen den „Kulturen“ der „Identitären“ werden mit Blut gezogen. Nichtsdestotrotz behaupten sie, keine RassistInnen zu sein. Dass die „Identitären“ im selben Atemzug ihre Denkkapazität öffentlich mit der einer Kohlmeise vergleichen5, lässt uns, neben den eindeutigen ideologischen und personellen Überschneidungen, an der Glaubwürdigkeit solcher Distanzierungen zweifeln. Die „Identitären“ in Österreich. Der österreichische Ableger der „Identitären“ rekrutiert sich fast ausschließlich aus der einschlägig bekannten rechtsextremen Szene. Der Obmann der „Identitären Bewegung Österreich“, Alexander Markovics, ist Mitglied der deutschnationalen Burschenschaft „Olympia“, der auch der ehemalige dritte Nationalratspräsident Martin Graf angehört. Wegen ihrer Verbindungen zum SüdtirolTerrorismus war die Olympia von 1961 bis 1973 verboten, heute werden ihr Verbindungen zum neonazistischen „Alpen-Donau“-Netzwerk vorgeworfen. Martin Sellner, Kopf der Wiener „Identitären“, kommt, auch nach eigenen Angaben, aus dem „nationalen Widerstand“. Er gehörte zum engeren Umfeld des führenden Neonazis Gottfried Küssel. Es gibt eindeutige Verbindungen zur FPÖ, nicht nur über die Burschenschaften. Markovics kandidierte in Wien bereits für die FPÖ, die „Identitären“ organisierten gemeinsame Veranstaltungen mit der FP-Jugendorganisation RFJ. International gibt es auch Verbindungen zu dem italienischen neofaschistischen Projekt „Casa Pound“, zur deutschen NPD und zur ungarischen Jobbik. Die Vorgängerorganisationen (WIR, Der Funke) der österreichischen „Identitären“ sind seit etwa 2012 aktiv. In Erscheinung traten die „Identitären“ seither vor allem durch die Störung antifaschistischer Veranstaltungen und einen Angriff auf die Flüchtlingsbewegung in Wien, als sie die von AsylwerberInnen und

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AktivistInnen besetzte Votivkirche „gegenbesetzten“. Für den 17. Mai riefen sie nun zu einem ersten größeren Aufmarsch auf. Der Aufmarsch der „Identitären“. Die „Identitären“ mobilisierten für den 17. Mai um 13:00 Uhr am Wiener Christian-Broda-Platz (neben dem Westbahnhof ). Die Demonstration war in der ganzen rechtsextremen Szene Österreichs bekannt und wurde auch zu einem Anziehungspunkt für die Kräfte, von denen sich die „Identitären“ so oft verbal schein-distanzieren. Aufsehen erregte etwa die Bekanntgebung, dass die neonazistische Gruppe „Unsterblich“ ebenfalls Aktionen planen würde. „Unsterblich“ hatte erst vor wenigen Monaten eine Veranstaltung linker GewerkschafterInnen im Lokal eines MigrantInnenvereins angegriffen. Weiters kündigten sich „Internationale Gäste“ an, aus Deutschland wurden extra Busse organisiert. Bemerkenswerterweise war das den Medien, die rund um größere antifaschistische Mobilisierungen regelmäßig Panik vor „deutschen Chaoten“ „Krawalltouristen“ usw. verbreiten, völlig egal. Stattdessen schrieb man von der „als rechts geltenden Gruppierung der Identitären“ (ORF) und legte Wert darauf, festzustellen, dass es „sich nicht um Neonazis“ (Der Standard) handelt. Da man sich also nicht auf Staat und „Zivilgesellschaft“ (was auch immer darunter verstanden wird) verlassen konnte, etwas gegen den drohenden ersten größeren rechten Aufmarsch seit Jahren in Wien zu unternehmen, mobilisierte die „Offensive Gegen Rechts“ (OGR), ein antifaschistisches Bündnis aus linken Organisationen, Einzelpersonen und Gewerkschaftsstrukturen dagegen. Etwa 900 PolizistInnen waren im Einsatz. Die AntifaschistInnen kamen sich bereits um 11:00 Uhr am Treffpunkt der „Identitären“, dem Christian-BrodaPlatz, zusammen. Es handelte sich um eine angemeldete Demonstration – mit derselben Route wie jene der Rechtsextremen. Die Polizei wollte beide nacheinander abspulen, doch die knapp 1000 Menschen starke Demo der OGR bewegte sich so langsam, dass die letzten Blocks erst um etwa 13:00 Uhr den BrodaPlatz überhaupt verließen. Die Polizei reagierte und leitete den rechten Aufmarsch durch Nebenstraßen um. Somit demonstrierten die AntifaschistInnen auf der geplanten Route der „Identitären“, die Mariahilferstraße (Wiens meist frequentierte Einkaufsstraße und seit Neuestem autofreie „Begegnungszone“). Auf dem Marsch der Rechtsextremen kam es immer wieder zu kleineren Blockadeversuchen durch AntifaschistInnen. Ihre Abschlusskundgebung sollten die etwa 100 „Identitären“ dann beim Volkstheater halten. An dem Aufmarsch nahmen übrigens auch NeofaschistInnen aus Frankreich, Italien und der Schweiz teil. Hunderte AntifaschistInnen strömten dort hin, um den Rechtsextremen klarzumachen: Bis hierher und nicht weiter. Die

Polizei reagierte nervös, gereizt, aggressiv. Sie drängte die AntifaschistInnen brutal zurück, stieß sie über Zäune und verbreitete eine Pfefferspraywolke, sodass selbst Menschen, die nicht in der Schusslinie standen, kaum atmen konnten. Den „Identitären“ gegenüber verhielt die Polizei sich jedoch, wie eine Videodokumentation von „Vice“ belegt, äußerst amikal6. Schließlich wurden die Rechtsextremen, nachdem sie ihre Schlusskundgebung abbrechen mussten, unter denen sich auch einschlägig bekannte Ultrarechte wie Ludwig Reinthaler7 befanden, von der Polizei zur U-Bahn eskortiert, wo sie einen eigenen Wagon bekamen. Währenddessen eskalierte etwa um 15:00 Uhr beim Volkstheater die Polizeigewalt8. Es kam jedoch kaum zu organisierter Gegenwehr, da die AntifaschistInnen den Abbruch des ohnehin umgeleiteten Aufmarsches als Erfolg werteten: Die Rechtsextremen hatten dank der antifaschistischen Mobilisierung kein Publikum für ihre Hetze. Menschenjagd.9 Die verbliebenen AntifaschistInnen, ca. 300, warteten nur noch auf die Bestätigung, dass die „Identitären“ keine politische Außenaktivität mehr setzen würden. Als bekannt wurde, dass die Rechten sich in der Nähe des Rathauses aufhielten, demonstrierten die AntifaschistInnen in die Richtung, um sicherzugehen, dass die „Identitären“ weitere Marschversuche unterließen. Dort begann die Polizei, etwas zu veranstalten, was nur als Menschenjagd bezeichnet werden kann: Gruppen von PolizistInnen jagten AntifaschistInnen in kleine Gassen und Häuserecken, um dort auf sie einzuprügeln. Eine Gruppe von DemonstrantInnen wurde von zwei Polizeigruppen in die Zange genommen und flüchtete sich in eine Douglas-Filiale. Die Polizei stürmte rein und gab danach den DemonstrantInnen die Schuld für den entstandenen Sachschaden. In diversen Polizeikesseln ereigneten sich schreckliche Dinge. Minderjährige wurden festgenommen, ohne dass ein volljähriger Beistand zugelassen wurde. Ein junges Mädchen erlitt laut AugenzeugInnen eine Panikattacke, die von den anwesenden PolizistInnen ignoriert wurde, trotz der mehrmaligen Aufforderung, die Rettung zu rufen. Eine Gruppe von jugendlichen DemonstrantInnen wurde festgenommen, als sie bereits auf dem Heimweg auf die Straßenbahn wartete. Eine Frau, die angab, schwanger zu sein, wurde von der Polizei zu Boden gestoßen und fiel auf den Bauch. Die Wiener Polizei stellte dazu klar: „Prinzipiell gilt: Wenn man sich der Polizei in den Weg stellt, muss man mit Konsequenzen rechnen, auch wenn man schwanger ist.“ - Die traurige Bilanz dieser „Konsequenzen“: 38 Festnahmen, mehrere Verletzte, darunter eine Gewerkschafterin, der der Knöchel doppelt gebrochen wurde. Nach den Ereignissen antwortete Reinhard Kreissl, wissenschaftlicher Leiter des Wiener Instituts für


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Rechts- und Kriminalsoziologie, auf die Frage der Wiener Zeitung, ob die Wiener Polizei auf jeden Protest so reagiere als herrsche ein potentieller Bürgerkrieg: „Sie können davon ausgehen, dass die Hardware und die Software für Bürgerkriegseinsätze bei der Polizei vorhanden sind. Wenn es zur Sache geht, kann die Polizei mit gepanzerten Autos durch die Straßen fahren und die Innenstadt großräumig absperren. Der Trend der Militarisierung der Polizei wurde in den vergangenen Jahrzehnten erkennbar. Im Waffenbereich ist das verfügbare Repertoire deutlich bürgerkriegsaffin geworden.“ JournalistInnen berichten, dass sie massiv an der Berichterstattung gehindert wurden. Als Reaktion auf das Verhalten der Polizei an diesem Tag hat der „Österreichische Journalistenclub“ eine „Meldestelle für Angriffe gegen die Pressefreiheit“ eingerichtet. Der Gipfel der Verbrüderung zwischen Polizei und Rechtsextremen war, dass die Polizei das Fronttransparent der OGR auf der Demo beschlagnahmte, welches sich kurz darauf in den Händen der „Identitären“ wiederfand. Es lässt sich nur erahnen, wie weit der Polizeiapparat mit rechtsextremen Strukturen vernetzt ist. Antifaschismus bleibt notwendig. Die Ereignisse in Wien haben gezeigt, dass gemeinsame, starke antifaschistische Mobilisierungen nötig und möglich sind. Die Rechtsextremen werden mit zunehmender Verschärfung der sozialen Krise weiter versuchen, die Wut der Menschen über Spardiktat, Arbeitslosigkeit und Armut nach rechts zu kanalisieren. Dem muss auf allen Ebenen gekontert werden. Es ist auch die Aufgabe von AntifaschistInnen, die Sparpolitik der Regierung, die den Boden für Sündenbockideologien wie Rassismus schafft, zu bekämpfen. Aktuell gibt es in Österreich keine starke politische Kraft, die der berechtigten Wut über die gesellschaftlichen Missstände eine antirassistische, emanzipatorische, antikapitalistische Perspektive geben kann. Der Aufbau solch einer politischen Alternative wird eine der größten Herausforderungen sein. Währenddessen müssen alle Versuche der Rechtsextremen, sich Gehör zu verschaffen, unterbunden werden. Durch breit angelegte Kampagnen, die die lokale Bevölkerung einbinden, ist es möglich, Massenblockaden wie in Köln oder Dresden10 zu organisieren. Hier ist besonders der ÖGB gefordert, seinen Statuten nachzukommen und den Antifaschismus nicht nur an Festtagen auszupacken, sondern sich aktiv an Mobilisierungen zu beteiligen. Alles in allem geben die Entwicklungen der letzten Monate, mit starken antifaschistischen Mobilisierungen in Wien, Salzburg und Innsbruck, gemeinsam mit der Formation neuer antifaschistischer Bündnisse wie der „Plattform Gegen Rechts“ in Salzburg Grund zur Hoffnung. Wir sind noch nicht in Dresden, aber wir sind auf dem richtigen Weg.

1: Zum Folgenden vgl. vor allem: - Kathrin Glösel, Natascha Strobl, Julian Bruns: Die Identitären. Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, Unrast, 2014 - Andreas Peham (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes): Hintergrundinformationen zu den „Identitären“, https:// www.slp.at/artikel/hintergrundinformationen-zu-denidentit%C3%A4ren-5798. 2: Der Bloc Identitaire wiederum gründete sich aus den Überresten der verbotenen faschistischen Gruppe „Unité Radicale“, die 2002 einen Mordversuch an dem damaligen franzöischen Präsidenten Chriac verübten. 3: Theodor W. Adorno, Schuld und Abwehr, in: Theodor W. Adorno, Werke, 9/2. Band, Frankfurt am Main 1975, S. 276f. 4: Reconquista bezeichnete die militärische Vertreibung von Muslimas und Muslimen von der iberischen Halbinsel durch den Katholizismus, in der Folge kam es auch zu schweren Ausschreitungen gegen Juden und Jüdinnen. 5: „Eine Kohlmeise, die ihr Revier verteidigt, ist auch nicht kohlmeisenfeindlich!“ http://iboesterreich. at/?page_id=7 6: http://www.vice.com/ alps/vice-news/die-identitaeren-im-herzen-europas.

7: Reinthalers Gruppierung „Die Bunten“ wurde 2009 die Teilnahme an der Welser Gemeinderatswahl aufgrund der Unvereinbarkeit mit dem NS-Verbotsgesetz untersagt. Er steht in einem Naheverhältnis zur neonazistischen AFP. 8: Siehe die Dokumentation von WienTV: https://www.youtube.com/ watch?v=XAUmZXS16Nc. 9: Zum Folgenden vgl. meinen Artikel „Polizei prügelt für Rechtsextreme und FaschistInnen“, http:// www.slp.at/artikel/polizeipr%C3%BCgelt-f%C3%BCrrechtsextreme-und-faschistinnen-5785. 10: In Köln verhinderten 2008 60.000 DemonstrantInnen einen rassistischen Kongress der Gruppe „ProKöln“. Erreicht wurde dies durch wochenlange vorbereitende Kampagnenarbeit. In Dresden gibt es schon länger Demonstrationen gegen den einst größten jährlichen Naziaufmarsch Europas. In den letzten Jahren nahmen die antifaschistischen Mobilisierungen, unterstützt durch Linkspartei und Gewerkschaften, solche Ausmaße an, dass die Nazis nicht mehr marschieren konnten.

Der Autor ist Lehramtsstudent an der Universität Wien und Aktivist der Sozialistischen LinksPartei, die Teil der Offensive Gegen Rechts ist.

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Walk for IDAHOT – International Day Against Homo- and Transphobia Erst am 17. Mai 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation WHO Homosexualität aus ihrer Liste psychischer Krankheiten. Daher finden seit 2004 jährlich genau an diesem Tag weltweit Aktionen und Veranstaltungen gegen Homo-, Trans-, und Interphobie statt. Seit 2013 auch in Salzburg. Von Dilara Akarcesme

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er 17. Mai ist der Internationale Tag gegen Homo- und Transphobie (IDAHOT: International Day Against Homo- and Transphobia). Er wurde im Jahr 2004 unter der Abkürzung IDAHO ins Leben gerufen, um die Aufmerksamkeit politischer EntscheidungsträgerInnen, MeinungsbildnerInnen und Medien auf die Existenz eines Hasses gegenüber LGBTI Personen zu ziehen und einen Beitrag zu einer „Welt voller Freiheiten“ zu leisten. Die Intention des Komitees ist es, Veranstaltungen zu organisieren, um die öffentliche Meinung zu mobilisieren, Forderungen an die Politik und LobbyistInnen heranzutragen, sich untereinander zu vernetzen und nicht involvierte Personen zu erreichen. Das Komitee, das aus AktivistInnen aus aller Welt besteht, weist auch darauf hin, dass das Konzept dieses Tages ein sehr flexibles ist. Beispielsweise war der ursprüngliche Name des Tages IDAHO (International Day Against Homophobia), der 2009 im Zuge der globalen Bewusstseinsbildung im Hinblick auf Transpersonen und nicht normkonformen Geschlechtsidentitäten den Buchstaben ‚T‘ dazu erhielt. In dieser Tradition versucht das Komitee nun auch „Lesbophobie“ sowie „Biphobie“ in den Namen zu integrieren, da es ihnen ein Anliegen ist, alle sexuellen Orientierungen und Minderheiten in einer positiven Art sichtbar zu machen, um Diskriminierung und Gewalt entgegenzuwirken.

Das Motto diesen Jahres war „Freedom of Expression“ - freie Meinungsäußerung, das durch einen intensiven Austausch von AktivistInnen aus aller Welt gewählt wurde. Besonders AktivistInnen aus Russland, Armenien und der Türkei wiesen darauf hin, dass die Politik die LGBTI-Community mit „Gesetzen der Moral“ unterdrücken und damit ein öffentliches Misstrauen schaffen will. AktivistInnen aus Staaten wie Uganda oder Kenia erläuterten, dass ihre Staaten Homosexualität mit dem Argument bekämpfen, dass es nicht „ihre Kultur“ sei. In Brasilien oder den USA sind vor allem rechte religiöse Gruppierungen aktiv, die gezielt Aufklärungs- und AntiMobbing-Kampagnen an Schulen verhindern wollen. Dabei greifen sie auf das Argument zurück, dass LGBTI-Inhalte nicht jugendfrei und in der Schule damit fehl am Platz seien. Mittlerweile nehmen mehr als 120 Staaten an der Aktion teil und auch in Salzburg finden seit 2013 Aktionen zum IDAHOT statt. Dieses Jahr gab es eine paradeartige Demonstration, die von HOSI, SOHO, Grüne Andersrum und ÖH Frauen organisiert wurde. Es ist zu hoffen, dass nächstes Jahr mehr im Rahmen des IDAHOTs in Salzburg und Österreich stattfindet. Jede Person kann sich mit Ideen entweder an die ÖH Salzburg oder die HOSI Salzburg wenden!


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Nicht schon wieder so ein elendiger Tierschutzartikel! Wenn ich mich bei Facebook einlogge, dann ist meine Pinnwand vollgespamt mit kurzen Videos von Eisbärenbabys, von Fotos frisch geworfener Hundewelpen und von Katzenbildern, die, bespickt mit lustigen Sprüchen, sinnbildhaft in die Kamera schauen. So süß. Von Selina Schnickers

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s ist ja auch ein gesellschaftlich interessantes Phänomen der Selbstdarstellung. So wird doch jeder soziophobe Egomane auf einmal sympathisch, wenn er erzählt, was der „Blacky“ gestern und die „Mimi“ heut nicht alles gemacht haben und wie lieb er/sie/es nicht schauen kann, denn ein Mensch ist nur so gut, wie er die Schutzbedürftigsten behandelt. Und welcheR ambitionierte TierliebhaberIn schmilzt nicht dahin, wenn die tätowierte Ex-Inhaftierte über den sechsten Sinn der Tiere philosophiert, wie schlau und sensibel sie nicht sind und wieviel Freude sie dem Herrchen und Frauchen durch ihre unbeholfenen Gesten bereiten können? Wenn du das Verhalten von Tieren schon einmal beobachtet hast, an deinem Haustier, im Zoo oder in einer Dokumentation, so wirst du mir zustimmen, dass Tiere schlau, sensibel und feinfühlig sind. Sie spüren Freude, Angst und Besorgnis, sie wittern den herannahenden Urlaub des Besitzers und sie ahnen sogar Gefahren. Wenn ich als Kind wütend war ist meine Katze mir auf Schritt und Tritt gefolgt, und es gibt Rettungshunde für Epileptiker und Diabetiker. Der sechste Sinn ist ihnen also nicht abzusprechen – und was die Tiere merken, lassen sie uns zugute kommen. Und jetzt spitz mal die Ohren, was wir den Tieren zugute kommen lassen und was sie durch mein, dein und unser Konsumverhalten zu spüren bekommen. Und

hierbei spreche ich nicht von deinen gut umsorgten Lieblingen zu Hause, sondern von den Millionen Artgenossen, an welchen in Universitäten, Forschungseinrichtungen oder Pharmazieunternehmen Experimente durchgeführt werden. Sie werden unter widrigsten Umständen auf engstem Raum gehalten und die Versuchsdurchführungen sind grausam, würdelos und enden meist unweigerlich nach den Qualen mit dem Tod der Tiere, die entweder bei den Experimenten verenden oder danach getötet werden. Dies geschieht im Namen der Forschung, der Kosmetik und der Medizin. Besonders jene Versuche, die für die medizinische Forschung durchgeführt werden, sind stark umstritten, da propagiert wird, dass sie dem Menschen nutzen, jedoch wird diese Dienlichkeit von Pharmaziebranchenunabhängigen stark angezweifelt. TierversuchsverteidigerInnen argumentieren klar gegen Experimente, welche im Namen der medizinischen Forschung vollzogen werden. Gegenstimmen erhebt auch der Verband Ärzte gegen Tierversuche e.V., dem circa 500 renommierten ÄrztInnen und VeterinärmedizinerInnen angehören. Laut diesem Verein sind die Ergebnisse der Tierversuche zum Großteil von keiner Bedeutung für den Menschen. Begründet wird dies durch:

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Eine ganze Industrie lebt davon, Tiere für Versuchszwecke zu züchten, zu quälen und letztendlich zu entsorgen, weil ihre Daseinsberechtigung allein aus der vorgeschobenen „Dienlichkeit“ für den Menschen besteht. 1.) Die tierischen und menschlichen Organismen und Stoffwechsel unterscheiden sich grundlegend. Die Tierversuche sind neben einer längst widerlegten Vergleichbarkeit oftmals nicht aussagekräftig, werden jedoch immer noch nach demselben Prinzip getestet. Beispiel 1: Contergan ruft beim Menschen schwere Missbildungen hervor, bei den üblichen Versuchstieren hingegen nicht. Paracetamol hingegen ist für Menschen ein verträgliches Schmerzmittel, jedoch tödlich für Katzen, und Schafe sind unempfindlich Arsen gegenüber, einem für den menschlichen Organismus schweres Nervengift. Beispiel 2: Ratten werden große Mengen über einen möglichst langen Zeitraum Lacke, Farben, Asphalt, industrielle Schmierstoffe, Silikon oder Benzin durch ein Rohr in den Magen gepumpt. Die Reaktionen darauf sind jedoch in keiner Weise auf den Menschen übertragbar. 2.) Tiere erkranken nicht an Zivilisationskrankheiten, an welchen Menschen durch Drogenmissbrauch, Stress oder anderen „zivilisatorischen“ Faktoren erkranken. Deshalb müssen diese Effekte bei den Tieren erst künstlich herbeigeführt werden. Diese Nachahmung und etwaige Heilungen sind jedoch nicht auf den Menschen übertragbar. Von denen in Tierversuchen erfolgreichen Medikamenten versagen beim klinischen Test an Personen über 90% der Heilmedikamente, indem sie keine Wirkung erzielen oder zu massive Nebenwirkungen auslösen. Beispiel 1: Durch ein Gift werden Zellen der Bauchspeicheldrüse zerstört, um Diabetes zu erzeugen, durch Abschnüren der Herzkranzarterien werden Herzinfarkte simuliert, durch Darmdurchstechen Bauchfellentzündungen und innere Blutungen etc. Diese Liste wäre endlos. Jedoch werden Tiere auch teilweise maßgeschneidert gezüchtet und leiden von Geburt an die Krankheitssymptomen der menschlichen Gesellschaft. 3.) Besonders absurd: Tierversuche, bei welchen psychische Erkrankungen oder subjektives Befinden

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untersucht werden. Da die Tiere jedoch der menschlichen Sprache nicht mächtig sind, werden sie durch meist sehr schmerzhafte Verfahren zu Handlungen gezwungen, welche sodann als bestimmte, psychische Erkrankung interpretiert wird. Daraus resultierende, vollkommen haltlose Annahmen führen zu oftmals sich selbst widersprechenden, ziellosen Ergebnissen. Dies wiederrum wird zum Anlass genommen, weitere Experimente gleichen Musters durchzuführen, um dem Widerspruch auf den Grund zu gehen. Beispiel 1: Ratten werden durch Stromstöße in eine ausweglose Situation gebracht, um Depression zu studieren. Die Experimente können bisweilen ohne Rechtfertigung oder Beschränkung durchgeführt werden. Genehmigungsbehörden prüfen nur die Einhaltung von Formalien, nicht aber die Sinnhaftigkeit eines Forschungsansatzes. Abgesehen davon lebt eine ganze Industrie davon, Tiere für Versuchszwecke zu züchten, zu quälen und letztendlich zu entsorgen, weil ihre Daseinsberechtigung allein aus der vorgeschobenen „Dienlichkeit“ für den Menschen besteht. Ziel der Ärzte gegen Tierversuche e.V. ist hingegen eine tierversuchsfreie Medizin, bei welcher die Ursachenforschung und somit die Verhinderung von Krankheiten im Vordergrund stehen. Zeitgemäße Forschungsmethoden mit menschlichen Zellkulturen oder Microchips können humanmedizinisch relevante Ergebnisse erzielen. Diese Strapazen werden vor den Augen der Öffentlichkeit natürlich verborgen gehalten. Kein Unternehmen würde freiwillig publik machen, was hinter den diversen Saubermann-Fassaden geschieht. Natürlich sind die Versuche, welche für die Krebsforschung oder andere Krankheiten stattfinden, irgendwie weit weg von deiner, meiner und unserer Realität. Was jedoch nicht weit weg, sondern eigentlich sehr nahe und in unseren täglichen Riten verwurzelt ist, sind Tierversuche, welche zu kosmetischen Zwecken durchgeführt werden. Und hierbei zählt praktisch al-


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les zur Kosmetik, was du, ich und wir im Badezimmer stehen haben: Zahnpflegeprodukte, Duschutensilien, Haarwasch-, Spül,- Stylingmittel, Make-Up-Produkte, Parfums, Waschmittel und Weichspüler, Lotionen und Peelings, Rasierer etc. Und jetzt komm ich zu DIR, MIR und UNS: Die Versuche passieren an Orten, die wir nicht kennen, an Tieren, welche wir nicht sehen und unter Umständen, die wir noch nicht mal erahnen können. Jedoch rechtfertigt dies NICHT dein Konsumverhalten. Auf unzähligen öffentlichen Plattformen sind Artikel und Videos abzurufen, welche Einblick in eine Welt gewähren, welche die wenigsten von uns wirklich sehen wollen. Hast du dir schon mal angesehen, wie Ratten der Darm durchstochen wird? Wie Katzen ätzende Substanzen in die Augen geträufelt werden oder Affen der Schädel aufgesägt wird? Ich vermute nein. Und um ehrlich zu sein musst du das aus meiner Sicht auch nicht. Oder eigentlich schon?! Option 1.) Die Videos solltest du dir ansehen, wenn du … vorhaben solltest, nichts an deinem Konsumverhalten zu ändern und Abartigkeiten dieser Hausnummer dadurch zu fördern und zu unterstützen, ja dann solltest du dir diese Videos unbedingt anschauen. Denn die Qualen, welche durch deinen Verbrauch weiterbestehen sollten dir auch vor Augen geführt werden. Option 2.) Diese grauslichen Videos, deine Nerven und das schlechte Gewissen kannst du dir sparen, wenn …. … du schon beim nächsten Einkauf auf Produktlinien achtest, welche tierversuchsfrei produzieren. Viele Bezeichnungen und dekorative Objekte auf den Verpackungen sind irreführend und erwecken den Anschein, ohne Versuche getestet worden zu sein, was in vielen Fällen jedoch nur eine Schönung oder eine

glatte Lüge ist. Einschlägige Internetforen, wie beispielsweise PETA, bieten jedoch ganze Listen von Firmen, welche mit und ohne Experimente arbeiten. Die Produkte sind zumeist für jeden Geldbeutel erschwinglich und praktisch in den meisten Drogerien erhältlich. Es ist also kein Kunststück, anstatt des klassischen Produkts jenes zu kaufen, das nur ein paar Zentimeter im Regal entfernt steht, und Tierversuche zu unterbinden.

ICH…bin doch nur ein Rädchen in der Maschinerie und kann doch nichts bewirken? FALSCH! Denn… DU…gehörst zu den KonsumentInnen, welche durch den Kauf bestimmter Produkte ganz gezielt das Leiden durch Tierversuche beenden oder fortführen können. ER/SIE/ES…sind die Tiere, die unter bestialischen Umständen gehalten werden, an denen grausame Versuche unternommen werden und welche ein Leben des Schmerzes und der Qualen durchstehen, bis sie missgebildet, vergiftet und verstümmelt verenden oder getötet werden. WIR…bilden die Masse, die eine Änderung bewirken kann. Der Boykott jener Firmen und Produkte kann eine riesige Auswirkung erzielen! Denn vergiss nicht: JEDER Firma geht es um Profit, und wenn der nicht mehr stimmt, wird die Strategie geändert. So einfach ist das. IHR…seid die Firmen, welche durch falsche, schöne Bilder in den Werbungen und verschweigen unschöner Tatsachen die KonsumentInnen im Dunklen der Unwissenheit lassen. SIE…könnten jene Tiere sein, welche durch euer Konsumverhalten ein Leben in Würde verbringen dürfen oder gar nicht erst gezüchtet werden, um zu sterben.

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Das richtige Maß Wie viel brauche ich für ein gutes Leben? Der Begriff Minimalismus lässt wahrscheinlich viele an einen Architekturstil mit kühler Einrichtung in SchwarzWeiß denken. Andere assoziieren damit vielleicht einen spartanischen Lebensstil mit zahlreichen Entbehrungen. Minimalismus kann aber auch ein Weg sein, um sich von überflüssigem Ballast zu befreien, sei es in Form materieller Güter, belastender Beziehungen oder sinnloser und zeitraubender Verpflichtungen. Von Elisabeth Feldbacher

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it Hilfe eines minimalistischen Lebensstils streift man Unnötiges ab, um Raum für die wichtigen Dinge des Lebens zu haben. Was übrig bleibt, sind ein klarer Kopf, ein aufgeräumtes Zuhause mit genügend Platz und eine gute Basis dafür, dass man herausfindet, was man wirklich braucht. Wie aber entrümpelt man seine Bude, seinen Kleiderschrank und seinen Terminkalender, um am Ende maximale Freiheit und Klarheit über sein Leben zu erlangen? Ein paar Tipps und Anregungen werden in den folgenden Abschnitten gegeben. Weder gibt es eine allgemeingültige Anleitung, die strikt zu befolgen ist, noch besteht ein Anspruch auf Vollständigkeit. Minimalismus ist ein sehr persönlicher und individueller Weg, und es gibt auch kein Ziel, das es zu erreichen gilt. Vielmehr stellt, wie so oft im Leben, der Weg bereits das Ziel dar. JedeR muss selbst für sich herausfinden, welche Besitztümer einen positiven Nutzen darstellen und welche nur Energie und Wartung beanspruchen. Tipp 1: Entrümple dein Wohnumfeld! Fast alle kennen wohl folgendes Problem: Der für Studierende meist ohnehin begrenzte Wohnraum ist angefüllt mit Dingen, von denen man glaubt, dass man sie unbedingt braucht, wenn nicht jetzt, dann bestimmt in drei Jahren, und deswegen kann man sich unmöglich von ihnen trennen. Lieber stolpert man ständig darüber, verschwendet Zeit und Geld für die Wartung und findet vor lauter „Zeug“ jene Dinge nicht mehr, die man wirklich bräuchte. Der Schreibtisch ist übersät mit Papier, Büchern, Elektrogeräten und dreckigem Geschirr von vor zwei Wochen. Wenn man den Kleiderschrank öffnet, fällt einem unvermeidlich die Hälfte entgegen, aber zum Anziehen hat man trotzdem nichts Richtiges. Am Boden stapeln sich Zeitschriften und leere Kaffeetas-

sen, in den Ecken liegen weitere Kleiderstücke. Auch wenn man nur halb so unordentlich ist, wie gerade beschrieben, ist es lohnend, sich aufzuraffen und sich von einigen Dingen zu trennen. Manche mögen einwenden, dass es doch reiche, einmal ordentlich aufzuräumen und zu putzen, und schon wäre die Ordnung wieder hergestellt. Dem ist aber nicht so. Sogar ordentlich in Kisten und Schränken verstaut belastet ein Zuviel an Besitz den Geist und erschwert Kreativität und Sorglosigkeit. Somit ist die einzig wahre Lösung, endlich mit dem Ausmisten zu beginnen. Am besten fängt man immer mit einem kleinen Bereich an und arbeitet sich dann Schritt für Schritt vor. Das ganze Zimmer oder gar die ganze Wohnung an einem einzelnen Tag zu entrümpeln ist wenig ratsam. Je kleiner das gesteckte Tagesziel, desto eher erreicht man es und hat dabei sogar noch Spaß. Wenn man sich zu viel vornimmt, ist es wahrscheinlich, dass man vor lauter Überforderung erst gar nicht damit anfängt. Also konzentriert man sich am ersten Tag nur auf alle Oberflächen. Man räumt die Schreibtischplatte, den Boden sowie die Fensterbänke leer und legt alle Gegenstände auf einen Haufen. Als nächstes wischt man die Oberflächen sauber und freut sich über den zurückeroberten Platz. Aber Achtung, nicht sofort wieder alles voll stellen, sondern genau überlegen, was bleiben darf, und diese Gegenstände möglichst ordentlich in Laden und Kisten verstauen. Es ist doch viel schöner, auf eine leere Oberfläche eine Vase mit Blumen zu stellen als eine Unmenge an Krimskram. Die Gegenstände auf dem Haufen werden nach bestimmten Kriterien aussortiert. Man nimmt jedes Stück einzeln in die Hand und stellt sich folgende Frage: „Ist dieser Gegenstand für mich nützlich, benutze ich ihn tatsächlich regelmäßig?“ Wenn man diese Frage mit ja beantworten kann, darf er bleiben.


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Beantwortet man die Frage mit nein, entscheidet die Frage: „Finde ich diesen Gegenstand schön?“ darüber, ob er bleiben darf oder nicht. „Have nothing in your houses that you do not know to be useful, or believe to be beautiful“ Getreu dem Motto des britischen Malers, Architekten und Kunstgewerblers William Morris „Have nothing in your houses that you do not know to be useful, or believe to be beautiful“, wird jeder einzelne Gegenstand begutachtet. Aber keine Sorge. Auch wenn man den zweiten I-Pod, das ungelesene Buch oder das kitschige Geschenk von Onkel Harald weder nützlich noch schön findet, muss man es nicht gleich wegwerfen. Man kann Sachen verkaufen (z.B. auf der ÖHHomepage über die Flohmarktseite oder auf diversen

Sogar ordentlich in Kisten und Schränken verstaut belastet ein Zuviel an Besitz den Geist und erschwert Kreativität und Sorglosigkeit. Online-Plattformen wie Willhaben.at oder eBay.at), verschenken oder spenden. Auf dieselbe Weise beseitigt man das Chaos in den Schreibtischschubladen, Bücherregalen, im Bad, in den Küchenschränken… Sentimentale oder anhängliche Gefühle à la „Was, wenn ich das wieder einmal brauche?!“ werden unvermeidbar im Laufe des Prozesses auftauchen, und es ist wichtig, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Doch man sollte diesen Regungen nicht unbedingt nachgeben, sondern genauer hinsehen, warum man sich vom unbenutzten zwölfteiligen Teeservice der Großmutter oder dem fünften beigefarbenen Poloshirt nicht trennen kann. Haben diese Dinge wirklich einen Platz in meinem Leben verdient oder könnte sie jemand anderes vielleicht besser gebrauchen?

Tipp 2: Vereinfache deine Garderobe! Wir haben viermal so viele Kleidungsstücke wie noch unsere Großeltern in den 1950er Jahren, und trotzdem beklagen wir uns, nichts zum Anziehen zu haben oder gehen ständig shoppen. Um seine Garderobe zu vereinfachen und nicht mehr ständig überlegen zu müssen, was man anzieht, ist es hilfreich, wenn man seinen eigenen Stil entwickelt, unabhängig von den ständig wechselnden Modetrends. Für eine minimalistische Garderobe reichen einige wenige sorgfältig ausgewählte Kleidungsstücke in guter Qualität, die man untereinander kombinieren kann und die möglichst zeitlos sind. So erspart man sich eine Menge Geld, Zeit und Platz im Kleiderschrank. Die aussortierte Kleidung kann man ebenfalls verkaufen, spenden oder zu einer ÖH-Kleidertauschparty mitnehmen. Tipp 3: Trenne dich von unliebsamen Verpflichtungen! Anstatt ständig am Sprung zu sein und von einer Veranstaltung zur nächsten zu hetzen, sollte man sich einmal in Ruhe hinsetzen und seinen Terminkalender nach Prioritäten ordnen. Gibt es vielleicht Verpflichtungen, sei es im Studium, im Beruf oder im Privatleben, denen man nachgeht, ohne richtig Lust darauf zu haben oder einen Mehrwert daraus zu ziehen? Welche Aktivtäten bedeuten mir viel und bringen mich im Leben weiter – und welche nicht? Es tut gut, auch in dieser Hinsicht reinen Tisch zu machen und seine Zeit und Energie in persönliche Ziele und Herzenswünsche zu stecken, anstatt jede Verpflichtung ohne Nachdenken anzunehmen, bloß weil man niemanden enttäuschen möchte. Schließlich hat man nur dieses eine Leben, um sich und seine Träume zu verwirklichen. Es wäre ärgerlich, am Ende festzustellen, dass man immer nur das gemacht hat, was alle anderen von einem erwartet hatten und nie das, was man selber wollte. Es erschließt sich bereits, dass Minimalismus ein weites Feld ist und so einzigartig wie jeder einzelne Mensch. Somit gibt es auch kein Patentrezept, wie viele Besitztümer für ein gutes Leben reichen. Eines steht aber fest: Weniger ist oftmals mehr. Weniger Verpflichtungen, mehr Zeit für Muße. Weniger Zwänge, mehr Freiheit. Weniger Besitz, mehr Leben.

Surftipps für angehende Minimalistinnen und Minimalisten (alle englischsprachig): www.missminimalist.com www.theminimalists.com www.mnmlist.com www.zenhabits.net


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Österreich hat gewählt. Oder besser: Die ganze Europäische Union hat gewählt. Nämlich jene Personen, die die europäische Bevölkerung im EU-Parlament vertreten sollen. Doch was ist die EU eigentlich? Und was bringt sie uns? Von Lisa Mitterbauer

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ie Europäische Union zu beschreiben ist kein leichtes Unterfangen. Sie ist mit keinem anderen internationalen Gebilde aus Staaten zu vergleichen. Sie ist weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat. Auch mit der NATO oder der UNO kann man keinen Vergleich ziehen, und schon gar nicht mit der Afrikanischen Union. Die EU ist ein Zusammenschluss aus 28 Mitgliedsstaaten, der gemeinsam ca. eine halbe Milliarde EinwohnerInnen zählt. Ihr Ursprung liegt in der 1953 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Durch verschiedene Reformverträge entwickelte sich diese zum heutigen System der Europäischen Union. Das ursprüngliche Ziel dieses Bündnisses war die Verhinderung militärischer Konflikte durch eine forcierte wirtschaftliche Kooperation. Gleichzeitig sollte das Wirtschaftswachstum der Mitgliedsstaaten beschleunigt werden. Was ist die EU heute? Nach einigen Erweiterungsrunden wurde 1992 die EU, wie wir sie heute kennen, gegründet. Mit dem Vertrag von Maastricht erklärten sich die Mitgliedsstaaten bereit, den Institutionen der Unionneben dem wirtschaftlichen Bereich auch in anderen Politikfeldern Kompetenzen zu gewähren. Grundsätzlich basiert das politische System der Europäischen Union, ausgehandelt durch die Mit-

gliedsländer, auf dem Vertrag über die Europäische Union sowie dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. In ihnen ist festgehalten welche Kompetenzen den Institutionen zustehen, wie diese zu arbeiten haben und auf welchen Grundsätzen die Union aufbaut. Die zentralen Organe setzen sich unterschiedlich zusammen. Die Kommission als Exekutivorgan der EU hat 28 Mitglieder. Jedes Mitgliedsland darf also eineN VertreterIn entsenden. Die nationalen Regierungen sind sowohl im Europäischen Rat als auch im nach Fachressorts aufgeteilten Rat der Europäischen Union (Ministerrat) vertreten. Das Europäische Parlament hingegen hat die Aufgabe, die UnionsbürgerInnen unmittelbar zu vertreten. Der Europäische Gerichtshof fungiert als Kontrollinstanz. Durch mehrere Reformverträge wurden die Kompetenzen der europäischen Einrichtungen, vor allem des Parlaments, erweitert und führten somit zu einer schrittweisen Demokratisierung. Abgeschlossen ist dieser Prozess allerdings noch nicht, denn es gibt immer noch gravierende Ungleichheiten im politischen System der Europäischen Union, die eine Übermacht der Regierungen gegenüber der Volksvertretung im Parlament erkennen lässt. Das Parlament hat beispielsweise kein Recht Gesetzesvorschläge einzubringen, dies ist lediglich der Kommission vor-


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Es gibt auch positive Aspekte, die jedeM EinzelneN von uns Vorteile bringen.

behalten. Ähnlich verhält sich dies auch beim Machtgleichgewicht wirtschaftlich starker Nationen gegenüber schwächeren. Was bringt die EU? Bei all den negativen Aussagen, die über die EU kursieren und von denen natürlich nicht alle reine Fiktion sind, gibt es auch positive Aspekte, die jedeM EinzelneN von uns Vorteile bringen. Angeführt sei zunächst die einheitliche Währung, die seit 1.1.2002 in 18 Mitgliedsstaaten als offizielles Zahlungsmittel anerkannt ist. Damit können sowohl Kosten als auch Zeit gespart werden, denn der Geldumtausch bei Reisen ins Ausland entfällt. Und wer gerne international einkauft, hat es leichter, europaweit Preise zu vergleichen. Den Reiselustigen unter uns bleiben lange Wartezeiten bei Grenzübergängen erspart. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ermöglicht es jedem/jeder EU-BürgerIn sich innerhalb der Union frei zu bewegen und in jedem Mitgliedsland zu wohnen, zu arbeiten und zu studieren. Gleichzeitig fördert die EU Bildung und Ausbildung. Unterstützt werden dabei beispielsweise Schulpartnerschaften und der Austausch von Studierenden mithilfe des ERASMUS-Programms. Die berufliche Mobilität von Auszubildenden wird begünstigt. Und die EU legte Bestimmungen über die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen fest, die zwar in der Vergangenheit nicht immer auf Wohlwollen gestoßen sind (Stichwort „ECTS“), die aber zumindest ihr – möglicherweise verbesserungswürdiges – Scherflein zur internationalen Mobilität beitragen. Auch wenn die Union in der Vergangenheit eine reine Wirtschaftskooperation war, so wurden doch für die VerbraucherInnen gewisse Vorteile erzielt. In allen Mitgliedsstaaten gelten die gleichen Regeln zum VerbraucherInnenschutz. Zum Beispiel bei Haustürgeschäften, beim Versandhandel und bei Internetanbietern. Auf allen Nahrungsmitteln müssen sämtliche Bestandteile verzeichnet werden (auch wenn dies in der Vergangenheit nicht immer bestens funktioniert hat). Eines der größten Errungenschaften der europäischen Zusammenarbeit ist die Wahrung des Friedens in Europa. Aufgrund der engen Kooperation ist ein Krieg zwischen den Mitgliedsstaaten wenig wahrscheinlich. Probleme werden ohne Waffengewalt am Verhandlungstisch gelöst. Nicht nur innerhalb der Union, sondern auch auf die Nachbarländer soll das Friedensprojekt übergreifen. An der EU gibt es ohne Zweifel einiges zu kritisieren, aber es gibt durch die europäische Integration deutlich mehr Vorteile als Nachteile! Sie ist es auf jeden Fall wert, sich intensiver mit ihr auseinanderzusetzen.

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Für ein solidarisches Europa heiSSt gegen die EU Im Großen viel mehr noch als im Kleinen: Wo es hingehen soll, steht fast außer Frage, doch die Wege sind umstritten. Der ideologische Streit sucht den direktesten Weg, und das ist selten der einfachste oder offensichtlichste, auch kaum der vermeintlich kürzeste. Alle guten Menschen streben nach einem solidarischen Zusammenleben in Europa und der ganzen Welt – so groß und berechtigt das Ziel, so einmütig wird ihm zugestimmt, es ist fast schon banal. Doch wie man hingelangt, das ist die große Frage. Von Stefan Klingersberger

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U-GegnerInnen seien gegen ein solidarisches, friedliches Zusammenleben in Europa – so lautet ein Missverständnis, das nur deshalb von einigen geglaubt wird, weil es diejenigen immer und immer wieder vorbeten, die nicht verstehen, dass die EU etwas völlig anderes ist als Europa. Und zwar weniger deshalb, weil es europäische Staaten gibt, die keine EU-Mitglieder sind (umgekehrt gehören auch außereuropäische Kolonien zur EU), als vor allem deshalb, weil die EU ein Bündnis der europäischen Eliten ist, nicht eines der europäischen Völker. Es ist sehr wohl möglich, für ein solidarisches und friedliches Europa und gleichzeitig gegen die EU zu kämpfen. Mehr noch: Es ist sogar notwendig. Denn wenn wir ein solches Europa wollen, müssen wir zunächst einmal die EU zerschlagen. Die EU und ihre Vorläuferorganisationen waren von Anfang an nie als Friedensprojekte konzipiert, sondern als imperialistische Zweckbündnisse, wie sich anhand zahlreicher Äußerungen führender Köpfe der tonangebenden beteiligten Mächte belegen lässt, in denen sie sich lediglich um die Formierung Euro-

pas zu einer beziehungsweise zur größten Weltmacht kümmern – unter Führung des je eigenen Landes, versteht sich. Das hat sich bis heute nicht geändert, und dass seither innerhalb (!) dieses Bündnisses Frieden herrschte, darf weder überraschen noch zur Verklärung der EU als Friedensprojekt dienen. Munter will man zukünftig den angeblichen Export von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten noch weiter vorantreiben als bisher. Eigentlich geht es dabei jedoch um die „Schaffung von Stabilität für die Exportinteressen der EU-Staaten“, wie ein Sektionschef des österreichischen Verteidigungsministeriums die wahren Motive des Tschad-Einsatzes entlarvte1. „Der Regen fließt von oben nach unten, / und Klassenfeind bleibt Klassenfeind.“2 Jahrzehntelang wurden die westeuropäischen Regierungen, Wirtschaftseliten und Militärs von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Linken und Friedensbewegungen politisch bekämpft. Die Vorstellung, dass plötzlich etwas Gutes herauskommen würde, wenn diejenigen, die man im eigenen Land bekämpft, nur mal gemeinsam mit ihren Klassengenossen aus den anderen Ländern etwas aushecken - diese Vorstellung ist geradezu grotesk. Was werden die herrschenden Klassen verschiedener Länder schon aushecken, wenn sie sich zusammensetzen, wenn nicht die Optimierung der je eigenen Herrschaft?3 Zu glauben, sie würden etwas beschließen, das der Arbeiterklasse, den europäischen Völkern oder der internationalen Solidarität dient, bedeutet eine Absage an die Analyse des Kapitalismus als eine Klassengesellschaft und somit die Kapitulation fortschrittlicher Politik. Es bedeutet, um mit Brecht zu sprechen, zu denken: „das ist schön von dem Regen, / dass er aufwärts fließen will“. Wahr ist hingegen: „Der Regen kann nicht nach aufwärts, / weil er's plötzlich gut mit uns meint. / Was er kann, das ist: er kann aufhören, nämlich dann, wenn die Sonne scheint.“ 4 Auch innerhalb des Bündnisses tritt man sich freilich nicht im Geringsten gleichberechtigt gegenüber, auch hier gilt ausschließlich das Recht des Stärkeren. So konnte sich Deutschland in den letzten zehn, zwanzig Jahren zur unbestrittenen Führungsmacht etablieren, der sogar Frankreich nach der Pfeife tanzen muss5. „Unter dem Kapitalismus ist für die Aufteilung der Interessen- und Einflusssphären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar“6.

1: Erich Reiter im Interview mit dem ORF-Mittagsjournal, 09.11.2007, zit. nach http://bit.ly/U5tcr0 2: Bertolt Brecht: Das Lied vom Klassenfeind, http://bit.ly/1hGNts1 (Quelle: Kampflieder.de) 3: Und das heißt: „Man verschärft die Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen, man macht schwache Länder von sich abhängig, man verstärkt die Repression nach Innen und die Aggression nach Außen“, http://bit.ly/1mSoC95 (Quelle: Flugblatt der Partei der Arbeit vom 13. Mai 2014) 4: Bertolt Brecht: Das Lied vom Klassenfeind, http://bit.ly/1hGNts1 5: „Wer beobachtet hat, wie Nicolas Sarkozy um Angela Merkel scharwenzelt und dann haargenau ihren Anweisungen gefolgt ist, wer dann noch erleben mußte, wie François Hollande pausbäckig seine neue Wachstumsstrategie gegen das deutsche Diktat durchzusetzen versprach und dann sofort und ohne Gegenwehr weiter naiv blickend seinem Volk die deutsche Austeritätspolitik verordnete, der kann fast verstehen, daß 25 Prozent der Franzosen den Front National und Marine Le Pen gewählt haben. […] Denn Frankreich ist fremdbestimmt.“ Aus: Lucas Zeise: Über Fremdbestimmung, junge Welt 31.05.2014, http://bit.ly/1nM7iUl 6: Wladimir Lenin: Der Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus, http://bit.ly/1pF7dB6 (Quelle: marxists.org)


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Eine wirkliche europäische Integration wird von den Völkern selbst vorangetrieben und ohne jeglichen Chauvinismus auskommen müssen. Sobald die EU ihren Zweck nicht mehr erfüllt, kann sie auch innerhalb und durch den Imperialismus zugrundegerichtet werden. Am wahrscheinlichsten scheint das zu sein, indem sich die Widersprüche zwischen den mächtigen Staaten innerhalb der EU zuspitzen, also wenn zum Beispiel im französischen Kapital jene Kräfte die Oberhand gewinnen, die auf eine Loslösung von der Unterordnung unter das deutsche Kapital setzen. Die bloße Möglichkeit dessen ist freilich ebenfalls eine Frage der Stärke der jeweils Beteiligten. Wenn jedoch lediglich das imperialistische Bündnis EU durch andere imperialistische Machtstrukturen ersetzt wird, ist für den Kampf um historischen Fortschritt herzlich wenig gewonnen. Der Charakter des Endes der EU hängt schließlich wesentlich von den Kräften ab, die es bewirken. Es gilt daher für fortschrittliche Kräfte, den Kampf gegen ein imperialistisches Bündnis als antiimperialistischen Akt zu erkennen, der EU ein progressives Ende zu bereiten und der aufgehenden Sonne einer neuen Epoche zum Durchbruch zu verhelfen. Der Widerstand wächst von unten nach oben, und imperialistisches Bündnis bleibt imperialistisches Bündnis. Das Ende der EU bedeute doch einen Rückfall in den Nationalstaat, so wird beklagt. Es gehört zur Keulensammlung der EU-Apologeten, alle EU-GegnerInnen pauschal als nationale Chauvinisten abzustempeln. Warum der Chauvinismus auf EU-Ebene, wie er derzeit einhellig von oben gepredigt wird, besser sein soll, konnte allerdings noch niemand erklären. Der Chauvinismus kann sich nun einmal auf allen Ebenen breitmachen, und er ist auf keiner weniger verwerflich als auf einer anderen. Die EU abzulehnen hat daher zunächst einmal nichts mit der Affirmation oder Negation des Chauvinismus zu tun. Die eigentlich relevante Frage lautet, wie die Formierung progressiver Bewegungen und letztlich der Bruch mit dem Kapitalismus bestmöglich vorangetrieben oder erleichtert wird. Niemand wird bestreiten, dass es sinnvoll ist, wenn sich die progressiven Kräfte europaweit (und auch global) koordinieren. Es kann aber genauso wenig bestritten werden, dass es bisher nicht im Geringsten gelungen ist, den Widerstand gegen den Kapitalismus oder auch nur gegen einzelne seiner Auswüchse tatsächlich auf europäische Ebene zu tragen. Man kann daraus den Schluss ziehen, dass man es einfach noch nicht hartnäckig versucht habe und nichtsdestotrotz darauf beharren, dass der Widerstand doch bitte an der europäischen Ebene ansetzen müsse. Oder aber man zieht den Schluss, dass genau diese Herange-

hensweise die falsche ist – und der Widerstand stattdessen von unten wachsen muss! Der Widerstand muss zunächst einmal in den Betrieben, auf der Straße, in den Gemeinden, in den Schulen, Lehrwerkstätten und Universitäten entfacht werden. Sobald und insoweit die Beteiligten erkennen, dass sie in Wahrheit alle einen gemeinsamen Kampf führen und führen müssen, ist der größte und schwierigste Schritt zur wechselseitigen Koordinierung der Kämpfe bereits vollzogen. Davon haben wir aber selbst innerhalb Österreichs bloß erste Ansätze erreicht. Umso weiter entfernt sind wir davon, dies auf europäische Ebene zu tragen: Die konkreten Lebensbedingungen und Probleme der Menschen sowie die konkreten sozialen Kämpfe, die geführt werden müssen, könnten in den einzelnen Ländern unterschiedlicher oft nicht sein. Nicht zuletzt deshalb bleibt der nationale Rahmen7 weiterhin ein unerlässliches Betätigungsfeld emanzipatorischer Politik. Zur unterschiedlichen Situation in den einzelnen Ländern gehört auch, dass die revolutionären Kräfte völlig unterschiedlich stark aufgestellt sind, wodurch eine europaweite Revolution de facto undenkbar ist. Sollten nun aber beispielsweise in den abhängigen Ländern Griechenland, Portugal und Spanien die revolutionären Bewegungen weiter erstarken, so bietet sich Ländern wie Deutschland, Frankreich oder auch Österreich die EU als ein praktisches Hilfsmittel an, um diese Bewegungen rechtzeitig wieder zu ersticken oder niederzuschlagen – schließlich stehen sie außerhalb des EU-Primärrechts, hat sich die Europäische Union doch vertraglich zum Neoliberalismus verpflichtet. Die Arbeiterklasse in Griechenland, Portugal und Spanien sieht sich also nicht nur der je eigenen Ausbeuterklasse konfrontiert, sondern auch noch jener der anderen Länder. Der Kampf um nationale Souveränität wird daher zum Katalysator der anderen sozialen Kämpfe, da er diese erleichtert, gleichzeitig ist sein Erfolg Voraussetzung für den Erfolg der revolutionären Bewegung. Selbstverständlich darf er nicht von den sonstigen sozialen, demokratischen und Friedenskämpfen losgelöst geführt werden, da er sonst Formen des nationalen Chauvinismus annehmen kann; er muss internationalistisch bleiben. Eine wirkliche europäische Integration wird schließlich von den Völkern selbst vorangetrieben werden und ohne jeglichen Chauvinismus gegenüber den außereuropäischen Ländern und Regionen auskommen müssen – und also einen in wesentlichen Aspekten geradezu gegenteiligen Charakter zur angeblichen „europäischen Integration“ der EU annehmen.

7: Anm.: Der nationale Rahmen ist als ein bestimmter geografischer Rahmen (und zwar als jener geografische Rahmen, in welchem sich in der Herausbildung des Kapitalismus die Wirtschaftsbeziehungen aus sprachlichen, territorialen, historischen und kulturellen Gründen besonders gut entfalten konnten) neutral zu bewerten. Nicht neutral gegenüberstehen kann, sondern bekämpfen muss man hingegen den nationalen Chauvinismus. Genauso wie selbstverständlich auch den EU-Chauvinismus.


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Hallo, ich bin‘s, Dein Plastiksackerl. Ein schönes, buntes Plastiksackerl. Genau, eines von denen, die du fast täglich irgendwo mitträgst oder einkaufst und am Ende wegschmeißt. Ich und meine Verwandtschaft, die anderen Plastikverpackungen, -flaschen und -folien, wir gehören zu der Müllfamilie, die in Europa immerhin 58 Millionen Tonnen Kapazität umfasst. Eine stolze Menge, oder? Von Selina Schnickers

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ber jetzt mal Schritt für Schritt, ich habe uns ja noch gar nicht richtig vorgestellt. Unser Familienname „Plastik“ ist der umgangssprachliche Ausdruck für jegliche Art von Kunststoffen. Der Ursprung liegt jedoch im Griechischen und bedeutet soviel wie die „formende/geformte Kunst“. Prinzipiell wird als Kunststoff ein Festkörper bezeichnet, welcher synthetisch oder halbsynthetisch hergestellt wurde, wobei Zusatzstoffe wie Weichmacher, Stabilisatoren, Farbmittel, Füllstoffe, Verstärkungsmittel und Flammschutzmittel sowie Antistatikmittel bei meinem Fertigungsprozess beigefügt werden. Während ich und meine Familie früher noch teilweise aus Naturprodukten gefertigt wurden, bestehen wir heute großteils aus synthetischen Stoffen und werden aus den Ausgangsprodukten Erdöl, Kohle und Erdgas gewonnen. Wir sind weltweit bekannt und beliebt! Denn … wir umfassen ein enormes Einsatzgebiet. Wir können weich und hart sein und lassen uns nach Belieben und schon bei geringen Temperaturen formen. Bereits seit Generationen werden wir, die Familie Plastik, geschätzt für unsere Eigenschaften: Härtegrad, Bruchfestigkeit, Elastizität, Temperaturbeständigkeit und chemische Beständigkeit – wir sind diesbezüglich fast stufenlos regulierbar. Unsere familiären Strukturen gliedern sich in Formteile, Fasern und Folien auf und dienen somit zur Fertigung von Verpackungsmaterialien, Lacken, Klebstoffen, Textilien, Bauteilen und Isolierungen. Hierbei hab ich mich jetzt jedoch etwas zurückgehalten, um nicht zu protzen, denn eigentlich gibt es nichts auf der Welt, das es nicht auch in Plastik gibt.

So. Jetzt wisst ihr schon mal, warum wir so populär sind. Aber ich möchte ehrlich sein. Es gibt auch ein dunkles Kapitel in unserer Geschichte. Naja, eigentlich sind es viele dunkle Kapitel und die Auswirkungen sind verheerend. Wir verursachen Müll! Denn … ist einmal ein neues Mitglied unsere Familie produziert und wird nach dem Gebrauch entsorgt, so zerfällt es extrem langsam und dringt bei dem Zerfall in die Nahrungskette deiner Spezies und der Umwelt ein. Zum Beispiel mein Bruder, die PVC-Windel, braucht etwa 200 Jahre, um sich aufzulösen und gibt somit 200 Jahre lang Problemstoffe an ökologische Kreisläufe ab. Und wenn seine Partikel einmal in die Umwelt gelangt sind, gibt es keinen Rückruf mehr. Seit Beginn meines Familienstammbaumes, also seit Beginn des Plastikzeitalters, wurden so viele von uns produziert, dass mit unserer Menge der komplette Erdball sechsmal mit Plastikfolie umwickelt werden könnte (Quelle: Plastic Planet). Das klingt nach einer unvorstellbaren Menge, aber wird bedacht, dass jährlich circa 600 Milliarden Plastikbeutel hergestellt und weggeworfen werden, so geht die Rechnung auf. Denn es werden nur halbherzige Versuche unternommen, gegen diese massive Verschwendung von Ressourcen und Umweltverschmutzung vorzugehen. Nur ein verschwindend geringer Anteil meiner bereits benutzten Verwandten wird recycelt, da aufgrund der vielen verschiedenen Zusatzstoffe das Recycling nicht immer möglich ist. Dabei wäre dies von enormer Bedeutung, denn Wiederverwertung wirkt der Neuproduktion entgegen und trägt somit zur Ressourcenschonung bei.


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Einhalt zu bieten ist eigentlich gar nicht schwer! — Verzichte bewusst auf Produkte, welche unnötig viel Plastikverpackung an sich haben! — Trinke aus Glas- oder anderen recycelbaren Flaschen! — Wenn schon Sackerl, dann aus biologischem, kompostierbarem Kunststoff! — Anstatt Frischhaltefolie wiederverwendbare Boxen oder Butterbrotpapier! — Partygeschirr- und Besteck aus Holz, Pappe oder Maisstärke! Und dann das eigentlich Naheliegendste: — Jutebeutel statt Plastiksackerl! Denn die schauen mit schönen Motiven und Farben nicht nur toll aus, halten wirklich jeden Inhalt und sind oft- und vielseitig verwendbar, nein, du rennst auch nicht als Werbetafel auf zwei Beinen durch die Gegend, du vermeidest viele, viele Plastiksackerl und du sparst dir Geld, Nerven und erntest Umwelt-Charmepunkte!

KUNST AM STOFF STATT KUNSTSTOFF! Aufgrund der vollkommen unnötigen Masse an Kunststofftüten auf der Erde rufen wir zum künstlerischen Protest auf! Hast du eine coole Idee, das Thema Plastikkonsum in ein Logo, ein Bild oder einen Spruch zu packen? Dann sende uns doch einfach deinen Entwurf zu! Es gibt natürlich für die kreativsten Köpfe auch ordentlich was zu gewinnen! Preis 1: Dein Motiv wird auf die „Welcome Bags“ der ÖH Salzburg gedruckt, welche an die StudienanfängerInnen verteilt werden. Dein Motiv in ganz Salzburg! Einsendeschluss: 31. Juli 2014!

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In einigen Ländern wurden wir bereits verboten, da wir beispielsweise in Dehli in den Monsunzeiten die Rohre und Abwasserkanäle verstopfen. Bangladesch hat als erster Staat Plastik komplett verboten, Paris bzw. seit 2010 ganz Frankreich folgten dem Beispiel. Wir vergiften Ozean und Tiere! Denn … wir übersäen die Meere und Strände. Wir dringen in die natürlichen Nahrungsketten der Tiere ein und reichern unsere Gifte auch in jenen Meereslebewesen an, welche letztendlich von dir verzehrt werden. Doch wir töten nicht nur durch schleichendes Gift, sondern auch direkt. Viele Meeresbewohner halten uns für Nahrung und verenden letztendlich elendig. Laut Greenpeace fielen uns weltweit 267 verschiedene Tierarten zum Opfer und jährlich sterben wegen unseren konsumierten Körpern 100.000 Meeressäuger unter erbärmlichen Umständen. In gewissen Teilen des Meeres übersteigt die Population meiner Plastikangehörigen den Anteil des im Meer lebenden Planktons um das 60-fache. Südlich von Hawaii hat sich aufgrund der sich im Uhrzeigersinn drehenden Strömung im Pazifik ein Treffpunkt meinesgleichen gebildet, welcher eine Menge von 100 Mio. Tonnen Müll umfasst, der knapp unter der Wasseroberfläche schwimmt, Partikel für Partikel verliert und somit eine giftige, strudelnde Suppe darstellt. Seit 60 Jahren sammeln sich dort immer mehr Angehörige der Plastikfamilie und besetzen eine Fläche, welche nach Schätzungen von WissenschaftlerInnen bereits doppelt so groß wie Mitteleuropa ist. Wir vergiften dich! Denn … zahlreiche Studien bestätigen den Partikelabstoß von Plastikbehältern und die damit einhergehende, chemische Vergiftung des menschlichen Körpers, sowie eine negative Beeinflussung des Hormonsystems. Zum Beispiel können einige meiner Partikel (BPA) bei dir gesundheitliche Schäden wie Allergien, Fettleibigkeit, Unfruchtbarkeit und Krebs auslösen, denn sie wirken krebserregend, entwicklungstoxisch und reproduktionstoxisch. Und diesen Chemikalien, besonders die Bisphenol A-Chemikalie, ist praktisch in allen meinen Verwandten enthalten, die du täglich gebrauchst, beispielsweise in Baby- und Getränkeflaschen, Essgefäßen und Lebensmittelverpackungen. Tu was! Jetzt war ich aber ehrlich. Ich hab dir erzählt, wozu ich nützlich bin und was ich anstelle. Und jetzt habe ich eine Bitte an dich: Abgesehen davon, dass ich nicht begeistert bei dem Gedanken bin, jahrelang im Meer zu kreisen, langsam zu verrotten und dabei Tiere und Menschen zu schädigen und umzubringen, sollte es doch vor allem in DEINEM Interesse liegen, die Erde sauber und dich und andere Lebewesen gesund und munter zu halten. Durch deinen Konsum wächst die Verschmutzung der Umwelt und der Meere rasant.


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„Die meisten Leute in St. Johann wissen ja heute nicht einmal, dass hier einmal Juden und Jüdinnen gelebt haben.“ Annemarie Zierlinger ist pensionierte Geschichtelehrerin und Obfrau des Vereins „Geschichtswerkstatt St. Johann im Pongau“, Obfrau des Personenkomitees Stolpersteine in St. Johann und Mitglied im Personenkomitee in Salzburg. Das Interview führte Jakob Rettenbacher. UP: Ich begrüße dich herzlich zum Interview. Zierlinger: Hallo. Du bist Gründungsmitglied im Verein „Geschichtswerkstatt St. Johann im Pongau“. Was war der Anstoß zur Gründung? Der Anstoß zur Gründung war das Ziel, eine größere Breite und Wirksamkeit zu erreichen. Wir fangen ja nicht bei null an. Es ist bereits viel gemacht worden, allerdings nur von Einzelpersonen. Um Breitenwirkung zu erreichen brauchen wir Subventionen. Diese bekommt man allerdings nur als Verein. Das ist ein Aspekt. Ein weiterer ist die angedachte Verlegung von Stolpersteinen in St. Johann im Pongau. In Salzburg gibt es die Stolpersteine schon seit 2007 und ich bin auch im Personenkomitee. Ich glaubte, dass die Verlegung in St. Johann von Salzburg aus funktionieren würde. Das hat sich allerdings als falsch herausgestellt. Es muss sich also vor Ort ein Personenkomitee für die Verlegung der Stolpersteine bilden? Genau. Der Verein „Geschichtswerkstatt St. Johann im Pongau“ ist gleichzeitig ein Personenkomitee. Wir stellen über den Verein die Anträge, denen die Gemeinde zustimmen muss, da die Stolpersteine im öffentlichen Raum verlegt werden und danach in den Besitz der Gemeinde kommen. Du hast vorher die Einzelpersonen angesprochen, die vorher im Bereich Erinnerung an die NS-Zeit aktiv waren. Ich bin bei meiner Recherche immer wieder auf den Historiker Michael Mooslechner und seine Broschüre über das Kriegsgefangenlager STALAG XVIII C gestoßen. Wie hat das Engagement von Einzelpersonen im Raum Pongau begonnen? Michael Mooslechner war sehr wichtig. Bereits 1986 hat er gemeinsam mit Robert Stadler das Buch „St. Johann/Pg. 1938-1945“ veröffentlicht. Das stellt die erste wirklich lokale Aufarbeitung der NS-Zeit dar. Ich glaube sogar österreichweit.

Also vor 1986 hat sich gar nichts getan? Nein, überhaupt nicht. Es ist auch insgesamt in der Geschichte ein Problem, dass immer nur die großen Orte wie Wien oder Berlin beleuchtet werden, aber was regional im kleinen Raum passiert ist, kaum. Mooslechner und Stadler haben wirklich Pionierarbeit geleistet. Damals in den 1980er Jahren gab es auch noch viele GegnerInnen. Heute ist die Stimmung eine andere. Die Arbeit Mooslechners wird heute sehr geschätzt und findet auch Anerkennung. Reibereien gibt es noch in Goldegg. In Goldegg? Ja, etwas ganz aktuelles. Michael Mooslechner hat sich auch mit den Deserteuren von Goldegg beschäftigt. Diese Menschen haben auch Unterstützung von HelferInnen aus St. Johann bekommen. Die Tochter des Deserteurs Karl Rupitsch, der in Mauthausen umgekommen ist, will eine Gedenktafel in Schloss Goldegg anbringen. Ihr ist besonders wichtig, dass die Erinnerung im Zentrum von Goldegg angebracht wird. Das wird allerdings nicht gern gesehen. Von welcher Seite gibt es Widerstand? Von Seiten der Politik. Es gibt immer noch eine gewisse Angst und es wird zu wenig über das Thema reflektiert. Die Gemeinde wäre einverstanden, wenn die Tafel am Böndlsee wäre, also noch weiter in der Peripherie und nicht im Zentrum von Goldegg. Nun zurück zu den Stolpersteinen. Die Stolpersteine haben genau diesen Zweck der Erinnerung. Woher sind die verwendeten Informationen über die Personen, an die durch die Stolpersteine gedacht werden soll? Wir verwenden, wie das Personenkomitee in Salzburg, das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes. Für jedes Bundesland gibt es eine genaue Auflistung der einzelnen Orte. So kann man für jeden Ort genau sehen, was dort passiert ist, seien es Widerstand, Deserteure oder Euthanasieopfer. Allerdings ist das weithin nicht bekannt. Das Dokumentations-


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archiv ist ein fundamentales Werk und ist für uns sehr hilfreich, wenn wir nach Dokumenten suchen. Bei einzelnen Opfern sind auch noch Angehörige am Leben und mit denen sind wir auch in Kontakt. Was hat sich seit Aufkommen des Internets in der Recherche geändert? Heute ist es viel einfacher mit dem Recherchieren. Es gibt verschiedenste Archive dafür. Gerade heute haben wir eine Information über einen Herren vom Archiv Dachau bekommen. Franz Furtner, damals in St. Johann wohnhaft, ist bereits im Sommer 1938 als so genannter „Asozialer“ nach Dachau deportiert worden. Da ist die Arbeit mit den Online-Archiven ungemein hilfreich. Das Dokumentationsarchiv hat beispielsweise Opferdateien angelegt. Wenn man also die Namen weiß, dann sieht man, was da aufscheint. Du bist ja pensionierte Geschichtelehrerin. Hast du mit den SchülerInnen auch Projekte gemacht? Ja, das erste Projekt habe ich mit SchülerInnen gemacht: „Letter to the stars“. Das war in der vierten Klasse Unterstufe des Gymnasiums. Die TeilnehmerInnen waren motiviert, da das Ganze einer Detektivarbeit gleicht. Das Zusammentragen der Informationen mithilfe des Internets war äußerst ertragreich. Leute in Wien haben nicht gewusst, dass die Menschen, deren Daten sie gespeichert haben, aus St. Johann sind. So nach und nach entstand dann ein besseres Bild der Geschehnisse. Das Motto dieses Projektes war, wie auch bei den Stolpersteinen, dass der Name nicht vergessen wird. Denn wenn der Name vergessen ist, ist auch der Mensch vergessen. Die Existenz von Menschen wurde einfach ausgelöscht. Die meisten Leute in St. Johann wissen ja heute nicht einmal, dass hier einmal Juden und Jüdinnen gelebt haben. Es gibt ja auch keinen Hinweis darauf. Deswegen sind uns als Geschichtswerkstatt St. Johann im Pongau die Stolpersteine so wichtig. Wir möchten auch, wie es in Salzburg ist, eine eigene Homepage, wo man zu den Stolpersteinen auch mehr Informationen beispielsweise über Umfeld und Wirkung der Personen erfahren kann. Ein Beispiel wäre die Familie Holzer. Sie waren ungemein soziale und im Ort geschätzte Menschen. Sie besaßen im Ort die Buchdruckerei. Herr Holzer fertigte auch Ansichtskarten von St. Johann an. Diese gibt es bis heute. Nur weiß niemand, was „Holzer“ bedeuten soll. Das steht auf diesen Karten. Was ist persönlich die Motivation, da aktiv zu sein, in diesem Verein und sogar dann Obfrau zu sein? Für mich war es immer schon eine wichtige Sache, dass man die Menschen, die Opfer des Nationalsozialismus geworden sind, nicht vergisst. Wenn mich

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heute jemand fragt, wer mein Vorbild ist, dann habe ich immer dieselbe Antwort. Das sind die Frauen und Männer, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben. Deshalb ist es für mich so unverständlich, dass man diese Menschen nicht schätzt, wie es z.B. in Goldegg der Fall ist. Es gibt unzählige tragische Geschichten von Menschen, die Jahrzehnte nach dieser Zeit in St. Johann gelebt haben und nie für ihre Taten respektiert worden sind. So gibt es die Geschichte einer Frau, eine Helferin für die Goldegger Deserteure. Sie ist ins KZ Ravensbrück deportiert worden und hat überlebt. Nachdem sie weitgehend zu Fuß zurück nach St. Johann gekommen ist, war sie alleine und ist ignoriert worden. Der damalige Bürgermeister von St. Johann von 1949–1978, Hans Kappacher, war bereits in der NS- Zeit Bürgermeister und ist noch heute Ehrenbürger der Stadt St. Johann. Sie hat es nie mehr geschafft, ins Ortszentrum zu gehen. Sie ist als verbitterte Frau gestorben. Es ist bestürzend, dass TäterInnen auch nach dem Krieg noch geehrt und die KämpferInnen für Freiheit ignoriert werden. Diese Menschen sind Vorbilder, da sie es gewagt haben, sich gegen dieses System des Verbrechens aufzulehnen. Wollen wir das Interview mit einer positiven Geschichte abschließen? Gerne. Adi Schwaiger, der Betreuer des Russenfriedhofs, hat neulich ein rührendes Erlebnis gehabt. Der Russenfriedhof ist die Gedenkstätte für die Opfer des Kriegsgefangenlagers STALAG XVIII C mit rund 3800 Opfern. Die Arbeit am Russenfriedhof ist uns als Geschichtswerkstatt auch sehr wichtig. Ende November 2013 ist ein Brüderpaar mit einer Tochter aus Rostov am Don angereist, um eine Gedenktafel für ihren Vater anzubringen. Sie erzählten, dass sie in der damaligen Sowjetunion bzw. in Russland Jahrzehnte nach Informationen gesucht haben, leider ohne Erfolg. Erst jetzt haben sie durch die Öffnung der Archive und die Aufarbeitung von Mooslechner und anderen erfahren, dass ihr Vater in St. Johann im Pongau begraben liegt. Sie haben also die Tafel von einem Steinmetz anbringen lassen. Dann ist es Tradition in Russland, ein kleines Fest zu machen. Es wurde also dort gegessen und Wodka getrunken. Der Wodka wurde dann auch herumgespritzt. Sie haben dann auch Erde aus Rostov mitgenommen und in St. Johann verstreut. Anschließend haben sie Erde aus St. Johann mitgenommen, um auch zu Hause eine Erinnerung an ihren Vater zu haben. Durch solche Erlebnisse erkennt man auch, wie wichtig die Arbeit der Aufarbeitung ist. Vielen herzlichen Dank für das Interview. Danke, hat mich gefreut.


© Recuerdos de Pandora

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Die Ruhe vor dem Sturm oder Wie der Krieg die schöne Zeit beendete Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jährt sich 2014 zum 100. Mal. Über die Gründe und Ursachen des Kriegsbeginns gibt es viele Untersuchungen und noch mehr Spekulationen. Doch wie ging es der Bevölkerung in einer langen Zeit des Friedens? Wie gestaltete sich das kulturelle und künstlerische Leben der Vorkriegsgesellschaft? Von Lisa Mitterbauer

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as Jahr 1914 markiert einen dramatischen Wendepunkt in der Weltgeschichte. Nicht nur Kunst, Kultur, Technik und Wissenschaft befanden sich entwicklungstechnisch auf einem gefeierten Höhepunkt, auch die europäischen Staatengebilde zelebrierten ihre globale Dominanz. Geschuldet war die weltweite Vorherrschaft Europas als Kolonialmacht nicht zuletzt den technischen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte. Die scheinbar friedliche Stabilität der bestehenden Weltordnung bröckelte aber. In den 1890er Jahren war die „Aufteilung der Welt“ zum Großteil abgeschlossen, doch das Deutsche Reich und Italien fühlten sich benachteiligt. Mitunter aus dieser Empfindung heraus strebte der deutsche Kaiser seit dem Kriegsrat am 8. Dezember 1912, noch hinter vorgehaltener Hand, einen europäischen Krieg an. Das europäische Bündnissystem, das Wettrüsten sowie der Imperialismus und innenpolitische Konflikte schürten Unstimmigkeiten zwischen den europäischen Mächten. Dem Deutschen Reich sowie der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wird nachgesagt, dass sie sich nicht eingestehen wollten, der Weltmachtsrolle nicht gewachsen zu sein. Das

Deutsche Reich fürchtete den Rüstungswettlauf zu verlieren. Vor diesem konfliktreichen politischen Hintergrund erklärte Österreich-Ungarn nach dem Attentat auf den Thronfolger in Sarajewo Serbien den Krieg. Anfänglich beschränkte sich die Kriegsbegeisterung wohl nur auf die großstädtische Mittelund Oberschicht. In Frankreich beschäftigte sich die Bevölkerung hauptsächlich mit Innenpolitik. Erst nach Kriegseintritt machte sich Kampfbereitschaft breit. Womöglich hingen die Menschen noch einer zweifelsohne beeindruckenden Zeit nach. Einer Zeit der Flaneure auf großzügigen Boulevards, der durch elektrisches Licht hell erleuchteten Kaffeehäuser und der rauschenden Ballnächte (denen einige von uns heute noch nachhängen). Die Belle Epoque war eine Zeit großer materieller Sicherheit, in der Optimismus gegenüber politischen, technischen und kulturellen Veränderungen bestand. Belle Epoque bedeutete zum einen uneingeschränkte Lebenslust und gesellschaftliche Sorglosigkeit. Zum anderen schloss die „feine Gesellschaft“ Bäuerinnen und Bauern, LandarbeiterInnen, IndustriearbeiterInnen und kleine Angestellte vom „schönen Leben“ aus. Arbeitstage gefüllt mit eintöniger Fabrikarbeit an


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Zeit der Flaneure auf groSSz� zügigen Boulevards, der durch elektrisches Licht hell erleuchteten Kaffeehäuser und der rauschenden Ballnächte den ersten Fließbändern, die den heutigen 8-Stunden-Arbeitstag um ein Vielfaches überstiegen, waren die Norm. Dazu kamen schlechte Wohnbedingungen in den rasch wachsenden Städten. Trotz all dieser negativen Aspekte des täglichen Lebens bestand in allen gesellschaftlichen Schichten eine gewisse Freude am Leben. Seit dem Frieden von Frankfurt am 10. Mai 1871, der formell den DeutschFranzösischen Krieg beendete, lebten die Menschen in Europa ohne große kriegerische Auseinandersetzungen. In immer kürzeren Zeitabständen gab es neue Phänomene in fast jedem Bereich des täglichen Lebens zu bestaunen. Die Weltausstellung 1889 ließ die bevorstehenden Neuerungen des kommenden 20. Jahrhunderts bereits erahnen. Erstmals wurde das Messegelände elektrisch beleuchtet. Und Gustav Eiffel schuf mit seinem Stahlturm das Symbol für eine von Technologie geprägte Zukunft. Aber auch in der Malerei, dem Kunstgewerbe, der Architektur sowie der Musik wurden neue Wege beschritten. In Österreich gründete sich, nach Berliner und Münchner Vorbild, 1873 die Secession. Sie markierte den Bruch mit dem traditionellen Konservativismus und sah sich selbst als Alternative zum Wiener Künstler-

haus. Ihre Vertreter, etwa Gustav Klimt, Egon Schiele, und Oskar Kokoschka, stellten den Anspruch auf einen neuen Stil, der der neuen Zeit entsprechen sollte. Bezeichnend dafür ist bis heute die Forderung, die über dem Eingang der Secession in Wien prangt: „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“. Das kulturelle Leben öffnete sich für alle Klassen. Man vergnügte sich in den Cabarets und lachte in den Kabaretts. Der Drang nach Neuem, Unverbrauchtem und Sensationellem beschränkte sich aber nicht nur auf die Kunst. Neue gesellschaftliche Bewegungen formierten sich. Die Frauenemanzipation feierte Erfolge, der Vegetarismus erfuhr einen bis dahin unbekannten Aufschwung und der Antialkoholismus, die Antiraucher- sowie die FKK-Bewegung erhielten Zuwachs. Zusammengefasst beschreibt die Belle Epoque drei Jahrzehnte des Aufbruchs, des Optimismus und der außergewöhnlichen Veränderungen. Doch bereits 1910/11 zeichnete sich das Ende ab. Der Jugendstil kam aus der Mode und erste Ansätze des Expressionismus und des Bauhausstils waren erkennbar. Doch spätestens der Kriegsausbruch beendete die scheinbar unbeschwerte Zeit endgültig.


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kultur & menschen

Und dann? S Eine Erzählung von Christina Schneider

ie deckten ihn zu. Nahezu unwürdig diese Plastikabdeckung. Aber am Ende sind wir alle gleich. Ganz egal, wer wir waren. Hätte Hoffnung bestanden, hätte man ihn in einen Rettungswagen geladen. Anstelle des Rettungswagens stand nur ein schwarzes, überdimensioniertes Gefährt mit verdeckten Fenstern vor dem Haus. Sie luden ihn ein. Deckel zu. Weg. Für alle Beteiligten war der Fall klar abgeschlossen; für den Nachlass hatte das große Leiden erst begonnen. Der knarrende Holzboden war endgültig verstummt. Die letzten Staubpartikel sanken zu Boden und bedeckten die Trostlosigkeit des wertlosen Besitzes. Ein Hut, ein rotes Notizbuch, Stofftaschentücher, ein Frühstücksmesser. Und der Lehnstuhl. Solche Dinge sind doch nichts wert. Niemand würde sie kaufen. Sie waren nutzlos. Weil sie nun bedeutungslos und nutzlos waren, waren sie wertlos. Der Hut würde bis zur Zwangsräumung noch eine Gnadenfrist bekommen und dann den Garderobenhaken, der ihm 64

Jahre lang Halt gegeben hatte, für immer verlassen. Niemand wusste wohin er dann gehen würde. Das rote Notizbuch lag fein säuberlich verschlossen exakt zwei Zentimeter vom Schreibwerkzeug entfernt auf dem Tisch. Es lag so da, wie er es immer hingelegt hatte. Es lag da, als würde er es heute wieder zur Hand nehmen und mit seinen Worten erfüllen. Der rote Umschlag glänzte im Sonnenlicht. Draußen schien die Sonne als wäre es ein Tag wie jeder andere. Aber in seinen Gemächern war nichts mehr wie es war. Wolken von Tristheit lagen in der Luft. Der Besitz war nun kein solcher mehr, da ihn niemand besitzen wollte und der, der sie alle – jedes einzelne Ding – so geschätzt hatte, nun fort war. Der Hut trug noch seinen Geruch in sich. Vom Markenzeichen zur puren Nutzlosigkeit – ein irreversibler Weg. Der Lehnstuhl hatte sie beide immer verbunden. Nachdem seine Frau gestorben war, setzte er sich jeden Tag stundenlang an die Stelle, an der sie immer gesessen und gestrickt hatte. Dieser Stuhl hatte die Fähig-


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keit, die Nähe wiederherzustellen. Nun war niemand mehr da, der ihre Nähe suchte. Niemand würde sie vermissen – sie beide. Niemand würde sich erinnern. Niemand würde die Geschichte hinter dem Stuhl je erfahren. Niemand würde seinen wahren Wert und seine wahre Schönheit je wieder erkennen. Der Stuhl war wertlos. Wert- und nutzlos. Das Frühstücksmesser trug noch seine Fingerabdrücke. Mit Stolz. Als wären es Juwelen. Unwiederbringliche Juwelen. Er war gegangen. Erst jetzt wurde all den Besitzstücken klar, dass er derjenige gewesen war, der dieser Anordnung – die erst durch ihn zu einer Ansammlung, dann zu einer Anordnung wurde – Raum und Sinn verliehen hatte. Niemand anderer würde sie brauchen. Andere hatten ihr Leben bereits mit anderen Dingen ausgefüllt. Bis zum Rand. Vollgestopft. Das Frühstücksmesser lag da, als würde es auf den kommenden Morgen warten. Auf ihn. Aber es war hoffnungslos. Das Brummen des Kühlschrankes war lange verstummt. Genau wie sein Herzschlag.

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Bananenrock aus Bayern – ein wahrer Ohrenschmaus! Hinter dem Bandnamen „Mr. Serious & The Groove Monkeys“ steht eine fünfköpfige Rockformation aus Weilheim in Oberbayern. Seit 2010 traten die Affen in wechselnder Besetzung auf, ehe sich 2012 die jetzigen fünf Musiker zu einer Horde zusammenrotteten. Nun wollen sie sich mit der Veröffentlichung ihrer „EP2013“den Planeten erobern. Von Jannik Richter

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er eingeschlagene Weg wirkt vielversprechend. Zunächst ist die einwandfreie Produktion hervorzuheben, die auf einem absolut professionellen Niveau daher geschippert kommt. Sie besticht durch einen klaren und druckvollen Sound. Dem perfekten Hörerlebnis sind somit keine Bananen in den Weg gelegt. Kein Instrument einer klassischen Rockformation kommt hier zu kurz – was wichtig ist, denn technisch wie musikalisch liefern die vier Musiker an Bass, Gitarre und Schlagzeug richtig gute Arbeit. Besonders die Rhythmus-Fraktion verdient höchsten Respekt: Die äußerst gefinkelten und innovativen Leistungen am Bass lassen keine 0815-Underground Band vermuten. Endlich wieder mal ein richtiger Bassist, der den Viersaiter nicht nur aufgrund der vermeintlich geringeren Komplexität gegenüber der Gitarre (da sind ja immerhin sechs Saiten zu bespielen) erlernt hat. Gestützt durch die groovig-funkigen Basslines, entsteht der absolut eigenständige Sound von „Mr. Serious & The Groove Monkeys“, der klassische Hard Rock Riffs mit verschiedenen Genres vermischt. Funk, Indie und die Komplexität des Progressive Rock werden hier in einer fruchtbaren Kombination zu einem stimmigen Soundteppich verknüpft. Der rote Faden durchzieht dieses Geflecht irgendwo zwischen den Red Hot Chili Peppers, Audioslave und Tool.

Mit dem Opener „Booze“ zeigen die Jungs gleich mal, was sie so drauf haben, und nehmen uns mit auf eine anspruchsvolle musikalische Reise im Wechsel zwischen Melancholie und Euphorie, die sich durch alle sechs Songs der EP zieht. Hier bekommen wir experimentellen Rock fern von allen Genre-Schranken geboten, der trotz seiner komplexen Strukturen nicht an Eingängigkeit verliert. Auch der Sänger überzeugt mit seinem ausdrucksstarken Gesang, der dem Gesamtsound noch eine spezielle Note verleiht und stellenweise an Matthew Bellamy (Muse) erinnert. Von wütenden Refrains wie im Stück „Bug“ bis hin zu sanften, fast schon balladenhaften Passagen im hitverdächtigen „Alone“ – stimmlich kann der Frontman immer begeistern. So grooven und rocken die fünf Affen durch eine großartige erste Scheibe, die man so direkt auf jeder Radio Station laufen lassen könnte. Für Anhänger der verschiedensten Rock-Genres ist hier etwas dabei. Im Internet findet ihr „Mr. Serios & The Groove Monkeys“ unter: www.serious-monkeys.com Die EP gibt es zum kostenlos Anhören auf Spotify, erwerben könnt ihr sie als Download auf iTunes und Amazon, sowie als Digipack im Shop auf ihrer Website.

Kein Instrument einer klassischen Rockformation kommt hier zu kurz.


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„I sog eich ans: Nu is ned z'spät!“

© Erwin Schuh

Das neue Album von Sigi Maron erschien pünktlich zum 70. Geburtstag des legendären österreichischen Liedermachers. „Dynamit und Edelschrott“ ist nicht zuletzt deshalb ein besonderes Album, weil es leider, wie Maron angekündigt hat, sein letztes bleiben wird. Er will so lange Musik machen wie es geht, seine bereits angeschlagene Gesundheit erlaubt ihm aber nur mehr wenige Auftritte, außerdem möchte er hin und wieder einzelne Lieder aufnehmen. Alben seien heutzutage allerdings ohnehin überholt, meint Maron. Von Stefan Klingersberger

Thematisch befasst sich der überzeugte Kommunist wie gewohnt vorwiegend mit gesellschaftlichen und politischen Problemen.

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ie schon das vorhergehende, 2010 erschienene Album „es gibt kan gott“ wurde das Album mit der Ska/Reggae-Band „The Rocksteady Allstars“ aufgenommen, die die Texte von Maron mal passend untermalen, mal in Kontrast setzen. Die Texte sind wie gewohnt im Wiener Dialekt gehalten und gerne auch mal derb und voll schwarzem Humor. Das Album hat außerdem einige interessante Kooperationen zu bieten, und zwar mit Erdal Abaci, Peter Turrini, Die Bandbreite, Attwenger und Patrick Cinque. Thematisch befasst sich der überzeugte Kommunist, wie man es von ihm gewohnt ist, vorwiegend mit gesellschaftlichen und politischen Problemen: Von der Wegwerfgesellschaft, die sich nicht im Geringsten um die Arbeitsbedingungen derer kümmert, die die Produkte herstellen („Do steckt Bluat in mein Handy“), über Arbeitslosigkeit und die Notwendigkeit, zu Betteln („Nicht vermittelbar“ und „Freiheit du bist wunderboa“), bis hin zur leider wieder hochaktuell gewordenen Debatte um den 12-Stunden-Arbeitstag („Wos is heit fia a Tog“). Wieder einmal wird auch über die Flüchtlinge gesungen, die fast täglich auf ihrem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrinken: Das Lied „Obndessen“ beginnt als eine Ballade darüber, wie schön das Leben doch sein kann, über die mannigfaltigen Glücksmomente des vermeintlich Einfachen, über das Genießen des Augenblicks. Doch plötzlich geht am Horizont im Meer ein Boot mit Flüchtlingen unter: „Da Wind entwickelt si zum Orkan, weit draußen, do kentert a Boot. A boa Leid, de head ma nu Hüfe schrein, de meisten san oba scho tot. Leichen pflostern des Mittelmeer, verstopfen Flüsse und Seen – don kenan de Leid von übaroi her, zu Fuaß zu uns umageh.“ Und am nächsten Abend genießt man das „Obndessen“ schon wieder ganz ungetrübt: „Oba moang is des ollas längst vergessn, daun schmeckts uns a wieder, des Obndessn“.

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KULTUR & MENSCHEN © Kaniths (Flickr)

Erich Hackl versteht es auf eine besondere Weise, Geschichte und Literatur, Politik und Leben in eine Einheit zu bringen. Der österreichische Schriftsteller und Übersetzer, vielfacher Preisträger und Ehrendoktor der Uni Salzburg, feierte am 26. Mai 2014 seinen 60. Geburtstag. Nachträglich finden sich hier einige Überlegungen zu seinem Werk. Von Stefan Klingersberger

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ie Philosophie Ernst Blochs fordert konkrete Utopie: Diese Form utopischen Denkens vermeidet jegliche Schwärmerei „bloßer“ beziehungsweise „abstrakter“ Utopie, indem sie sich zwar eine bessere, auch goldene Zukunft ausmalt, sie aber stets mit den historischen Bedingungen, also dem konkreten Weg dorthin, vermittelt. Bloße Schwärmerei wäre heuchlerisch, stattdessen muss das utopische Denken durch die umgestaltende Tat verwirklichbar sein und diese in sich selbst einbegreifen. Denn letztlich geht es um „den Umbau der Welt zur Heimat“1 als etwas, das „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“2. Hackls konkret-utopische Methode. In diesen Kontext lässt sich auch das Werk Erich Hackls setzen. Es erscheint dann als ein wertvolles Stück solcher konkreten Utopie, errichtet mit einer ganz bestimmten Methode, die Hackl konsequent anwendet und die im Wesentlichen von der bestimmten tatsächlich erlebter Biografien lebt. Die geforderte Konkretheit wird dadurch abgesichert, dass Hackl stets der Wirklichkeit verhaftet bleibt. Seine Figuren sind oft heldenhaft, zuweilen äußerst widersprüchlich, meist gutgesinnt, aber immer wirklich, denn Hackl erfindet keine Geschichten – er findet sie. Das Utopische hingegen besteht darin, dass Hackl jene Lebensgeschichten auswählt, die uns etwas über das menschliche Miteinander sagen. Freilich ist dies nichts Beliebiges, sondern etwas, das im Kampf um die Verwirklichung besseren Lebens in irgendeiner Weise eine Lehre sein kann. Sei es in der Geschichte von Helden wie etwa des Ehepaars Breirather, deren selbstverständliche Opferbereitschaft, Geradlinigkeit und Liebe als glanzvolle Vorbilder dienen müssen. Sei es der gescheiterte Versuch von Mutter und Tochter Rodríguez, der Grenzen dessen aufzeigt, was im Sinne des guten Lebens oder eines „neuen Menschen“ (Che Guevara) erzwungen werden kann. Sei es aber auch wenn schlechte Umstände bewirken, dass Armut diebisch und die Hölle der Konzentrationslager gleichgültig machen – woraus mit Marx freilich nur die Forderung folgen kann, „die Umstände menschlich [zu] bilden“3. Die Vorahnung einer besseren Welt und der Kampf

Erich Hackls Werk als konkrete Utopie um sie sind Hackls Ausgangspunkte, seine Motive im doppelten Sinn: als Triebfeder und als Thema. Diese Welt hält Einzug in all seine Bücher, aber nie abstrakt oder kitschig, sondern stets so verworren oder klar, so versteckt oder sichtbar, wie es die noch viel zu schlechte Wirklichkeit und das darin lebende Leben erlauben oder nahelegen. Gutes Leben im schlechten heißt: Kampf gegen das Schlechte. Zum Ideal eines guten Mensch – wie es auch in Hackls Werken durchscheint, mal positiv, mal negativ, zumeist widersprüchlich – gehört, dass er aufrecht geht, dass er sich nicht korrumpieren oder einschüchtern lässt. Er sieht das Politische im Privaten und das Private im Politischen, das Individuelle im Gesellschaftlichen und das Gesellschaftliche im Individuellen, er weiß, dass die großen Fragen durch die kleinen Fragen bedingt werden und umgekehrt – und dass es sich mit den Antworten genauso verhält. Keine der Figuren aus Hackls Erzählungen kann diese Ansprüche gänzlich erfüllen, da es sich um wirkliche Menschen handelt, die der „finsteren Zeit“ (Bert Brecht) noch nicht entronnen sind. Sie können ihr gutes Leben also nur im schlechten führen: Das ist aber keines im Elfenbeinturm, sondern eines auf dem

1: Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Seite 334, Suhrkamp-Verlag, 9. Auflage 2013. 2. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Seite 1628, Suhrkamp-Verlag, 9. Auflage 2013. 3: Karl Marx und Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, http://www.mlwerke. de/me/me02/me02_082.htm


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Boden der Realität, und es zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es das schlechte Leben bekämpft und dadurch zu bessern trachtet. Die Macht der Utopie – der Utopie die Macht. Manche von Hackls Erzählungen scheinen jedoch auf den ersten Blick nur pessimistisch machen zu können: Sie enden mit Tod und Scheitern, und für die LeserInnen mit dem beklemmenden Gefühl, dass die Menschheit vielleicht doch nie dazulernt. Zuweilen scheint das gute Leben prinzipiell zu schwach zu sein, ein bloßer Traum, abstrakte Utopie, die von der schlechten Wirklichkeit beinhart widerlegt wurde. Eben doch nur ein Luftschloss schwärmerischer Herzen, während der nüchterne Blick erkennen müsse, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei (Thomas Hobbes) und es nun einmal auch nicht anders sein könne? Zunächst einmal, was wird man denn im Rückblick wohl höher schätzen: Den utopischen Vorschein auf bessere Zukunft, der aus Schwäche (vorerst) scheiterte, oder die Macht, die ihn zum Scheitern brachte? Die Antwort scheint eindeutig auszufallen. Und trotzdem: Ob es diesen Rückblick überhaupt geben wird, hängt davon ab, ob es dem konkret-utopischen Denken gelingt, die kulturelle Hegemonie zu erobern

und dadurch reale, materielle Macht zu werden. Auch das gehört zur konkreten Utopie: Jede Utopie bliebe Schwärmerei, würde sie nicht stets versuchen, sich bewusst und selbstbewusst, planvoll und organisiert in die Wirklichkeit und ihre Kämpfe einzumischen und durch diese Kämpfe stärker zu werden. Darüber liest man in den Büchern Hackls nichts? Doch, aber eben oft negativ: Gerade weil das Gute bisher zu ohnmächtig war, siegt wieder einmal das Schlechte – und selbst „bisher“ stimmt das freilich nur zum Teil, und zwar unbedingt auch in Hackls Büchern. Das Spiel von Zufall und Notwendigkeit. Viele der Erzählungen, oder auch einzelne Ereignisse daraus, wirken gerade dadurch noch viel erschütternder, dass man nicht nur aus der Kenntnis von Hackls literarischem Stil weiß, dass sie auf wahren Begebenheiten basieren, sondern sogleich erkennt, dass man auch aus dem eigenen historischen Wissen, dem eigenen Hausverstand und der eigenen Lebenserfahrung schon immer geahnt hat, oder hätte ahnen können, dass solcherlei Dinge passiert sind. Alsbald wird der Blick darauf klarer, dass sich in den geschilderten Einzelfällen die seinerzeitige Gesellschaft spiegelt, dass sich das Unrecht, das den Personen zugestoßen ist, hundertfach, tausendfach, gar millionenfach ereignet hat. An mehreren Stellen hätte sich nur die bedeutungsloseste Kleinigkeit anders ereignen müssen, um die schlimmsten oder, je nach der konkreten Situation, die besten Folgen zu haben. Ganz leicht hätten zum Beispiel manche der Figuren (früher) sterben können und es hätte entweder nicht allzu viel zu erzählen gegeben oder es wäre ohnehin alles in Vergessenheit geraten. Doch zu ihrem Glück4 hatte es sich so und nicht anders ereignet, es gab daher doch etwas zu erzählen, und das gerät unter anderem dank Hackl nicht in Vergessenheit. Unzähligen anderen, den meisten anderen, auch und besonders jenen, die ebenfalls mit Rückgrat und dem Herzen am rechten Fleck durchs Leben gingen, blieb dieses jedoch Glück versagt. Wir wissen nicht, wie viele sie waren, wir kennen ihre Namen nicht, ihre Geschichten sind vergessen, man hat ihnen das Gesicht geraubt. Ihrer kann nur namenlos oder durch ihre StellvertreterInnen, die uns bekannt geblieben sind, gedacht werden. Letzteres unermüdlich zu tun, gehört wesentlich zu den Verdiensten Erich Hackls. Anlässlich des 60. Geburtstags von Erich Hackl führte Stefan Klingersberger für die Tageszeitung „junge Welt“ ein Interview mit dem Autoren: bit.ly/1s2KdRr Weiters erschien von ihm unlängst in der Zeitschrift „organ“ eine Rezension zu Hackls im Herbst 2013 erschienenen Buch „Dieses Buch gehört meiner Mutter“: bit.ly/1xDtAvT

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Hackl erfindet keine Geschichten – er findet sie.

4: Manchmal auch auf Kosten anderer, wenn auch ohne eigenem Verschulden, so etwa Wilhelm Gubi, dessen wahrer Name ein Geheimnis ist, der von der SS mit 59 anderen Häftlingen dazu auserkoren wurde, bei einer alten Baracke zu bleiben um sie abzutragen, der sich aber zur anderen Gruppe stellte, woraufhin nach mehrmaligem Abzählen ein anderer zurückbleiben musste. Nach getaner Arbeit wurden die 60 Häftlinge erschossen. Erich Hackl: Geschichte eines Versprechens, in: Anprobieren eines Vaters, S. 287.


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Interessantes, Kurioses und Schockierendes in uni:press-Ausgaben aus dem Jahr 1964 entdeckt und ausgegraben von Jürgen Wöhry

© Digitales Pressarchiv der ÖH Salzburg

Das Jahr 1964 war die Geburtsstunde des ersten Magazins der Österreichischen HochschülerInnenschaft in Salzburg. Dem Inhalt ist zu entnehmen, dass die Hochschulpolitik in der Frühzeit der Uni Salzburg von einem Faktor entschieden geprägt war: von rechtem Gedankengut.

© Digitales Pressarchiv der ÖH Salzburg

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"Tugend ist hart und wir sind verweichlicht" – Schwer vorstellbar, wie so etwas Eingang in ein ÖH-Magazin finden konnte. Beim Durchblättern der ersten Ausgabe von "Ceterum“ fällt vor allem eines auf: die enorme Anhäufung von reaktionärem und rechtsextremen Dünnpfiff. Für die heutigen LeserInnen ist es nur schwer zu verstehen, dass so etwas tatsächlich von der ÖH und nicht von irgendeiner radikalkatholischen Gruppierung à la Opus Dei oder irgendeiner Stammtischpartie publiziert wurde. Den Namen der Zeitung wählte man als Anspielung auf das berühmte Zitat des Römers Cato (Ceterum censeo Carthaginiem esse delendam/ Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass Karthago zerstört werden muss), den die Redaktion als Vorbild ansah, weil er eine "Meinung“ hatte und diese offen vertrat. Dadurch bereitete er laut ihrer Auffassung dem Weg zum Aufstieg Roms. Historisch gesehen ist diese Aussage jedoch kompletter Bullshit, man weiß nicht einmal, ob dieser Satz überhaupt wirklich von Cato selbst kam oder ob er ihm im Nachhinein hinzugedichtet wurde. Doch mit der Geschichte nahm man es nicht so genau, es musst schließlich alles in ein heroisches und radikal-konservatives Weltbild passen. Damit das gelingt, darf man es mit den Fakten halt nicht so genau nehmen. Die Redaktion verrät uns auch, welchen Zweck die Zeitschrift überhaupt hatte: "Um den in der Salzburger Öffentlichkeit zur Zeit noch etwas schlummernden 'Universitätsgedanken‘ […] wachzurufen. Damit die […] Paris-LodronUniversität Salzburg wieder eine Heimstätte der Wissenschaft und ein Träger (sic) der abendländischen Kultur werde, […]." Was damit gemeint ist, wird in einem Artikel erörtert, dem das Bild eines Priesters beigefügt ist, welcher gerade ein Häufchen Unrat wegkehrt. Man kann sich denken, was mit dieser Anspielung wohl gemeint ist. Jedenfalls erfahren wir, dass das "Abendland" auf der Tapferkeit und Klugheit der Griechen und Römer aufbaue und durch den Geist des Christentums "wieder eine Stätte des Großen geworden […]. ist" Doch damit noch nicht genug. Im Weiteren wird kritisiert, dass die Menschen zu wenig Tugend haben. Diese müsse wieder erlernt werden. Denn sonst droht der Zusammenbruch des christlichen Abendlandes. " […] Tugend ist hart. Und wir sind verweichlicht!- Hart müssen wir werden!" Kommt euch diese Passage irgendwie bekannt vor? Genau, dieser Satz erinnert sehr

stark an die Rede Hitlers über die Jugend, in der er eine Jugend "hart wie Kruppstahl" forderte. Es ist schwer vorstellbar, wie so etwas Eingang in ein offizielles Magazin der ÖH finden konnte! Daneben gibt es jedoch noch weitere Passagen, die der rechten Szene entlehnt zu sein scheinen. So wird gefordert, dass jeder eine Meinung haben und diese auch öffentlich vertreten soll. So weit so gut. Bedenklicher wird die gesamte Sache, als der Zweck dafür bekannt gegeben wird: " […] Bewegung zu bringen in den Zähen Brei meinungsloser Massen." Diese und ähnliche Aussagen werden bis heute von zahlreichen rechtsextremen und neonazistischen Gruppierungen verwendet. Besonders schockierend ist auch die Einstellung des damaligen Pressereferats zu Krieg: "Wir hassen den blutigen Krieg, doch noch mehr den lahmen Frieden." Der Zweite Weltkrieg war noch keine 20 Jahre zu Ende als diese Zeilen geschrieben wurden! Nicht nachvollziehbar, wie Menschen, die die Nachkriegszeit und somit die katastrophalen Auswirkungen von Krieg hautnah miterlebt haben, so eine Einstellung vertreten können. Kunst und Kultur wurden im Ceterum auch ausführlich behandelt. Während klassische Musik und Theater, kurz das, was allgemein als "Hochkultur" bekannt ist, in höchsten Tönen gelobt wurde, betrachtete man neue Strömungen deutlich kritischer. Die in den 1960ern entstandene Pop-Art war für die rechtskonservative Redaktion wohl mit "entarteter Kunst" gleichzusetzen, wie die Rezension einer solchen Ausstellung in Wien zeigt. "Die Betreiber eines neuen Aussagewillens oder besser Nichtaussagewillens scheinen nun die Pop(o)art entdeckt zu haben. Wirklich, der Hinterteil der Welt scheint hier geschildert zu werden. Was dort herauskommt, nennt man Mist." Neben diesen kreativen Metaphern wird die Kunstrichtung auch als "hoffentlich bereits gestorbener Embryo" bezeichnet. Bis 1968 erschien Ceterum und wurde danach von "De Facto" abgelöst, und in der Folge änderte sich der Modus der Berichterstattung. Womöglich sorgte die 68er-Bewegung für frischen Wind in den alten und verstaubten Hallen (und Hinterteilen) der damaligen HochschülerInnenschaft.



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