Sünde (unipress#681, Juni 2015)

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UNI:PRESS STUDIERENDENZEITUNG DER ÖSTERREICHISCHEN HOCHSCHÜLERINNENSCHAFT SALZBURG — #681 JUNI 2015 —


MERK:WÜRDIG — WARUM SCHEINEN NACHTS SCHWACH LEUCHTENDE STERNE ZU VERSCHWINDEN, WENN MAN SIE DIREKT ANSIEHT? Von Stefanie Lettner Der Grund dafür liegt nicht Lichtjahre entfernt, sondern direkt in unseren Augen. Darin befinden sich über 126 Millionen Photorezeptoren, welche die Wellenlängen des Lichts empfangen und uns das Sehen ermöglichen. Zum einem gibt es drei Arten von Zapfenrezeptoren, welche die Wellenlängen des sichtbaren Lichts empfangen. Sie reagieren gezielt entweder auf rotes, grünes oder blaues Licht, weshalb wir Farben sehen können. Dann gibt es noch die Stäbchenrezeptoren, die ausschließlich für das Hell-dunkel-Sehen verantwortlich sind. Dank dieser können wir auch bei dämmrigem Licht noch etwas sehen, da sie zusätzlich sehr lichtempfindlich sind. Je dunkler es wird, desto weniger „arbeiten“ die Zapfenrezeptoren, da diese eine geringe Helleempfindlichkeit besitzen. Umso aktiver werden jedoch die Stäbchenrezeptoren,

was auch der Grund dafür ist, dass wir nachts farbenblind sind. Warum aber scheinen schwach leuchtende Sterne zu verschwinden, wenn man sie direkt ansieht? Die Ursache dafür liegt in der Anordnung der Photorezeptoren. Insgesamt gibt es ca. 120 Millionen Stäbchenrezeptoren, jedoch nur 6-7 Millionen Zapfenrezeptoren. Nun kommt es, dass die Photorezeptoren ungleich über die Netzhaut des Auges verteilt sind. Genau im Zentrum unseres Blickfeldes, der sogenannten Sehgrube (fovea centralis), befinden sich zwar zahlreiche Zapfenrezeptoren (Farbsehen), jedoch keine Stäbchenrezeptoren (Hell-dunkel-Sehen). Daher sehen wir schwach leuchtende Sterne zwar nicht direkt, aber zumindest aus den Augenwinkeln heraus. Folgende Abbildung stellt die Verteilung unserer Photorezeptoren auf der Netzhaut dar.


EDITORIAL

Christopher Spiegl

Marie Schulz

Doris Hörmann

Fräulein Flora

Veronika Ellecosta

Saša Sretenovic

Liebe LeserInnen Fernab von den geliebten Eltern in der fremden und dekadenten Großstadt lebend, werden die Studierenden Salzburgs an allen Ecken mit schändlichen Versuchungen konfrontiert. Wir haben daher die sieben Todsünden aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts unter die Lupe genommen. Die unartigen Blogger von Fräulein Floras Favourite Hangouts wissen bestens Bescheid, wo das Sündig-Sein am meisten Spaß macht und haben für euch die verruchtesten Plätze der Stadt abgeklappert (ab S. 6). In „Uni & Leben“ (ab S. 28) lest ihr (versprochen) das allerletzte Mal etwas zum Thema der im Mai abgehaltenen ÖH-Wahlen. (An der Wahlbeteiligung haben wir ja gesehen, wie wenig euch das interessiert.) Wie wichtig eine starke Interessenvertretung der Studierenden im Ernstfall aber sein kann, veranschaulichen

ab Seite 32 Max Mustermann und die StV Geschichte. Ab Seite 47 lässt ein syrischer Bürgerkriegsflüchtling seine dramatische Flucht nach Salzburg Revue passieren. Tiere werden bei uns nicht nur geliebt (ab S. 12), sondern auch deren Rechte eingefordert (ab S. 54). Im Ressort „Kultur & Menschen“ verliert Stefanie Hofer jegliche menschliche Emotion (S. 59), Claudia Maria Kraml ihren Verstand (S. 60) und Veronika Ellecosta ihre Liesl (S. 61). Wenn du ein Wort über die uni:press oder sonstige Themen, die dich interessieren, zu verlieren hast, melde dich unter presse@oeh-salzburg.at oder nimm an unseren regelmäßigen öffentlichen Redaktionssitzungen Teil! Eure Sünder aus der Kaigasse 28

IMPRESSUM Hochschülerinnen- und Hochschülerschaft an der Paris Lodron Universität Salzburg (ÖH Salzburg), www.oeh-salzburg.at, presse@oeh-salzburg.at /Herausgeberin: ÖH Salzburg (Vorsitz: Katharina Obenholzner)/ Pressereferent: Christopher Spiegl / Redaktion: Marie Schulz (Chefredaktion), Doris Hörmann, Veronika Ellecosta, David Lahmer, Sasa Sretenovic / Layout: Luca Mack / Lektorat: Sigrid Klonner / Anzeigen & Vertrieb: Hasan Özkan & Christopher Spiegl / AutorInnen in dieser Ausgabe: Stefanie Lettner, Christoph Krainer, Katharina Obenholzner, Nicole Vorderobermeier, Kay-Michael Dankl, Christof Fellner, StV Geschichte, Tobias Neugebauer, Carina Cargitter, Josef Kirchner, Julia Fedlmeier, Johannes Hoffmann, Caroline Huber, Matthias Wetzelhütter, Sabine Hofer, Claudia Maria Kraml, Elisabeth Peer / Druckerei: Ferdinand Berger & Söhne Ges.m.b.H. / www.berger.at / Auflage: 8.000 Stück. Für Verbesserungsvorschläge und kritische Hinweise sind wir sehr dankbar. Die Auffassungen der AutorInnen der Beiträge und die der Redaktion müssen nicht übereinstimmen.

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LESERiNNENBRIEFE

LeserInnenbriefe Liebe Kollegen, es ist nun schon 32 Jahre her, da war ich in eurer Situation als ÖH-Pressesprecher. Damals gründeten wir die uni:press und produzierten die erste ÖH-Studenten-Zeitschrift in Salzburg. Damals hatte ich relative Freiheit in der Redaktionslinie, denn ich war der erste (und bisher einzige, soweit ich weiß) fraktionsfreie Pressereferent (so hieß es damals) der ÖH in Salzburg. Eure Themen im Märzheft und Weihnachten finde ich gut. Studenten müssen querdenken und alles in Frage stellen. Normal is dangerous. ... auf weitere tolle und mutige Nummern!

Liebes Redaktionsteam der uni:press, ich habe den Artikel zu den kleinbäuerlichen Betrieben von Doris Hörmann gelesen und ich finde es großartig, dass die Thematik in diesem Rahmen angesprochen wird. Ich komme selber von einem Kleinbauernhof und kenne die Probleme, die insbesondere durch die EU-Richtlinien und die undurchsichtigen Vorlagen entstehen. Auch das mangelnde Bewusstsein über die Leistungen der heimischen Kleinbauern, besonders was die Landschaftspflege und natürlich die Versorgung mit regionalen Nahrungsmitteln betrifft (Dinge, die in viel zu großem Ausmaß als

Dr. Hannes Rosner

Wertgeschätztes Redaktionsteam, vorerst möchte ich mich für die immer erfrischenden, informativen und auch launig lustigen Beiträge bedanken! Ich bin zwar Jahrgang 48 und Student der UNI 55+ und fühle mich bei der Lektüre gleich um ein Jahrzehnt jünger, welche Zeitung kann das sonst! Also noch einmal Danke für Euer Bemühen. Liebe Grüße aus Straßwalchen Von meinem iPad gesendet 

selbstverständlich angesehen werden und dabei hinsichtlich des Aufwands und Einsatzes, der dahinter steckt, meist überhaupt nicht verstanden werden), sehe ich sehr kritisch. Dass die Politik mit Strich und Faden gegen die Bauern arbeitet, ist eigentlich nichts als eine bodenlose Unverschämtheit, und doch kann sie es sich leisten, weil es die Bauern bisher noch nicht geschafft haben, eine Interessensvertretung für sich zu schaffen, die das tut, was sie soll, nämlich die Interessen der Bauern vertreten. Mir jedenfalls hat dieser Artikel gut gefallen und noch viel mehr, dass dieser Bereich überhaupt angesprochen wird. Das zeigt (einmal mehr), wie breit das Spektrum der uni:press gefächert sein kann. Liebe Grüße, Simone Lettner


INHALT

in halt

UNI & LEBEN

POLITIK & GESELLSCHAFT

06 Hochmut

28 Neues aus dem Vorsitzbüro

47 Reportage: Menschenrechte haben Grenzen

08 Habgier

29 ÖH Wahl 2015

12 Wollust

31 Fellner’sche Weisheiten „Viele Klicks um nix“

50 Freihandelsabkommen: Schlimmer als nur „Chlorhuhn“

32 Skandalös: Die Hürden auf dem Weg zum Diplom

52 Wie wir die KleinbäuerInnen retten… und sie uns

34 Unliebsamer Briefwechsel der StV Geschichte

54 Petermann, geh du voran!

KULTUR & MENSCHEN

58 Generation #Hashtag 60 Tabula Rasa: Geschichte einer Trennung 61 Dein Name ist ein anderer

16 Zorn 18 Völlerei 22 Neid 24 Faulheit 35 Unkostenbeiträge für Repetitorien 36 S wie Starbucks und wie Stottern 40 Begabung: „Albert Einstein, Marie Curie… und vielleicht auch du?“ 42 Einen Raum mit Kunst füllen 45 Versus: Kein Alkohol ist auch (k)eine Lösung?

56 Leserbrief: Warum die Kuh nicht auf meinem Teller fehlen darf 57 Replik: Patriotismus heißt Umsturz der bürgerlichen Macht

62 Rezension: Don’t stop believing: Wie die Serie Glee mein Leben verändert hat 64 Rezension: American Psycho 66 IASTE-Twinning in München 67 Zeitmaschine: Vom Illustrator für die uni:press zum Psychologie-Professor

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CC-sa-by airFreshing

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euren t, ihr schon. Ihr mit eurer Familie und „Ich hab‘ nichts Vernünftiges geleiste er im März seinen Vortrag in Salzburg vor flimin die ZuhöHäusern.“ So eröffnet Reinhold Messn musikalischer Untermalung. Er blickt mernder Bergkulisse und packenderTäler hinabgeblickt hat – stramme Haltung, entrerschaft, wie er wohl in so manche ag den Rücken zugekehrt. Ich bin nicht vernünftig.“ schlossene Miene. „Ich hab‘ dem Alltht. Sie haben Ihr Leben dem ganz Großen verschrieNein, Herr Messner, das sind Sie nic unserer Erde. Und deshalb stehen Sie jetzt auch ben, den ganz Hohen, den Höchstenig, Messner. Von Veronika Ellecosta auf der Bühne. Majestätisch, mächt

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einhold Messner ist das, was man gemeinhin einen Grenzgänger nennt. Er hat Gebirge und Wüsten durchquert, von der Antarktis bis Gobi, die 14 Achttausender bestiegen und Seven Summits, die jeweils höchsten Berge des Kontinents. Er gilt als Vater einer neuen Generation von AlpinistInnen der Achtzigerjahre und als Begründer einer psychologischen Bergsteigerphilosophie, der die Grenzerfahrung des Selbst zugrunde liegt. Der Antrieb für seine waghalsigen Abenteuer ist für ihn immer, das eigene Limit zu erreichen. Elementare Gefühle wie Angst, auch Todesangst, Fähigkeiten und Bewusstsein über das menschliche Begrenztsein sind die Erfahrungen, die Messner am Limit sucht. Er verdrängt dabei das Hamstern von Besteigungstiteln, aber auch das natürliche Interesse an Natur und Berg. Was übrigbleibt, ist das Ich vor monströs anmutenden Felsmassiven. Was von Messner übrigbleibt, ist die Verkörperung des idealen ich-fixierten Erfolgsmenschen unserer Zeit, der glücklicherweise auch noch das richtige Händchen für Selbstvermarktung und – inszenierung hat. Dabei ist Reinhold Messner kein Einzelphänomen mehr. Der Traum von „Ganz Oben“ ist massentauglich geworden. Etwa 600 Menschen versuchen sich jährlich am Mount Everest, zwei Drittel davon im

Zuge kommerzieller Reiseangebote. Ein Reisebüro aus München bietet Reisen ins Himalayagebiet an. Schlappe 14 000 Euro führen den ambitionierten Hobbybergsteiger auf den Achttausender Cho Oyu. Andere Reiseportale verlangen 6000 Euro für den „Einstiegssiebentausender“ Dhaulagiri VII in Nepal. Wer 32 000 Euro hinblättert, darf ein Selfie auf dem höchsten Gipfel der Erde posten. Denn im Basislager gibt es neuerdings auch Internet. Sherpas, des Extrembergsteigers Freund und Helfer, präparieren Steige, bauen Lager auf und beseitigen Geröll. Sie fungieren als Bergführer, Köche und Lastenträger. Vor 500 Jahren aus der chinesischen Region Kham eingewandert, leben sie am Fuße des Berges in einer Höhe von 3000 m in Dauersiedlungen. 40 % der Sherpas leben heutzutage vom Bergtourismus. Ein bis zwei Expeditionen im Jahr ermöglichen einem Mann, seine Familie zu versorgen. Selbst hegen die Sherpas keinen Ehrgeiz, die Gipfel zu stürmen.. In ihrer schamanisch-buddhistischen Religion sind die Berge des Himalayas Schutzgottheiten. Der Mount Everest, die auf dem Gipfel thronende Mutter der Menschenplätze, ist dabei nicht die oberste Gottheit, denn die Hierarchie der Berge im Sherpa-Land folgt ästhetischen Kriterien. Aber auch die nepalesische Regierung verdient mit, wenn eine Expedition ins Himalayagebirge


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startet. Und trotzdem ist Nepal ein bitterarmes Land, das lediglich zuzusehen scheint, wie westliche Firmen westliche BergsteigerInnen auf ihren Gipfeln melken. Eine Entwicklung, die Messner und seine KameradInnen mit Besorgnis mitverfolgen. Immer wieder fordert der Berg Todesopfer, die Bergung erweist sich dann oft als zu kostspielig. So wird der einst heilige Berg zu einer Müllhalde aus vereisten Leichenteilen, zerrissenen Zelten und Sauerstoffflaschen. Für Messner ist klar: Das, was heute am Everest los ist, hat mit Bergsteigen nichts mehr zu tun. Ein wahrer Alpinist suche Eigenverantwortung, Einsamkeit, Erfahrung in diesen Höhen. Himalaya-Reisende sind Studien zufolge jedoch mehrheitlich AlpinistInnen, die auf der Suche nach Ausgleich zum Alltag sind, nach Selbsterneuerung und Grenzerfahrung. Was die Messners und Nicht-Messners dieser Erde in sich tragen, wird von der Wissenschaft „Odysseus-Faktor“ genannt. Es bezeichnet den menschlichen Drang, in neue, unbekannte Dimensionen vorzustoßen und dabei auch Lebensgefahren auf sich zu nehmen. Im Alltag würde man, exkludierte man den Aspekt der vermeintlichen Lebensgefahr, von Neugierde oder dem ewigen Suchen sprechen. Diese natürliche Neugierde kann in unermüdliche Ausbruchsversuche aus dem Alltagstrott münden, wenn das menschliche Individuum unter Reizarmut zu leiden scheint. Unser von allzu viel Sicherheit geprägtes Dasein sucht nach Stimulation dieser Reize, nach Grenzerfahrungen. Im Höhenrausch wird eine breite Palette an Gefühlen von Angst bis Euphorie durchlebt – die Alltagsferne bedeutet emotionale Authentizität. Messner selbst drückt es so aus: „Ich definiere für mich den Grenzgänger so, dass er unterwegs ist zwischen Durchkommen und Umkommen. Das Ziel ist das Nicht-Umkommen“. Eskapismus (Welt- und Realitästflucht zugunsten einer möglichen, besseren Wirklichkeit) ein wohl wesentlicher Begriff unserer Zeit, spielt dabei keine unbedeutende Rolle. Ob wir mit Ohrenstöpseln oder Smartphone die Wirklichkeit ein Stück wegdrängen oder uns in Bildern, Musik und Büchern verlieren oder in Fernweh, Nervenkitzel und Bergsucht: Wir wollen die alltäglichen Probleme vergessen, uns aus den Zwängen gesellschaftlicher Normen befreien und unseren persönlichen Lebens-

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vorstellungen Freiraum zugestehen. Und nichts eignet sich besser als Ventil als das Nicht-Alltägliche und Außergewöhnliche. Der grundlegende Konflikt im Menschen zwischen Freiheit und Sicherheit bekommt in schwindelerregenden Höhen neuen Aufwind. Risikobereitschaft, Leistungsfähigkeit und Flexibilität zeichnen den modernen Erfolgsmenschen aus. Unabhängigkeit entspricht nicht nur beziehungstechnisch immer häufiger dem Ideal, das es anzustreben gilt (und tatsächlich sind die erfolgreichsten Extrembergsteiger mehrheitlich Singles). Das eigene Ich soll ständig stimuliert und entfaltet werden, es soll herausstechen aus einer Passivitätsgesellschaft. Unaufhörliche Selbstoptimierung gepaart mit dem nötigen Ehrgeiz, sind unverzichtbare Charaktersäulen für eineN erfolgreicheN BergsteigerIn oder ManagerIn. Nicht zufällig gibt es deshalb massenweise Lebensratgeber, die die Erfolgsprinzipien von Gipfelstürmern in die Unternehmen holen – und Reinhold Messner als Trainer in ManagerInnen-Seminare. Dieser hat (wieder einmal) dem Alltag den Rücken zugekehrt. Er ist nun weitergezogen – ins südtirolerische Vinschgau auf einen Selbstversorgerbauernhof. Dort hat er alles, von Wein bis Holz, und ist für jede Krise gewappnet. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der grundlegende Konflikt im Menschen zwischen Freiheit und Sicherheit bekommt in schwindelerregenden Höhen neuen Aufwind.

FRÄULEIN FLORAS 7 SÜNDIGE SALZBURG-TIPPS Superbia: Hochmut (Eitelkeit, Übermut) In der Festspielzeit verwandelt sich Salzburg in ein dekadentes Auffangbecken für Extravaganz-Touris und in einen Open-Air-Spiegelsaal für die Reichen und/oder Schönen. Wer Hochmut live beobachten möchte, aber aus finanziellen Gründen nicht beim Schaulaufen der A

bis Z-Promis teilnehmen kann, der soll sich nach den Abendveranstaltungen im Sommer vor das Triangel in der Wiener-Philharmoniker-Gasse stellen und zuschauen, wer oder was da so reinstolpert. Achtung: Auf keinen Fall schwach werden und ein Paar’l Frankfurter bestellen, sonst geht die Studienbeihilfe für den gesamten Monat flöten.


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SCHLUSS MIT DEM KAPITALISMUS! AUF IN DIE GEMEINWOHL-ÖKONOMIE! In unserem vorherrschenden kapitalistischen System ist das Mittel (Geld) zum Zweck verkommen und die Menschen streben habgierig nach Kapital, Macht und Besitz. Wir wurden zu Dienern des Geldes, häufen Tauschwerte an und hinterfragen selten deren Sinn. Der Aktivist und Autor Christian Felber will diesem unmenschlichen Verhalten ein Ende setzen und gibt in seinem Buch Gemeinwohl-Ökonomie Vorschläge für ein demokratisches und nachhaltiges Wirtschaftsmodell. Für euch gelesen von Doris Hörmann

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ie Grundidee Christian Felbers lässt sich in aller Kürze so zusammenfassen: Er möchte, dass sich jene Werte, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gelingen lassen, auch essentielle Bestandteile unseres wirtschaftlichen Lebens werden. Unternehmen müssen konsequent sozial, ökologisch und ethisch verantwortungsbewusst handeln, damit unser aller Gemeinwohl verbessern und sollen durch Begünstigungen (z.B. Steuererleichterungen, günstige Kreditbedingungen) dafür belohnt werden. Im Gegenzug werden Unternehmen, die nichts zum Gemeinwohl beitragen oder dieses sogar mindern (z.B. durch Kinderarbeit, Umweltverschmutzung, Gewinnverlagerung in Steueroasen) durch hohe Besteuerung sanktioniert. Somit sind sie nicht mehr wettbewerbsfähig und scheiden schließlich aus dem System aus. Nicht mehr Gewinnstreben, Rentabilität und die Akkumulation von Kapital stehen an erster Stelle, sondern die Wertschätzung aller Menschen. Wie sich Christian Felber, Mitbegründer

von Attac Österreich und Globalisierungskritiker, diese Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) ausmalt, beschreibt er auf 223 Seiten im gleichnamigen Buch. Ein wichtiger Grundsatz der Gemeinwohl-Ökonomie, neben Transparenz, lautet Mitbestimmung. Felbers Vorschläge sollen nicht als Forderungen aufgefasst werden, sondern als Grundlagen für den demokratischen Dialog und als Basis zur Weiterentwicklung dienen. Die erste demokratische Wirtschaftsordnung der Welt soll auf 20 Schlüsselelementen basieren: 1. Grundwerte, die unsere Beziehungen gelingen lassen: Vertrauen, Wertschätzung, Kooperation, Solidarität und Teilen 2. Gemeinwohlstreben statt Gewinnstreben und Konkurrenz 3. Gemeinwohl-Produkt statt BIP, Gemeinwohl-Bilanz statt Finanzbilanz, Gemeinwohl-Überprüfung aller größeren Investitionen und Kreditansuchen 4. Unternehmen mit guter Gemeinwohl-Bilanz erhalten rechtliche Vorteile, sodass ethische, ökologische und regionale Güter billiger werden als unethische. 5. Überschüsse dürfen nicht für Investitionen auf den (ohnehin abgeschafften) Finanzmärkten, feindliche Aufkäufe, die Ausschüttung an Unternehmensfremde oder Parteispenden verwendet werden. 6. Gewinn ist nur noch Mittel, kein Ziel mehr, sodass der allgemeine Wachstums- und Fresszwang verschwindet. 7. Das Wachstum bis zur optimalen Größe erlaubt viele kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in allen Branchen, die miteinander kooperieren und solidarisch wirtschaften. 8. Einkommens- und Vermögensungleichheiten werden beseitigt durch die Begrenzung von Einkommen, Privatvermögen, Schenkungs- und Erbrecht. Alles darüber Hinausgehende soll als demokratische Mitgift das Startkapital junger Menschen bilden und Chancengleichheit ermöglichen.


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FRÄULEIN FLORAS 7 SÜNDIGE SALZBURG-TIPPS Avaritia: Geiz (Habgier) Salzburg ist – freundlich gesprochen – nicht die billigste Gegend. Geiz ist für Studis nicht im Sinne von Habgier in der Hirnrinde verankert, sondern die Überlebensgrundlage in einer Stadt, in der es zwar Pelzmäntel von der Stange gibt, aber keine richtigen Rabatte für Studierende. Ein bisschen geizig sein ist also völlig ok, am besten in der Volxküche im

Kulturzentrum Mark, bei der ÖH-frei:kost oder bei der Schranne bzw. am Grünmarkt: Gegen Schichtende kriegt man dort öfter mal gute Ware für moderate Preise. Außerdem wird ein bisschen Food geshared: Auf der Nawi und der Geswi findet man Kühlschränke, die gute Ware gratis beherbergen. Kann man sich mal anschauen. Ungesunde Alternative: gar nichts essen.

9. Großunternehmen geben Stimmrechte und Eigentum teil- oder schrittweise an ihre Beschäftigten oder die Allgemeinheit ab. 10. Die allgemeine Daseinsvorsorge (z.B. Krankenhäuser, Universitäten, Energieversorgung) soll durch demokratische Allmenden (auch commons) geregelt werden. 11. Dazu gehört auch eine demokratische Bank, die vom demokratischen Souverän (die Bürger) kontrolliert wird und Sparvermögen, kostenlose Girokonten und Kredite garantiert. 12. Als globale Verrechnungseinheit soll es eine globale Weltwährung geben, die Nationalwährungen und (auf lokaler Ebene) Regiogelder ergänzt. Schließlich soll eine Gemeinwohl-Zone (Fair-Handelszone) als UN-Abkommen angestrebt werden. 13. Die Natur kann nicht zu Privateigentum werden, aber durch eine Gebühr zum Wohnen, zur Produktion oder zur Land- und Forstwirtschaft genutzt werden. Die Grundvermögenssteuer wird abgeschafft. 14. Ziel des Wirtschaftens ist nicht mehr Wachstum, sondern (als Teil des Gemeinwohls) die Reduktion des ökologischen Fußabdruckes auf ein global nachhaltiges Niveau. 15. Eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit würde den Lebensstil aller verbessern, da Zeit frei wird für Beziehungs- und Betreuungsarbeit, Selbstverwirkli-

chung und freiwilliges Engagement. 16. Ein Freijahr mit bedingungslosem Grundeinkommen in jedem zehnten Berufsjahr soll den Arbeitsmarkt entlasten. 17. Repräsentative Demokratie wird um direkte und partizipative Demokratie ergänzt und erlaubt umfassende Mitgestaltungs- und Kontrollrechte des Souveräns. 18. Der demokratische Souverän stimmt über die konkrete Umsetzung der Vorschläge der GWÖ ab. 19. Auch das Bildungswesen soll gemeinwohlorientiert aufgebaut werden und sich auf die Vermittlung neuer Werte konzentrieren. 20. Führungsqualitäten wie soziale Kompetenz und Verantwortung, Mitgefühl und Empathie sowie Nachhaltigkeit werden in dieser neuen Wirtschaftsordnung zum Erfolg führen. Eine einzige Forderung stellt Felber aber doch, nämlich die der demokratischen Diskussion und ständigen Weiterentwicklung der genannten Grundelemente bzw. „Spielregeln“, sodass die Bedürfnisse, Werte und Prioritäten der Bevölkerung verwirklicht werden. Die GWÖ soll in einer neuen Demokratie eingebettet werden, welche die BürgerInnen zum Souverän macht, der letztlich darüber entscheiden soll, ob die von ihm beauftragten Repräsentanten (Regierung, Parlament) seinem Interesse entsprechend regieren


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oder nicht. Die repräsentative Demokratie soll um eine direkte ergänzt werden und durch die größere Möglichkeit zur Mitbestimmung die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zurückdrängen. Ob ein Unternehmen tatsächlich zum Gemeinwohl aller wirtschaftet, soll in einer Gemeinwohl-Bilanz greifbar und für alle KonsumentInnen verständlich werden. Gleichzeitig dient die Bilanz dazu, um gegenüber dem Staat steuerliche Vorteile als Belohnung für die ethische, soziale und ökologische Wirtschaftsweise geltend zu machen. Abgerundet wird diese neue Welt durch Vorschläge für eine bessere Kindeserziehung, die nicht mehr die Werte des Kapitalismus (Erfolg, Macht, Karriere) indoktriniert, sondern jedes Individuum als solches mit all seinen Eigenheiten erkennt, es fördert und wertschätzt. Der Gemeinwohl-Gedanke will nicht nur eine bessere Welt für unsere Kinder hinterlassen, sondern auch bessere Kinder für unsere Welt. Gefühlskunde, Wertekunde, Kommunikationskunde, Demokratiekunde, Naturerfahrens-/Wildniskunde, Kunsthandwerk und Körpersensibilisierung sollen deshalb Basiselemente einer jeden Bildung werden und Rahmenbedingungen für die GWÖ schaffen. Das Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie erfährt seit seiner Initiative im Jahr 2010 eine ständige Weiterentwicklung, Ergänzung und Neuauflage und findet

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„Führungsqualitäten wie soziale Kompetenz und Verantwortung, Mitgefühl und Empathie sowie Nachhaltigkeit werden in dieser neuen Wirtschaftsordnung zum Erfolg führen.“ gleichzeitig immer mehr Anklang. Übersetzungen in bald acht Sprachen (französisch, spanisch, katalanisch, polnisch, finnisch, italienisch, englisch, serbisch) sind Ausdruck für das wachsende Bedürfnis nach einem alternativen Wirtschaftssystem, wie es die Gemeinwohl-Ökonomie vorschlägt. Mittlerweile unterstützen 1750 Unternehmen in 35 Staaten und 220 Organisationen die GWÖ. 200 PionierInnenunternehmen in zehn Staaten versuchen sich an der Gemeinwohl-Bilanz. Der nächste große Schritt liegt in der Verwirklichung der Bank für Gemeinwohl, die 2015/16 ihren Betrieb aufnehmen soll. Geld wird in der Gemeinwohl-Ökonomie wieder vom Zweck zum Mittel. Es soll den Menschen dienen, um durch Kooperation statt Konkurrenz ein Leben in Würde für alle herzustellen. Zahlreiche laufende PionierInnenprojekte und Beispiele ähnlich solidarisch und ökologisch wirtschaftender Unternehmen rund um den Globus geben Aussicht auf die neue hoffnungsvolle Welt, in der ich leben will.

Neu erschienen im Dezember 2014 beim Verlag Deuticke (ISBN 978-3-552-06291-7), 223 Seiten, 18,40 Euro. Nähere Infos auf www.ecogood.org


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Wollust macht vor niemandem halt. Sie steckt in uns. Manche finden Dinge geil. Funny van Dannen hat über Sven, den Dingficker, ein Lied geschrieben. Manche finden Tiere geil - und leben das auch aus. In Österreich ist es jedenfalls verboten. Kann dieses rechtliche (sowie moralische) Verbot aus unseren heutigen Wertevorstellungen überhaupt widerspruchsfrei abgeleitet werden? Von Christoph Krainer

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er moralische Widerspruch kurz umrissen: Kuh am Teller: ja; Hund im Bett: nein. Was sagt unser Verhältnis, das wir zu Tieren pflegen, letztlich über uns selbst aus? Klar ist, dass es perfide ist, Schweine zu quälen, um damit Billigfleisch zu produzieren. Das bedeutet, dass wir sehr gut im Verdrängen sind oder dass das Essen vor der Moral kommt. Die Frage nach Tierliebe ist viel vertrackter, und der moralische Ekel, den es dabei gibt, sagt zumindest über uns aus, dass wir noch nicht alle Fragen der Sexualität ausreichend gestellt und beantwortet haben. Tiere werden weder durch dieselben Gesetze wie Menschen unter Schutz gestellt, noch kommen ihnen dieselben Werte des Würdekatalogs zu. Es herrscht eine Schieflage einerseits hinsichtlich der Machtposition (nicht immer haben Menschen die Macht über Tiere, kann ja auch umgekehrt sein). Andererseits gibt es auch Ungleichheiten hinsichtlich der Pflichten und Verantwortung der Rechts- und Würdeträger. Wo wurde jemals schon ein Tier wegen Mordes angeklagt? Natürlich ist klar, dass wir auch denen einen Würdestatus zusprechen, die nicht voll an der Gemeinschaft partizipieren können. Allein aber, dass es zwischen Mensch und dem Tier einen fundamentalen kategorialen Unterschied gibt, macht alles recht schwierig. Diese kategoriale Schieflage ist es, die zum Schluss übrig bleibt und die Frage eigentlich unbeantwortbar macht, ob es ok ist, mit Tieren eine sexuelle Beziehung zu pflegen. Dass sexueller Kontakt auf gegenseitiger Zustimmung fußt, ist eine Grundvoraussetzung für die Legitimität sexueller Interaktion überhaupt. Das ist sozusagen der modere Gesellschaftsvertag: du contract sexual. Das ist wichtig, richtig und gut. Und dann gibt es noch die Sphäre der Kinderrechte, die Kinder unter besonderen Schutz stellen. Um legitim miteinander schlafen zu dürfen, bedarf es nicht nur der Zustimmung, sondern auch eines biologischen Mindestalters. Auch das ist wichtig, richtig und gut. Nur: Fallen Tiere unter diesen contract sexual? Tiere haben weniger Schutz als Menschen und dürfen demnach auch als Nutztiere gebraucht werden. Wir dürfen sie melken, wir dürfen sie gefangen halten – in Käfigen, in Wohnungen als Haustiere. Wir dürfen sie streicheln und wir dürfen sie zulabern und in Diskussionen verwickeln (obwohl sie überhaupt kein Wort verstehen). Letztendlich dürfen wir sie auch verspeisen. Woher aber kommt in einem sol-


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chen Beziehungsrahmen zwischen Mensch und Tier das Verbot, sich an ihnen sexuell zu bedienen. Woher kommt die moralische Entrüstung über Zoophilie? Tiere können keine Zustimmung geben. Es fragt sie aber auch niemand, ob man mit ihnen zusammen wohnen will oder ob sie an der Leine herumgeführt werden wollen. Und wenn Tiere durch den sexuellen Akt verletzt oder gequält werden, ist dieser Akt allein schon auf Grund des Quälereiverbots rechtlich untersagt. Wenn das Tier nun keine Zustimmung gibt, weil es das nicht kann, sich aber an der sexuellen Befriedigung selbst erfreut, warum soll es hier irgendwelche moralischen Einwände dagegen geben? Durch die Schieflage kann und muss es keine verbale Grundlage geben, und wie schon Peter Singer argumentiert, reicht es aus, wenn das Tier dabei keinen Schaden nimmt, um Zoophilie moralisch zu rechtfertigen. Weder die Schieflage zwischen Mensch und Tier in ihrem jeweiligen Status als Würde- und Rechtstragende noch die Tatsache, dass Tieren Unrecht zugefügt wird rechtfertigt, dass noch mehr Unrecht an ihnen begangen wird – z.B. in Form von Sexualität ohne consent. Was zu bedenken ist: Tieren wird Schutz auf sexueller Ebene zugesprochen. Wenn wir aus Tieren Nutzen ziehen, entfällt der Schutz. Das ergibt sich daraus, dass der moralische und rechtliche Tierschutz bloß auf menschlichen Gefühlen aufbaut. Sexueller Kontakt mit Tieren ruft einen Ekel hervor (wie alle für uns ungewöhnlichen Formen der Sexualität) und wird anschließend pathologisiert und kriminalisiert. Wenn es um die Nutzung eines Tieres als Nahrungsquelle geht,entfällt hier der Ekel und damit der moralische wie rechtliche Schutz hinsichtlich des Rechts auf (ein gutes) Leben,begattet darf das Tier dennoch nicht werden. Wie immer sind zwischenmenschliche Beziehungen und auch Beziehungen zwischen Menschen und Tieren vielfältig und kompliziert. So gibt es auch bei den Tierliebenden verschiedenste Differenzierungen beim Ausleben ihrer sexuellen Präferenz. Der Verein Zoophiles Engagement für Toleranz und Aufklärung (ZETA) steht vor allem dafür, dass die Beziehung zum Tier keine ausbeuterische ist, sondern - ihrem

FRÄULEIN FLORAS 7 SÜNDIGE SALZBURG-TIPPS Luxuria (Wolllust) Ob in Salzburg mehr gebetet oder gevögelt wird, konnten wir nicht nachprüfen. Fest steht: Salzburg gilt als Österreichs Stadt mit den meisten Kirchen und Bordellen. Immerhin haben hier Jahrhunderte lang Erzbischöfe regiert. Sie hinterließen der Stadt ihr Weltkulturerbe – pflegten aber auch den ausschweifenden Lebensstil absolutistischer Herr-

scher. Die ältesten Puffs, die noch übrig sind, befinden sich im Stadtzentrum. Ein uraltes Laufhaus, das früher übrigens mal den Stadt-Scharfrichtern gehört hat, ist in der Herrengasse (immer geöffnet ab 10.00 Uhr morgens) angesiedelt. Wer sich für Puffmütter interessiert, wird in der Steingasse fündig: Im Maison de Plaisir herrscht die letzte Madame in Salzburg.


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Selbstverständnis nach - kann es eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Tier und Mensch geben. Und genau diese soll legal und toleriert werden. Der Verein setzt sich für Tierschutz ein und distanziert sich von jeglicher Tierquälerei. Der Vereinsvorsitzende schreibt von sich selbst, dass er Vegetarier sei und mit seinem menschlichen und tierischen Lebenspartner in Berlin lebe. Ob’s wirklich so harmonisch ist, sei dahin gestellt. Stoßen wir bei dieser Art der Zuneigung an unsere Grenzen der Toleranz? Worin liegt letztendlich der moralische Ekel begründet, der bei der Vorstellung eines sexuellen Akts zwischen Mensch und Tier hochkommt? Ijoma Mangold hat in einem Zeit-Artikel die Diagnose aufgestellt: Der Grund ist nicht nur, dass wir consent voraussetzen, sondern dass Sexualität auch sauber sein muss. Reinheit, die sich gerade in der Pornographie durch Abwesenheit von Schmutz, Gestank und nicht massentauglichen Formen der Behaarung zeigt. Sex muss so rein sein, wie die Models in der Werbung. Ein sexuelles Reinheitsgebot, Reinheit als moralische Kategorie. Das Animalische hat da keinen Platz mehr. Es wird jede Art der Animalität aus der Sexualität vertrieben und da entrüstet uns nichts mehr, als der Beischlaf mit Tieren. Wer für die absolute rechtliche Gleichstellung von Tier und Menschen eintritt, dem sei natürlich zugestanden, sich über Zoophilie zu entrüsten. Alle anderen, auch Haustierbesitzer, sollten vielleicht einmal den einen oder anderen Gedanken an die moralischen und rechtlichen Bedingungen von Zoophilie verlieren und sich fragen, ob es nicht Formen der Zoophilie gibt, die wir akzeptiere könnten (Aufgrund der brisanten Thematik verwendet der Autor hier sogar den Konjunktiv!). Außer natürlich, die Wollust ist eine Todsünde an sich. Dann aber ist nicht nur das sexuelle Verlangen nach Tieren ein Problem, sondern jeder Akt der Sexualität, der nicht dem Zweck der Fortpflanzung dient. Und ja, ich finde es schon ok, auch ab und an ein wenig wollüstig zu sein. Und nein, ich lebe nicht mit einem Tier in Partnerschaft.


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Salzburg, 20:32 Uhr: Es ist bereits dunkel, als sich der Bus mit dem vertrauten Surren nach Hallein zu manövrieren beginnt. Der Regen tappt freundlich gegen die Fensterscheiben, in welchen sich zig finstere Gestalten spiegeln. Die meisten von ihnen sind in ein neonblaues Licht getüncht, leicht gebückt sitzend, die kleinen Lichtquellen in ihren Händchen fest umklammert. Gesprochen wird wenig, während der Bus im Stau langsam nach vorne wippt und nach einer kurzen Weile wieder sanft zum Stillstand kommt. So schwimmen wir durch das Meer aus Metall, Regen und Signallichtern - alle im gleichen Boot und doch jeder irgendwie für sich. Eine Busfahrt mit Christopher Kurt Spiegl

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ber eine Million Flüchtlinge sind aus Afrika unterwegs! Stell'n Sie sich des vor!“, durchbricht eine verrauchte Männerstimme rechts hinter dem Fahrer die harmonische Stille. Der Urheber der Aussage ist im Schutz der Dunkelheit, kein kleiner Apparat erleuchtet seine Silhouette. Lediglich die vorbeiziehenden Straßenlaternen werfen in langsamen Intervallen ihr Licht auf die Schallquelle: Ein schwach behaarter Skalp mit einigen Leberflecken kommt zum Vorschein. Mehr kann man nicht erkennen. „Ah geh“, wirft der Fahrer mäßig begeistert ein. Das geheuchelte Interesse schwingt nur eine Millisekunde nach, ehe der Skalp eifrig nickend fortfährt: „Wo soll'n die den alle hin? Wir haben ja jetzt schon kan Platz mehr! Arbeiten solln's und zwar bei eana daham. De saufen auf'm Weg zu uns sonst eh nur ab.“ Häuptling Leberfleckglatze bricht an dieser Stelle in Husten aus. Im hinteren Teil des Busses hört man ein mechanisches

Klicken. Eine Gestalt grinst gegen die Lichtquelle in ihren Händen. Ein Selbstportrait. „De können sich bei uns ja gar nix leisten. Wir haben auch hart arbeiten müssen“, meldet sich eine ältere Dame neben dem Raucherhuster zu Wort. Die siebziger Jahre und die goldene Kreisky-Ära schwingen in ihrem krächzenden Tonfall nach. Sie ist ein Kind ihrer Zeit: Sie hat ihre wollweiße Haarpracht pflichtbewusst hochtoupiert - sauber, steril, aber nicht sehr originell. So wie die damals zahlreich errichteten sozialistischen Zweck- und Gemeindebauten. Wieder klickt es. Noch ein Grinser. Update: #rif_ortszentrum. So ein Kreisverkehr ist schon ein Spektakel für sich. Die Kreisky-Braut fährt fort: „De haben doch daheim sicher auch genug Arbeit.“ Wieder klickt es. Diesmal ganz hinten. Aus einem Zeitungsartikel ist zu vernehmen: Coltan ist ein wichtiger Rohstoff zur Herstellung von Smartphones. Es stammt


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meist aus Konfliktregionen in Zentralafrika. „Ah geh?“, tönt es wieder vom Fahrersitz. Es klingt fast schon interessiert. „Ja, wohl wahr! Bei uns dan's jo wohl nur rumlungern und nix doa“, wirft der Skalp prompt ein, während eine Dose zischt. Ein süßlicher Duft, warm und etwas nach Pisse riechend, durchzieht unser Flaggschiff. Energie. Der Wunsch nach dem Fliegen. Jetzt müssen wir aber schwimmen. Der Bus dockt an einen Hafen in der Dunkelheit an. Hier ist nichts. Kein Licht. „I wünsch euch was!“, verabschiedet sich die rauchige Stimme und eine finstere Kreatur stürzt sich in die Regenfluten. „Dir ah“, tönt es müde vom Fahrersitz, als sich die Bustüre bereits halb geschlossen hat. Das Surren setzt wieder ein, der Regen wird intensiver. Wir kommen nur langsam voran. Eine Armee aus Herzen und drei grinsende Smileys auf einem 10-Zoll Display durchbrechen die Finsternis nur partiell. „Ma muss halt wissen, wie's läuft...“, wirft die Sozi-Oma mit einem Seufzer ein. „Habt's eigentlich scho fix gebucht?“ Während unser Boot eine nicht-endend-wollende Wasserlache in Slow-Motion durchquert und eine drei Meter große Fontäne in die Weiten des Nichts wirft, erwacht der Busfahrer aus seiner Passivität: „Na, für'n Sommer nu ned... aber im September drei Wochen Sizilien san scho fix reserviert. Da hat's online a super Angebot geben. Weißt' eh, billig muss halt auch a bissal sein für so a Familie.“ Die weiße Prachtföhnfrisur schaut zunächst nachdenklich aus den Glaswänden, ehe sie ruckartig zu vibrieren beginnt: „Naja, aber das is ja wieder so a Massentourismus. Für mich wär' des nix!“ „Pfff... Ah, geh wo!“

„Ich find so richtig erholen kann man sich nur bei uns dahoam in Salzburg. Da is' no so richtig klein und fein. Und ned so viele Leut' san a do“, berichtet die alte Dame aus dem Salzburger-Paralleluniversum, in der Mozart wohl ein St. Pöltner war, ein Tschernobyl nicht in der Ukraine, sondern in Freilassing passierte und die katholische Kirche mit ihrer Heidenmission in Villach steckenblieb. Jeder und jedem sei eine eigene Realität vergönnt. Und trotzdem müssen wir heute weiterschwimmen. Wir hoffen auf bessere Zeiten, glauben aber unerschütterlich an die Alternativlosigkeit des Schwimmens. Niemand will untergehen.

Das Boot Europa ist voll. Mit Zorn.

FRÄULEIN FLORAS 7 SÜNDIGE SALZBURG-TIPPS Ira: Zorn (Wut, Rachsucht) Früher war man der Todesstrafe bekanntlich nicht so abgeneigt. Auch in Salzburg wurde ordentlich geköpft und gehängt. Das Henkerhäuschen und der dazugehörige Richtplatz befanden sich aber nicht am Krauthügel – wie das viele behaupten –, sondern in der Neukommgasse. Weit über 500 Menschen mussten hier ihr Leben lassen. Begraben wurden die armen Seelen gleich daneben, heute befindet sich am früheren Friedhof ein Bestattungsunternehmen. Wer Lust auf einen historisch-gruseligen Nachmittag hat, kann einen kleinen Ausflug dorthin machen. Tipp: Die Umrisse vom Galgen sind immer noch im Gras sichtbar.

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CC by Powerhouse Museum

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Die fünfte der sündhaftesten Charaktereigenschaften der Menschen spiegelt wohl am besten das Zeitalter des Überflusses wider, in dem wir uns befinden. Völlerei kann verschiedene Motive und Ziele haben und mannigfache Formen annehmen. Wir begeben uns auf eine kurze VölleReise um die Welt und sehen uns die Ausschweifungen unterschiedlicher Kulturen an. Von Doris Hörmann


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uk Bang – Zusehen wie andere schlemmen. Eine zierliche Koreanerin nimmt vor einem reichlich gedeckten Tisch mit Essen, das für eine ganze Familie reichen könnte, Platz und blickt mir mit ihren übergroßen Augen von meinem Computer-Bildschirm entgegen. Jeden Tag filmt sich BJ Hanna (broadcasting jockey) über mehrere Stunden hinweg dabei, wie sie … isst. Die 30-Jährige ist eine von tausenden BroadcasterInnen, die über den Video-Streaming-Service AfreecaTV mit Muk Bang, dem Essen vor der Kamera, Geld verdienen. Die sich mittlerweile im Ruhestand befindliche erfolgreichste Esserin The Diva (34) verschlang täglich Portionen für vier ausgewachsene Männer – etwa vier große Pizzen oder drei Kilo Rindfleisch mit reichhaltigen Beilagen. Pro Monat verdiente sie damit fast 8.000 Euro in Form von Geldgeschenken ihrer treuen Bewunderer. Ein Erklärungsversuch für diesen sog. gastronomischen Voyeurismus setzt beim demografischen Wandel in Südkoreas Gesellschaft an: Die aufblühende Wirtschaft lockt immer mehr junge Jobsuchende in die Stadt, die in ihren Single-Haushalten, weit entfernt von ihren Familien, das Ritual des gemeinsamen Essens vermissen. Als Ersatz bietet sich die virtuelle Gemeinschaft rund um die Internet-Stars an, die ein Gefühl der Verbundenheit herstellen, auch ohne physische Präsenz. Die BJs stehen während und nach dem Essen ihren Zusehern via Chat zur Verfügung, beantworten Fragen ihrer Fans und machen aus den allabendlichen Online-Treffen ein kollektives Erlebnis. Auch das exzessive Diäthalten der Koreaner wird von Experten als Begründung angeführt. Die ZuseherInnen würden damit ihre eigenen unterdrückten Hungergelüste und Schlemmfantasien stellvertretend durch andere ausleben. Feeding – Mästen als sexuelle Vorliebe. Übermäßiges Essen und die damit einhergehende Gewichtszunahme können sogar zum sexuellen Akt werden, wie Pärchen der sogenannten feeder-Szene beweisen. Tendenziell sind es eher Männer, die den Part des feeders übernehmen und es erregend finden, (meist) eine Frau (feedee) zu mästen, bis diese deutliches Übergewicht erreicht hat. Die Paare geben einander nicht nur sexuelle Befriedigung, sondern auch Zuwendung in Form des Versorgens bis hin zur vollständigen Pflege, wenn die Gemästeten eine Fülle erreicht haben, die sie ans Bett fesselt. Zwischen den Beteiligten entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis, in denen der feeder es besonders genießt zu kontrollieren, wann, was und wie viel seinE PartnerIn zu sich nimmt.


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Das feeding muss nicht immer in romantischen Zweierbeziehungen stattfinden, sondern kann auch per Mausklick geschehen. Online finden sich Frauen und Männer, die es von ihren Fans abhängig machen, was sie zu sich nehmen sollen. Anderen buchstäblich beim Wachsen zuzusehen, ist derart erregend für die FetischistInnen, dass sie ihren feedees neben Geld auch Lebensmittel zusenden, mit ihnen live chatten oder videotelefonieren. Einzelne Stars der Szene haben gut besuchte Websites und können von ihren Einkünften als Models, Fetisch-Filmstars, BloggerInnen oder gebuchte live EntertainerInnen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dieser Fetisch wird häufig als psychische Störung bezeichnet, wobei sich Psychologen über dessen Ursachen nicht einig sind. Eine Möglichkeit könnte die Vorliebe für außergewöhnliche oder unförmige Körperteile sein, aber auch der Aspekt des Sadismus scheint für feeder ein Motiv darzustellen. Feedees erfahren im Gegenzug Zuwendung und Verehrung, haben jedoch häufig mit gesundheitlichen Folgeerscheinungen zu kämpfen. Professionelle feedees müssen sich nach nur wenigen Jahren im Geschäft zur Ruhe setzen, weil sie eine Körperfülle erreicht haben, die sie zum Pflegefall machen. Derart übergewichtig und körperlich eingeschränkt, gelingt ihnen kaum mehr eine Rückkehr ins Berufsleben und sie sind vollständig angewiesen auf die Hilfe anderer. Leblouh – Mädchen mästen in Mauretanien. Das Mästen junger Mädchen in Teilen Westafrikas hat nichts mit einem Fetisch zu tun, sondern hängt mit der traditionellen Bevorzugung fettleibiger Ehefrauen zusammen. Speziell in den ländlichen Gebieten Mauretaniens werden vereinzelt immer noch junge Mädchen nach jahrhundertealter Tradition zwangsgemästet. 11.000 Kilokalorien, hauptsächlich in Form von Milch, müssen die Mädchen ab einem Alter von etwa vier Jahren bis ins Teenageralter täglich unter Aufsicht ihrer Mütter oder Großmütter zu sich nehmen. Bei Weigerung oder Erschöpfung (und auch um sie

mittels Schmerz vom Brechreiz abzulenken) werden ihnen Finger oder Zehen zwischen zwei Hölzern eingeklemmt. Tränen, Kotze und langfristige körperliche sowie seelische Narben sind geduldete Nebenprodukte dieser Kindesmisshandlung. In Mauretanien stehen Körperfülle und Dehnungsstreifen für Wohlstand, Attraktivität und Gesundheit. Durch die Gewichtszunahme setzt auch die Periode der Mädchen früher ein, weshalb sie eher heiratsfähig werden. Vor allem auf dem Land wird die frühe Verheiratung der Töchter als einzige Chance auf ein gutes Leben empfunden. Die Männer finden die übergewichtigen Frauen nicht einfach nur schön, sondern sehen ihr Übergewicht als Ausdruck der guten Behandlung, die ihnen widerfahren ist. Je fülliger die Braut, desto glücklicher ihr Bräutigam und desto stolzer die Familie. In den ländlichen Gebieten fehlt es an Schulen, in denen Aufklärungsarbeit über gesundheitliche Schäden geleistet wird und Mädchen Perspektiven auf ein Leben mit Beruf gegeben werden könnten. Mittlerweile gibt es v.a. in der Hauptstadt Nouakchott Kampagnen, die über gesundheitliche Risiken wie hohen Blutdruck, Herzerkrankungen, Diabetes, Magen-Darm-Beschwerden und schmerzhafte Arthrose (Gelenksverstümmelung) sowie gesunde Ernährung informieren und eher bei jungen Menschen Anklang finden. Binge eating als Seelentrost. Unmengen an Essen zu verschlingen um es dann eventuell wieder zu erbrechen, ist in westlichen Gesellschaften zu einem weit verbreiteten Krankheitsbild geworden. Aromastoffe und Geschmacksverstärker in (Teil-)Fertigprodukten können regelrechte Essanfälle auslösen. Die Betroffenen verspüren dabei den unmittelbaren Drang nach einer bestimmten Speise und weisen ein ähnliches Suchtverhalten wie Drogenabhängige auf. Heißhungeranfälle (binge eating) finden vor allem im Geheimen statt und sind nicht alleine Produkt der Schönheits-, Jugend- oder Überflusskultur. Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper ist in westlichen


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FRÄULEIN FLORAS 7 SÜNDIGE SALZBURG-TIPPS Gula: Völlerei (Maßlosigkeit) Wer sich den Wams so richtig vollstopfen will, aber nicht gerade auf Fischeier steht oder einen Lotto-Gewinn hinter sich hat, dem sei geraten, eine Decke und einen Einweg-Griller zusammenzupacken und die Grillplätze in Salzburg zu erkunden. Gut geht das zum Beispiel am Salzbeach, wo Grillen zwar nicht dezidiert erlaubt ist, dem Kellner es aber zumindest „wurscht“ ist, wenn jemand (veganes) Fleisch brutzeln lässt. Sollte man von dort verjagt werden, kann man sich in den Donnenbergpark verziehen, wo man ab und zu ein Feuer aufflackern sieht. Industrieländern eindeutig höher als in sog. Entwicklungsländern. Kommerzialisierung, Wachstumszwang und Gewinnstreben mit Ellbogentaktik drohen Menschen außerdem vereinsamen und innerlich leer werden zu lassen. Wenn Bedürfnisse wie Liebe und Nähe nicht verfügbar sind, wird die Leere des Herzens mit Essen gefüllt. Endorphinausschüttung, die früher soziale Beziehungen ausgelöst hat, muss eine Tafel Schokolade kompensieren. Oder zwei oder drei. Der Druck, gewisse Rollenerwartungen zu erfüllen, ist heutzutage auf beide Geschlechter sehr hoch. Speziell von Frauen wird erwartet, nicht nur eine gute Mutter und Haushälterin zu sein, sondern auch eine erfolgreiche Karriere zu haben. Der Irrglaube nur als männlich erachtete Eigenschaften wie Mut, Dominanz und Selbstbeherrschung würden zum Erfolg führen, veranlasst sie alles sog. Weibliche abzulegen, das tendenziell als schwach konnotiert ist: etwa Empathie, Nachsicht und Warmherzigkeit. Das Verleugnen des eigenen Selbst führt zu inneren Spannungen und Identitätskonflikten, die häufig durch die Aufnahme großer Mengen an Essen kompensiert werden – weibliche Gefühle und Bedürfnisse werden buchstäblich hinuntergeschluckt. Weil auch erwartet wird, trotz allem den perfekten Körper zu haben, wird als Konsequenz über der Kloschüssel erbrochen oder aber exzessives Fasten praktiziert, das von Binge-eating-Orgien unterbrochen wird. Fat acceptance movement – Der Big is beautiful-Schwindel. Wo sonst als im selbsternannten Land der Freiheit könnte sich eine Bewegung herausbilden, die sich für Fettleibigkeit als selbstgewählten Lebensstil einsetzt. Vor allem die tendenzielle Benachteiligung von Übergewichtigen in Beruf und im sozialen Leben wird angeprangert. Auch die Massenmedien und ihre Auswahl an nicht repräsentativen Körperbildern sowie das öffentliche body shaming – das Verspotten anderer aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes – wollen bekämpft werden. Befeuert von Jahrzehnten des salonfähigen Magerwahns, werfen sich die AktivistInnen lautstark mit Big is beautiful-Parolen für Übergewicht

in den Ring. Sie ignorieren dabei aber, dass big not healthy ist und verleiten zu einem gefährlichen Lebenswandel. Produkte dieser Anti-Diskriminierungs-Bewegung sind einzelne fettleibige Frauen, die groß im Geschäft sind, wie zum Beispiel Rebel Wilson (Fat Amy in Pitch Perfect) und Melissa McCarthy (Brautalarm, Taffe Mädels). Frauen, die trotz – oder gerade wegen – ihres Übergewichts (und ihrer Fähigkeit zur Selbstironie) den Watschelgang nach Hollywood geschafft haben. Karl Lagerfeld hatte kurzzeitig Gossip-Sängerin Beth Ditto als seine Muse entdeckt und auch das Plus-Size-Model Tess Holliday ist aufgrund ihrer mörderischen Kurven gefragt. Letztere betont, niemanden ermutigen zu wollen, übergewichtig zu werden. Sie wolle jedoch beweisen, dass auch dicke Menschen schön sein können und sich nicht verstecken müssen. Ob eine Errungenschaft der Fat acceptance-Bewegung oder Konsequenz einer immer dicker werdenden Industriegesellschaft mit unterschiedlichen Körperformen, immer mehr Unternehmen entdecken in Übergewichtigen eine neue Zielgruppe. Kleiderkollektionen, Fortbewegungsmittel, Möbel, Gebäudezugänge, Laufstegmodels, Zeitschriftencover u.Ä. werden an ihre Bedürfnisse angepasst. Ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die Diskriminierung, die gemeinsam mit Spott und Exklusion viele Übergewichtige daran hindern, ihren lebensgefährdenden Lebensstil abzulegen und endlich abzunehmen. Völlerei sieht überall auf der Welt anders aus, hat unterschiedliche Motive, führt bei dauerhafter Praxis aber zum gleichen Ergebnis: krankhaftem Übergewicht, das ein gutes Leben zu führen oftmals erschwert. Am anderen Ende des Spektrums stehen magersüchtige Klappergestelle, die über unsere Laufstege geistern – ebenfalls Produkte eines Überflusses, nämlich an falschen Schönheitsidealen. Dazwischen liegt Langeweile, das Unscheinbare, das Uninteressante. Im wahren Leben sind dann alle überrascht, wie „normale“ Frauen und Männer eigentlich nackt aussehen.


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CC by Eli Duke (Flickr)

Immer wieder hört man von dem Begriff „Penisneid“ und davon, dass sich Frauen angeblich wünschen, für einen Tag das „starke“ Geschlecht zu sein. Doch nie wird in der Öffentlichkeit über den stillen Wunsch mancher Männer gesprochen, für einen Tag eine Frau sein zu wollen. Denn wenn es sowas wie Penisneid gäbe, müsste es nicht dann auch so etwas wie Vaginaneid geben? Ein Kommentar von Sasa Sretenovic

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er österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud sorgte mit seinen Theorien über den Penisneid für hitzige Diskussionen. Laut Freud erkenne das Mädchen zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr, dass es keinen Penis habe und entwickle deswegen die unterbewusste Fantasie, dass es kastriert worden sei. Daraus solle sich ein Neid entwickelt haben, der sich in drei verschiedenen Formen äußere. Neben dem angeblichen Wunsch der Frau, den Penis des Mannes beim Geschlechtsverkehr zu besitzen, sorgte die These über die Verleugnung der eigenen Penislosigkeit und die dadurch folgende Übernahme männlicher Verhaltensmuster, bei Feministinnen für den größten Aufschrei. Doch schon damals – wie auch heute – wurde das männliche Äquivalent völlig außer Acht gelassen. Freud führte nur an, dass es im Gegensatz zum phallischen Neid bei Frauen, die Kastrationsangst bei Männern gebe. Kam es denn Herrn Freud nie in den Sinn, dass auch Männer manchmal den Wunsch hegen, eine Vagina zu besitzen? Es wird oft verschwiegen und abgestritten, doch auch wir Männer beneiden Frauen in manchen Situationen. Und es wird langsam Zeit, auch mal darüber zu reden. Dabei geht es in erster Linie nicht um die weiblichen Geschlechtsteile selbst, sondern eher um Sachen, die sich Frauen erlauben dürfen. Da wäre zum Beispiel die Sache mit der Emotionalität. Wer kennt es nicht? Man(n) sitzt mit der Freundin

vorm Fernseher und es läuft ein kitschiger Liebesfilm. Es geht um Krebs. Die Protagonistin stirbt, der arme Typ ist am Boden zerstört und fühlt sich wie ein Häufchen Elend. Die Freundin heult. Als echter Kerl muss man natürlich die starke Schulter zum Anlehnen sein, bloß keine Miene verziehen. Keinesfalls andeuten, dass man auch Empfindungen hat. Die Frau ja in dem Glauben lassen, man(n) fühle außer ständiger Geilheit und Hunger nichts. Denn Tränen verwirren die Frauen, also lassen wir Männer diese in ihrer Gegenwart nicht zu. Man will ja ein wahrer Mann sein. Aus diesem Grund will mancher Mann ja auch nicht zugeben, dass er shoppen liebt. Wie? Ein Kerl, der gerne einkaufen geht? Na klar, schwul! Also müssen wir Männer brav die Tüten der Frauen tragen und so tun, als ob wir total gelangweilt wären und gar keine neuen Klamotten haben wollten. Die Langeweile hängt aber noch mit etwas anderem zusammen – der Auswahl! Gibt es in einigen Stores von Modeketten für Frauen eine dreistöckige Abteilung, müssen sich Männer nur mit einem einzigen Stockwerk begnügen, in welchem eventuell noch die Kinderabteilung untergebracht ist. Ein wahrer Grund, um neidisch zu sein! Nach dem Shoppingtrip geht’s in den naheliegenden Gastgarten zum Essen. Mal angenommen: Der Kellner bringt zwei Hugos zum Tisch. Das bleibt nicht unbemerkt. Die ersten abfälligen Blicke lassen nicht lange auf sich warten. „Schaut, der Fag-Hag der


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Außerdem stehen Männer nicht selten unter Leistungsdruck. Ist es relativ einfach einen Mann zu befriedigen, braucht es für den weiblichen Orgasmus mehr Feingefühl und Geschick. Und dann dieses ewige Thema der Schwanzlänge… Kennt man solche Sorgen auch, wenn man eine Vagina hat? Schon allein, um das zu wissen, hätte ich gerne eine. Frauen wollen also alle lieber einen Penis haben und Männer eine Vagina. Verrückte Welt, was? Nein, jetzt ist es an der Zeit, ernst zu werden. Klar, die angeführten Beispiele sind überwiegend Klischees und sehr provokativ und überspitzt dargestellt. Doch hinter jedem dieser Punkte verbirgt sich ein Fünkchen Wahrheit. Ich bin mir sicher, dass jeder Mann mindestens ein Mal in seinem Leben kurz davor war, emotional zusammenzubrechen. Erscheint es als das Natürlichste der Welt für eine Frau, Schwäche zeigen zu dürfen, muss beim Mann alles hinter verschlossener Tür geschehen. Wieso ist das so? Wo steht denn geschrieben, dass Männer immer den ersten Schritt machen müssen? Oder wieso wird Schwulen immer zugeschrieben, sie hätten gebrochene Handgelenke, würden rund um die Uhr nur ans Shoppen denken und sich nur als persönliche Stylingberater von Mädchen eignen? Denn tatsächlich ist es so, dass die meisten unter anderen Männern gar nicht so sehr auffallen und auch „männliche“ Berufe ausüben. Wieso haben heterosexuelle Männer Angst davor, als schwul abgestempelt zu werden? Was ist es, das Männer und Frauen aufeinander neidisch macht und uns in Schubladen denken lässt? Es sind die veralteten, konstruierten Geschlechterrollen. Von der Gesellschaft und den Medien bekommt man ständig vorgelebt, wie man sich verhalten soll. Der Mensch als Ganzes wird nicht wahrgenommen. Persönlichkeit, Interessen und Taten sollten einen Menschen definieren und keine veraltete Denkweise, der FRÄULEIN FLORAS 7 SÜNDIGE SALZBURG-TIPPS wir entsprechen sollen. Viele schrecken davor nicht zurück, sich zu Invidia: Neid (Eifersucht, Missgunst) verstellen, um dazuzuIhr kennt das Gefühl „Neid“ nicht? Dann rauf aufs gehören und angesehen Fahrrad und ab nach Aigen. Dort, wo eine Villa neben zu werden. Ist dies der der nächsten steht und wo Grundstücke so groß sind, Hauptaspekt, wodurch dass wir den Wert gar nicht ausrechnen können. Dort Neid entsteht? Wollen darf man seine Missgunst und die damit verbundenen wir das sein, was andere bitteren Neidtränen in kristallenen Champagner-Gläsern vorgeben zu sein? Kann runterschlucken – und zwar beim Aigner Schlosswirt. gut möglich sein. Dr. Bitte aber nicht auf den Preis schauen – dann riskiert Freud können wir jetzt man nämlich sehr viel mehr Tränen oder sogar einen leider nicht mehr fragen. kleinen Schlaganfall.

„Bis du zum ersten Kuss kommst, hast du leicht schon einen grünen Schein los.“

Hübschen trinkt auch so‘n Pussygetränk“, grölt einer am Nebentisch, gefolgt von Gelächter. Das Kopfkino wird unterbrochen, als der Kellner eine Maß Bier statt des zweiten Hugos bringt. So gibt es kein albernes Gegröle, doch der Mann blickt neidisch aufs Getränk der Frau. Männer haben es wohl doch nicht so leicht. Besonders weil von ihnen erwartet wird, dass sie den ersten Schritt machen. Und das immer. Männer gelten ja als „Jäger“. Frauen genießen es regelrecht, die Unnahbare zu geben, umgarnt zu werden, die Männer zappeln zu lassen. Alles schön und gut. Immerhin wollen sie testen, dass man es ernst meint und spielen diese Spielchen. Doch das kann sehr anstrengend sein – und manchmal auch verdammt teuer. Mach ihr Komplimente, zahl ihr einen Drink – oder zwei. Zum Date musst du ihr natürlich eine kleine Aufmerksamkeit besorgen, selbstverständlich geht auch das Essen auf dich. Und bis du zum ersten Kuss kommst, hast du leicht schon einen grünen Schein los. Und natürlich muss der Kuss auch durch deine Initiative zustande kommen. Wie schön wäre es doch, wenn es nur einmal umgekehrt sein könnte? Dabei geht es weniger ums Einladen – ihr wisst ja, „Männerstolz“ und so. Nein, einfach einmal von einer Frau angequatscht werden, drei Tage auf ihren Anruf und auf eine Aufforderung zum Date warten. Darauf warten, dass sie den ersten Schritt bezüglich Küssen macht – oder mehr. Und natürlich geht es bei dem Neid auch um Sex. Männer, seien wir uns doch ehrlich. Klar wollen wir wissen, wie sich der Sex für Frauen anfühlt. Welcher Mann ist nicht auf die Möglichkeit, multiple Orgasmen zu verspüren, neidisch? Und schon allein Brüste. Muss man da mehr sagen?


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Faulh CC by Christopher Kurt Spiegl (Flickr)


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Im Hörsaal ist es still, gottgleich trägt die Lehrende vor, tausend Finger hämmern im Takt des Zehn-Finger-Systems das soeben Gehörte in ihre Rechner. Zwischenfragen an die Studierenden versuchen, eine Diskussion zu starten. Die üblichen zwei, drei Verdächtigen aus unseren Reihen gehen darauf ein. Die Masse ist gefangen, verstummt und angetrieben vom Leistungsdruck. Lernt für die Prüfung. Spuckt es wieder aus. Hektik, die Angst, bloßgestellt zu werden, und der Zwang, möglichst bald einen Studienabschluss in der Tasche zu haben, münden im selbstausbeuterischen Marathon gegen sich selbst. Wir wollen fleißig sein. Wo sind die faulen Langzeitstudierenden? Wir brauchen sie mehr denn je. Ein Plädoyer für die Vollbremsung von Christopher Kurt Spiegl

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eiter geht’s. Im Proseminar ein anderes Bild: Auf den Powerpoint-Staffellauf folgt die Diskussion. Manche Leute haben ihr Gedächtnis exportiert und grasen die allmächtige und allwissende Suchmaschine verzweifelt nach Argumenten ab. Die dadurch verstümmelte Kommunikation ist anstrengend. Namen- und Begriffsdropping auf höchstem Niveau. Das Meer an Bildschirmen ist nicht nur eine zusätzliche visuelle Verschmutzung der ohnehin mittelprächtig gestalteten Bausünden - auch Hörsäle genannt -, sondern lähmt den Wissenschaftsbetrieb insgesamt. Wer hat schon Lust auf eine Diskussion auf der Grundlage destillierten Wissens von Wikipedia? Dabei sollte es an der Universität vor allem darum gehen, Sachverhalte zu durchdringen, zu verstehen und neue

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Erkenntnisse zu generieren und nicht darum, sich gegenseitig mit Faktenreichtum zu bombardieren. Erschwerend kommt hinzu, dass die fortschreitende Ökonomisierung der Bildung MitarbeiterInnen der Universitäten sehr viel abverlangt. Sie werden zunehmend an administrative und wirtschaftliche Belange (Stichwort „Drittmitteleinwerbung“) gekettet werden, als dass sie sich „nur“ mit der Forschung und der Lehre auseinandersetzen könnten. Wo steht der Universitätsbetrieb heute? Welche Rolle spielen wir als Studierende? Bildung - Fließbandware aus Wissensfabriken? Man erhält heutzutage den Eindruck, dass unter

einem Universitätsstudium vornehmlich verstanden wird, dass man sich in exakt fünf Jahren für den Arbeitsmarkt als profitable humane Ressource zurechtschmieden soll. Letzte Konsequenz dieser Betrachtungsweise ist der Verkauf der eigenen Gedankenhorizonte zugunsten eines klar abgesteckten Territoriums der Systemlogik. Und die behauptet: „Wettstreit ist gut! Alle Macht den Märkten!“ Sind die Universitäten einmal der Profitlogik unterworfen, produzieren sie kastriertes Wissen, das dann möglichst monetär verwertbar und wirtschaftlich rentabel sein muss. Ist etwa die Einhaltung von Menschen- und Tierrechten mit Mehrkosten verbunden, ergibt sich hier ein unmittelbarer Interessensgegensatz zwischen Wirtschaftlichkeit und sozialem Fortschritt, den man dann an den Universitäten moralisch oder ethisch zu rechtfertigen versucht. Und das nicht immer zugunsten der Entrechteten und Ausgebeuteten dieser Erde. In den Naturwissenschaften ist der Unterwerfungsprozess an die Ellbogenlogik offensichtlicher, indem etwa Grundlagenforschung für Industriekonglomerate betrieben wird. In den Geisteswissenschaften hingegen muss der Spagat zwischen ideellem Gedankengut und dessen Verwandlung in materiellen Profit geschafft werden. Bei diesem Kunstgriff kann es sich um eine Wirtschaftsstudie oder aber auch „nur“ um die Auseinandersetzung mit Literatur handeln. Auch wenn es viele nicht einsehen wollen: Die Formel für die Berechnung eines Cash-Flows ist nicht „mehr wert“ oder „richtiger“ als etwa die Interpretation eines Gedichts. Beides, das Gedicht und die Berechnung, können ein oder mehrere Leben erhalten oder auslöschen. Wir sitzen hier an den Unis am Drücker und wissen über dieses Potential an Wirkmächtigkeit nicht Bescheid oder leugnen es gar. Zuhauf haben sich hier „Eliten“ (re)produziert und desaströse Herrschaftsverhältnisse selten hinterfragt. Diese vornehmlich akademischen EntscheidungsträgerInnen in Politik und Wirtschaft unterscheiden sich jedoch grundsätzlich von der Avantgarde. Die Avantgarde hat gegenüber den „Eliten“ den gewissen Funken Anstand, dem


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FRÄULEIN FLORAS 7 SÜNDIGE SALZBURG-TIPPS Acedia: Faulheit (Feigheit, Ignoranz) Faulheit ist schon einigen Comic-Figuren gut gestanden, man denke nur an Biene Majas „Willi“ oder den Esel von Winnie Puh. In Salzburg gibt es sehr viele gute Spots, wo man die Seele so richtig baumeln lassen kann. Ein Lieblingsplatz sind die fix aufgestellten Hängematten im Donnenbergpark, versteckt an den Hecken. Von dort aus kann man auch den sportlich motivierten KollegInnen zuschauen und sie bemitleiden, weil sie noch nicht die innere Ruhe zum Nichtstun gefunden haben. Außerdem schön: am Almkanal, in der Hellbrunner-Allee und am Mönchsberg.

Gebot der Stunde zu folgen: Sie überwindet Grenzen, beseitigt Missstände und handelt fortschrittlich. Die heutige Welt schreit nach Veränderung, sprich: Überwindung. Wir müssen diese Avantgarde sein, wenn wir das 21. Jahrhundert besser gestalten wollen, als sein genozidales und umweltvergewaltigendes Vorjahrhundert. In dieser Funktion dürfen wir uns nicht von der restlichen Bevölkerung hermetisch abriegeln, sondern sind dazu verpflichtet, ebendiese aufzuklären und zu mobilisieren, um aktiv Widerstand zu organisieren. Denn nur so können wir in der Überwindung des Kapitalismus Geschichte schreiben. Aber kann eine Avantgarde, die also per definitionem fortschrittlich ist, faul sein? Ja, sie muss es sein! Calm the f@#k down – bilde dich! Im Strudel dieser Betrachtungen ruft ein vermeintliches Bilderbuchstudium in Mindestzeit ein Paradoxon hervor: Übermäßiger Fleiß in dieser von ökonomischem Wettbewerb geprägten Landschaft ist die elendiglichste (Denk-)Faulheit per se. Mutiges Denken und das Handeln wider die Erwartungshaltung werden in der Regel eher sanktioniert und belächelt, als belohnt und respektiert. Die ganze Menschheit, aber auch das Individuum selbst, leidet unter der ungleichen Verteilung des Vermögens, da doch der irrationale Wettbewerb des 20. Jahrhunderts offenkundig versagt hat. Die kapitalistisch geprägten Ideale der Geldanhäufung und Verprassung an symbolträchtige (und letztendlich unnütze) Gebrauchsgegenstände erweisen sich als ein Labyrinth an Hamsterrädern, in welchen wir das wichtigste verschleudern, was wir haben: Zeit und unsere Gesundheit. Wir haben uns nicht nur von der Arbeit an sich, sondern auch vom vernünftigen Maß an Konsum entfremdet. Wir können materiell zwar mehr „genießen“, als jede Generation der Menschheit je zuvor, und dennoch plagen uns Burn-Out, Orientierungslo-

sigkeit und mangelndes Selbstbewusstsein. Uns fehlt der Wille und die Fantasie zur alternativen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. In dieser resignativen Haltung kann es nicht verwunderlich sein, dass nostalgische Hits durchs Radio gejagt werden, um uns fundamental klarzumachen: „Das Beste liegt längst hinter dir, ab jetzt geht’s nur noch bergab!“ Ich ging wie ein Ägypter hab' mit Tauben geweint war ein Voodoo-Kind wie ein rollender Stein […] Und ich singe diese Lieder Tanz' mit Tränen in den Augen Bowie war für'n Tag mein Held Und EMF kann es nich' glauben Und ich steh' im lila Regen Ich will ein Feuerstarter sein Whitney wird mich immer lieben Und Michael lässt mich nich' allein Ich war willkommen im Dschungel Und fremd im eigenen Land Mein persönlicher Jesus und im Gehirn total krank Und ich frage mich, wann Werd' ich, werd' ich berühmt sein So wie Rio, mein König für die Ewigkeit Auszug aus „Lieder“ von Adel Tawil Online: bit.ly/propagandalied Wem bei diesem aus Songzitaten zusammengeschusterten Propagandaliedgut des Neoliberalismus - dieser kläglichen Hymne auf den enttäuschten Konsumenten - die Tränen kommen, ist schwer dazu zu bewegen, sich für gesellschaftlichen Wandel zu begeistern. Dieses Unlied dient ausschließlich unkreativen Zwecken: Der Steigerung des individualistischen Selbstmitleids, der Angst vor der Zukunft und der Zerstörung jeglichen Mitgefühls für alle Lebewesen, die nicht denselben Background teilen, wie wir Wohlstandskinder. Dabei ist Zeit, vor allem die zukünftige, das Wichtigste, was uns in diesem Leben noch bleibt. Trotz „ökonomischer“ Handhabung - dank vermeintlicher Zeitersparnis mittels Smartphone & Co - scheinen wir in den westlichen Ländern weniger davon zu haben, als noch zehn Jahre zuvor. „Die Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten.“ (Georg Christoph Lichtenberg). In unse-


SÜNDE CC by Christopher Kurt Spiegl (Flickr)

rer Sucht nach Unterhaltung und nach mehr Konsum zeigt sich eindeutig die Unfähigkeit moderner Menschen, auch nur kurze Zeit mit sich selbst allein zu sein. Als fürchteten wir, dass die Reflexion uns ein geradezu grässliches Selbstbildnis entgegenhalten könnte. Um den Blick in den Spiegel zu umgehen, gibt es heute zahlreiche Ablenkungen: Mittels Lärm und Drogen – wie etwa Alkohol – betäuben wir uns selbst. Billige Klamotten klamauken uns Individualität vor, an den zeitersparenden Smartphones klebt Blut der afrikanischen Kolonien, die zahlreichen Instagram-Fotos erinnern uns doch nur an unsere eigene Vergänglichkeit, schnelles Essen minderer Qualität lässt uns langsam auf einen qualvollen Tod zusteuern, den wir dann mit Pharmazeutika möglichst lange hinauszögern. Schnelllebigkeit? Publish or perish? Abgabetermin. Party. Referat. Freizeitoptimierung. Einkaufen. Nebenjob. Stopp. Die Lösung der meisten Probleme liegt in der Ent-

„Wir haben uns nicht nur von der Arbeit an sich, sondern auch vom vernünftigen Maß an Konsum entfremdet.“ schleunigung. Es ist wichtig Distanz zu den Zielen innerhalb der fein säuberlich abgesteckten „Freiheit“, die auf der Ellbogenlogik fußt, zu gewinnen. Du bist einzig und allein dafür verantwortlich, wie viel Zeit du dir rauben lässt. Der Autor ist zu faul, um ein ausgefeiltes Lösungskonzept vorzulegen, empfiehlt jedoch an dieser Stelle einfach mal einen Gang zurückzuschalten, mal einen netten Kochabend zu organisieren oder alleine eine dreitägige Wanderung zu unternehmen. Verlasse deine Passivität und engagiere dich einfach mal (nicht).

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uni & leben

v.l.n.r.: Julia Wegmayr (Stv. Vorsitzende, Liste sozialer und progressiver Studierender), Katharina Obenholzner (Vorsitzende der ÖH Salzburg, Grüne und Alternative StudentInnen), Nicole Vorderobermaier (1. Stv. Vorsitzende der ÖH Salzburg, Grüne und Alternative StudentInnen)

NEUES AUS DEM VORSITZBÜRO Gerade erst hat das Sommersemester begonnen und schon ist es fast wieder vorbei. Aber nur fast. Was natürlich nicht bedeutet, dass nichts los ist. Termine, Besprechungen, Wahlvorbereitungen und das alles neben den üblichen Aufgaben, da kommt das Vorsitzteam kaum zum Verschnaufen. Studium und andere (berufliche) Tätigkeiten wollen dabei auch nicht zu kurz kommen. Die Freizeit sucht sich indes anderweitig Beschäftigung oder schlummert verträumt vor sich hin. Besonders gerne träumt sie von Sonnenschein und warmem, türkisblauem Meerwasser und melodischen Gitarrenklängen. Eigentlich, wenn man Albert Einsteins‘ Relativitätstheorie folgt, sollte es ja so sein, dass die eher anstrengenden Tätigkeiten sich anfühlen, als würden sie ewig lange dauern und jene, die besonders schön sind, gefühlt viel schneller vergehen. Leider können wir Albert nicht mehr persönlich

fragen und diskutieren, wieso es dann so ist, dass die Zeit im Vorsitzteam vergeht wie im Flug. Deswegen schlussfolgern wir: Auch wenn es anstrengend ist, muss es auch schön und spannend sein, sonst würde es sich ja nicht anfühlen, als würde die Zeit so schnell vergehen! Und wir wollen natürlich auch zitieren, was eine Frau über Zeit gesagt hat. Das nimmt aber einige Zeit in Anspruch, denn die Recherchen zeigen: die meisten Zitate, die man über die Zeit und die Wahrnehmung davon findet, stammen von, ja richtig, Männern. Was für uns nur einen Schluss zulässt: Frauen muss mehr Raum geschaffen werden. Da fallen uns sogar weise Worte einer Frau ein: „For most of history, Anonymous was a woman.“ (Virginia Woolf ). Wie viel sich dahingehend seit den Lebzeiten von Virginia Woolf geändert hat, wollen wir hier aber nicht diskutieren. Schlussendlich, nach langem Suchen, haben wir doch etwas Passendes gefunden, nämlich wirklich passend hinsichtlich der Zeit, die für die Suche verwendet wurde: „Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.“ (Marie von Ebner-Eschenbach). In diesem Sinne gehen wir natürlich motiviert an die politische Arbeit.


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ÖH-WAHL 2015: PREMIEREN UND VIEL BEKANNTES Österreichs Studierende haben gewählt – nicht ihre Kurse und auch nicht das Worst-of der Mensa, sondern ihre Interessensvertretung. Die ÖH-Wahl von 19-21. Mai wartete mit einigen Premieren auf: Erstmals seit 10 Jahren konnte man die ÖH-Bundesvertretung wieder direkt wählen, die Briefwahl kam zum Einsatz und auch an Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen wurde nach dem Listenwahlrecht gewählt. An den Ergebnissen änderte das nicht viel. Von Kay-Michael Dankl

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rneut linke Mehrheit auf Bundesebene. Das österreichweite Studierendenparlament besteht aus 55 MandatarInnen. Die Mandate werden über politische Gruppen vergeben, die direkt von den Studierenden gewählt werden. Die Direktwahl war 2004 von der schwarz-blauen Regierung abgeschafft worden, um die (in bildungspolitischen Fragen kritische) ÖH zu schwächen. Die Abschaffung des verzerrenden Delegiertensystems schadete vor allem den Fachschaftslisten und der Fraktion Engagierter Studierender (FEST). Ihre Stärke an einzelnen, vor allem kleinen Hochschulen hat sich nicht auf die Bundesebene übertragen. An Stimmen und Mandaten gewonnen haben die Grünen & Alternativen StudentInnen (GRAS) sowie die Jungen Liberalen Studierenden (JUNOS). Obwohl die ÖVP-nahe AktionsGemeinschaft mit 16 Mandaten stärkste Kraft wurde, zeichnet sich erneut eine grün-linke Koalition ab. Die bisher amtierenden GRAS, VSStÖ, Fachschaftslisten und FEST kommen mit 29 Mandaten auf eine knappe Mehrheit (51,8% der Stimmen).

Studierendenparlament an der Uni Salzburg wächst. An der Uni Salzburg traten sechs Listen zur Wahl der ÖH-Universitätsvertretung an. Stärkste Gruppierung wurden die Grünen & Alternativen StudentInnen (GRAS) mit 31,5%, gefolgt von der AktionsGemeinschaft (28,6%) und der Liste Sozialer und Progressiver Studierender (26,8%). Die Jungen Liberalen Studierenden kletterten auf 6,7% und erhalten erstmals ein Mandat, der Kommunistische StudentInnenverband hielt sich bei 3,6% und der Ring Freiheitlicher Studenten belegt mit 3,1% den letzten Platz. Ein peinlicher Fehler ist dabei der Wahlkommission der Uni Salzburg unterlaufen: Ihr war entgangen, dass aufgrund der gestiegenen Zahl an Wahlberechtigten nicht 13, sondern 15 Mandate zu vergeben sind. Erst am Tag nach der Wahl wurde die Mandatsverteilung korrigiert: GRAS 5, AktionsGemeinschaft 5, VSStÖ 4, JUNOS 1. Diesem Muster folgten auch die Salzburger Stimmen für die ÖH-Bundesvertretung (GRAS 29,9%, AG 26,9%, VSStÖ 23,8%, JUNOS 6,5%, KSV 2,8%, RFS 2,6%, andere 7,5%). Wahlbeteiligung ging leicht zurück. Über die Wahl-

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ÖH-Wahlergebnis (Bundesvertretung) beteiligung der Studierenden wird viel diskutiert. Bei dieser ÖH-Wahl variierte sie stark je nach Hochschule. Während beispielsweise ein Drittel der Studierenden an der Fachhochschule Salzburg zur Wahl gingen, beteiligte sich am Mozarteum nur jede Fünfte. An der Universität Salzburg nutzten 3.335 Studierende ihr Stimmrecht. Das sind 88 mehr als 2013. Da aber mehr Studierende wahlberechtigt waren als 2013, lag die Wahlbeteiligung mit 23,1% geringfügig unter Vergleichswert von der letzten Wahl (25,2%). Neu war, dass viele außerordentliche Studierende (alle in Studien mit mehr als 30 ECTS-Punkten) erstmals wahlberechtigt waren. Von Vornherein vom Urnengang ausgeschlossen waren all jene, die ihren ÖH-Beitrag erst im April eingezahlt hatten oder die einem von vielen Datenbankfehlern zum Opfer fielen. Versteckte Wahllokale. Die Uni Salzburg lag damit unter dem österreichweiten Durchschnitt. Bundesweit nutzten 25,9% der wahlberechtigten Studierenden ihr Stimmrecht. Ein Grund für diese Differenz war die ungünstige Platzierung der Wahllokale: Erstmals konnten Studierende der Rechtswissenschaftlichen Fakultät nicht direkt am Juridicum wählen, sondern mussten einen 10-minütigen Fußweg in die Kapitelgasse 5-7 antreten. Das dürfte an den kalten, regnerischen Wahltagen einige WählerInnen abgeschreckt haben. Hintergrund: Das Career Center hatte praktisch das gesamte Juridicum für seine Berufsmesse gebucht, so dass Stände diverser Unternehmen und Kanzleien, aber keine Wahllokale, die Churfürstenstraße zierten. Auch an der Naturwissenschaftlichen Fakultät befand sich das Wahllokal nicht – wie üblich –, im Zentrum, sondern abgelegen in einem Seitengang des Foyers. Würde die Uni-Verwaltung die Wahl besser organisieren, könnte die Stimmabgabe erleichtert werden. Dafür braucht es aber ein grundsätzliches Interesse, wählen zu gehen. Hier gibt es noch viel zu tun. Denn auch die Briefwahl, die erstmals die Stimmabgabe aus dem Ausland und vor der Wahl ermöglichte, wurde nur von ca. 50 Studierenden der Uni Salzburg wahrgenommen (ca. 0,3% der Wahlberechtigten). Gerade für jene Studierenden, die lediglich Beratungs- und andere (relativ unpolitisch wirkende) Service-Angebote der ÖH wahrnehmen ist offenbar nicht erkennbar, warum sie an der Wahl teilnehmen und die Ausrichtung der ÖH-Arbeit mitbestimmen sollten. Es wird Aufgabe der ÖH sein, in den kommenden zwei Jahren die ÖH-Präsenz zu steigern und das Bewusstsein dafür zu fördern, dass nicht egal ist, wer in der ÖH tonangebend ist. Du zählst dich selbst zur Gruppe der NichtwählerInnen? Was hat dich bewegt, dem Urnengang fern zu bleiben? Schreib uns an presse@oeh-salzburg.at!

AG 26,7% GRAS 20,1% VSStÖ 14,9% FLÖ 12,7% JUNOS 11,2% FEST 4,1% KSV-LiLi 2,5% RFS 2,5% LISTE 2,4% KSV-KJÖ 2,3% STULIFE 0,7%

Mandate (Bundesvertretung) KSV-LiLI 1 LISTE 1 FEST 2 RFS 1 KSV 1

JUNOS 6

VSStÖ 8 FLÖ 7

GRAS 12

AG 16


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fellner weis‘sche hei ten

Impressionen eines StV-Vorsitzenden*

VIELE KLICKS UM NIX Wir alle kennen sie. Viele mögen sie nicht, wenige finden sie ok. Die Homepage der Universität Salzburg. Selten zuvor waren und sind sich so viele Menschen in ihrer Kritik über etwas so einig.

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ie schaut ja eh ganz nett aus, die Homepage. Ein bisschen Pling-Pling und Schi Schi, wissenschaftlicher ausgedrückt: „ein paar schöne Bilder und Überschriften“, aber in ihrem inneren wirkt sie wie ein Labyrinth. Wer von euch hat schon mal nur durch Surfen und Suchfunktion versucht, bestimmte Studienpläne oder auch Ansprechpersonen zu finden? Meistens wird nichts sogleich zu finden sein. Suche ich etwa eine Professorin meines Vertrauens in der Kunstgeschichte, gibt es die Seite der Betreffenden Professorin gar nicht. Kommt besonders gut, wenn man einer Studierenden gerade was erklären will, und dann findet man, mit einem leisen Fluch auf den Lippen, selber nix. Die Beschreibung meines Studiums, der Politikwissenschaft zum Beispiel lässt sich erst finden, nachdem man auf „Politikwissenschaft“ bei „Studium“ gestoßen ist, aber irritiert feststellen musste das zunächst nur das Curriculum auftauchte. Die wirklich interessanten - weil ausformulierten - Informationen sind aber beim „Fachbereich Politikwissenschaft“ zu finden. Der gehört in den Bereich „Organisation“. Irrgärten wollen - und sollen - die Besucherin angenehm verwirren, aber davon kann hier wahrlich keine Rede sein! Denn bei Irrgärten gibt es einen fast immer funktionierenden Ausweg: rechts abbiegen. Probiere das mal auf dieser Homepage. Aber man findet an der PoWi wenigstens die Information, die man sucht.

Ganz anders am Fachbereich Anglistik. Die informieren nämlich nur auf deutsch – wer etwas englisches sucht wird Pech haben. Jetzt darf die aufmerksame Leserin fragen: Ja, wer hat denn beschlossen, dass es diese Homepage geben wird? Ja, das frage ich mich auch. Bis mir einfällt, dass ich selber auch dabei war. Nur, so verwirrend wie es heute ist, wurde uns das damals natürlich nicht präsentiert, weder im Senat, noch etwa im Fakultätsrat. Ich weiß noch gut, wie die Sitzung damals verlaufen ist, und wir alle von dieser Homepage größtenteils begeistert waren und diese dann schlussendlich mit einer überwältigenden Mehrheit angenommen wurde. Da saßen dann ein paar Leute vom Entwicklungsteam - die in rasender Geschwindigkeit die Features vorstellten - und man bekam den Eindruck eines perfekt funktionierenden Uhrwerkes. Wenn man dann aber im Büro der Studienvertretung sitzt und reihenweise immer wieder Erstsemestrige vorbeikommen, die sich auf der Homepage nicht auskennen wird aus dem Uhrwerk rasch eine verstopfte Hauptverkehrsader in der Stoßzeit. Was nun also tun? Eine Demo gegen unsere Homepage vielleicht, ob das jetzt noch was bringen würde? Dafür wäre ich am ehesten: In einer Sitzung all die Mails unzufriedener Studierender über die Homepage zu verlesen. Diese Sitzung wäre gewiss spaßig. Besser gesagt: „Ups, das hätte nicht passieren dürfen“.

*Christof Fellner ist Vorsitzender der StV-Politikwissenschaften


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DIE HÜRDEN AUF DEM


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WEG ZUM DIPLOM

von Max Mustermann*

Stell dir vor, du schreibst deine Abschlussarbeit. Du überlegst dir ein Thema, wählst einen geeigneten Betreuer, betreibst nach ausgiebiger Literaturrecherche und gründlicher Vorbereitung empirische Forschung und schreibst deine Ergebnisse nieder. Zwischendurch stehst du mit dem/der BetreuerIn in Kontakt und erhältst immer wieder Rückmeldungen. Schließlich wird die Arbeit fertig, du reichst sie ein und bereitest dich auf die Abschlussprüfung vor, die du dann mit Bravour bestehst. Soweit der Idealfall. Es geht aber auch anders. Der erschreckende Fall der Ulrike H.*

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ine Arbeit über die Geschichte der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung im Ende des 19. Jahrhunderts sollte es werden. Das ist zugegebenermaßen kein wahnsinnig originelles Thema, entspricht aber durchaus dem, was für Diplomarbeiten in Geschichte so üblich ist. Ulrike H. kontaktiert eine der Professorinnen, in deren Forschungsbereich sich dieses Thema bewegt und diese sagt als Betreuerin auch zu. Im April findet die erste Besprechung statt, daraufhin schickt Ulrike H. die ersten Kapitel und bittet um Feedback. Bei der zweiten Besprechung im Juli regt die Betreuerin an, ein Interview mit einem ehemaligen Regierungsmitglied der 1970er Jahre (übrigens eine Bekannte der angesprochenen Professorin) durchzuführen. Dieses lasse sich – so die Betreuerin – problemlos in die ursprünglich geplante Arbeit integrieren, sodass die bis dahin geschriebenen Kapitel nicht in den Rundordner wandern müssen. Es solle ein Bogen von den Anfängen der Sozialdemokratie bis in die 1970er Jahre gespannt werden. Soweit nichts Ungewöhnliches, solche Änderungsvorschläge sollen ja durchaus Teil einer ordentlichen Betreuung sein. Ulrike H. stimmt deshalb auch zu und überlegt sich Fragen für dieses Interview, für die sie natürlich ebenfalls (elektronische) Rückmeldung haben möchte. Diese bleibt allerdings aus. Auch auf eine zweite Anfrage erhält sie keine Antwort. Ulrike muss das Interview auf eigene Faust und ohne Unterstützung der Betreuerin bestreiten. Danach – mittlerweile ist es August – berichtet sie vom Verlauf des Interviews, schickt die Transkription sowie die schriftliche Ausarbeitung desselben als Anhang mit und bittet um einen Besprechungstermin. Wieder nichts. Mitte September mailt Ulrike einen Teil der Diplomarbeit inklusive einer kurzen Inhaltsangabe der geplanten Interpretation des Interviews und der voraussichtlichen Ergebnisse der Arbeit: die ehemalige Staatssekretärin sei keine Vorkämpferin für Frauenrechte gewesen, sondern eine „eifrige Arbeitsbiene“, die machte, was von ihr verlangt wurde. Weder stellte sie emanzipatorische Ansprüche noch war sie für die Partei sonst irgendwie unbequem. Kurzum: es handelt sich bei der Diplomarbeit sicher nicht um die von der Professorin erwartete Heldinnengeschichte. Keine Antwort.

Einige Tage später kommt dann per Mail die Mitteilung der Betreuerin, dass sie auf Urlaub gewesen sei, mit der Zusicherung, sich die Unterlagen ansehen zu wollen. Außerdem äußert sie die Absicht, sich Anfang Oktober mit Ulrike treffen zu wollen. Diese schickt dann weitere Teile der Diplomarbeit, wieder mit der Bitte um Rückmeldung, wieder ohne Antwort. Mittlerweile ist es Oktober. Per Mail kommt die Aufforderung, die Diplomarbeit ausgedruckt im Sekretariat abzugeben. Das ist verständlich, schließlich haben Professorinnen wichtigeres zu tun, als einzelne Word-Dateien auszudrucken und aneinanderzureihen. Das Angebot, den Ausdruck in der Sprechstunde abzugeben, wird aufgrund wichtiger Termine abgelehnt. Ein anderer Termin soll zwar gefunden werden, dazu kommt es aber letztendlich wegen des vollen Terminkalenders der Betreuerin nicht. Deshalb bittet Ulrike, die aus persönlichen Gründen unter Zeitdruck steht, darum, dass die Professorin sich im Falle gröberer Unstimmigkeiten oder Fehler per Mail melden solle und teilt mit, dass sie ansonsten die Arbeit Mitte Oktober abgeben wolle. Und wieder – welch große Überraschung – keine Antwort. In gutem Glauben reicht sie also Mitte Oktober ihre Diplomarbeit ein. Am 1. Dezember, eineinhalb Monate später, erkundigt sich Ulrike, wann sie denn mit dem Gutachten rechnen könne. Eine Woche darauf dann per Mail die böse Überraschung: Die Professorin ist „geschockt über die Qualität der Arbeit“ und kann „die Arbeit in dieser Form nicht positiv beurteilen“. Ulrike ist ebenfalls geschockt. In einem persönlichen Gespräch (es geschehen noch Wunder!) am 10. Dezember erkundigt sie sich, wie es denn passieren könne, dass ihre Arbeit negativ beurteilt wird, obwohl die Professorin schon lange vor der Abgabe sämtliche Ausführungen erhalten hat. Die Antwort, vorgetragen in unangemessener Lautstärke: sie bekomme teilweise über hundert Mails am Tag und könne diese unmöglich alle lesen. Die Interpretation des Interviews habe ihr „die Schuhe ausgezogen“ und sei nicht wissenschaftlich fundiert. Den Hinweis, dass andere Arbeiten und sogar eine Kollegin vom selben Fachbereich zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wären und dass sie diese auch zitiert hätte, quittiert die Professorin mit „Dann wären Sie halt zur Frau Gruber* gegangen.

* Name von der Redaktion geändert

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„Ich würde das genauso wieder schreiben“

Ich bin da anderer Ansicht“. Der Zorn der Betreuerin scheint sich dabei auf die Interpretation des Interviews mit ihrer Bekannten zu konzentrieren. Methodische Ungenauigkeiten oder Schlamperei beim Zitieren scheinen bei der Benotung keine Rolle gespielt zu haAus dem Alltag der StV Geschichte ben; nur das Interview ist ihr ein Dorn im Auge. Auf den Einwand, dass zehn Seiten doch nicht für eine negative Wer sich als Studienvertreter für die Rechte der StudieBeurteilung ausschlaggebend sein könnten, schon gar renden einsetzt, bekommt manchmal interessante Antnicht aus ideologischen Gründen, erwidert sie schlicht: worten. Ein besonders kurioses Highlight wollen wir „Ich setze da nicht meinen Namen drunter“. Man einigt euch nicht vorenthalten. sich schließlich auf einen „Kompromiss“: Der „inakzepZur Vorgeschichte: In einem Seminar gibt es Probletable“ Teil wird entfernt, die Arbeit neu eingereicht und me mit einem nachträglich vereinbarten Blocktermin. positiv beurteilt. Geschehen soll das innerhalb einer Eine Kollegin kann diesen nicht wahrnehmen und Woche. soll deshalb negativ beurteilt werden. Daraufhin wenGesagt, getan. Schon am nächsten Tag lässt Ulrike die det sie sich an die Studienvertretung, die ihrerseits die korrigierte Arbeit binden und reicht sie erneut ein. LV-Leiterin freundlich darauf aufmerksam macht, dass Gleichzeitig fasst sie den Entschluss, die Betreuerin diese Vorgangsweise nicht mit den Bestimmungen im nicht in der Prüfungskommission haben zu wollen. Das Universitätsgesetz vereinbar ist. Ihre Antwort: Alles sei ist zwar nicht üblich, rechtlich aber durchaus möglich korrekt abgelaufen. Die STV lässt nicht locker und hakt und auf jeden Fall verständlich, wenn man von einer nach. Dieses Mal antwortet der Vizerektor für Lehre persönlichen Abneigung seitens der Professorin ausgehöchstselbst: hen muss. Ulrike sucht ein neues Mitglied für die PrüfungskomSehr geehrter Herr Würfliger, mission und wird schnell fünich beziehe mich auf die von Ihnen an Frau Vizerektorin geschriebenen Emails vom 20.2.2015 bzw. dig. Weniger schnell läuft es an vom 14.2.2015. Ich weise Sie in meiner Funktion als Vizekrektor für Lehre der Universität Salzburg darauf der Diplomarbeits-Front. Erst hin, dass es nicht Ihre Aufgabe als Studienrichtungsvertreter bzw. als Student ist, Lehrende zu belehren. Sie am letzten Tag vor Ablauf der können im konkreten Fall davon ausgehen, dass Frau Prof. als langjährige Dekanin der KGW-Fakultät Anmeldefrist für den geplanten und als langjähriges Mitglied des Rektorats der Universität Salzburg die von Ihnen zitierten Paragraphen Prüfungstermin am 19. Jänner des UG sehr genau kennt. Ich verweise in diesem Zusammenhang auch auf das im September 2014 in aktualisierter Form vom Rektorat der Universität Salzburg und somit auch von Frau VR herausgegebene erhält sie die erlösende NachHandbuch für Lehrende. richt: das positive Gutachten ist eingelangt. Die von Ihnen in den beiden Emails gewählte belehrende Formulierung steht Ihnen nicht zu. Zudem finde Hier könnte die Geschichte enich sie in höchstem und für mich unverständlichen Maße arrogant. den. Tut sie aber nicht. Die ProSollten Sie mit der Durchführung einer Lehrveranstaltung an Ihrem Fachbereich ein Problem haben, können fessorin, offenbar beleidigt, weil Sie sich entweder an den Fachbereichsleiter oder an die Dekanin oder eben direkt an mich wenden. Da ich in sie nicht Teil der Prüfungskomdiesem Fall bereits involviert bin, schlage ich Ihnen vor, das Gespräch direkt mit mir zu führen. Sie können mission sein darf, beschwert sich sich bezüglich Terminkoordination an meine Mitarbeiterin, Frau , wenden. im Dekanat und will sich in die Kommission hinein reklamieren. Mit (nicht wirklich) freundlichen Grüßen Das macht sie mit Erfolg – der Studentin wird die Wahl der eigenen Prüfungskommission verwehrt. Den Hinweis auf die offensichtliche persönliche Abneigung und die skandaEin Gespräch mit ihm bringt keine Ergebnisse. Alles sei löse Begründung der negativen Beurteilung lässt man korrekt abgelaufen, seine Antwort würde er „genauso im Dekanat nicht gelten. Freiheit der Lehre sei das. Das wieder schreiben“. Das Rektorat ist unfehlbar und wir Brisante an der Sache: Die Betreuerin ist Teil eines LeiStudierenden haben das zu akzeptieren. tungsgremiums der Universität. Es drängt sich also der Derselbe Vizerektor meinte vor kurzem in den SalzburVerdacht auf, dass die skandalöse (Nicht-)Betreuung ger Nachrichten1, eine unabhängige Ombudsstelle, an der Diplomarbeit vertuscht werden soll, damit die weidie sich Studierende bei Problemen wenden können, ße Weste der Professorin gewahrt werden kann. Klar, sei nicht notwendig. Es sei „einfacher, die Studenten wenn die Betreuerin nicht Teil der Prüfungskommissiwenden sich direkt an [das Rektorat]“. Und dort weron ist, könnte das ja verdächtig wirken. So wahrt man den sie dann bestenfalls ignoriert. Das finden wir (nicht den schönen Schein. wirklich) toll. Quelle: bit.ly/ombudsstelle


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THE BEST THINGS IN LIFE ARE FREE? NICHT AN DER UNI SALZBURG! Die österreichischen Universitäten leiden immer mehr unter finanzieller Knappheit. Kein Wunder, dass deshalb die Ansätze, die die Einnahmen steigern sollen, teils sehr erfinderisch und diffus ausfallen. Dies ist jedoch noch lange kein Grund dafür, immer tiefer in die Taschen der Studierenden zu greifen. Von Tobias Neugebauer

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or knapp zwei Jahren entschied das Rektorat der Universität Salzburg, für den Besuch bestimmter Lehrveranstaltungen Gebühren einzuheben. Alle waren glücklich damit und studierten fröhlich bis zu ihrem Abschluss? Nicht ganz. Die Geschichte hat einen anderen Verlauf genommen, ein Ende ist aber noch nicht in Sicht. Besonders betroffen von dieser neuen Regelung sind die Studierenden an der rechtswissenschaftlichen Fakultät. Hier wurden die Repetitorien, also jene Lehrveranstaltungen, die der Wiederholung des Stoffes und der Vorbereitung auf die Fachprüfungen dienen, einer Kostenpflicht von 20 Euro pro Semesterstunde unterworfen. Nicht selten ergeben sich daher Kosten in Höhe von mehr als 100 Euro im Semester. Nicht nur Studierende sind mit dieser neuen Regelung alles andere als zufrieden. Schnell fand man an der Fakultät mit dem Dekan sowie den VertreterInnen des Lehrpersonals Verbündete, denen die Gebühren ebenso ein Dorn im Auge sind. All die Argumente gegen die Einhebung des „Unkostenbeitrages“ stießen im Rektorat jedoch auf taube Ohren. Auch zahlreiche Verhandlungsversuche der Studienvertretung sowie der Lehrenden konnten keinen Sinneswandel in der Führungsriege der Universität bewirken. Die Folgen der Kostenpflicht zeichnen sich nun immer stärker ab. Viele Studierende können oder wollen sich die Lehrveranstaltungen nicht mehr leisten. Die TeilnehmerInnenzahlen sinken drastisch und immer mehr Kursen droht aufgrund der geringen Anzahl an BesucherInnen das Aus. Das Rektorat darf sich dafür – laut eigenen Angaben – über Einnahmen in der Höhe von ca. 4.000 Euro pro Semester freuen. Ob nach Abzug der Kosten für den administrativen Aufwand überhaupt noch ein Plus übrig bleibt, darf bezweifelt werden. Das war‘s? Der Widerstand hat sich gelegt und alle akzeptieren die Kostenpflicht? Natürlich nicht! Be-

reits mit der Einführung des „Unkostenbeitrages“ durch die Verordnung des Rektorats wurden rechtliche Bedenken geäußert, ob eine solche Regelung überhaupt zulässig sei. Auch ein von der ÖH Salzburg in Auftrag gegebenes Gutachten kam zum Schluss, dass die Gebühren für Repetitorien unzulässig seien – ganz ähnlich wie die autonomen Studiengebühren, die vom Verfassungsgerichtshof bereits aufgehoben wurden. Die Damen und Herren in der Kapitelgasse, allen voran Vizerektor Müller, ließen sich aber auch dadurch nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Alle Versuche, den Streit um die Gebühren gütlich beizulegen, scheiterten. Für mich war damit klar, dass die Kostenpflicht wohl nur dann fallen würde, wenn sie vor Gericht erfolgreich bekämpft wird. Das von mir veranlasste Verfahren dauert nun bereits seit Oktober 2013. Nachdem der Gang zum Bundesverwaltungsgericht – und damit eine rechtliche Überprüfung der Verordnung – durch das Rektorat lange Zeit verzögert wurde, hat dieses vor etwa zwei Monaten die Ermittlungen aufgenommen. Es ist schwer abzuschätzen, wie rasch mit einer Entscheidung durch das Verwaltungsgericht zu rechnen ist. Ich werde jedoch nicht ruhen, ehe das Rektorat die Einhebung des „Unkostenbeitrages“ unterlässt oder der Verfassungsgerichtshof die Verordnung aufgrund der vermuteten Rechtswidrigkeit aufhebt. Die Mühlen in diesem Verfahren mögen zwar langsam mahlen, aber stetig. Schlussendlich kann ich diesem leidigen Thema aber doch auch eine positive Seite abgewinnen. Als Studierender bekommt man an der Universität nicht jeden Tag die Gelegenheit, das im Studium erworbene Fachwissen in die Praxis umzusetzen. Es bleibt nur zu hoffen, dass mir die Erfahrungen, die ich im Laufe dieser Angelegenheit sammeln durfte, nicht auch noch vom Rektorat in Rechnung gestellt werden.

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WIE STARBUCKS UND WIE STOTTERN


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Es kann viele Gründe geben, warum man Starbucks meiden möchte. Bei den einen ist es die Warteschlange, wenn man mal eben einen schnellen Coffee- To-Go haben möchte, bei den anderen der befremdliche Geschmack von zu viel H-Milch und zu viel Sirup, der so gar nichts mehr mit dem natürlichen Espresso zu tun hat. Oder es liegt am unverwechselbaren Starbucksflair, der die einzelnen Lokale untereinander so verwechselbar macht. Und auch ich kann mich stolz zu den Starbucksgegnern zählen – aber aus weniger stolzen Gründen. Starbucks will meinen Namen wissen und der kommt oft stotternd raus. Ein Bericht von Veronika Ellecosta

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ain Finlayson, ein englischer Journalist, hat es auf den Punkt gebracht. JedeR von uns hatte wohl einmal eine Mitschülerin, eine Arbeitskollegin, den Freund einer Cousine, der oder die stottert. Von Bibel-Moses bis Marilyn Monroe zieht sich die Nennung stotternder Persönlichkeiten quer durch das Spektrum, und trotzdem ist Stottern wohl niemals wirklich in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Hartnäckig halten sich die Vorurteile vom Kind, das schneller denkt als es spricht, schneller spricht als es denkt oder einfach geistig eingeschränkt ist. Dabei finden sich die Ursachen der Balbuties, wie man in Fachkreisen sagt, nicht in mangelnder Intelligenz oder Koordination von Denk- und Sprachwerkzeug. Im Allgemeinen spricht man von einer Störung des Sprachflusses, der durch eine überhöhte Anspannung von artikulatorischen und laryngealen Muskeln ausgelöst wird-im Mund- und Kehlkopfraum also. Die Anspannung äußert sich auch als solche: in Blockaden des Atemflusses, in Pressen und Wiederholen von Lauten, Silben, Worten und sogar Satzteilen. Diese primären Symptome sind jedoch sehr variabel, niemand lässt sich als reiner Wortwiederholungsstotternder identifizieren. Zudem lernen Betroffene sehr schnell, die unschönen Symptome zu verstecken. Blitzschnell werden Wörter ausgetauscht, Atempausen oder Verzögerungen eingestreut. Und auch ich bin mittlerweile zur Sprachkünstlerin geworden, stets dazu bereit, einen unnötigen Störfaktor aus dem Satz raus zu substituieren. Das bedeutet nicht, dass ich nicht stottere, nur weil ich nicht stottere. Symptomfreies Sprechen ist in manchem Falle lediglich erfolgreiches Vermeiden und Ersetzen von Problemstellen in Satz und Wort. Zu solchen unsichtbaren Lösungsstrategien gesellen sich die weniger kontrollierbaren, ebenfalls erworbenen Begleiterscheinungen des Stotterns: nach Luft schnappen, Fäuste ballen, Grimassen schneiden, aufstampfen, Flickwörter und Zuckungen.

Stottern liegt wohl in den Genen, da ist sich die Wissenschaft mehr oder weniger einig – zumindest die Veranlagung soll vererbt werden. Dass trotzdem rund 90 % der Betroffenen männlich sind, vermutete man früher in der rollentypischen Erziehung oder in der verlangsamten Sprachentwicklung von Jungen. Heutzutage spricht man von geschlechterspezifischer Veranlagung. Da ist sich die Wissenschaft noch nicht einig. Die meisten Kinder legen ihre Sprachstörung im Laufe der Pubertät ab, jedoch vorwiegend Mädchen. Und ich? Ich habe mit 20 Jahren die Pubertät hoffentlich überwunden und bin außerdem ein Mädchen – und trotzdem stottere ich. Es gibt nun mal nicht den einen Stotterer, genauso wenig wie die eine Ursache und die eine Lösung. Das macht es so schwierig, eine allumfassende Erklärung für den Mythos Stottern zu finden. Genauso wenig gibt es Stottern ohne psychischen Faktor. Was früher jedoch als Hauptursache betrachtet wurde, wird heutzutage aus vielseitiger Perspektive betrachtet. Die alte Frage nach dem Ei oder dem Huhn lässt sich auch hier schön umformen: Was war zuerst, die Sprechangst oder die Sprechstörung? Fest steht zumindest, dass eines das andere bedingt (genauso, wie es sich mit dem Ei und dem Huhn verhält): Je mehr der Sprecher aufmerksam auf sein Stottern achtet, desto mehr nehmen meist auch die Symptome zu. Wieder gilt, es ist nicht möglich, zu verallgemeinern. Was aber leicht nachvollziehbar ist, ist die Art der Situation, in der der Sprecher besonders auf sein Stottern achtet: im Kontakt mit ande-

„Ich und mein Stottern sind zusammen aufgewachsen. Wir kennen einander von der intimen Seite mit allen unseren Tricks, und ich wüsste nicht, wer ich wäre, wenn ich mein Stottern verlöre.“ —Iain Finlayson1


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„Es gibt keine Heilung fürs Stottern, nur Kontrolle – 24 Stunden am Tag unermüdliche Kontrolle des Verhaltens.“ —Iain Finlayson1

ren, im Gespräch mit fremden Personen, beim Reden vor größeren Menschenmassen. Der/die Stotternde versucht, den Moment des Outings bestmöglich zu verhindern. Gründe dafür mögen viele sein: Angst vor Abwertung, Angst davor, das Gegenüber anzustrengen, Angst vor Unfähigkeit zur Kommunikation, Scham darüber, in der Öffentlichkeit die Kontrolle über das eigene Sprechen zu verlieren sowie Schuldgefühle. Viele Stotternde empfinden sich als unsicher und nervös; diese Nervosität wird vom Gegenüber dann auch als solche wahrgenommen. So versiegelt die Angst den Mund öfter, als sie sollte, und Meideund Fluchtstrategien werden ausgeheckt. Die Stotternden schweigen und Stottern bleibt der Mythos vom Freund einer Cousine. Aber auch andere Erfahrungen können maßgeblich dazu beitragen, wie stark die Primärsymptomatik sich im Laufe der Entwicklung ausbildet und ändert. Jeder Stotternde hat ein Repertoire an Wörtern, Silben und Buchstaben, über die er in vergangenen Konversationen gestolpert ist. Stottern wird antizipiert und tritt dann schließlich, mancher Buchstabe lässt sich ja nie vollkommen vermeiden, tatsächlich auf. Zu diesem Repertoire zählen überdurchschnittlich häufig Alter und Wohnortangaben – und der eigene Name. Diese Wörter können in einem Gespräch nicht substituiert werden und werden meist ohne zögerliche Antwort erwartet. Ich nenne diesen Zirkelschluss den „Starbuckseffekt“. Es gibt aber auch Situationen, in denen Stotternde symptomfrei sprechen. Etwa beim Singen, beim Zeitlupensprechen, beim Schauspielen. Paradebei-

spiele dafür sind Bruce Willis oder Rowan Atkinson. Das wird damit erklärt, dass, sobald Stotternde ihr Sprechen ändern, es ihnen als fremd erscheint und fließend abläuft. In verschiedenen Therapieansätzen arbeitet man deshalb auch mit sogenanntem Simultansprechen. Es braucht dazu eine Person, die denselben Satz synchron spricht. Oder man ändert bewusst Ton- und Sprechart, um dem Stotternden das Gefühl des flüssigen Sprechens zu geben. Selbstgespräche verlaufen in den meisten Fällen übrigens auch flüssig. Letzteres kann ich durchaus bestätigen, ich kann mir selbst ohne Stolperstellen stundenlang zuhören. Mein Hund kann übrigens dasselbe von mir behaupten. Die oft gefürchtete Reaktion des Umfelds bleibt meistens unbegründet. Es gibt zwar Opfer von Schulhofhänseleien, Kinder von Eltern, die ihren Zöglingen das Stottern verboten haben, zur Beruhigung mahnten oder Ähnliches. Die meisten Menschen stehen dem Stottern aber kaum vorurteilsbehaftet, jedoch unwissend gegenüber – was auch dem erfolgreichen Meideverhalten der Betroffenen zu verdanken ist. Der gutgemeinte Versuch, dem bemühten Stotternden aus seiner Blockade zu helfen, wird von diesem als zusätzlicher Stressfaktor und Demütigung empfunden. Niemand lässt sich gerne ins Wort fallen, auch wenn dieses ausbleibt. Die Theorie, dass Stottern eine lästige Angewohnheit von Kindern ist, war bereits früher umstritten. Trotzdem gab es Ansätze, die davon ausgingen, dass Stottern lediglich die Anstrengung ist, ebenjenes zu vermeiden. Die Umwelt wird zum Auslösefaktor, Stottern lediglich zur Reaktion auf diesen – als Folge einer

1 Finlayson, Iain: Ich und mein Stottern, abgerufen unter: http://www.forum.bvss. de/viewtopic.php?f=1&t=1793 Natke, Ulrike (32000): Stottern. Erkenntnisse, Theorien, Behandlungsmethoden, Verlag Hans Huber. Werner, Prof. Dr. Lothar (1988): Stottern- Hilfe!, Verlag für Medizin Dr. Ewald Fischer.


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Wichtige Internetadressen für Betroffene: Österreichische Selbsthilfe-Initiative Stottern (www.oesis.at) Jugend-Infoseite Stottern (www.jugend-infoseite-stottern.de) Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V. (www.bvss.de)

emotionalen Störung. Die Psychoanalyse betrachtet die Sprechstörung als zwanghaftes Verhalten aufgrund unbewusster oral- oder analerotischer Bedürfnisse. Tröstlich ist zumindest, dass der gute Sigmund Freud diese Theorie ablehnt und die Stotternden nicht zu unbefriedigten Lustmolchen degradiert. Die Breakdown-Theorie aus den 1920er Jahren betrachtet Stottern neurologisch. Systeme im Gehirn, die beim Sprechakt nötig sind (Wahrnehmung, Stimmgebung, Artikulation, Atmung), sollen demnach unter Einfluss von Stress versagen. Letztendlich aber, aufgrund der Vielfalt des Stotterns in Ursache und Ausprägung (wie wir schon öfters festgestellt haben), einigte man sich auf eine multikausale Theorie; es gibt sowohl physiologische, psycholinguistische, psychosoziale Faktoren und vererbbare Voraussetzungen, die das Stottern begünstigen: Stottern ist das kunstvolle Produkt aus einem komplexen Ursachennetz. So vielfältig wie der Komplex aus Ursachen- und Auslösefaktoren ist auch die vermeintliche Heilung. Meistens verschwindet Stottern im Kindesalter wieder, genauso unerklärlich wie es aufgetreten ist. Bei den restlichen Fällen bleibt es bestehen und kann lediglich durch eine ganzheitliche Therapie verbessert oder reduziert werden. Trotzdem ist auch von einigen Spontanheilungen zu hören, die sich überraschenderweise besonders gerne in Mythen finden lassen. Der Grieche Demosthenes zum Beispiel soll mit Kieselsteinen in den Backen erfolgreich gegen die Meeresbrandung angeschrien haben. Francis Bacon, der englische Philosoph und Wissenschaftler, riet zu Weinkonsum, weil jener die Zunge entsteifen sollte.

Auch wenn ich und viele Betroffene ihm da zustimmen würden, ist es dennoch einfachste Symptomminimierung durch Nichtbeachtung des Stotterns und keine Dauerlösung. Weniger genussvoll war wohl das Skalpell, dass der Chirurg Dieffenbach im 19. Jahrhundert seinen Patienten unter die Zungenwurzel schob, was sogar einige Todesopfer forderte. Das heutige Therapieangebot fordert keine Toten mehr, noch verführt es zum Suff. Besonders erfolgreich scheinen die Stottermodifikation und der Non-Avoidance-Ansatz, der dem Grundsatz des flüssigen Stotterns folgt oder Fluency Shaping, wo neue Sprechmuster erworben werden. Aber auch medikamentöse Behandlung (Erfolgsquote zweifelhaft) oder einfache Entspannungsmethoden machen das Stottern nicht mehr zu einer unüberwindbar anmutenden Hürde. Im Großen und Ganzen sollte jede ganzheitliche Therapie jedoch sowohl an Primär- als auch Sekundärsymptomatik arbeiten, an Gefühlen und Einstellungen zum eigenen Sprechen. Daneben leisten seit den 1970er Jahren sogenannte Selbsthilfegruppen einen wichtigen Beitrag zur Therapie. Betroffene haben hier die Möglichkeit zum Austausch, zu gegenseitiger Unterstützung und zur Stärkung eines Gemeinschaftsgefühls. Selbsthilfegruppen betreiben Öffentlichkeitsarbeit und unter dem Motto „Stottern statt schweigen“ wirken sie damit der Mystifizierung des Stotterns als „Problem“ des Freundes der Cousine entgegen. Denn die Zahl stotternden Menschen umfasst österreichweit 80 000 Betroffene. Und im modernen Pluralismus, wo Platz für Anderssein ist, dürfen auch diese 80 000 nicht übersehen werden.

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ALBERT EINSTEIN, MARIE CURIE … UND VIELLEICHT AUCH DU? Hast du als Kind die Krabbelphase übersprungen und bist gleich gelaufen? Treibst du wenig Sport? Bist du lärmunempfindlich? Falls diese Verhaltensweisen auf dich zutreffen – sagt das leider gar nichts über deine Begabung aus oder ob du eine Zukunft wie Albert Einstein oder Marie Curie vor dir hast. Ein Bericht von Carina Gargitter*

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egabung – was ist das eigentlich? Zum Begriff der Begabung gibt es in der Wissenschaft unterschiedliche Auffassungen. In Österreich, genauer gesagt hier in Salzburg, haben wir für dieses Thema ExpertInnen, die sich seit langem mit der Entwirrung um den Begriff Begabung beschäftigen. Diese ExpertInnen arbeiten am ÖZBF, das folgende Meinung zur Begabung vertritt: Begabung ist das Potenzial eines Menschen zu außergewöhnlicher Leistung. Damit diese auch möglich ist, muss sich der Mensch auf einen lebenslangen Lern- und Entwicklungsprozess einlassen. Denn lange Zeit herrschte die Auffassung vor, (Hoch-) Begabung sei mit hohen Testwerten in Intelligenztests (IQ >_ 130) gleichzusetzen. Diese Sicht ist aufgrund ihres zu engen Fokus überholt. Heute wird Begabung nicht mehr über einen hohen IQ-Wert definiert, sondern kann vielmehr verschiedene (auch nicht-intellektuelle und nicht-schulische) Leistungsbereiche betreffen. Auch Pablo Picasso war begabt. Hoher IQ-Wert? Begabung? Intelligenz? Ist das nicht alles ein und dasselbe? Wenn Begabung also mehr als Intelligenz ist, wie hängen diese Bereiche dann trotzdem zusammen? In vielen Begabungsmodellen wird Intelligenz als ein Begabungsfaktor beschrieben (z.B. im Münchner Hochbegabungsmodell, konzipiert von Kurt A. Heller) oder als Vorbedingung für begabtes Verhalten gesehen. Intelligenz kann als die Fähigkeit zum Denken, Lernen und Problemlösen beschrieben werden. Je nach Perspektive betonen unterschiedliche ForscherInnen andere Facetten der Intelligenz. Jedoch stimmen die meisten darin überein, dass Intelligenz beschreibt, wie gut eine Person schlussfolgernd denken, planen, Probleme lösen, abstrakt denken, komplexe Ideen verstehen und aus Erfahrungen lernen kann. Also ist Intelligenz ein Aspekt von Begabungen. Und wie entwickelt sie sich nun zu Leistung? Eine Rolle spielen Faktoren im Individuum, aber auch eine förderliche Umwelt ist entscheidend. Das wichtigste ist allerdings das Lernen, auch für Begabte. Gelungene Lernprozesse sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Lernende außergewöhnliche Leis-

tungen erreichen können. Dazu ist es nötig, dass sie ihren Lernstand realistisch einschätzen können, ihre Stärken und Schwächen beim Lernen kennen, sich erreichbare Ziele setzen und über ein reichhaltiges Repertoire an Lernstrategien verfügen. Nicht nur das Repertoire an Lernstrategien ist für das Lernen wichtig, auch eine Erweiterung des individuellen Handlungsrepertoires, sodass immer komplexere Handlungen vorgenommen werden können. Die Forscherin Angela L. Duckworth1 weist auf einen weiteren, für uns Studierende besonders interessanten, Faktor hin: grit. Unter diesem Begriff versteht sie das Durchhaltevermögen und die Leidenschaft für das Verfolgen von Langzeitzielen. Dranbleiben ist also das Credo für uns Studierende. Spielt noch etwas eine Rolle bei der Potenzialentfaltung? Haben Herkunft, sozialer Status oder Geschlecht einen Einfluss? Ohne Zweifel haben diese Faktoren einen großen Einfluss auf Lernen und Lernerfolg – und somit auf die Entfaltung von Begabungen und Potenzialen. Diversität ist der gesellschaftliche Normalfall in einer Gemeinschaft – nicht die Ausnahme. Deshalb sind jene Bemühungen so wichtig, die darauf abzielen, alle betreffenden Personen mit ihren Stärken, Schwächen, Eigenschaften und biographischen Hintergründen zu fördern und auf ihrem individuellen Weg bestmöglich zu unterstützen. Und was ist nun mit uns Studierenden? Sind wir zu alt für die Begabungsförderung? Mit dem Eintritt in das spätere Jugendalter verschiebt sich der Schwerpunkt der Verantwortung für die Begabungsund Exzellenzförderung weitgehend in den Bereich der/des Einzelnen. Jetzt ist es die betroffene Person selbst, die aus eigener Initiative und weitgehend selbstständig mit ihrer Fähigkeit zur Selbstreflexion dafür sorgt, ihre persönlichen Ziele weiterzuentwickeln. JedeR sichert sich dabei den Erhalt der Lernfähigkeit, sucht nach einem geeigneten Umfeld, nach Personen, die sie/ihn fördern oder angemessen begleiten, mit deren Unterstützung sie/er die Begabungen und Talente mit Aussicht auf Erfolg einsetzen kann.

*Carina Gargitter studiert Psychologie und arbeitet am Österreichischen Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung (ÖZBF) 1: bit.ly/Tedtalk_Duckworth


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Die Verschiebung des Schwerpunkts der Begabungsförderung aber, die für das spätere Jugendalter bzw. für das Erwachsenenalter charakteristisch ist, darf nicht dahingehend missverstanden werden, als hätte die Rolle des Umfelds in dieser Lebensphase ihre Wichtigkeit verloren. Positiv eingestellte nahestehende Personen, ExpertInnen, aber auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen tragen zur Schaffung einer Anerkennungskultur für Begabungen bei. Deren Kennzeichen sind u.a. die größere Offenheit für informelle Formen des Lernens, die Schaffung flexibler Lernwege und die Gewährleistung der Durchlässigkeit der Bildungssysteme. Zur Erlangung wahrer Leistungsexzellenz sowie eines nachhaltigen ExpertInnenstatus sind der ganzheitliche Einsatz der Person und die deliberate practice unumgänglich. Unter deliberate practice versteht man gezielte, intensive Übung über einen längeren Zeitraum hinweg, bis sich eine Verbesserung einer Fähigkeit einstellt. Wichtig auf dem Weg zur Leistungsexzellenz ist außerdem die Formulierung von attraktiven Zielen, die Herausforderungen beinhalten und folglich diese Herausforderungen dann auch anzunehmen und zu meistern. Womit wieder an unser Credo „Dranbleiben“ angeknüpft werden kann. Wenn wir schon dabei sind, was für uns Studierende wichtig ist – wie sieht’s denn nun mit der Begabungsförderung an der Hochschule aus? Vielfältige Maßnahmen zur Begabungsförderung wären an den Hochschulen möglich – die Umsetzung und der Stellenwert dieser variiert jedoch von Hochschule zu Hochschule. Idealerweise ist die Begabungsförderung institutionell durch eine Koordinationsstelle oder eineN BeauftrageN verankert. Also eine Person, die alle Informationen sammelt und diese an die Studierenden weitergibt. Nicht nur finanzielle

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Förderung, sondern auch Angebote zur Akzeleration (=Beschleunigung) und zum Enrichment (=Bereicherung) sollten vorhanden sein. Konkret könnte dies heißen, dass Studierenden die Möglichkeit geboten wird, schneller als im Curriculum vorgesehen einen Abschluss zu erlangen oder sich in ein Thema richtig reinzuhängen. Entscheidend für die Begabungsförderung sind auch die Qualität der Lehre und die Betreuung der Studierenden. Aus biographischen Studien mit NobelpreisträgerInnen weiß man, dass 1:1 Betreuungen, wie sie in Mentoring– und Tutoringprogrammen ermöglicht werden, der zielführendste Weg für die persönliche Leistungsentwicklung ist. Das Österreichische Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung (ÖZBF) ist die bundesweite Institution zur Entwicklung der Begabungs- und Exzellenzförderung in Österreich und unterstützt Personen, Institutionen und Initiativen, die Begabungen fördern. Es wurde 1999 gegründet und wird von BMBF und BMWFW finanziert. Das ÖZBF vertritt einen ganzheitlichen und systemischen Ansatz der Begabungs- und Exzellenzförderung, der alle Bildungsorte – Kindergarten, Schule, Hochschule genauso wie Elternhaus, Wirtschaft und Gemeinde − einschließt. Nur so kann kontinuierliche Begabungsentwicklung gewährleistet werden. http://bit.ly/ÖZBF_Infos

Lesetipps: Duckworth, A.L.; Peterson, C.; Matthews, M.D.; Kelly, D.R. (2007): Grit: Perseverance and Passion for Long-Term Goals. Journal of Personality and Social Psychology 92 (6), S. 1087–1101. Fritz, A. (2015): Der tertiäre Sektor im Fokus. news & science. Begabtenförderung und Begabungsforschung. 39, S. 8–12. Heller, K. A. (Hrsg.) (1992): Hochbegabung im Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe. ÖZBF (2014): FAQs zur Begabungs- und Exzellenzförderung. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Sternberg, R. J. (2003): Wisdom, Intelligence and Creativity synthesized. Cambridge: Cambridge University Press. Subotnik, R. F.; Olszewski-Kubilius, P. & Worrell, F. C. (2011): Rethinking Giftedness and Gifted Education: A Proposed Direction Forward Based on Psychological Science. Psychological Science in the Public Interest 12(1), S. 3–54. Ziegler, A. (2008): Hochbegabung. München: Ernst Reinhardt.


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EINEN RAUM MIT

Raum ist kein Naturgesetz und nicht gottgegeben, es gibt auch kein Recht auf Raum. Doch der Bedarf vor allem für künstlerische Nutzung war und ist hoch. Ein neues Festival versucht nun, Leerstände in Salzburg aktiv zu nutzen und die Diskussion über den Umgang mit leeren Räumen anzuregen. Doch: Das klingt einfacher, als es ist. Von Josef Kirchner


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KUNST FÜLLEN interLAB – ein neues transdisziplinäres Festival lebt den Leerstand in Salzburg

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ier brauchen wir Raum.“ Mit den Fingern markiert Marco Döttlinger einen Bereich. „Und hier könnte man Beamer positionieren.“ Er zeigt an die Decke. „Spots für die Tänzerinnen brauchen wir auch.“ Ein verregneter Aprilnachmittag. Marco steht in einem heruntergekommenen Gebäude in Schallmoos. Der junge Komponist für Neue Musik wird in wenigen Wochen hier zusammen mit NAMES und dem Yugsamas Movement Collectiv die Eröffnungsperformance eines neuen Festivals hinlegen. So richtig kann man es sich aber nicht vorstellen, dass zwischen all dem Gerümpel bald Kunst entstehen soll. Nun gut: Immerhin die Discokugel hängt schon. Wer die wann hier vergessen hat, das bleibt ein Geheimnis. In einem zweiten Raum daneben werden gerade Türen vermessen und darüber diskutiert, wo die Bar stehen soll. Drei junge Salzburger haben es sich zur Aufgabe gemacht, hier ein transdisziplinäres Festival zu etablieren. „interLAB soll vorhandene Ressourcen und Leerstände nutzen und damit nicht nur das Viertel, sondern die ganze Stadt als Kulturstandort aufwerten“, sagt Christian Winkler, einer der Organisatoren. „Die Suche nach Räumen, die temporär oder dauerhaft genutzt werden können, war in den vergangenen Jahren sehr mühsam“, ergänzt Marko Dinic. Oft schon sei man mit unterschiedlichen Projekten und Plänen auf der Suche nach Raum durch die Stadt gezogen. Mangelware Raum. Sie stellen dabei keine Ausnahme dar: Raum, insbesondere für nicht-profitorientierte Projekte, ist ein knappes Gut. Und dennoch stehen in der ganzen Stadt Geschäftslokale und Büroflächen leer. Wer mit offenen Augen durch die Straßen geht, entdeckt eine Unmenge dieser Gebäude. Das Zwillingspaar an der Lehener Brücke, Lichthaus und ehemaliges Elmo-Kino, ist nur das traurige Aushängeschild einer leeren Stadt. Will man teilweise jahrelang leer stehende Räume wiederbeleben, scheitert man regelmäßig an den EigentümerInnen bzw. VermieterInnen. Dies liegt natürlich an der verständlichen Skepsis gegenüber jungen Kultur- oder SozialarbeiterInnen, aber auch

zum Beispiel daran, dass leer stehende Wohn- und Geschäftsflächen steuerlich absetzbar und somit in gewisser Weise lukrativ sind. Auf der anderen Seite wird das Aussterben der Geschäftsstraßen und Mietpreisspekulation beklagt. „Nutzen statt Leerstand oder Abriss!“, ist das Motto des Leerstandsmelders, einer Initiative zur Vermittlung zwischen der Angebots- und der Nachfrageseite. JedeR kann leer stehende Räume, die im Stadtbild erkennbar sind, online eintragen oder sich informieren, wo denn welches Gebäude oder Geschäftslokal frei ist, um sie für das eigene Projekt zu nutzen. Besetzung und Aufwertung. Doch das Image der Raumnutzung ist nicht das Beste. Häufig werden alle Initiativen unter dem Begriff der Hausbesetzung subsummiert, ein Schreckensszenario für viele Eigentümer. Dabei waren es oft jene Besetzungen der 70er-Jahre, aus denen Großes entstand. Der Schwerpunkt lag dabei in Norddeutschland und den Niederlanden – die Freistadt Christiania in Kopenhagen gilt als eine der ersten großen Besetzungen Europas und ist heute eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. In Deutschland wurde (West-) Berlin in den frühen 80ern zum Zentrum der Hausbesetzungen, Räumungsversuche der Polizei blieben als „Schlachten“ in Erinnerung. Nach der Wende erstarkte die Bewegung noch einmal, auch das Kunsthaus Tacheles, ein von KünstlerInnen bespieltes Haus, wurde 1990 besetzt und damit – wie das auch bei vielen anderen Projekten der Fall war – vor dem Abriss bewahrt. Mehr als zwanzig Jahre lang prägte das Haus in der Friedrichstraße das Stadtbild, bevor es vor wenigen Jahren geräumt wurde. Jetzt steht es erwartungsgemäß wieder leer. Doch das Tacheles konnte die Wirkung von Leerstand auf ein Stadtviertel aufzeigen: Unzählige Gastronomie- und Kreativbetriebe siedelten sich im Umkreis an, es entstand ein belebtes Viertel. Dieser Gentrifizierungsprozess wird häufig als gesellschaftlicher Mehrwert von Neu- oder Nachnutzungen ansonsten leer stehender Gebäude angeführt. Prominentes Beispiel ist aktuell die Stadt Detroit, die nach der In-


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solvenz vor zwei Jahren mit einem immensen Leerstandsproblem zu kämpfen hat und ganz bewusst KünstlerInnen und Kreativbetriebe anwirbt, um die Stadt wieder zu beleben. Wenn nach einiger Zeit die Mieten dementsprechend angestiegen sind, müssen die KünstlerInnen gewöhnlich wieder gehen. Be- und gelebter Raum. Diese Temporalität ist – wie auch der DIY-Gedanke – Merkmal der meisten (Zwischen-) Nutzungen von Leerstand und Ausdruck der Win-win-Situation. Abgesehen von illegalen Besetzungen, kommen die meisten Leerstandsnutzungen mit Einverständnis der Vermieter zustande. Die ZwischennutzerInnen bekommen zum Beispiel günstige Mietkonditionen oder müssen sich lediglich um die Instandhaltung der Räumlichkeiten kümmern und sorgen im Gegenzug passiv für die angesprochene Wertsteigerung des Objektes und der Umgebung. Aus dem physischen Raum wird dabei auch ein sozialer, häufig mit eigenen, meist partizipativen, Strukturen. Durch das soziale Handeln im Raum bekommt dieser eine gesellschaftliche Bedeutung über den monetären Wert hinaus. Dies drückt sich auch in den hauptsächlichen Nutzergruppen von Freiräumen aus: Neben der aktuell stark umworbenen Kreativindustrie sind es vor allem soziale Randgruppen und nicht auf Profit ausgerichtete kulturelle Einrichtungen, die ein hohes Bedürfnis nach Raum haben, aber am normalen Mietmarkt keine Chance haben. Die Arten der Leerstandsnutzung sind dabei so verschieden wie die bespielten Räume: Während lokale Initiativen wie urban gardening oder Straßenfeste (wie das fairkehrte Fest in Salzburg) Raum der Allgemeinheit umfunktionieren und Interventionen den öffentlichen oder halböffentlichen Raum bespielen, sind es vor allem Nachnutzungen von ehemaligen Industriestandorten, die großes Aufsehen erregen. In Wien stechen da vor allem die historischen Beispiele Arena und Wuk hervor. Und in Salzburg? „Züri brännt, Salzburg pennt!“, hieß es 1981 bei einer

Diskussion im Das Kino – kulturelle Entfaltung war für die Stadtverwaltung ein Fremdwort oder wurde als Bedrohung angesehen. Nach der Besetzung des Petersbrunnhofs (heute: Schauspielhaus) und gescheiterten Verhandlungen über das leer stehende Areal am Rainberg, fiel die ARGE 1984 mit Aktionismus (u.a. bei den Festspielen) auf und bekam schließlich das „Kulturgelände Nonntal“ überantwortet. Dass das Bedürfnis nach freien Räumen zur künstlerischen Nutzung auch danach nicht abgeklungen ist, spiegelte sich in der neuerlichen Besetzung der „alten ARGE“ 2005 wider. Und nun? Nun stehen wir hier in einer ehemaligen Fabrikationshalle zwischen Bauschutt und Discokugel. Freiräume (wie der gleichnamige der ÖH Salzburg) sind weiterhin Mangelware, das Bedürfnis jedoch dauerhaft hoch. Die Räumlichkeiten in der Schallmooser Hauptstraße gehören zu einem Gebäudekomplex, in dem sich unter anderem eine Werbeagentur befindet. Während in der renovierten Haushälfte Industrierelikte als Designobjekte positioniert sind, verleihen die industriellen Überreste der heruntergekommenen Haushälfte ihr eigenes Flair. Der Dornröschenschlaf ist nunmehr beendet. Für eine Zwischennutzung wurde das leerstehende Areal den jungen Salzburgern überlassen, bevor auch diese Räumlichkeiten renoviert werden sollen. An zwei Tagen werden einmalig an diesem Ort MusikerInnen, TänzerInnen und AutorInnen aufeinandertreffen, um gemeinsam etwas Außergewöhnliches und Neues zu schaffen. interLAB besetzt dabei nicht nur neue physische Räume, sondern auch die Räume zwischen den Kunstsparten: Nicht nebeneinander, sondern miteinander sollen Kunstwerke entstehen. So werden Auftragsarbeiten vergeben, die genau diese Transdisziplinarität widerspiegeln und Diskussionen zum Umgang mit Leerstand geführt. Inzwischen probiert Marco Döttlinger aus, welche Möglichkeiten dieser ganz spezielle Raum bietet und das Veranstaltungsteam sucht verzweifelt nach einem Wasseranschluss. Es gibt noch viel zu tun.

interLAB – Festival für transdisziplinäre Leerstandsnutzung „Leerstand vs. Utopie“ ist das Leitmotiv der ersten Ausgabe von interLAB. Einem partizipativen Diskursprogramm, das tagsüber in Form von Panel-Discussions, Lectures und Publikumsgesprächen stattfindet, wird ein künstlerisches Abendprogramm gegenübergestellt. 11. Juni: NAMES - New Arts and Music Ensemble (Salzburg) zusammen mit dem YUGSAMAS Movement Collectiv: Große Eröffnungsperformance

12. Juni: möström, in Graz und Wien ansässiges Sound-Kollektiv Rick Reuther & Matthias Kropfitsch: transmediale Textperformance Miscelanea Guitar Quartet: in Salzburg ansässiges, international gefeiertes Gitarren-Quartett Didi Kern & Philipp Quehenberger: legendäre Sound/Noise-Combo aus Österreich +++ and many more +++ Internetseite: www.interlab.at


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— VERSUS — KEIN ALKOHOL IST AUCH EINE LÖSUNG

NÜCHTERN ETWAS SCHÜCHTERN, BESOFFEN ZIEMLICH OFFEN

— Von Julia Fedlmeier —

— Von Marie Schulz —

enk an das allererste Mal zurück, als du an einem alkoholischen Getränk genippt hast. Wahrscheinlich warst du 13 oder 14, wolltest unbedingt deine street credibility auf dem Schulhof unter Beweis stellen und hast dich abends dort mit deinen Dudes und Duderellas getroffen. Eine Shisha-Pfeife stand in der Mitte, jeder zog mehr oder weniger genüsslich daran (selbstverständlich ohne zu husten!) und nebenbei ging eine Wodka-Flasche herum, die du aus dem Alkoholvorrat deiner Eltern geklaut hast. Natürlich lässt du es dir nicht anmerken, dass du vorher noch nie wirklich Alkohol getrunken hast. Erwartungsvoll nimmst du deinen ersten Schluck aus der Pulle – und merkst ganz schnell, wie eklig das Zeug eigentlich schmeckt. Die meisten trinken dann trotzdem wieder, irgendwann können sie den brennenden Nachgeschmack einfach ausblenden, die Geschmacksnerven haben sich daran gewöhnt. Das ist aber nicht immer so: Für mich riecht und schmeckt jedes alkoholische Getränk bis heute nach Hustensaft (bäääh!). Von Gruppenzwang habe ich mich nie beeindrucken lassen. Der Versuch, mich von einem Stamperl Schnaps zu überzeugen, ist völlig zwecklos. Einige, meist selbst schon ziemlich besoffene KollegInnen, sprechen dann oft ihre Anerkennung aus, wie sehr sie meine Abstinenz bewundern („I find da soooo doll, da du keine Allohol drings!“). Andere wollen wissen, was genau denn da mit mir nicht stimmt (und warum ich ein T-Shirt trage, auf dem Sober is sexy steht): „Bist du schwanger? Man sieht ja noch gar nix!“, „Du bist doch nicht etwa eine von denen, die im Keller rumhüpfen, Pogomusik hören und saufen scheiße

lkohol und Partys bis zum Morgengrauen gehören zum StudentInnenleben wie Prüfungen zum Studium. Vernünftig müssen wir spätestens im Arbeitsalltag sowieso werden – deswegen sollte man wenigstens im Studium keine Party und keinen kostenlosen Schnaps auslassen. Das hier soll in keinem Fall ein Plädoyer für Alkoholmissbrauch oder gar Sucht werden. Jedoch bringt das ein oder andere Bier manchmal ziemlich viele positive Aspekte mit sich. Ich liebe euch alle! Wie viele Freundschaften wären nicht entstanden, hätte es da nicht diese eine lustige Geschichte auf dieser einen Party gegeben, wo alle total voll waren? Solche Erlebnisse sind wichtige Anknüpfungspunkte für anschließende (nüchterne) Gespräche. Schließlich weiß man erst, wie kompatibel man in puncto Freundschaft ist, wenn man mal miteinander trinken war und/oder die anderen betrunken erlebt hat. Es kann ja sein, dass deine neue Freundin eigentlich ein total netter, ruhiger Mensch ist – wenn sie trinkt, musst du aber ihren Fäusten ausweichen und Leute mit langsamerer Reaktionsfähigkeit verarzten. Oder aber dein neuer Kumpel ist im Alltag eine ziemlich coole Sau, beim feiern sitzt er aber nur in der Ecke und spielt die Spaßbremse. Man sollte also Freundschaften, die außerhalb des Trinkbereichs entstehen, besser so schnell wie möglich testen. Seien wir uns mal ehrlich – Alkohol macht Spaß und verbindet. Schon Jesus hat Wasser zu Wein gemacht. Es wird sicher in unserem Leben viele Jahre geben, in denen wir nicht viel trinken können, weil wir wieder um sieben Uhr morgens am Frühstückstisch sitzen müssen. Daher sollten wir jetzt noch unsere (nahezu) katerfreie Jugend nutzen. Ich finde, auf das sollte man anstoßen! Da hat der Alkohol aus mir gesprochen! Es gibt jemanden, der dir schon lange auf den Keks geht? Betrunken

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finden!?“ (damit sind Straight Edger gemeint) oder „Mann, ist dein Leben nicht total traurig und spaßbefreit?“ sind nur einige, meistens mit einer hochgezogenen Augenbraue gestellte Fragen, die ich in den letzten Jahren gestellt bekommen habe. Sich nicht wenigstens einmal im Monat „aus dem Leben zu schießen“ hat aber auch einige Vorteile: Bis vier

„Für mich riecht und schmeckt jedes alkoholische Getränk bis heute nach Hustensaft.“ Uhr morgens weggehen, obwohl du am nächsten Tag um neun Uhr ein Referat hast, ist kein Problem, weil der Brummschädel ausbleibt. Auf hohen Schuhen behält man stets die Balance, peinliches Rumgegröle oder ein Filmriss bleiben der/dem NichttrinkerIn ebenfalls erspart. Das Allerschönste am Immer-nüchtern-Sein ist aber, anderen dabei zuzusehen, wie sie in Schlangenlinien gehend Baby One More Time schmettern, dem Türsteher ihre Liebe gestehen oder – mein Favorit – schnarchend auf deiner Autorückbank sitzen. Denn in einem Punkt kannst du dir als NichttrinkerIn immer sicher sein: Da du meistens FahrerIn bist, brauchst du dir keine Sorgen um deine lallenden FreundInnen zu machen. Dank deiner 0,0 Promille kommen sie sicher und wohlbehütet zu Hause an. Und am nächsten Tag bist du dann diejenige, die ihnen von dem unglaublich legendären Teil des Abends erzählt, an den sie sich selbst leider nicht mehr erinnern können.

„Was kann es schöneres geben? Aus einem Bier werden drei – es wird immer lustiger.“ jemandem die Meinung geigen, kann sehr befreiend sein. Wenn es einem im Nachhinein leid tut, kann man es noch immer auf den vielen Alkohol oder das schlechte Wetter schieben – oder vielleicht hat die Person das Ganze bereits vergessen. Egal wie – das genugtuende Gefühl in der Magengegend wird bleiben. Andersrum funktioniert das ganze auch: Du hast dich mit einem Freund vor ewigen Zeiten zerstritten und schon monatelang kein Wort mehr mit ihm gesprochen? Hier die Lösung: Alkohol! Triffst du ihn betrunken auf einer Party oder in einer Bar, wird es keine zehn Minuten dauern, bis ihr wieder auf die Bruderschaft trinkt. Schließlich hattet ihr ja so eine schöne Zeit miteinander und der ganze Streit war eh sinnlos. Auf die Freundschaft! Ich zeig dir meins und du mir deins. Es ist Paarungszeit. Am allermeisten gegraben wird, wenn es dunkel ist – und der Alkohol in Strömen fließt. Je mehr Alkohol man trinkt, desto schöner werden die Menschen rundherum. Der Typ aus der Bar, der eigentlich durchschnittlich gebaut ist, mutiert zum Adonis und das eher mauerblümchenartige Mädel sieht auf einmal aus wie Giselle Bündchen. Dieser Zauber ist aber nach einer Nacht ziemlich schnell verflogen – und neben einem Kater hat man auch noch mit Scham oder einer fremden Alkoholleiche in seinem Bett zu kämpfen. Man kann sich wenigstens immer noch auf den Rausch rausreden. Natürlich birgt Alkohol Risiken und verursacht Schäden im Körper. Jedoch sollte jeder erwachsene Mensch seine Grenzen kennen. Vier mal die Woche ein Vollrausch wird auf Dauer problematisch, immer nüchtern bleiben aber auch. Mit einem leichten Damenspitz hie und da kann man aber wenigstens seine Vernunft und sein Pflichtbewusstsein an den Nagel hängen und Geschichten schreiben, die man später mal seinen Enkeln erzählen kann – vorausgesetzt man erinnert sich am nächsten Morgen noch daran.


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MENSCHENRECHTE HABEN GRENZEN

Seitdem in der Nacht vom 18. auf den 19. April vor Lampedusa 800 Flüchtlinge ertranken, ist das Thema in aller Munde. Menschenrechtsorganisationen beschreiben eine katastrophale Situation, die betroffenen Mittelmeerstaaten fordern mehr Geld von der EU – die hält einen Sondergipfel ab und stockt nur halbherzig deren Mittel auf. Populistische Parteien gehen mit „Heimatland in Flüchtlingshand“ und das „Boot ist voll“ auf Wählerfang und verunsichern die Wähler. Zwischen der Forderung nach universellen Menschenrechten und einer großen Angst vor hunderttausenden, nichtintegrierbaren Flüchtlingen, die mangels Perspektive schnell in die Kriminalität absteigen, ist so ziemlich jede Position vertreten. Während auf der europäischen Seite des Mittelmeeres also Uneinigkeit herrscht, sind sich auf der anderen Seite sehr viele Menschen durchaus einig darüber, dass nicht einmal die Aussicht auf den Tod so schwer wiegt, wie die Hoffnung auf ein besseres Leben. Eine Reportage von Johannes Hofmann


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reitag der 24. April gegen 17 Uhr, sechs Tage nach der Lampedusa-Katastrophe auf dem Salzburger Domplatz: Die Fassade des Doms glitzert in strahlendem Sonnenschein, vom rechts angrenzenden Georgi-Kirchweihfest weht leise Blasmusik herüber und vermischt sich mit Chartmusik vom Fahrradfest zur linken Seite der Kirche. Ein paar asiatische Mädels kichern beim Bilder machen und schielen fragend zur Marienstatue hinüber. In deren Schatten hat sich eine kleine Menschenmenge versammelt, zu Füßen der Mutter Gottes liegt ein halbaufgepumptes Schlauchboot, auf dem Rosen drapiert sind. Ein weißes Schild verkündet mit roten Lettern „Gegen das Vergessen“. Die Caritas hatte zu einer stillen Mahnwache aufgerufen, etwa 100 Menschen kommen, es wird über Europas Verantwortung aber auch auf die persönliche Verantwortung jedes Europäers gesprochen. Es brauche keine Ausgrenzung, sondern eine Allianz der guten Herzen. Auf dem Fahrradfest wird leider auf Techno umgeschaltet, als die Schweigeminuten beginnen. Sechs Tage vorher, am 18 April gegen 23:30 Uhr, sind die Menschen noch am Leben und haben sich gerade darauf geeinigt, einen Notruf an die italienische Küstenwache abzusetzen. Küstenwache heißt Behörden, Behörden heißen mögliche Abschiebung. Aber das Boot ist völlig überladen und der Schleuserkapitän überfordert. Die italienische Küstenwache ebenfalls, so schickt sie einen privaten Handelsfrachter zur Rettung. Seit dem Auslaufen des italienischen Mare-Nostrum-Rettungsprogrammes und dem parallelen Ansteigen der Flüchtlingsströme, gängige Praxis. Das Rettungsschiff nimmt Kurs auf das Flüchtlingsboot und wird von selbigem etwa 130 Kilometer vor der Küste Lampedusas gerammt. Der Zusammenstoß bringt es in eine Schräglage, Wasser dringt ein. Viele Flüchtlinge können nicht schwimmen und selbst wenn, die Meeresströmung, die resultierende Massenpanik, meterhohe Wellen und das etwa 5 Grad kalte Wasser reduzieren die Überlebenschancen drastisch. Am Ende schaffen es nur 28 Menschen auf den Frachter und auf mehrere italienische Fischerboote, welche herbeigeeilt waren. Kapitän und Steuermann sind unter ihnen. Genaue Zahlen können nicht rekonstruiert werden, aber das Hohe Kommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen geht im besten Fall von 800 Toten aus. Damit wäre dies die größte Flüchtlingskatastrophe, die sich jemals im Mittelmeer ereignet hat. Gleichzeitig wird die Zahl der Ertrunkenen in der Woche vor dem Unglück auf über 1000 geschätzt. Auf eine Woche verteilt liest sich dies nur weniger sensationell. Durch die Medien geht ein Aufschrei, „Massengrab im Mittelmeer“, „Blut an den Händen der Verantwortlichen“ und „Das völlige Versagen der Flüchtlingspolitik“ sind nur einige der Schlagzeilen. Der italienische Regierungschef Matteo Renzi fordert einen EU-Sondergipfel.

Vier Tage später findet selbiger statt. 28 Staats- und Regierungschefs beraten und einigen sich am Ende auf eine Verdreifachung der Mittel für das Triton-Programm. Dem EU-Nachfolger von Mare Nostrum standen bislang drei Millionen Euro pro Monat für Rettungseinsätze zur Verfügung. Damit hat die EU-finanzierte Rettungsmission etwa so viel Ressourcen, wie ihr italienisch-finanzierter Vorgänger. Lösungswillen sieht anders aus und genau hier hat die EU ein symptomatisches Problem. Die EU Direktive 2001/51/EC weist die Mitgliedsstaaten darauf hin, wie sie illegale Immigration wirksam bekämpfen sollen. Im Wesentlichen soll dafür gesorgt werden, dass es ohne Visa keine Einreise gibt, weder per Land, Luft oder Wasser. Da dies im direkten Konflikt mit den Genfer Flüchtlingskonventionen steht, zu deren Einhaltung sich die EU ebenfalls verpflichtet hat, gibt es den Absatz 2. Dieser gibt an, dass obige Regel nicht gilt, sobald es sich bei der illegal einreisenden Person um einen Flüchtling gemäß den Genfer Flüchtlingskonventionen handelt. Der Haken an der Sache: Wer stellt wie fest, ob das der Fall ist? Auf dem Land- und Seeweg sind das die Polizisten und Frontex-Mitarbeiter der jeweiligen Grenzstaaten. Frontex ist die europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen. Sie ist wiederholt von vielen Menschenrechtsorganisationen massiv kritisiert worden und gilt als wenig flüchtlingsfreundlich. Überfüllte Auffanglager und personelle Engpässe, vor allem an der griechisch-türkischen Grenze sowie griechischen und italienischen Inseln, sorgen für ein möglichst unfreundliches Empfangskomitee. Primär soll Frontex verhindern, dass illegale Flüchtlinge einreisen. Die Frage, ob sie das dürfen, weil die Genfer Konventionen dies vorschreiben, steht nicht an erster Stelle. Der australische Regierungschef Tony Abbot riet der EU nach der Lampedusa-Katastrophe zu einer ähnlich rigorosen Flüchtlingspolitik, wie er sie selbst betreibt. Bootsflüchtlinge werden prinzipiell abgewiesen und mithilfe der Marine wieder in ihre Herkunftsländer verfrachtet. So weit will man in der EU (noch) nicht gehen, aber die satirische online Zeitung Der Postillion brachte es jüngst mit der Schlagzeile „EU sucht weiter nach der perfekten Zahl an Ertrunkenen, um Flüchtlinge abzuschrecken, ohne Bürger zu verärgern“ ganz gut auf den Punkt. Trotz alledem machen sich Woche für Woche tausende Menschen auf den Weg nach Europa. Manche schaffen es sogar von Damaskus auf den Salzburger Domplatz. Muhammad* war 29, als er zum ersten Mal ans Fliehen dachte. Er ist studierter Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet bei einer Bank, hat eine schwangere Frau und eine große Familie. Der syrische Bürgerkrieg wütet seit zwei Jahren. Was als Befreiungsschlag im Zuge des arabischen Frühlings geplant war, hatte sich 2013 zu einem zähen Stellungskampf zwischen Assads Militär und den Re-


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„WEHRPFLICHT IN BÜRGERKRIEGSZEITEN BEDEUTET, GEGEN SEINE LANDSLEUTE KÄMPFEN ZU MÜSSEN.“

*Namen aus Persönlichkeitsgründen von der Redaktion geändert

bellen entwickelt. Am meisten leidet die Zivilbevölkerung. Zu diesem Zeitpunkt schätzt Amnesty International die toten Zivilsten bereits auf 150.000, Anfang 2015 sollen es über 200.000 sein. Die Bank, in der er arbeitet liegt im Regierungsviertel von Damaskus. Normalerweise würde er 15 Minuten zur Arbeit brauchen, aber Straßensperren und Mörserbeschuss sorgen dafür, dass er drei Stunden vorher aus dem Haus muss. Jedes mal, wenn die Granaten einschlagen, schreibt er eine SMS an seine Familie, es gehe ihm gut. Kriegsalltag. Der Strom fällt oft aus, die Kommunikation per Handy ist noch am stabilsten. Er spricht mit seinem Vater, der hält nichts von der Flucht. Es würde schon wieder besser werden, er solle an seine Familie denken, seine Frau, seine Tochter und seinen kleinen Bruder Oman*. Dieser ist im letzten Schuljahr, nach dem Abschluss würde ihn die Armee einziehen. Wehrpflicht in Bürgerkriegszeiten bedeutet, gegen seine Landsleute kämpfen zu müssen. Ein paar Wochen später geht Oman aus dem Haus, um Brot zu kaufen. Der Vater ist auch unterwegs und sieht regimetreue Polizisten einen Jungen in seinem Alter niederprügeln und treten. Er fürchtet um seinen Sohn, aber dieser ist unversehrt nach Hause gekommen. Er ändert seine Meinung und spricht mit den Brüdern. Oman soll noch seinen Schulabschluss machen, danach wollen sie fliehen. Muhammad plant jede einzelne Etappe minutiös. Wikipedia und Google Maps helfen bei der schwersten Entscheidung seines bisherigen Lebens. Die Familie legt Geld zusammen. Meist fliehen nur die Jüngsten; die Strapazen und die Ungewissheit würden Ältere nicht ertragen, meint Muhammad. Die Familien hoffen auf das Überleben ihrer Jüngsten und darauf, dass es ihnen in Europa besser geht. Als sie sich Ende 2014 verabschieden, wissen die beiden Brüder nicht, ob sie ihre Familie je wieder sehen. Zunächst geht es in die Türkei und von dort aus per Boot nach Italien. Muhammad heuert einen Schlepper an, zwischen 1.000 und 7.000 Euro kostet der Weg nach Europa, für viele Familien ein Vermögen. Zusammen mit 80 anderen Flüchtlingen sind sie auf einem fünf mal 14 Meter großen Boot zusammengepfercht. Jeden Morgen gibt es einen halben Plastikbecher Trinkwasser, etwas Brot mit Marmelade oder Käse, am Abend dasselbe. Keine Toiletten an Bord. Viele junge Männer, ein paar Frauen, wenige Kinder. Refugee all inclusive. Zunächst geht alles gut, aber nach drei Tagen auf See fällt der Motor aus. Die Passagiere stimmen ab, ob sie den Schlepper oder die Küstenwache anfunken. Manche Schlepper garantieren die Überfahrt: „Wenn es beim ersten Mal nicht

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klappt, darf man ein zweites Mal umsonst mitfahren.“ Sie besorgen Ersatzteile und Boote, wenn es möglich ist. Demokratisch entscheidet man sich für den Schlepper. Er meint, er werde kommen. Er kommt nicht, weitere drei Tage vergehen, die See wird rauer, Essensrationen knapp. Schließlich entscheidet man sich für die Küstenwache. Man ist in der Nähe der griechischen Urlaubsinsel Rhodos. Auch hier ist die Küstenwache ausgelastet und schickt ein privates Schiff, welches in der Nähe unterwegs ist. Es ist tiefschwarze Nacht und die Wellen sind meterhoch, die Kinder schreien und das Rettungsschiff ist kein professionelles. Die Reeling liegt etwa sechs Meter höher als die des Flüchtlingsbootes, die Besatzung lässt Strickleitern herab, die Wellen machen das Klettern schwierig. Mohammad und Oman schaffen es an Bord. Einer ihrer Landsleute hängt gerade an der Strickleiter, als ihn eine Welle erfasst und an die Schiffswand schmettert. Er verliert den Halt und fällt ins Wasser. Oman wirft einen Rettungsring hinterher, die Besatzung des Schiffes versucht ihn mit den Scheinwerfern zu finden. Ein paar mal blitzt er im Licht noch auf, dann zieht ihn die Strömung weg von den Schiffen. Muhammad schreit auf Englisch ins Funkgerät, die Küstenwache ist gerade eingetroffen. Doch sie suchen den falschen Sektor ab. Der Verunglückte lässt eine achtjährige Tochter an Bord des Rettungsschiffes zurück. In Rhodos erhalten sie griechische Visa. Sie dürfen das Land nicht verlassen, haben allerdings auch nur sechs Monate Aufenthaltserlaubnis. Also wieder illegal weiter. Es geht über Athen nach Mazedonien und zu Fuß durch Albanien. Polizisten lassen sich von ihnen bestechen, um sie nicht an ihre Kollegen zu verraten. Jede Etappe gleicht einer Odyssee. Zweimal müssen sie sich noch Geld schicken lassen, um überhaupt weiter zu kommen. Nach Monaten schaffen sie es nach Wien, über den Flüchtlingsverteilungsschlüssel geht es weiter nach Salzburg in die Riedenburgkaserne. Warten auf Papiere und Statusanerkennung zusammen mit 60 weiteren männlichen Flüchtlingen. Die meisten kommen aus Syrien. Sie werden dort von Mitarbeitern des Roten Kreuzes und der Caritas betreut. Mohammad meint, sie fühlen sich hier willkommen, es sei friedlich und stabil. Er hofft, seine Frau und Tochter ausfliegen lassen zu können, wenn sein Status anerkannt ist. Außerdem lernen er und Oman fieberhaft Deutsch. Ohne Deutsch kein Job, ohne Job keine Wohnung, ohne Wohnung keine Familie. Auf die Frage, wie sie beide das durchstehen konnten, antwortet er: „We have a bigger reason which is hope...This hope will give courage to calm your fears.“ Solange in den Herkunftsländern Hoffnungslosigkeit herrscht, werden sich weiterhin Woche um Woche tausende Menschen auf den Weg aus ihrem Elend machen. Der Plan der Abschreckung kann unmöglich aufgehen. Es ist an der Zeit für eine neue Flüchtlingsdebatte.


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FREIHANDELSABKOMMEN: SCHLIMMER ALS NUR „CHLORHUHN“ Die Verhandlungen der Freihandelsabkommen TTIP, TiSA und CETA sind derzeit in aller Munde. Die Bedenken vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie BürgerInnen äußern sich in einem immer größer werdenden Protest. Zuletzt demonstrierten am 18. April, dem internationalen Aktionstag gegen die Abkommen, hunderttausende Menschen auf der ganzen Welt. Auch in Salzburg gingen etwa 3.000 GegnerInnen auf die Straße. Ein Beitrag von Caro Huber

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esonders das „Chlorhuhn“ macht medial Schlagzeilen und dient als populistisches Schreckgespenst, um auf die Problematik des Investorenschutzes aufmerksam zu machen. Die Angst davor, dass Geflügel zukünftig mit einer Chemikalie vollgestopft ist, die unter anderem das Wasser in Schwimmbädern desinfiziert, löst bei den meisten Menschen einen massiven Ekel aus. Zugegeben, das Thema „Freihandel“ ist sperrig, doch die Diskussion muss weiter geführt werden und darf nicht nur auf vereinfachte Terminologien, wie das „Chlorhuhn“, reduziert werden. Sollten Investoren Staaten auf Schadenersatz verklagen können, wenn eine gesetzliche Regelung deren Profit einschränkt, geht es nämlich nicht nur der Lebensmittelsicherheit an den Kragen. Werfen wir einen genaueren Blick auf den Handel mit Dienstleistungen, der überwiegend durch das TiSA-Abkommen einer Neuordnung unterworfen werden soll. Ratchet Clause – Privatisierungen durch TiSA unumkehrbar! Offiziell heißt es, dass die Vereinbarungen durch das TiSA-Abkommen „Handelshemmnisse im Dienstleistungssektor beseitigen sollen“. Öffentliche Dienstleistungsmärkte wie Gesundheit, Verkehr,

Wasser- und Energieversorgung, Datenschutz und Bildung werden hierbei für internationale Konzerne geöffnet.1 Dies leistet einer Kommerzialisierung und Privatisierung der genannten und noch weiterer Dienstleistungen massiven Vorschub. Nun wissen wir durch viele Beispiele, dass die Privatisierung von öffentlichen Leistungen in der Regel Geld ins Körbchen der Konzerne spielt. Für den Großteil der Bevölkerung bedeutet sie aber eine meist gewaltige Preissteigerung der Leistungen und gleichzeitig eine Verschlechterung der Versorgung und Lebensqualität. In einigen Fällen privatisierter Dienstleistungen führte dies dazu, dass die Leistungen vom Staat wieder rekommunalisiert wurden.2 Privatisierungen sind prinzipiell nichts Neues, denn bereits das 1995 in Kraft getretene GATS-Abkommen stellt ein Grundlagenpapier der Welthandelsorganisation (WTO) für den Handel mit Dienstleistungen dar. In diesem wurden aber sensible Bereiche ausgeschlossen. In Österreich sind beispielsweise Bildung, Gesundheit und Nahverkehr vom Abkommen ausgenommen. Mit dem TiSA-Abkommen soll nun aber Schluss mit diesen Ausnahmen sein. Es enthält des Weiteren die so genannte Ratchet Clause (dt.: Stillhalteklausel). In die-

1: Vgl. taz: Geheimverhandlungen in Genf, http://bit.ly/ Taz_TiSA 2: Paris entschied sich im Jahre 2010 die zuvor privatisierte Wasserversorgung durch die enorme Preissteigerung von 260% wieder zu rekommunalisieren. (Vgl. Wiener Zeitung: Rekommunalisieren ist sozialer, http://bit.ly/Wasser_Paris)


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TiSA: Trade in Services Agreement (Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen). Verhandlungsparteien: EU, USA, Kanada, Mexiko, Japan, Chile, Taiwan, Costa Rica, Hong Kong, China, Island, Israel, Kolumbien, Koreanische Republik, Neuseeland, Norwegen, Pakistan, Panama, Paraguay, Peru, Schweiz und Türkei GATS: General Agreement on Trade in Service (Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen). Das Abkommen wurde 1995 von den WTO-Mitgliedern beschlossen und wird seit 2000 weiterverhandelt. Die Verhandlungen stocken allerdings. TTIP: Transatlantic Trade and Investment Partnership (Freihandels- und Investitionsschutzabkommen) CETA: Comprehensive Economic and Trade Agreement (Freihandels- und Investitionsschutzabkommen). Verhandlungsparteien: EU und Kanada

ser ist festgelegt, dass einmal durchgeführte Privatisierungen, mit all ihren negativen Auswirkungen, nie mehr rückgängig gemacht werden können.3 Einmal verkauft, wird die Verantwortung und Preisgestaltung lebenswichtiger Dienstleistungen vom Staat für immer in die Hand von Konzernen gegeben. Ziemlich schaurige Vorstellung. Auch Hochschulen betroffen. Von den Auswirkungen von TiSA sind langfristig auch öffentliche Bildungseinrichtungen und Hochschulen stark betroffen. Die absehbaren Risiken sind für die meisten Studierenden drastisch. Sollte es zu einer Deregulierung des Bildungs- und Wissenschaftsbereichs kommen, besteht beispielsweise die Gefahr, dass private und teure Universitäten vor Schiedsgerichten auf Gleichbehandlung mit staatlich subventionierten Hochschulen klagen und öffentliche Regulative zurückzuweisen. Dies würde privatrechtliche Perspektiven vor öffentlich-rechtliche stellen. Ergo: Entweder müssen dann an Privatuniversitäten entsprechend gleich hohe staatliche Subventionen gezahlt werden oder, und das ist wahrscheinlicher, es werden öffentlichen Unis Gelder gestrichen. Diese müssen ihre Finanzen dann anderweitig aufbessern, beispielsweise durch hohe Studiengebühren. Dadurch spitzt sich die Bildungsungleichheit im tertiären Bildungsbereich durch die soziale Selektion von Studierenden aufgrund ökonomischer Kriterien zu. Ein weiteres Risiko dieser Entwicklung ist, dass öffentliche Universitäten vermutlich verstärkt durch Konzerne gesponsert werden. Hörsäle, die nach Unternehmen benannt sind, stellen dann noch das kleinere Übel dar.4 Schlimmer ist, wenn Forschung und Lehre auf wirtschaftliche Interessen der „Uni-SponsorInnen“ ausgerichtet werden müssen. Es können keine gesicherten Aussagen darüber gemacht werden, in welchem Ausmaß so etwas stattfinden kann, da in derartige Verträge die Öffentlichkeit meist keinen Einblick nehmen darf. Jedoch liegt der Verdacht

nahe, dass ein Unternehmen nicht ohne größere wirtschaftliche Eigeninteressen einen Sponsoringvertrag eingeht. Einer fortschreitenden Privatisierung und Kommerzialisierung der öffentlichen Universitäten wird durch TiSA also langfristig der Weg geebnet. Dem freien Hochschulzugang und der Freiheit und Unabhängigkeit von Wissenschaft und Lehre kann so keinesfalls Rechnung getragen werden. Die meisten Menschen würden der Aussage, dass Bildung nicht zum veräußerbaren Gut verkommen soll wohl zustimmen. Auch jener Forderung, dass Universitäten ihren philosophi-

schen Hintergrund und die Freiheit der Wissenschaft und Lehre nicht gänzlich zugunsten von Effektivitätsund Effizienzinstrumenten aus der Ökonomie einbüßen dürfen. Dennoch besteht die Gefahr, dass es fortschreitend dazu kommt. Diese Entwicklung passiert nicht von heute auf morgen, sondern schleichend und durch die Hintertür. TiSA ist neben den anderen Freihandelsabkommen ein weiteres Instrument, welches die Gewinne der Konzerne weitersprudeln lassen soll. Zu Lasten der breiten Masse der Bevölkerung und deren Lebensqualität.

3: Vgl. know-ttip.eu/tisa 4: An der Wirtschaftsuniversität Wien hat man z.B. heute schon das „Vergnügen“ im Red Bull-Hörsaal zu studieren.


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Wie wir die KleinbäuerInnen retten Wie in der Märzausgabe festgestellt, befinden sich (Klein-)BäuerInnen in einer bedrohlichen Lage, da sie von Politik und Wirtschaft immer stärker unter Druck geraten und von großen Agrarindustriebetrieben verdrängt werden. Mit dem Verlust der kleinstrukturierten Landwirtschaft büßen wir Erdenbewohner nicht nur unseren wunderschönen und gesunden Lebensraum ein, sondern entziehen uns einer vertrauenswürdigen und sicheren Ernährungsquelle. Wie jedeR Einzelne zum Überleben der KleinbäuerInnen beitragen kann und was wir alle längerfristig davon haben, erfährst du von Doris Hörmann.

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eben den Funktionen als Naherholungsgebiet und Einkommensquelle für den Tourismus sind unsere Landschaft, unser Grund und Boden und die Menschen, die ihn bewirtschaften, essentiell wichtig für unser aller Wohlbefinden. Mehrmals täglich sind wir auf die gewissenhafte Arbeit von (Klein-) BäuerInnen angewiesen, von denen abhängig ist, ob es uns gut geht oder nicht. Sie gestalten zu einem Großteil unsere Lebensqualität mit, die bei hochwertiger Nahrung und einem intakten ökologischen Umfeld anfängt. Um diesen Luxus auch weiterhin nutzen zu können, müssen die kleinbäuerlichen Strukturen nicht nur in Österreich, sondern auch weltweit erhalten bleiben. Das stärkste Mittel dazu ist nach wie vor die Kaufkraft der KonsumentInnen. REGIONAL – SAISONAL – BIOLOGISCH. Diese drei Wörter sollten dich bei jedem Lebensmitteleinkauf begleiten. Daran orientiert und die „Geiz-istgeil“-Parole aus deinem Vokabular gestrichen, unterstützt du unmittelbar die heimische Bauern und verringerst durch die verkürzten Transportwege den Kohlendioxidausstoß. Produkte aus zertifiziert biologischer Landwirtschaft sind nachweislich mit weniger Giftstoffen belastet, da zum Beispiel keine Pestizide und Antibiotika nur in Sonderfällen eingesetzt werden dürfen. Ein gesunder Körper entlastet schließlich das Gesundheitssystem und kommt der ganzen Gesellschaft zugute. Erzeugnisse heimischer BäuerInnen kannst du auf unterschiedlichen Wegen beziehen: Ab-Hof-Verkauf, Bauernmärkte, Biokisten. Bio-Produkte von Supermärkten oder Diskontern gelten als geringeres Übel, da auch hier die BäuerInnen der Zulieferbetriebe unter Druck geraten, den

Preis so niedrig wie möglich zu halten – demnach werden sie für ihre Arbeit nicht gerecht entlohnt. Ab-Hof einkaufen, sich eine wöchentliche Bestellung per Biokiste zusenden lassen oder regelmäßig den örtlichen Bauernmarkt besuchen – auf diese Weise kannst du der/dem BäuerIn deines Vertrauens ohne Abschläge an Zwischenhändler unter die Arme greifen und sie vor der Selbstausbeutung bewahren. Eine schnelle und einfache Bio-Bauern-Suche in deinem Umkreis ist über www.biologisch.at/biosuche nach Produktkategorien möglich. Bauernmärkte gibt es in Salzburg nicht zu wenige. Seit 1906 findet der traditionsreiche Markt auf der Salzburger Schranne rund um die Andrä-Kirche (gegenüber vom Schloss Mirabell) wöchentlich statt. Jeden Donnerstag zwischen 5 und 13 Uhr locken 190 StandlerInnen mit ihren regionalen Köstlichkeiten Konsumenten aus der gesamten Region an. Der seit 1984 betriebene Ganztagsmarkt am Universitätsplatz, bietet von Montag–Freitag von 7 bis 19 Uhr sowie am Samstag von 6 bis 15 Uhr alles was das Herz begehrt. Weniger von Touristen überlaufen sind die wöchentlichen Bauernmärkte am Kajetaner- sowie Papagenoplatz im Kaiviertel nahe der GesWi, immer freitags von 8 bis 12:30 bzw. 13 Uhr. Online zu bestellende Abonnements von Obst- und Gemüsekisten, ermöglichen den bequemen Einkauf von frischen Bio-Lebensmitteln aus der Region.


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…und sie uns Häufig sind diese sog. Biokisten auch Allround-Services, die nicht nur direkt vor die eigene Tür geliefert werden, sondern oft auch in Begleitung praktischer Rezepte kommen. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Kisten, die entweder nach den Vorlieben des individuellen Konsumenten oder nach dem saisonalen Angebot der Natur bestückt werden. Der Biohof Achleitner aus Eferding beliefert mit seiner Biokiste wöchentlich KonsumentInnen in ganz Oberösterreich, im angrenzenden Niederösterreich und sogar in Salzburg. www.biohof.at In der Stadt Salzburg bietet das Salzburger Vitalkisterl diesen Dienst an: www.vitalkisterl.at Einen Überblick über alle Biokisten-Anbieter in Österreich findest du hier: bit.ly/Biokistefinden Foodcoops. Lebensmittelkooperativen wie das Salzkörndl oder Bonaudelta kaufen selbstorganisiert ökologisch hergestellte Produkte direkt von ProduzentInnen aus der unmittelbaren Umgebung und verteilen sie gleichmäßig auf die Mitglieder der Gemeinschaft. Die Foodcoops fördern damit regionale, kleinstrukturierte Höfe und garantieren den BäuerInnen einen regelmäßigen Absatz – zu fairen Bedingungen für alle Beteiligten. Foodcoops stellen eine engere Beziehung zwischen BäuerIn und KonsumentIn her und machen die Wertschöpfungskette transparent. Zusätzlich fördern sie die saisonale, regionale sowie ökologisch nachhaltige und sozial gerechte Produktion. Außerdem wird bei gemeinschaftlichen Großeinkäufen Müll reduziert, die Arbeit der LandwirtInnen wird aufgewertet und sämtliche Entscheidungen werden basisdemokratisch von den Mitgliedern der Foodcoop getroffen. Bestehende Foodcoops in deiner Nähe findest du ganz einfach unter: bit.ly/Foodcoopsfinden Das Salzkörndl (salzkoerndl.org) befindet sich in der Kaigasse 28 in der Altstadt; das Bonaudelta (bonaudelta.wordpress.com) in der Törringstraße 9b in Liefering. Solidarische Landwirtschaft. Beim Prinzip der Gemeinschaftlichen Landwirtschaft (GeLa) oder auch Community Supported Agriculture (CSA), stellt eine Gruppe von KonsumentInnen die finanziellen (z.B. Mitgliedsbeiträge, zinsfreie Darlehen) und immateriellen (z.B. Arbeitskraft) Ressourcen für den Betrieb eines Bauernhofes bereit. Im Gegenzug werden die einzelnen Mitglieder je nach Bedarf und Verfügbarkeit mit den landwirtschaftlichen Erträgen des Hofes versorgt. AbnehmerIn und ProduzentIn teilen sich damit sowohl Risiko als auch Ertrag der Ernte. Die Mitgliedsbeiträge richten sich nach den zu erwarten-

den Kosten eines jeden Wirtschaftsjahres, inklusive der Löhne der LandwirtInnen. Österreichweit gibt es bereits 20 funktionierende Initiativen, zahlreiche weitere befinden sich gerade im Aufbau. Der Verein für kooperative Landwirtschaft Erdling in Salzburg bewirtschaftet bereits mehrere Obst- und Gemüseflächen für den gemeinschaftlichen Anbau in und um die Stadt Salzburg und freut sich über neue Mitglieder. www.erdling.at Foodsharing. Mit Foodsharing rettest du zwar nicht unmittelbar die BäuerInnen, bewahrst aber deren sorgfältig produzierte Lebensmittel vor dem Verfall und schätzt damit ihre tägliche harte Arbeit wert. Vor allem Obst- und Gemüse- und auch Brotregale werden am Ende jedes Verkaufstages geleert und kiloweise Lebensmittel wandern frühzeitig in den Müll. Auch in Privathaushalten werden viele noch genießbare Produkte unnötigerweise entsorgt. Insgesamt wird die Menge der weggeworfenen Lebensmittel in Österreich auf 160.000 Tonnen pro Jahr geschätzt. Um diesem perversen Trend entgegenzuwirken, gibt es in Salzburg wie in ganz Österreich und Deutschland verschiedene Foodsharing-Plattformen, über die sich Menschen mit überschüssigen Waren mit gewillten AbnehmerInnen vernetzen können. In Salzburg funktioniert das ganz bequem über Facebook: bit.ly/foodsharingsalzburg Über MyFoodsharing kannst du per Kartenansicht aktuelle Essenskörbe in deiner Nähe finden und direkt Kontakt mit der/dem AnbieterIn aufnehmen. bit.ly/essenskörbefinden Die sogenannten Fairteiler, im Untergeschoß der GesWi (Rudolfskai 42; bei den StVen) und an der NaWi (Hellbrunnerstraße 34), sind ideal für Studenten, die übers Wochenende die alte Heimat oder ein Festival besuchen und auf umweltfreundliche Weise den eigenen Kühlschrank leeren möchten. Leg deine Lebensmittel in einen der Fairteiler und mache anderen damit eine Freude. Ein Blick hinein lohnt sich, denn die Kühlschränke werden neben privaten Lebensmitteln regelmäßig mit nicht mehr verkaufsfähigem Obst und Gemüse befüllt. Noch werden weltweit 80% aller Nahrungsmittel in kleinbäuerlichen Betrieben erwirtschaftet. Und das soll auch so bleiben. Eine gute Lebensqualität, die definiert ist durch gesunde und ausreichend Nahrung sowie eine unbelastete Umwelt, sollte von allen Menschen angestrebt werden. Zu einem erheblichen Teil liegt die Verwirklichung in der Zukunft der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die es um jeden Preis zu erhalten gilt.

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PETERMANN, GEH DU VORAN!

Am 10. Oktober 1985 beenden Schüsse der Kölner Polizei den legendären Fluchtversuch des Gefangenen Petermann und seiner Gefährtin. Eine Berühmtheit der konservativ-spießigen Adenauer-Ära stirbt, aber eine Legende wird geboren. Kurz vor seinem Tod soll er noch die Faust geballt zum Himmel gestreckt haben, so zumindest der urbane Mythos zu diesem schicksalshaften Ereignis. Von Matthias Wetzelhütter, AG !MUT

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etermann war Entertainer, Karnevalist, Werbefigur und Fernsehstar. Mit Frack, Zylinder und Sektglas in der Hand hatte er der Fernsehnation über den Bildschirm ein frohes neues Jahr 1953 gewünscht. Er nahm in Uniform an den berühmten Kölner Karnevalssitzungen teil und war als Kartenverkäufer im Zoo beschäftigt. Petermann war ohne Zweifel ein Medienstar. Das Problem daran: nichts von alledem tat er freiwillig! Petermann, der seinerzeit berühmteste Schimpanse in Deutschland, war ein gutes Geschäft für seine „BesitzerInnen“. Aber seine einsame Gefangenschaft und die Dressur bekamen ihm nicht gut und er wurde mit der Zeit immer aggressiver. Nach Jahren in Einzelhaft wurde ihm deshalb eine Gefährtin namens Susi zur Seite gestellt. Aber seine Feindseligkeit blieb. Schließlich versuchte sich Petermann 1985 gemeinsam mit Susi selbst aus seiner misslichen Lage zu befreien und schaffte es tatsächlich, aus dem Affenhaus des Kölner Zoos zu entkommen. Bei seinem Ausbruch attackierte und verletzte er den damaligen Zoodirektor Nogge, der nur durch das Eingreifen einiger ZoomitarbeiterInnen gerettet werden konnte, schwer. Petermann setzte nach diesem Kampf seine Flucht fort, jedoch ohne Erfolg. Petermann lebt! Petermann war tot, aber vor allem für die Alternative Szene in Köln (und darüber hinaus) lebte er weiter. Die beliebten Parolen „Petermann lebt“ und „Petermann, geh du voran!“ wurden zu Schlachtrufen und für viele Menschen zu einem Sinnbild der Auflehnung gegen Unterdrückung, Willkür und Ausbeutung. Sogar eine Fußballmannschaft wurde nach ihm benannt und bis heute gilt er als eine Art tragischer Held und Freiheitskämpfer. Obwohl Petermann nicht der Spezies Mensch angehörte, wurde er Teil einer menschlich-politischen Bewegung, weit über die Eigenschaften eines bloßen Maskottchens hinaus. Persönlichkeitsrechte für Affen, Schweine, Kühe und Co.? Die Sicht auf und die Rechtsdebatte über unsere nächsten Verwandten hat sich über die Jahre deutlich verändert. Nicht nur TierschützerInnen fordern immer lauter Persönlichkeitsrechte für Affen, die in einigen Aspekten denen von Menschenrechten gleichen. Erst vor kurzem erkämpfte die Tierrechtsorganisation Nonhuman Rights Project nach jahrelangem Ringen einen gerichtlichen Etappenerfolg für zwei

Schimpansen, die an einer Universität in New York für biomedizinische Experimente eingesetzt werden. Laut Richterin sind sie als juristische Personen anzusehen, weswegen ihr Freiheitsentzug rechtswidrig sei. Unabhängig vom Ausgang dieses und ähnlicher Fälle ist mittlerweile unbestritten: Uns Menschen trennt in vielerlei Hinsicht nicht viel von (anderen) Affen und die Unterschiede sind nicht statisch, sondern fließend. Wenn es nun um die Familie der Primaten geht (diese schließt den Menschen ein), dürfte es vielen von uns verhältnismäßig leicht fallen, den „anderen“ zumindest rudimentäre Persönlichkeitsrechte, wie z.B. das Recht auf Freiheit, zuzugestehen. Auch das Töten z.B. zu Nahrungszwecken ist für die meisten Menschen (hierzulande) unvorstellbar. Man stelle sich vor, jemand würde uns Schimpansen-Geschnetzeltes servieren... Wechseln wir die Szene, bleiben aber noch kurz beim Geschnetzelten: „...der Wohlgeruch von Fleisch, Gewürzen und Gemüse durchzieht den Raum. Sie nehmen sich eine kräftige Portion, und nachdem Sie von dem zarten Fleisch einige Bissen gekostet haben, fragen Sie nach dem Rezept. – ‚Als Erstes nimmst du fünf Pfund Golden-Retriever-Fleisch, gut mariniert und dann…‘ Golden Retriever? Wahrscheinlich werden Sie mitten im Kauen erstarren...“ Mit dieser Einleitung eröffnet Melanie Joy, Professorin für Psychologie und Soziologie an der Universität Massachusetts, das erste Kapitel ihres Buches Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Sie möchte damit auf ein tiefgreifendes Problem in unserem Umgang mit Tieren hinweisen. Denn würde der Golden Retriever durch ein Schwein ersetzt werden, wäre die gleiche Szene für FleischesserInnen völlig alltäglich. Aber warum? Nach wie vor würde es sich um das Fleisch eines Tieres handeln. Der Grund ist, wir haben aus dem Hund etwas völlig anderes gemacht, als aus dem Schwein. Wir Menschen haben dem Hund den Platz des Haustieres zugewiesen und dem Schwein den eines Nutztieres, von dem alleine in Deutschland 58 Millionen pro Jahr geschlachtet werden. In der Tierrechtstheorie umschreibt man solche Umstände als Speziesismus, also die Rechtfertigung der Tötung, Nutzung bzw. Ausbeutung rein auf Basis der Zugehörigkeit zu einer biologischen Spezies. Die vermeint-

Webtipps: www.vegan.at www.vgt.at www.respektriere.at www.ag-mut.org www.albert-schweitzer-stiftung.de


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liche Grundverschiedenheit zwischen Mensch und Tier wurde in unserer Geschichte erst durch WissenschaftlerInnen wie Charles Darwin hinterfragt. Im Westen besteht jedoch die Mischung aus biblischer und griechisch-philosophischer Sichtweise fort, die den Mensch ins Zentrum des moralischen Universums stellt. In diesem Weltbild besteht eine klare Hierarchie, die in unserem Rechtsverständnis ihren Niederschlag gefunden hat. Menschen- UND Tierrechte? Eine mögliche Alternative zu Menschenrechten in Abgrenzung zu anderen Spezies liefert beispielsweise der US-amerikanische Philosoph Tom Regan, der die Erklärungsmodelle der Herleitung von Exklusivrechten für Menschen auf ihre Plausibilität geprüft hat. Diese werden meist wie folgt begründet: Menschen haben Rechte, weil sie eben Menschen sind. An sich stimmt das, ist aber kein hinreichender Grund. Betrachtet man die Geschichte der Menschheit, merkt man, wie variabel alleine die Definition „Mensch“ ist. Dieser Satz sagt somit inhaltlich nicht mehr aus, als „Ein Stein ist ein Stein.“. Exklusive Menschenrechte werden oft mit dem Mensch als Person begründet, also dem Individuum Mensch, das für sein Handeln Verantwortung tragen kann und somit Rechtssubjekt ist. Auch das stimmt nur bis zu einem gewissen Grad, denn zum Glück ordnen wir auch Kinder und Menschen, die eine solche Verantwortlichkeit nicht wahrnehmen können, dem Kreis dieser Subjekte zu. Desweiteren wird damit argumentiert, dass Menschen ein Ich-Bewusstsein haben, sich also selbst erkennen können. Ja, das können wir, allerdings erst ab dem 9. Lebensjahr. Selbstverständlich braucht es aber auch für unter 9-Jährige Menschenrechte! Auch die zur Exklusion angeführte Erkenntnis, dass Menschen in einer moralischen Gemeinschaft leben, sagt prinzipiell nur aus, dass und nicht welche Werte wir uns letztlich geben. Regan schlägt deshalb den Begriff „subjects of a life“ vor, um auch bisher ausgeklammerte nicht-menschliche Lebewesen als RechtsträgerInnen erfassen zu können. Sie verbindet, dass sie alle sich unabhängig von anderen, „der Welt gewahr“ sind und zwar in dem Sinn, dass es für sie als Subjekte von Bedeutung ist, was IHNEN geschieht, sei es nun Schmerz, Freude, der Wunsch zu leben oder Ähnliches. Alle Wirbeltiere sind nach bisherigem Stand der Forschung dieser Gruppe zuordenbar. Sie ähneln sich in ihrem Verhalten, ihren biologischen Systemen, besitzen Nervenbahnen und Gehirne. Die Philosophin und Journalistin Hilal Sezgin folgt diesen Gedanken in ihrem aktuellen Buch Artgerecht ist nur die Freiheit. Auch für sie ist das Wollen, das Fühlen und das Erleben der „anderen“ genauso real und relevant, wie das eigene für einen selbst. Es be-

darf keiner menschlichen Selbsterkenntnis und keines komplexen Konzepts von Leben, um Leid, Freude und den Wunsch nach Leben zu verspüren. Ein Recht muss auch nicht verstanden werden, um es inne zu haben. Wer Schmerz empfindet, empfindet Schmerz, wer Angst hat, hat Angst, wer frei sein will, will frei sein. Ob Mensch oder Tier, ob wir es ihm oder ihr erlauben oder nicht, es ändert nichts daran, dass es für das Subjekt einen Unterschied macht. Das sollte die Grundlage der Überlegungen sein. Menschen- und Tierrechte müssen einander nicht exakt gleichen. Auch ist es nicht problematisch den Mensch als eine „besondere“ Spezies zu betrachten. Zweifellos haben wir besondere Fähigkeiten, aber die Tötung, das Quälen oder die Nutzung von anderen empfindungsfähigen Lebewesen, ohne Bedrängnis oder Notwendigkeit zur Selbstverteidigung, ist moralisch und im Kontext naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht legitim. Sie basieren lediglich auf sozio-kulturellen Normen, nicht aber auf einer objektiven Realität. Im Gegensatz zu vielen Tieren können wir uns nämlich entscheiden und sind hierzulande nicht (mehr) dazu gezwungen zu töten, um zu überleben. Gerade deshalb sollten wir den in einigen Punkten unterlegenen Spezies gegenüber unsere Fähigkeiten nicht zum Schaden verwenden. Denn genau das ist moralisches Handeln. Den Beweis dafür, dass es auch anders geht, liefert die steigende Anzahl von Menschen, die auf Fleisch oder ganz auf tierische Produkte verzichten und trotzdem, oder gerade deswegen, ein gesundes und erfülltes Leben führt.

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Literaturtipps: Schmitz, Friederike (2014): Tierethik – Grundlagentexte, Suhrkamp Verlag. Joy, Melanie (2010): Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus – Eine Einführung, compassion media Sezgin, Hilal (2014): Artgerecht ist nur die Freiheit – Eine Ethik für Tiere oder warum wir umdenken müssen, C. H. Beck. Fleischatlas 2014 (2014), Heinrich-Böll-Stiftung, Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland und Le Monde diplomatique: bit.ly/fleischatlas14 (11.5.2015)


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CC by-nd David Blackwell (flickr)

Warum die Kuh nicht auf meinem Teller fehlen darf Ein offener Brief….

Gar nicht toll fand ein Leser die literarische Aufarbeitung der Veganwerdung unseres Autors Kurt Krautschopf (aka Christopher K. Spiegl) in der letzten Ausgabe der uni:press. Was denkst du? Fühlst du dich durch VeganerInnen ebenfalls auf den moralischen Schlips getreten? Schicke uns deine Meinung an presse@oeh-salzburg.at

Lieber Kurt Krautschopf! Du hast vollkommen Recht, jede und jeder soll das, was er oder sie will, in sich hineinstopfen dürfen. Futter ist ja, wie Religion, Privatsache. Und es steht niemandem zu, die Essgewohnheiten oder die auferlegten Prinzipien anderer zu kritisieren. Fressen fällt in den Bereich der Selbstverantwortung und da soll es auch bleiben. Dass du auf deiner Reise ins V-Leben viele Mühen auf dich genommen hast, tut mir auch sehr leid. Es ist schrecklich wie viel Reaktionismus herrscht. Auch in sogenannten weltoffenen Kreisen. Ja, bei vielen sind die Uhren schon lange stehen geblieben. Es werden noch Arbeiterlieder aus den 30ern gesungen! Auch daher sei dir gratuliert, dass du dich nicht irgendwelchen Traditionen hingibst, sondern deine eigene Tradition erschaffst. Leider lesen sich deine vier Seiten aber wie eine Trotzreaktion. Ich habe das Gefühl, dass du deinen Lebensstil noch vor dir selbst rechtfertigen musst. Natürlich bedeutet vegan nicht gleich Verzicht, und ja, es gibt sicher viele Vorteile dadurch. Und ja, auch als Veganer kannst du Hedonist sein. Streitet ja niemand ab. Warum aber so betonen? Ein Vorteil ist auch, wie du selbst am Anfang feststellst, dass du dein gekränktes Ego wieder besänftigst. Du willst nicht belehrend sein, bist es aber durchwegs. Auch wenn vegan sein ganz gesund ist und si-

cher auch rücksichtsvoller gegenüber Tieren, bist du dadurch noch kein besserer Mensch. Du malst ein Schwarz-weiß-Bild: Hier die bleichen, pickeligen, dicken, ignoranten, schlechten Geruchssinn habenden Fleischfresser – auf der anderen Seite der erleuchtete Krautschopf, der die Welt vielleicht nicht besser macht, aber auch nicht schlechter und daher ganz gut schläft. Du machst eine Entdeckungsreise im Namen der Vielfalt? Nur weil du vorher ignorant warst und jetzt die Vielfalt entdeckt hast, schließe bitte nicht auf die anderen! Auch Fleischesser können auf Entdeckungsreise im Namen der Vielfalt sein. Du hast deinen Weg gefunden, gestehe anderen zu, ihren zu gehen und verurteile die anderen Wege nicht als Sündenfall. Was mich am meisten verstimmt, ist, dass moralische Prinzipien aufgestellt werden (was völlig o.k. ist), diese werden streng eingehalten und damit begibst du dich auf die bessere Seite der Menschheit (was nicht völlig o.k. ist). Im Buch Moral Phobia zeigen Judith Mair und Bitten Stetter auf, dass die Übermoralisierung das Identifikationsmerkmal der heutigen Generation ist. In den 80ern definierte sich die Generation über Leistung, heute durch das moralisch korrekte Leben. Judith Mair: „Ich grenze mich von denen ab, die weiter rauchen, die weiter Fleisch konsumieren, die weiter pestizidverseuchtes Plastikzeug kaufen.“ Lieber Krautschopf, du hast deinen Platz in der Welt gefunden, und wenn du deine Selbstgewissheit über deinen veganen Lebensstil bekommst, dann freu ich mich mit dir! Nur ein besserer Mensch wirst du dadurch trotzdem nicht, denn die Last der Erbsünde tragen wir alle und die wirst auch du nicht los. Sündig sind wir geboren, sündig werden wir sterben. Liebst grüßt dich, Christoph Krainer


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PATRIOTISMUS HEISST UMSTURZ DER BÜRGERLICHEN MACHT Mein Aufsatz „Rechter Patriotismus ist kein echter Patriotismus“1 in der vorletzten Ausgabe der uni:press zog nicht wenige Reaktionen nach sich. Die überwiegende Mehrheit davon war erfreulich positiv. Allerdings handelt es sich – wie so oft – gerade bei den negativen Reaktionen um die (vor)lautesten. Eine Replik von Stefan Klingersberger

1: http://www.rotes-salzburg. at/?p=513

5: uni:press #680, ÖH Salzburg, März 2015, S. 56.

2: Ebenda.

6: Ebenda.

3: Ebenda.

7: interold.kke.gr/News/ news2013/2013-03-05-thesis. html

4: de.wikipedia.org/wiki/ Strohmann-Argument

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o wurde ich von VertreterInnen anarchistischer, trotzkistischer, grüner und sozialdemokratischer Strömungen in die rechte Ecke oder zumindest deren Nähe gestellt. Vorwurf: Neurechter Ethnopluralismus. Der Beweis blieb freilich aus, und er musste ausbleiben, da er unmöglich ist. Weder leistet mein Aufsatz dem Ethnopluralismus oder anderem rechten Gedankengut Vorschub, noch vertrete ich es. Was die antinationalen Helden unterschiedlicher Couleur mit ihrer „irreführenden Überreaktion“2 stattdessen leisten, ist, zu bestätigen, was ich im ersten Abschnitt des Aufsatzes beschrieben habe: Sie reagieren auf Wörter wie „Patriotismus“, „Nation“ oder „Heimat“ allergisch und begnügen sich mit der „abstrakten Negation alles dessen, was heutzutage als ‚Rechts‘ gilt“3. Ich bedanke mich für die eindrucksvollen Anschauungsbeispiele! Es sei etwa die Replik von Fabian Lehr und Sebastian Kugler in der letzten Ausgabe der uni:press genannt. Auf drei Seiten möchten die beiden Autoren offenbar demonstrieren, dass sie die Anwendung des Strohmann-Arguments4 perfektioniert haben, was in der „Schlussfolgerung“ am Ende der Replik kulminiert, mein Aufsatz habe „das Interesse einer vermeintlich klassenübergreifenden Nation“5 statt dem Klasseninteresse zum Ausgangspunkt, woraus „Nation über Klasse“6 folgen würde. Über die Redlichkeit der beiden Autoren darf man zweifeln, über ihre eigentlichen Absichten spekulieren. Es gab jedoch auch KritikerInnen, die meinen Aufsatz begriffen und immanent kritisiert haben, was freilich Voraussetzung für eine ernstzunehmende Diskussion ist. So bringt der Vorwurf, ich würde der nationalen Frage die Unabhängigkeit von der sozialen Frage absprechen, eine der Aussagen des Artikels durchaus treffend auf den Punkt. Dem bürgerlichen Scheinpatriotismus (und dem antinationalen Antikollektivismus) muss entgegengehalten werden: „The character of contemporary patriotism is identified with the overthrow of bourgeois power, the capitalist ownership of the means of production, the withdrawal from every capitalist inter-state coalition and imperialist alliance.“7


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GENERATION #HASHTAG WARUM UNS UNSERE „SMART“PHONES DUMM MACHEN


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Manchmal habe ich das Gefühl, wir sind nichts als eine breite Masse von abgestumpften, like-geilen Smartphonezombies – keine eigene Meinung, geimpft von skandalgeilen Medien, die außer Hetze und Zeitungsenten nicht mehr liefern, als hin und wieder die entblößte Titte eines C-Promis. Wir sind nicht mehr im Stande einen Moment zu genießen, ohne einen Status auf Facebook zu posten oder ein Foto auf Instagram hochzuladen – #isso. Wir haben die Fähigkeit inne zu halten und selbst zu denken getauscht, gegen ein Leben in ständiger Abhängigkeit von manipulierenden Medien und einem Selbstbewusstsein, das mit Kommentaren und followern steigt und fällt. Ein Kommentar von Stefanie Hofer

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, mein Wecker läutet – gleich mal im Bett die neusten Nachrichten und Statusmeldungen auf social media checken. Es wäre ja schrecklich wenn man da mal was verpassen würde. Zähne putzen, Haare stylen, das erste selfie schießen – gleich wieder löschen weil man noch aussieht wie frisch gekotzt. Dann geht’s ans Frühstück – natürlich wunderschön drapiert, abgeknipst und hochgeladen auf Instagram, die ersten likes folgen – das könnte ein guter Tag werden. Ich mach das Radio an und höre, dass wieder hunderte Menschen bei einem Attentat gestorben sind. Yes, schon über zehn likes. Unter den Opfern waren auch Kinder. Aber das hör ich gar nicht richtig, weil ich damit beschäftigt bin, mir alles grüne Gemüse in meinem Haushalt zusammen zu suchen und im Mixer zu pürieren #greensmoothie #healthy #fit. Ich hasse Spinat – der Smoothie schmeckt eklig, aber nachdem ich ja super hip bin, trinke ich ihn jeden Tag. Ich verlasse das Haus, steige in den Bus, fahre zur Uni, hol mir noch schnell eine Zeitung vom Kiosk und setz mich in die erste Vorlesung. Die Vorlesung nehme ich kaum wahr, denn ich bin vertieft in meine Lektüre. „Kaltblütiger Psychopath ermordet seinen eigenen Nachbarn“ lautet die Schlagzeile. Sehr spannend, da muss ich gleich weiterlesen. Dass der „Kaltblütige Psychopath“ noch nicht einmal schuldig gesprochen wurde, er unter einer schweren Manie leidet, dass es Notwehr war, lasse ich außer Acht. Was ich mir aber merke, ist, dass er ausländischer Herkunft war – typisch, ist doch immer dasselbe mit diesen Leuten. Ich blättere um – Titten. Ich denke langsam darüber nach, meine vielleicht auch ein bisschen zu vergrößern. Wenn ich die Nase nächstes Jahr operieren lasse, dann ginge gleich beides in einem. Die Vorlesung ist zu Ende und ich treffe mich mit Freundinnen zum Mittagessen. Wir reden nicht miteinander, sondern kümmern uns lieber darum, dass der Filter für das Mittagessen-Foto stimmt. Dann noch checken ob wir eh genug Geld für die Vergrößerung unseres Bauernhofes auf Hay-Day oder Farm-Ville gesammelt haben. Wann war ich eigentlich das letzte Mal in der Natur? Ja genau, letztens mit Marie – im Wald kann man einfach die besten selfies machen.

Wir verabschieden uns und ich gehe wieder zurück zur Uni. Während dessen sehe ich auf Facebook, dass Monikas Vater heute gestorben ist – deswegen hatte sie so dunkle Schatten unter den Augen und sah so ungesund blass aus beim #lunch. Was soll ich dazu sagen? Ich schick ihr mal ein trauriges Smiley und vielleicht noch diese süße Einhorn-Katze, das wird sie wieder aufmuntern. In der Vorlesung geht es um Massenmedien, dass diese immer mehr Gewalt über uns bekommen und uns stark beeinflussen. Bullshit – Ich schreib gleich mal einen Status, wie lächerlich ich das finde. Auf dem Nachhauseweg wird vor meinen Augen ein Radfahrer von einem Schulbus angefahren. „OMG!“ – So ein Dummerchen, hätte mal besser aufpassen sollen, mir ist vor Schreck fast das Handy aus der Hand gefallen. Schnell noch ein Foto machen und in die Whatsapp Gruppe schicken und dann schnell weg, bevor ich auch noch helfen muss. Zuhause hau ich mich vor den Fernseher. Da kommen lauter tolle Sachen. Zum Beispiel die Trovatos, Mitten im Leben oder Verdachtsfälle – Schauspielkunst auf höchstem Niveau. Diese Serien sind super, weil sie mir immer das Gefühl geben, ich bin nicht ganz so verkorkst wie die Assis aus dem Fernsehen. Ich zappe weiter, Nachrichten – bääh, wen interessiert der Scheiß? Bürgerkriege, Massenelend und Kinder, die verhungern - aber was geht mich das bitte an? Außerdem habe ich keine Zeit, mir das anzusehen - bei Berlin Tag und Nacht geht’s heute nämlich richtig ab und das darf ich nicht verpassen. Zu späterer Stunde habe ich dann die TV-Auswahl zwischen einem überreichen Ehepaar im Jetset, 20 abgehungerten Teenie-Mädels, die unbedingt Germany‘s Next Top-Model werden wollen und sich dafür in Borat-Badeanzügen lasziv vor der Kamera räkeln oder den Wollnies – ich bin ja seit der ersten Staffel großer Fan von Sarafina, Kelenta, Estefania, …und natürlich Jeremy-Pascal. So sitze ich dann die letzten Stunden des Tages vor dem Fernseher. Ich denke nicht, ich fühle nicht. Ich verblöde. Um 22 Uhr gehe ich schlafen – nochmal alle Profile checken und dann knipse ich das Licht aus. #goodnight


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m Grunde ist dieser Text überflüssig. Die Menschheit hat mit so vielen Problemen zu kämpfen, die sie tagtäglich in Atem halten und mitunter an den Rand des Wahnsinns treiben. Bereits an den Schulen herrscht Diskriminierung, wie etwa aufgrund der sexuellen Orientierung oder angeborener Sprachfehler. Besondere Begabungen werden hingegen viel zu selten erkannt, was sich als lebenslanger Nachteil erweisen kann; unsere intimsten Informationen zählen womöglich bald per Regierungsbeschluss zum Allgemeingut; Tierbestandteile verspeisende Menschen müssen sich gegen den Vorwurf des Mordes rechtfertigen. Alles Dinge, gegen die mein Schicksal leider nicht ankommt. Denn ich habe lediglich den Verstand verloren. Was im ersten Moment überspitzt klingen mag, bringt zumindest jene Tatsachen auf den Punkt, über die ich noch zu verfügen glaube. Ein Verlust war es ohne Frage, rein ideell und doch umso gegenwärtiger, unleugbar in jeder Sekunde. Kurzum: Es gibt zwei Monate in meinem Leben, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Wenn ich zurückblicke, sehe ich Feuer, bezeichnenderweise das reinigende Element, das am 12. 12. des Vorjahres eigentlich einen Adventkranz schmücken sollte und doch eher auf meine Haarpracht übergriff, als seine erhellende Funktion zu erfüllen. Gellende Schreie ertönen, ob fremde oder meine eigenen, vermag ich nicht zu sagen. Todesangst umfängt mich, lähmend, kreischend, von flammender Gewalt und gleißend hell. Ein Funke, ein Zischen, und die Welt erlischt zwei Wochen vor Weihnachten. Das nächste Bild: Eiseskälte in einem Operationssaal, das Zittern unterdrückt von blauen Pillen, metallische Gegenstände nähern sich meinem Kopf. Dann ein Blitz, wieder auf der linken Seite, erneutes Knistern, und während meine Stimme verzerrt durch den Nebel wabert, beginnt der Alptraum von vorn. Erwachen in blutbespritzten Laken, diffuse Dankesreden an alle Retter – und dennoch Blick in erstaunte Gesichter. Vermeintliche Brandverletzungen entpuppen sich als gewollter Kieferbruch, das Ganze war eine geplante Operation, und überhaupt hätten wir bereits Februar. Was ist mit in den letzten beiden Monaten geschehen, wie gelangte ich hierher? Fragen, die ich auch meinem dritten Besucher stelle, dem besten Freund, der mich allerdings nach unserer Beziehung fragt. Glücklich seien wir gewesen, so sehr, und selbst das hier würden wir überwinden. Der Chirurg spricht von traumabedingter Amnesie. Und das einseitige Glück wird immer enger, zwanghaft, schnürt mir die Kehle ab mit täglicher Botschaft. Keine Freundschaft, nur Liebe sei es und zwar die eine, vollkommene, die nie vergeht. Ansonsten geschehen schlimme Dinge und ja, auch in der Arbeit wirft die

CC by Derrick Tyson (flickr)

TABULA RASA GESCHICHTE EINER TRENNUNG Von Claudia Maria Kraml

Vergangenheit dunkle Schatten, die besser im Auge behalten werden und durch geschlossene Türen verbannt. Schleichende Schritte haben selten Gutes im Sinn, wenn sie im Halblicht nach wohlüberlegten Plänen handeln. Daher die stete Vergewisserung des bestmöglichen Zustands, bis die „Trennung“ vollzogen und doch nichts mehr so ist wie vor einigen Monaten oder auch ein paar Tagen, als es noch ein kollegiales „Wir“ gab. Es schmerzt, Pronomen zu verändern, die zu Fremdkörpern geworden sind. Wie von Dingen erzählen, deren Ursprung man selbst nicht kennt? Der alleinige Versuch scheitert im angestrengten Bestreben, nicht in unangenehmer Weise aufzufallen, was wohl den zwielichtigsten Eindruck erweckt. Nur die Literatur ist frei und Experiment für die Wirklichkeit, in der solchen Begebenheiten Filmreife zugesprochen würde. Doch sobald die Frage nach dem Sinn auftaucht, verstummen Worte und überlassen bedrückender Leere das Feld, die gelegentlich schlaflose Nächte bereitet. Erst an einem der sonnendurchfluteten Frühlingsmorgen kam mir schließlich die rettende Idee: Vielleicht geschehen manche Ereignisse einfach nur aus ganz pragmatischen Gründen – beispielsweise, um daraus unterhaltsame Texte anzufertigen.


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DEIN NAME IST EIN ANDERER Von Veronika Ellecosta

Wir haben uns diesen Winter beim Skifahren getroffen. Ich hab dich nicht sofort erkannt, du hattest eine rote Mütze auf und dein Gesicht mit einem Schal vermummt. Als ich die Hand zum Gruß heben wollte, hast du nicht mehr hergeschaut. Du warst mit deiner Cousine da, so wie damals, so wie immer. Sonst wollte nämlich niemand mit dir sein. Und das Band der Familie ist nun mal stärker. Ich habe soziale Netzwerke nach deinem Namen durchforstet, du hast neuerdings einen Facebook-Account. Damals hattest du den noch nicht. Niemand von uns hatte damals einen. Da hatten wir Glück, vor allem du. Niemand aus unserer damaligen Klasse scheint auf deiner Freundesliste auf. Warum auch. Außerdem bist du in einer Beziehung. Damals hätte niemand von uns eine Beziehung mit dir führen wollen. Ich habe kurz gezögert, dir eine Freundschaftsanfrage zu senden, habe es dann aber bleiben lassen. Wir haben uns diesen Winter beim Skifahren getroffen und du hast weggeschaut. Und eigentlich frage ich mich, warum. Ich habe damals viel Zeit mit dir verbracht. Oder eigentlich du mit mir. Niemand sonst hat das gemacht und du hast dich zielsicher an meine Fersen geheftet. Du hast mir von deinem Hund im Schnee erzählt und von deinem großen Bruder, mit dem du dich balgst und von deinen Weihnachtsferien und ich habe dir zugehört, obwohl es mich nicht interessiert hat. Dabei habe ich mich verstohlen umgeblickt, um sicherzugehen, dass niemand mich dabei ertappte, wie du mit mir geredet hast. Niemand sollte mich mit der Liesl ertappen. Sie haben dir den Namen Liesl gegeben, obwohl du eigentlich Elisabeth heißt. Gegen deinen Willen haben sie dich Liesl genannt und sie fanden es gut. Und wenn sie es hundertmal gesagt haben, sie fanden es immer noch gut. Ich habe das nicht gemacht, ich habe dich nie Liesl genannt. Ich habe das nur gemacht, wenn du es nicht mitgekriegt hast. Sie haben das erwartet. Du bist mir nie von der Seite gewichen, du hast immer versucht, mit mir Schritt zu halten. Es war gut für mich im Sportunterricht, dass ich schneller war als du. Ich bin vor dir davon gerannt. Dann hast du immer Regelschmerzen gehabt und schlimmen Husten und gezerrte Gliedmaßen und hast nicht mehr mitgeturnt. Da haben sie dich erst recht ausgelacht. Die Klassenlehrerin hat mich zu sich geholt. Sie hat gemeint, ich sollte mich um dich kümmern. Ich sei doch so reif und so vernünftig und nebenbei noch so feinfühlig. Ich könne doch nicht zulassen, dass dich die Buben mies behandelten. Außerdem hattest du mich ja gern. Aber ich wollte nicht, weil sie auch ei-

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nen hässlichen Spitznamen für mich parat hatten. Und das habe ich der Klassenlehrerin erklärt. Sie hat verständnislos den Kopf geschüttelt. Wir haben oft über dich geschimpft, meine allerbeste Freundin und ich. Über deine entzündeten Pickel, deine fettenden Haare und deinen üblen Mundgeruch. Alle haben das gemacht. Wenn sie dich zufällig berührt haben, haben sie mit gespielter Panik den Virus an den nächstbesten weitergegeben. Im Sportunterricht hast du deshalb nie den Ball bekommen. Aber du hattest dann ja immer Regelschmerzen gehabt und schlimmen Husten und gezerrte Gliedmaßen und hast nicht mehr mitgeturnt. Ich habe das nicht gemacht. Ich habe den Liesl-Virus nicht weitergegeben. Ich habe das nur gemacht, wenn du es nicht mitgekriegt hast. Sie haben das erwartet. Das gehe nicht so weiter, hat meine allerbeste Freundin zu mir gesagt. Sie halte das nicht mehr aus, hat sie gesagt. Liesl sei eine eklige Klette. Ich habe ihr zugestimmt. Das hat sie der Liesl dann auch gesagt. Und ich bin stumm danebengestanden und habe nichts gesagt. Das hast du wohl mitgekriegt, weil du weinend dein Pausenbrot aufgegessen hast. In einer sicheren Zweimeterdistanz zu uns. Auch ich hab dann geweint. Ich habe es meiner Mama erzählt. Ich habe es meinem Papa erzählt. Ich habe es meinem allerbesten Freund erzählt. Alle haben zugehört. Niemand hat viel gesagt. Ich hab Hallo zu dir gesagt. Ich hab deinen Virus nicht weitergegeben. Ich hab Lissy zu dir gesagt, weil du das einmal als Spitznamen vorgeschlagen hattest. Ich hab dir zugelächelt, aber du hast kaum mehr zu mir geschaut. Du hast zu niemandem mehr geschaut. Du hast mir leidgetan, seit und weil du nicht mehr neben mir gesessen bist. Dann haben sie dir das Federpennal geklaut. Sie haben deine Schulhefte versteckt. Das fand ich nicht okay. Sie haben dir Hakenkreuze in deine Bilder gekratzt. Der Direktor stand am Lehrerpult, die Kunstlehrerin stand neben ihm und hat eine Träne verdrückt. Aber niemand hat was gesagt. Wir haben alle gewusst, wer es war. Ich fand das nicht okay. Aber das hast du nicht mitgekriegt. Danach haben wir uns nicht mehr oft gesehen. Wir haben die Abschlussprüfung geschrieben, haben verschiedene Schulen besucht. Aber unser Städtchen war zu klein. Manchmal noch haben sich unsere Wege gekreuzt. Du hast deine Haare schwarz gefärbt, ich meine rot. Wir haben keine Schulranzen mehr getragen, sondern unpraktische Handtaschen mit Mappen und Heften gefüllt. Du hast keine Zahnspange mehr gehabt und hast scheu gelächelt. Ich hab meinen ersten Knutschfleck gehabt und hab Hallo gesagt. Diesen Winter haben wir uns dann wieder beim Skifahren getroffen. Du hast mich nicht angeschaut. Eigentlich frage ich mich nicht mehr, warum.


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DON’T STOP BELIEVING WIE DIE SERIE GLEE MEIN LEBEN VERÄNDERT HAT Sich fremd fühlen. In der sozialen Hierarchie am Ende der Pyramide stehen. Von der Gesellschaft als Außenseiter angesehen werden. Empfindungen, die für einen Menschen, der sich nirgends zugehörig fühlt, zum Alltag gehören. In der Serie Glee sind dies die Themen, die im Mittelpunkt stehen. Eine Serie, die das Anderssein feiert. Eine Hommage des größten Glee-Fans Österreichs

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echs Staffeln, 121 Episoden und über 700 gecoverte Songs. Zahlreiche Preise, darunter Golden Globe- und Emmy Awards, Millionen von Zuschauern sowie eine persönliche Einladung von Michelle Obama, um im Weißen Haus zu singen – eine beachtliche Erfolgsbilanz! Doch alles nimmt schließlich mal ein Ende „It’s a wrap!“, hieß es im März für den berühmten Glee-Cast, zu dem Größen wie Jane Lynch und Mathew Morrison gehörten. Nach sechs Jahren hieß es für die Fans der Show Abschied nehmen von den ins Herz geschlossenen Figuren wie Rachel Berry, Kurt Hummel oder Britanny S. Pierce. Doch nicht nur aus nostalgischen Gründen ist es an der Zeit, einen Rückblick auf die Serie zu werfen. Im Vordergrund soll besonders die Wirkung stehen, die Glee bei ihren Fans erzielt hat. Es hat die Sichtweise vieler geändert, Mut und Trost gespendet sowie Hoffnung geschenkt. Auf den einen oder anderen mag es sogar noch größer gewirkt haben und wohlmöglich das weitere Leben geändert haben. Denn Glee ist viel mehr als eine Gute-Laune-Sendung mit überragender Musik und ständig wechselnden Beziehungskonstellationen.

„Everywhere I go I’m isolated and alone. If feel I could die tomorrow and no one would really care.“ Sätze wie diese sind es, die Glee von anderen Serien unterscheidet. Sie zeigen den wahren Sinn der amerikanischen TV-Show und unterstreichen die Botschaft, die die Produzenten damit vermitteln wollten. Solche Aussagen sind der Grund, wieso die Serie so erfolgreich geworden ist und viele Menschen bewegt hat. Ausgesprochen wurden sie von der Figur des Kurt Hummel. Wegen seiner Homosexualität und des femininen Auftretens machten ihm die Sportler das Leben in der Schule zur Hölle. Beim Kreieren dieses Charakters, der eigens für Chris Colfer erfunden wurde, nachdem er für die Rolle des Artie Abrams vorsprach, griffen die Schreiber ganz tief in den Klischee-Topf. Eine modeliebende Diva mit Hang zu ausgefallenen Outfits und typischem Mädchengehabe. Der anfangs belächelte Quotenschwule entwickelte sich jedoch während der Serie zu einer der beeindruckendsten Figuren und mutierte zum Sinnbild des Kampfes für Toleranz.


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Denn dieser Kampf ist auch in der Realität bitter nötig. Laut einer Züricher Studie hat jeder fünfte Homosexuelle schon einen Suizidversuch unternommen. Die Hälfte dieser Versuche wird im Alter zwischen 16 und 20 begangen. Homosexuelle Jugendliche sind mit Diskriminierung, Ausgrenzung sowie Gewalt konfrontiert und kämpfen auch damit, sich selbst zu akzeptieren. Oft erscheint dann der Suizid als einzig Lösung des Problems. In der Serie spielt auch Kurt mit diesem Gedanken, wie man jedoch erst in der vorletzten Episode erfährt. Von seinem Vater dazu gedrängt einem Sportteam oder einem Club beizutreten, entscheidet er sich, für den Glee-Club vorzusingen. Aus diesem schöpft er neuen Mut. Er kämpft, steht für sich ein und wird so zum Vorbild vieler. Chris Colfer sagte in einem Interview, dass er viele Briefe von ZuschauerInnen bekäme, die sich so fühlen wie Kurt und bis vor der Show keinen Ausweg aus ihrer Lage sahen. Bis sie zu „Gleeks“ – so nennen sich die Fans der Sendung – wurden und aus der Serie Trost und Stärke schöpften. Jene weiter oben genannten Sätze sind keine Fiktion. Weltweit werden Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens, ihrer sexuellen Orientierung oder wegen körperlicher sowie geistiger Disabilität diskriminiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Genau dieses „Andersartige“ steht bei Glee im Mittelpunkt. Neben der Tatsache, dass allein die Beteiligung an dem Show-Chor der Schule die Mitglieder zu „Losern“ macht, weisen fast alle weitere Merkmale auf,

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die sie zu Außenseitern machen. Da wären, neben dem schwulen Kurt, die stotternde Gothik-Asiatin Tina, die schwarze Diva Mercedes oder der im Rollstuhl sitzende Artie. Auf der anderen Seite sind da die coolen Kids wie die Cheerleaderin Quinn oder der Quarterback Finn. In teils dramatischen, teils absurd komischen Handlungen werden die Machtkämpfe, Rivalitäten und Liebesbeziehungen zwischen den ProtagonistInnen gezeigt. Zugegebenermaßen kann man nicht jede Folge ernst nehmen. Doch genau diese Mischung ist es, die Glee auszeichnet. Glee verleitet zum Lachen, regt auf und ermutigt. Es macht einfach Spaß, den talentierten SchauspielerInnen dabei zuzusehen, wie sie singen und tanzen, sich lieben und hassen. Die ProtagonistInnen waren nicht nur vor der Kamera Freunde. Sie entwickelten auch privat eine tiefe Freundschaft und es entstand auch so mache Liebesbeziehung. Besonders diese Gründe machten es für den Cast so schwer, den Tod des Kollegen Cory Monteith zu überwinden. Der Finn Hudson-Darsteller starb im Juli 2013 an einer Überdosis Heroin. Nicht nur seine KollegInnen, sondern auch seine Fans waren über den Tod sehr bestürzt. Für viele war es, als ob ein wahrer Freund gestorben wäre – so viel hat Cory seinen Fans bedeutet. Dessen Tod hatte auch für die Serie schwerwiegende Folgen, denn die Produzenten standen vor einem großen Problem – ein neues Ende musste her. Eine weitere Folge war, dass die Einschaltquoten immer weiter sanken und die Begeisterung abnahm – einer der Gründe, wieso die letzte Staffel leider auf nur 13 Episoden gekürzt wurde. Doch ohne zu viel verraten zu wollen, kann man definitiv sagen, dass ein wundervolles Staffelfinale kreiert wurde und die Serie ein versöhnliches Ende nimmt. Für manche mag es nur eine Serie sein, aber für mich ist es viel mehr. Denn ich kann wahrhaftig sagen, dass Glee mich sehr beeinflusst hat. Sich nirgends zugehörig zu fühlen, kenne ich zu gut. Wenn man sich in der eigenen Haut noch dazu nicht wohl fühlt und sehr unsicher ist, hilft das nicht gerade, Anschluss zu finden. Und dann stieß ich auf Glee. Ich konnte für eine Zeit lang meine Probleme vergessen und war glücklich. Doch nicht nur das – ich wurde durch die Serie zu einem selbstbewussteren Menschen. Es mag zwar wirklich sehr kitschig klingen, aber die Serie half mir, mich selbst so zu akzeptieren, wie ich bin. Zu sehen wie diese „Loser“ heranwuchsen und ihre Ziele verfolgten, motivierte mich, für die Realisation meiner Träume zu kämpfen. Deswegen kann ich wirklich sagen, dass Glee mein Leben verändert hat. Ryan Murphy, danke dafür!


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„This confession meant nothing“ gesteht uns die

DIE Hauptfigur in American Psycho. Die Adaption von

BRÖCKELNDEN Bret Easton Ellis‘ gleichnamigem Roman bittet

FASSADEN sein Publikum, hinter die Kulissen eines Massen-

EINES mörders zu blicken – der vielleicht gar keiner ist.

MENSCHEN Eine Rezension von Nina Wewerka


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erfolgt wird das Leben Patrick Batemans, Geschäftsmann an der Wall Street, der dem Publikum sein Leben vorführt, das geprägt ist von Reichtum und Oberflächlichkeiten. Der Film zeigt uns auch sein Doppelleben als Massenmörder – wobei gerade die Echtheit der Mordszenen bezweifelt werden kann: Manche von ihnen sind dafür einfach zu surreal konzipiert. Ein Polizeiauto explodiert, nachdem es Bateman mit einer ganz normalen Pistole beschossen hatte. Außerdem muss er feststellen, dass die Wohnung eines seiner Opfer nicht existiert, um später von seinem Anwalt zu hören, dass dieser die betreffende Person vor kurzem lebend gesehen hatte. Zuletzt kann Bateman eine Prostituierte nicht mit der Vorderseite einer herunterfallenden Kettensäge getötet haben, da die Hinterseite, und damit der schwerere Teil, voranfallen müsste. Das Unwirkliche, das physikalischen Gesetzen zuwiderläuft, ist Teil des gesamten Konzepts: American Psycho ist so genau durchdacht, dass nichts dem Zufall überlassen wird. Bateman ist derjenige, der erzählt: Ein Mann, der seinen Selbstwert aus Vergleichen, Macht und ausschweifenden sexuellen Abenteuern bezieht. Er kann daher auch derjenige sein, der sich in ein Massenmörderleben hineinfantasiert, um sich von anderen abzugrenzen. Denn seine Arbeit an der Wall Street ist ununterscheidbar von der der anderen. Ihre Visitenkarten gleichen sich haargenau, ohne dass sie es bemerken, und ihr Anwalt verwechselt sie regelmäßig. Seine Aus-

tauschbarkeit muss ihn deshalb belasten – ständig wird ihm und dem Publikum vor Augen geführt, wie wenig sich jemand für ihn persönlich interessiert. Die Prostituierten wollen nur ihre Arbeit hinter sich bringen; seine Beziehungen sind oberflächlich und lieblos. Die Morde sind zwar erdacht, aber nicht Batemans Wut. Aus dem ständigen Drang heraus, sich mit anderen zu messen, erwächst seine Abneigung gegenüber denjenigen, die sein Selbstvertrauen verletzen. American Psycho steigert sich in eine Welt voller Gewalt hinein. Bateman ist ständig von ihr umgeben, im Fernsehen, erdacht oder im Gespräch. Es wird kein Raum gelassen für Mitgefühl, und das soll auch nicht sein. Der Film ist ein zynischer Blick auf die Reichen, die sich in klugen Überlegungen über die Umstände der Welt am Esstisch ergehen, in Wirklichkeit aber nichts verändern. Deshalb passt das Konzept, dass Bateman sich seine Gewalttaten nur vorstellt, so gut in seine passive Haltung– weder heiratet er seine Verlobte, noch sieht man ihn je beim Arbeiten. Seine fiktiven Gewalttaten, die immer undurchdachter und angesichts einer möglichen Aufdeckung immer skurriler werden, sind ein Hilfeschrei. Er will raus aus dieser Welt, unbedingt raus. Als er seinem Anwalt gegenüber eine Beichte ablegt, muss er feststellen, dass ihm nicht geglaubt wird. Das ist der große Kunstgriff des Films: Alle Figuren befinden sich in einer Theorienwelt, in der nichts für bare Münze genommen wird, weil alles ein großer, gefühlloser Schein ist.

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IAESTE-TWINNING IN MÜNCHEN Die International Association for the Exchange of Students for Technical Experience organisiert Auslandspraktika für Studierende technischer und naturwissenschaftlicher Studienrichtungen, Karrieremessen sowie von 20. Mai bis 12. Juni 2015 das IAESTE FirmenShuttle., Dabei können Studierende aus ganz Österreich kostenlos an Firmenexkursionen teilnehmen, um potentielle Arbeitgeber kennenzulernen. Von Elisabeth Peer

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ür all unsere motivierten und fleißigen Mitglieder, ohne die das nicht möglich wäre, soll auch der Spaß nicht zu kurz kommen: Mitte April fand das erste internationale Event der IAESTE Salzburg statt: das Twinning in München. Zur Erklärung: die einzelnen IAESTE Lokalkomitees laden sich regelmäßig gegenseitig in die jeweilige Heimatstadt ein. Bei einem Inning findet dieser Besuch innerhalb der Landesgrenzen statt, besuchen wir ein Lokalkomitee im Ausland, heißt das Twinning. Dabei lernen wir uns gegenseitig besser kennen und oft entstehen tolle neue Kooperationen und Freundschaften zwischen den Lokalkomitees. Am Freitag wurden wir mit einer umwerfenden Party im IAESTE-Haus des LC München willkommen geheißen. Selbstverständlich waren auch die internationalen IAESTE-Praktikanten, die in dem Haus wohnen, mit von der Partie. Frisch und munter - manche mehr, manche weniger - starteten wir am Samstagvormittag zur Stadtrallye. Wir hatten einige außergewöhnliche Challenges zu erfüllen, wie den Bau einer menschlichen Pyramide, einen Eierlauf um die Mariensäule sowie ein Papierschiffrennen im Englischen Garten. Obwohl die eben erwähnten Eier als Schiffsfracht verwendet wurden und leider im Eisbach versanken, hatten wir einen Riesenspaß! Natürlich ließen wir uns auch die Aussicht vom Alten Peter nicht entgehen und waren uns fast sicher, bis zum Untersberg zu sehen. Abends wurden wir im Büro des Lokalkomitees bekocht und spielten bis spät in die Nacht Werwolf. Nichtsdestotrotz machten wir uns auch Sonntagfrüh in aller Frische auf den Weg zum Frühlingsfest. Dieses findet wie das berühmte Oktoberfest auf der Theresienwiese statt und wir konnten auch ein bisschen „Wiesnluft“ schnuppern. Bevor es am Abend zurück nach Salzburg ging, besuchten wir noch einen typischen Münchner Biergarten – das Hacker-Pschorr. Wir hatten drei großartige Tage in der bayrischen Landeshauptstadt, haben einige neue IAESTE-Freundschaften geschlossen und freuen uns jetzt schon sehr auf das Retwinning im Herbst, bei dem wir das Lokalkomitee München in unser schönes Salzburg einladen werden! Willst auch du Teil dieses tollen Teams von motivierten und unternehmungsfreudigen Studierenden wer-

den? Dann schreib einfach eine Mail an salzburg@ iaeste.at oder schau doch gleich bei unserer nächsten Mitgliedersitzung vorbei: immer mittwochs um 18:00 im HS412 (NaWi). Natürlich findest du uns auch auf Facebook: www.facebook.com/IAESTE.Salzburg. Wir freuen uns auf dich!


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zeit ma schine

VOM ILLUSTRATOR FÜR DIE UNI:PRESS ZUM PSYCHOLOGIE-PROFESSOR Psychologiestudierenden mag der Name Oswald Huber vertraut klingen, ist der gebürtige Salzburger doch der Autor des von ihm persönlich illustrierten Lehrbuches Das psychologische Experiment. Der inzwischen emeritierte Professor für Psychologie an der Universität Freiburg (Schweiz) war seit seiner Zeit beim Vorgänger-Magazin der uni:press (de facto) bis heute als Cartoonist tätig. Seine kritischen und amüsanten Zeichnungen erschienen in drei eigenen Cartoon-Büchern und unter anderem bereits in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag, den Oberösterreichischen Nachrichten und in Fachzeitschriften wie dem Spektrum der Wissenschaft, der Medical Tribune oder Gehirn & Geist. Seine allerersten Cartoons habe er mit etwa 16 Jahren seiner Freundin gewidmet. Seit der Neugründung des defacto im Jahre 1967, war er bis 1971 als Illustrator fixer Bestandteil der Redaktion, in der es in dieser „revolutionären“ Zeit zu angeregten Diskussionen kam. Fast 30 Ausgaben lang bereicherte er die Beiträge der AutorInnen mit lustigen, kritischen und satirischen Zeichnungen. Hätte es den Salzburger Karikaturenpreis anno 1967 schon gegeben, wäre Oswald Huber bestimmt ein heißer Kandidat dafür gewesen. Hier ein best of seiner Werke für defacto.

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