Evil prevails when good men fail to act
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Wider das Vergessen und die Gleichg端ltigkeit von Sacha Wigdorovits
F端r meinen Grossvater, meine Kinder und all die anderen
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Am 9. November 2008 gedachte man in Deutschland und in vielen anderen Ländern der sogenannten Reichskristallnacht des Jahres 1938, in der in ganz Deutschland Synagogen, jüdische Gemeindehäuser und jüdische Geschäfte gebrandschatzt und mehr als tausend Juden getötet wurden. In Erinnerung an diese Ereignisse hielt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Synagoge in Berlin eine denkwürdige Rede, die am Fernsehen übertragen wurde. Während der Nazidiktatur, sagte Merkel, habe die Mehrheit der Deutschen nicht den Mut zum Protest gegen die NS-Barbarei gehabt. Es sei aber ein Irrglaube, sich nicht betroffen zu fühlen, wenn es um das Schicksal des Nachbarn gehe. „Dieser Irrglaube führt uns immer weiter ins Unheil“, sagte die Bundeskanzlerin. Mütterlicherseits stamme ich aus einer jüdischen Flüchtlingsfamilie, die in der Schweiz Zuflucht vor den Gräueln des Holocaust gefunden hatte. Deshalb berührten mich Angela Merkels Worte sehr. Gleichzeitig riefen sie mir einen Satz in Erinnerung, der auf einen Ausspruch des irischen Philosophen und Politikers Edmund Burke zurückgeht: „Evil prevails when good men fail to act – Wenn die Guten nicht handeln, obsiegt das Böse.“ Angeregt durch Angela Merkels mahnende Rede beschloss ich, ein Plakat machen zu lassen, das diesem Satz gewidmet sein sollte. Denn dieser Satz geht uns alle an. Er signalisiert letztlich, dass wir unsere Gleichgültigkeit ablegen und uns engagieren müssen. Damit stellt sich natürlich die Frage, worin unser Engagement bestehen soll, was bedeutet to act? Und, noch grundsätzlicher: Woher stammt und worin äussert sich das Böse, gegen das wir uns zu engagieren haben?
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Kaum jemand hat sich in den letzten hundert Jahren zu diesem Thema mehr Gedanken gemacht als die deutsche Philosophin Hannah Arendt. Und kaum jemand hat damit mehr zu reden und zu schreiben gegeben. Anfang der 60-er Jahre prägte Hannah Arendt in ihrer berühmt gewordenen Gerichtsreportage vom Prozess gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann den Begriff von der „Banalität des Bösen“. Sie meinte damit nicht, dass die Auswirkungen böser Taten banal seien. Sie stellte lediglich fest, dass es keine „Monster“ brauche, um solche Taten zu begehen, und dass Böses nicht zwingend niedere Instinkte voraussetze, sondern ganz „banalen“ Beweggründen entspringen könne. Eichmann sei nicht Macbeth, schrieb Hannah Arendt in ihrer Gerichtsreportage für den „New Yorker“. „Ausser einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er (Eichmann) überhaupt keine Motive.“ Dies ist eine erschreckende Feststellung. Letztlich bedeutet sie, dass in gewisser Weise wir alle zum Bösen fähig sind, wenn wir uns zu gedankenlosen und apathischen Handlangern machen lassen, mit deren Hilfe anderen Menschen Leid zugefügt wird. Deshalb dürfen wir solchen Entwicklungen nicht tatenlos zuschauen, sondern müssen ihnen entgegentreten. Dies ist meiner Meinung nach umso wichtiger, als in unserer Gesellschaft seit geraumer Zeit eine immer stärkere Tendenz festzustellen ist, das Böse oftmals mit „mildernden Begleitumständen“ zu erklären (und so in gewisser Weise implizit auch zu rechtfertigen).
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Selbstverständlich ist es nicht verboten, sondern sogar erwünscht, nach Erklärungen für das Böse zu suchen. Nur so haben wir eine Chance, den Gründen dafür auf die Spur zu kommen und eine Wiederholung zu verhindern. Aber dies heisst nicht, dass wir Böses relativieren dürfen. Denn wenn wir es relativieren, dann trivialisieren wir es auch. Dies führt dazu, dass wir es nicht mehr ernst nehmen und nicht mehr konsequent dagegen vorgehen. Wenn das geschieht, sind wir alle ihm ungeschützt ausgesetzt. Diese Gefahr ist in unserer durch Wohlstand und Egoismus geprägten Gesellschaft unübersehbar. Wenn unbequemes Handeln erforderlich ist, wenden wir uns geflissentlich ab. Und wir verschliessen lieber die Augen davor, dass es auch in der durch Einstein geprägten Welt Dinge gibt, die nicht relativ, sondern absolut sind und denen man mit absoluter Radikalität begegnen muss. Der Kampf gegen Menschenverachtung, Hass und Intoleranz erlaubt keine Relativierung und keine Kompromisse. Der Schriftsteller Max Frisch hat in einem Aufsatz, den er 1951 nach seiner Rückkehr von einem längeren Amerika-Aufenthalt verfasste, in unmissverständlichen Worten den allgegenwärtigen Hang der Schweizer zum Kompromiss kritisiert. Frisch störte nicht der einzelne Kompromiss. Er prangerte an, dass Kompromisse in der Schweiz zum allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Credo geworden waren. Wer nur noch Kompromisse suche, dem fehle der Mut zur Umsetzung von kühnen Visionen, kritisierte Frisch. Eine Gesellschaft, die auf Kompromissen aufbaue, werde kulturell unweigerlich verarmen. Vor allem aber wird diese Gesellschaft bequem und damit langfristig politisch labil. Denn wenn Kompromisse zur treibenden
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Kraft des eigenen Handelns werden, dann wird die Gesellschaft in ihrer Scheu vor Auseinandersetzungen zuletzt auch dort Kompromisse eingehen, wo sie inakzeptabel sind: im Kampf gegen Unrecht und gegen das Böse. Leider sind wir heute in der Schweiz an diesem Punkt angelangt. Dies zeigte sich vor wenigen Wochen anlässlich der UNO-Rassismuskonferenz in Genf bei der gegen Israel gerichteten Hassrede des iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad. Während praktisch alle anderen europäischen Vertreter bei Ahmadinejads Worten den Saal verliessen, blieb der Repräsentant der Schweiz sitzen und hörte sich die Rede an. Es sei um den Respekt gegenüber der Meinungsäusserungsfreiheit gegangen, lautete seine Begründung. Deutlicher lässt sich nicht illustrieren, wie orientierungs- und wertelos wir durch unsere Konsenssucht geworden sind: Wir glauben, ein Zeichen von Toleranz zu setzen, wenn wir stillschweigend zuhören, wie Hass gepredigt wird. Das Genfer Beispiel illustriert auch, dass to act – dem Bösen entgegen zu treten – nicht zwingend Anwendung von Gewalt bedeutet. Manchmal reicht es schon, aufzustehen und den Saal zu verlassen, um das Böse zu attackieren. Ja es kann sogar genügen, dass man nicht das Böse selbst ins Zentrum seines Protests stellt, sondern dessen Opfer. Das beste Beispiel dafür ist der amerikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Elie Wiesel. In einem Interview, das ich Anfang der 90-er Jahre in New York für die SonntagsZeitung mit ihm führte, fragte ich Wiesel, weshalb er sich in seinen Werken ausschliesslich mit den Opfern des Holocaust beschäftige, während
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sich beispielsweise Simon Wiesenthal auf die Jagd nach den Tätern konzentriere. „Das Leben ist zu kurz, um alles zu tun“, erwiderte er mir, „und ich habe mich dafür entschieden, mein Leben den Opfern zu widmen.“ Verglichen mit den Werken von Elie Wiesel ist ein Plakat mit dem Satz „evil prevails when good men fail to act“ natürlich unbedeutend. Aber jeder muss sich seiner eigenen Mittel bedienen. Und jeder Aufruf gegen die Gleichgültigkeit im Kampf gegen das Böse zählt. Kommt hinzu, dass die Entstehung des Plakats eine spannende Auseinandersetzung mit dem Künstler war, der es umsetzte. Ralph Schraivogel ist ein 1960 geborener holländischer Grafiker, der in der Schweiz aufgewachsen ist und auch hier arbeitet. Er gehört der AGI, Alliance Graphique Internationale an. Es ist wohl bezeichnend, dass seine kompromisslosen Arbeiten international weit mehr Beachtung gefunden haben als in der von „Kompromissen und Mittelmass“ (Max Frisch) dominierten Schweiz. Das Museum of Modern Art in New York, hat seine Plakate ebenso ausgestellt wie Kunstgalerien in Tokio und Paris. Und von Paris über Teheran und Ljubljana bis nach Berlin hat ihn auch seine Lehrtätigkeit schon geführt. In den rund vier Monaten, in denen das Plakat „evil prevails when good men fail to act“ entstand, haben Ralph Schraivogel und ich diverse Mal intensiv über das Thema und das Plakat diskutiert, beispielsweise über die Frage, ob eine „schwarz-weiss“-Darstellung das Richtige sei (was ich angesichts meiner Überzeugung, dass im Umgang mit dem Bösen eine „Relativierung in Grautönen“ unangebracht sei, vehement bejahte).
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Ralph hat zahllose Darstellungen entworfen, an die Wände seines Arbeitszimmers geheftet, auf den Boden seines Wohnzimmers gelegt und dann wieder beiseite geräumt im Bestreben, für das Plakat eine Form zu finden, die nicht banal ist. Denn der Umstand, dass es eine „Banalität des Bösen“ gibt, heisst nicht, dass auch die Darstellung dieses Bösen in der Kunst banal sein darf. In keiner Weise banal ist deshalb jene Idee, die Ralph schliesslich umsetzte: die Buchstaben „L“, „I“, „V“ und „E“, die von einer Seite gelesen „live“ (lebendig) und aus der anderen Richtung gelesen „evil“ (böse) bedeuten und auf die Kernaussage „evil prevails when good men fail to act“ hinweisen. Das Plakat ist deshalb nichts für eilige Betrachter. Dies ist von uns gewollt, weil das Thema es gebietet. Ralph Schraivogel hat sich für das Plakat in einem Ausmass engagiert, das in keinem Verhältnis zu dem vereinbarten Honorar stand. Dafür bin ich ihm dankbar. Für mich zeugte dieses Engagement nicht nur von der Ernsthaftigkeit, mit der Ralph Schraivogel seinen Beruf ausübt. Es zeugt auch von seinem Respekt gegenüber jenen, für die dieses Plakat gedacht ist: Die Generation meines Grossvaters Sasa, die zu Opfern wurde, weil zu wenige gegen das Böse einschritten, und die Generation meiner Töchter Andrea und Dominique, von der ich hoffe, dass sie nicht wegschauen wird, wenn sie Handeln muss. Bin ich zuversichtlich, dass dies der Fall sein wird? In gewisser Weise, ja, weil ich in meinem Umfeld quer durch alle Bildungsschichten und über alle politischen und religiösen Grenzen hinweg immer wieder Menschen treffe, die nicht davor zurückschrecken, hinterhältigem Populismus und gedankenlosem „Mainstream“
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mutig entgegenzutreten. In gewisser Weise, nein, weil ich auch die weit verbreitete Angepasstheit, Geschichtslosigkeit und geistige Bequemlichkeit grosser Bevölkerungskreise bis hinein in die Führungsetagen von Wirtschaft und Politik sehe. Somit bleibt die Frage, was ich mit dem Plakat „LIVE – EVIL“ eigentlich will? Zum einen ging es mir darum, ein Kunstwerk zu schaffen, das ich als Zeichen der Dankbarkeit und Wertschätzung jenen Menschen schenken kann, deren Einsatz und Engagement im Kampf gegen das Böse mich beeindruckt und berührt haben. Zum andern soll es auch mich selbst täglich an meine eigene Verpflichtung erinnern, dort, wo Unrecht geschieht, nicht schweigend zuzuschauen oder den Blick abzuwenden. Und letztlich hoffe ich, dass das Plakat, wo immer es auch hängen mag, den einen oder anderen seiner Betrachter aus dem gefährlichen Dämmerschlaf der Gleichgültigkeit reisst, der in unserer Gesellschaft um sich greift. Wenn es dies erreicht, dann hat „LIVE – evil prevails when good men fail to act“ seinen Zweck bereits erfüllt.
Zollikon, im Mai 2009
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