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Thomas Poschauko
Martin Poschauko
Die hine c s a vm i t a e Kr h Bauc Kopf ter u p m Co d Han
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Vorwort der Verleger g Liebe Leserin, lieber Leser, an dieser Stelle steht normalerweise ein Gruß des Verlegers an Sie, die Käufer des Buches, das Sie nun voll Vorfreude und Neugier in den Händen halten. Wir bitten Sie um Verständnis, dass wir unseren Brief an Martin und Thomas Poschauko adressieren - heben das Briefgeheimnis aber auf … Lieber Martin, lieber Thomas, mit zwei opulenten Leinenbänden kamt Ihr zu unserem Mappentag und wir dachten »oh je«. Ohne jede Pause hatten wir seit Stunden Projekte angesehen, Feedback gegeben und der Tag war lang. »Nur kurz schauen« - war der Vorsatz … und dann verschlug es uns die Sprache. Menschen, die uns kennen, wissen, dass das nicht so oft passiert. Wir blätterten, schauten, staunten und schwiegen. Und Ihr - ob des Schweigens verunsichert - durchbracht es ab und an mit einem tief bayrischen »ja, genau« … Dann empfahlen wir Euch, NEA MACHINA Menschen zu zeigen, die uns sehr wichtig sind: Kurt Weidemann, Jochen Rädeker, Stefan Sagmeister - um nur diejenigen zu nennen, deren Feedback Ihr auf Euer Buch genommen habt. Und wir rieten Euch, NEA MACHINA bei Wettbewerben einzureichen. Was folgte, war ein unglaublicher Medaillenregen von red-dot-bestof-the-best über den Lucky Strike Junior Designer Award und Gold beim Joseph Binder Award bis zum Bayerischen Staatspreis. Wir machten uns Gedanken, zu schnell stiegt Ihr für unser Gefühl zu hoch, und Piloten wissen, die Luft da oben ist dünn und das Schwierige ist immer die Landung. Da spürten wir, dass Ihr für uns längst mehr wart als Ausnahmetalente und Autoren - wir hatten Euch ins Herz geschlossen! Aber der Reihe nach. Vermutlich wart Ihr in der Hoffnung gekommen, dass wir Eure tollen Arbeiten drucken und verlegen. Und tatsächlich haben wir lange darüber nachgedacht, Eure zwei großformatigen Bände als KünstlerEdition zu veröffentlichen (und haben das auch noch nicht ausgeschlossen!!!). Was uns aber noch mehr faszinierte, als Eure Arbeiten einfach zu veröffentlichen, war die dahinter stehende Struktur der Kreativität. Denn jeder, der Eure Arbeit sieht, spürt: Der »Wahnsinn« hat Methode. Also baten wir Euch um ein Kreativ-Tutorial in Buchform, in dem Eure Arbeit der »Basso Continuo« und der Beweis des Gesagten ist, nicht aber der »Ausstellungsgegenstand«. Mag sein, dass Ihr etwas anderes erwartet habt, Ihr ließt es Euch nicht anmerken und stürztet Euch mit Feuereifer in die Arbeit an diesem Buch. Wie alle wirklich Kreativen wart Ihr schnell und anhaltend im Flow. Kaum zu bremsen. Ansteckend in Eurer Begeisterung. Konsequent in
Eurer Arbeit. Und wenn wir Euch mit Top-Kreativen in Eurem Atelier besuchen kamen, dann war das großes Kino (im ehemaligen Filmvorführungssaal in Au bei Bad Aibling). Schon während der Arbeit an Euren 1000 Variationen hattet Ihr gespürt, wie powervoll die Kreativmaschine »Kopf - Bauch - Hand - Computer« arbeitet, jetzt gelang es Euch kaum, die Maschine anzuhalten. Wie allen Kreativen war Euch »gut« nie gut genug, und irgendwann sprachen wir ein Machtwort: »Jetzt ist’s gut« - und meinten aus tiefstem Herzen »es ist bereits sehr gut«. In diesem Herbst erblickt NEA MACHINA das Licht der Bücherwelt, und wie bei allen wirklich wichtigen Projekten fällt es Euch vielleicht schwer, die Nabelschnur zu durchtrennen, loszulassen. Wir danken Euch für Euer unglaubliches Engagement und wir wünschen uns und Euch, dass NEA MACHINA Viele und viel erreicht. Denn die Kreativmaschine »Kopf - Bauch - Hand - Computer« steht jedem zur Verfügung. Manchmal fehlt nur die »Gebrauchsanleitung«. Wir wünschen Euch, dass Ihr weiter in mutigen Höhen fliegt mit Eurer Kreativität. Und dass Ihr doch auf dem Boden bleibt. Wir wünschen Euch mutige Auftraggeber, die spüren, dass nicht alle guten Ideen in Konfis geboren werden. Wir wünschen Euch - und uns - dass NEA MACHINA nicht nur bei Stefan Sagmeister eine unbändige Lust weckt, ins Studio zu gehen und zu arbeiten. Und wir wünschen uns, dass wir in Verbindung bleiben! Ganz herzlich, Karin und Bertram Liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht haben Sie sich angesprochen gefühlt, obwohl unser »Brief« an Thomas und Martin adressiert war. Dann freuen wir uns. Vielleicht haben Sie aber auch eine gewisse Melancholie gespürt. Sich erinnert, warum Sie mal den Weg eingeschlagen haben in die Creative Industries. Und gespürt, dass etwas verloren gegangen ist auf diesem Weg. Dann vertrauen wir Sie jetzt für 408 Seiten der Obhut von zwei Ausnahmetalenten an, die Ihnen genau das zurückgeben werden: Das Glück kreativer Schaffenskraft! Wir wünschen der Kreativbranche eine Prise Poschauko anstelle von zu viel Pre-Tests und Ihnen viel Freude beim Nutzen Ihrer Kreativmaschine »Kopf - Bauch - Hand - Computer«. Karin und Bertram Schmidt-Friderichs Mainz, im Oktober 2010
Vorwort der Autoren Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns sehr, dass Sie unser Projekt NEA MACHINA in Händen halten. Es ist ein sehr persönliches Buch über Gestaltung geworden, ein Buch über unseren individuellen Umgang mit Kreativität. Eigentlich sind wir als praktizierende Kommunikationsdesigner ja weder Schriftsteller noch Theoretiker, und so präsentieren wir Ihnen ausnahmsweise als »schreibende Designer« das, was wir durch die praktische Auseinandersetzung mit Gestaltung erfahren haben. Wir haben versucht, all unser bisheriges Wissen über Arbeitstechniken und Kreativstrategien in dieses Buch zu packen und Ihnen Gestaltung anhand unserer eigenen Arbeiten nahezubringen. Wir hoffen jedenfalls, dass Sie von unserem Buch profitieren und dass wir unsere eigene Faszination für Gestaltung auf Sie übertragen können. Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen und Schauen! Thomas und Martin Poschauko
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Was ist dieses Buch ?| NEA MACHINA ist ein Kreativbuch, das auf einem authentischen Experiment basiert: Die Zwillingsbrüder Thomas und Martin Poschauko machen ein Kreativexperiment. Sie stellen sich selbst folgende Aufgabe:
Sie (innerhalb eines begrenzten Zeitrahmens von vier Monaten) unter » Erzeugen Verwendung zweier vorgegebener Elemente so viele verschiedene formale Varianten wie möglich. Die beiden Elemente sind:
Porträt als Platzhalter für das menschliche Porträt, den menschlichen Kopf, das Piktogramm eines Menschen. Die Variationen des Porträts müssen der hier gezeigten Person nicht unbedingt ähnlich sehen. Sie dürfen also auch dieser Person nicht ähnliche Porträts, Köpfe und Piktogramme gestalten.
Titel
NEA MACHINA
exemplarisch für einen Schriftzug, ein Logo, einen Titel und allgemein für die Typografie im Grafikdesign.
Die beiden Elemente können einzeln oder in Kombination variiert werden. Inhaltlich sowie in der Wahl Ihrer Mittel sind Sie dabei völlig frei. In Ausnahmefällen ist es Ihnen erlaubt, zeitweise aus dem Thema auszubrechen und zu gestalten, was sie wollen.
»
Innerhalb dieser Aufgabenstellung entstehen in einem Zeitraum von vier Monaten über 1000 unterschiedliche Varianten Grafikdesign und unzählige verschiedene Stile, die nun in diesem Buch gezeigt werden. Anhand der Entstehungsgeschichte der Varianten wird der kreative Prozess und der Gestaltungsprozess transparent gemacht. Sie als Leser haben so die Möglichkeit, Kreativität »live« und authentisch mitzuerleben. Die einzelnen Arbeiten werden zusätzlich vom persönlichen »Live-Kommentar« der Gestalter begleitet, in dem sie sämtliches Hintergrundwissen preisgeben. Aus diesem Kreativexperiment haben Thomas und Martin Poschauko schließlich ihre eigenen »Thesen zu Gestaltung und Kreativität« destilliert, die als gesonderter Teil im Buch enthalten sind. Im Zentrum dieser Thesen steht die selbst entwickelte Kreativmethode »Kopf - Bauch - Hand - Computer«, die den großen Output des Projekts NEA MACHINA ermöglichte. 3
Inhaltsverzeichnis h l h
Thesen zu Gestaltung und Kreativität SSeite eite 9 - 72
Das Kreativexperiment Seite 74 - 96
SSeite eite 142 - 143
Der traurige Clown und die digitale Collage
Vom A über die Kerze zu Spiderman
Seite 97 - 117
SSeite eite 144 - 151
Ein Typo-Raster aus Platzhaltern wird zur typografischen Harfe, zum organisches Zufallsprodukt und zum Schatten-Modell
Vom »Munch« zum multiplen Font und die Ästhetik des Grafikprogramms als Stilmittel
Seite 118 - 120
SSeite eite 152 - 157
Arbeiten an »Halb-Originalen«
Eine Bambusfeder-Zeichnung und deren »Abstraktion« per Computer
Seite 121
Seite 158 5
Ein Trashplakat aus Abfallprodukten
Raster-Tests
Seite 122 - 131
Seite 159 - 165
Vom manuell verzerrbaren Gesicht zum »Picasso«
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Ein Stapel Dachziegel wird zum »van Gogh« und zum poetischen Bild
Seite 132 - 141
Seite 166 - 167
Spielerisch-experimentelle Typo-Entwürfe
Ein Arbeitsprozess Zwei völlig unterschiedliche Ergebnisse
Seite 168 - 171 7
SSeite eite 212 - 215
Ein Ast als Vorlage für eine Schrift
Vom Piktogramm zur detaillierten Zeichnung
Seite 172 7 - 173 73
SSeite eite 216 - 219
Digitale Dornenzweige
Echte Arbeit aus Linol
Seite 174 74 - 180
Seite 220 - 2233
Der »digital handgemachte« Kinderbuch-Stil und das gleichzeitige Arbeiten an identischen Kopien
Das Meer hinter unserem Haus
Seite 181
Seite 224 - 225
Chaotische Trash-Collagen
Ein Porträt aus Würfeln
Seite 182 - 199
Seite 226 - 2277
Raster-Porträts: Vom Symbol-Raster zum »Kaugummi-Raster« und zum »Francis Bacon«
Die drei Bäume in unserem Garten und die Freiheit der Wahrnehmung
Seite 200 - 204
Seite 228 - 231 3
Futuristische Plakate aus Gummiringen
Schmetterling oder Löwe?
Seite 205 - 211
Seite 232 - 233
Die Feinästhetik verändert ein Bild und lässt es doch gleich
Pixel-Experimente
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Seite 234 - 235
Seite 252 - 261
Lego-Raster
Eine Illustration wechselt ihr Gewand
Seite 236 3 - 237 37
Seite 262 - 281
Highspeed-T-Shirts
Schablonen-Typografie
Seite 238 3 - 239 39
Seite 282 - 286
Handgemachte Buchstaben und eine Dada-Collage
Experimentelles Ausreizen einer Porträt-Skizze
Seite 240 - 243
Seite 2877
Miniaturisieren als Entwurfstechnik Der Bildgeschichten-Generator
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Seite 244 44 - 249 49
Seite 288 - 291
Naiv sein - Bahnen verlassen
Die »Inspirations-Maschine« löst Assoziationen aus
Seite 250 5
Seite 292
Von der Malerei über einen Computereffekt zur Druckgrafik
Das Porträt als Weltkarte
Seite 251 5
Seite 293 93
Die Materialität in der Entwurfsphase digital simulieren
Die Zeichnung abrunden
Seite 294 - 299
Seite 333
Per Computereffekt zur »indianischen Formensprache«
»Zerstören« als Stilmittel
Seite 300 3 - 307 3 7
Seite 334 - 341
Ein Porträt aus einer Linie Der Rhythmus im Holzstapel
Seite 308 - 309
Seite 342 - 343
Bleistift auf Millimeterpapier als leuchtender Bildschirm
Das Porträt als »Schaltplan«
Seite 310 - 323
Seite 344 - 345
Die Dracula-Serie Eine intuitive Geheimschrift
Seite 324 - 325
Seite 346 - 347
Character-Design per Balkendiagramm
Piktogramme als Textur
Seite 326 - 331
Seite 348 - 355
Gestalten per Regler
Vom Computereffekt zum Holzschnitt
Seite 332
Seite 356 - 357
Eine unsichtbare Transformation
Der digitale Holzschnitt
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Seite 358 - 359
Seite 388 - 389
Extremes Verfremden eröffnet neue Wege
Vom Vektor-Molekül zur Knochenschrift
SSeite eite 360 - 361
Seite 390 39 - 391 39
Vom Fingerabdruck zum digitalen Impressionismus
Kaugummi und Zahnstocher als professionelles Entwurfsmaterial
Seite 362 -365
Seite 392 - 393
Entstehung und Weiterverarbeitung eines Originaldrucks
Die digitale Imitation der manuellen Optik
SSeite eite 366
Seite 394 - 397
Bunte Plakatmaschine
Von Jean-Michel Basquiat über das Filzporträt zur »Radierung«
SSeite eite 367 -369
Seite 398 39
3-D-Animation mit realem Material
Satzzeichen als Buchstaben
Seite 270 - 387
Seite 399 - 405
Ein Roboter und der lange Prozess der Variation
Ein Zufallsraster als kreativitätsfördernde Beschränkung
Thesen zu Gestaltung und Kreativität abgeleitet aus den Erkenntnissen des Kreativexperiments »NEA MACHINA«
Inhaltsverzeichnis
Seite 36 - 37
Vom Neukombinierer zurück zum Schöpfer
Seite 10 - 11
Seite 38 - 41
Einführung
Sonderwerkzeug » Computer «
Seite 12 - 14
Seite 42 - 43
Der Kreativraum
Die digitale Manipulation als Wahrnehmungsschule
Seite 15 - 18
Seite 44 - 47
Die Kreativmethode » Kopf - Bauch - Hand - Computer «
Die Symbiose » Hand - Computer «
Seite 19 - 23
Seite 48 - 53
Kopf oder Bauch?
Das Kreativpotenzial realer Materialien
Seite 24 - 25
Seite 54 - 57
Durch Abgeben der Kontrolle zu mehr Qualität
Der Lerneffekt der formalen Variation
Seite 26 - 27
Seite 58 - 63
Das Machen als Voraussetzung des Denkens
Assoziation und Abstraktion führen zur nächsten Idee
Seite 28 - 31
Seite 64 - 66
Spezialwerkzeug » Hand «
Künstler oder Designer?
Seite 32 - 33
Seite 67 - 69
Körper spüren / Sinne aktivieren
Das gute Gefühl als kreative Kraft
Seite 34 - 35
Seite 70 - 71
Du bist der Gestalter ! - Unabhängigkeit vom Computer
Die freie Wahrnehmung
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Einführung Was sind die »Thesen zu Gestaltung und Kreativität« ? Die »Thesen zu Gestaltung und Kreativität« sind eine Sammlung von Erkenntnissen, die bei unserem Kreativexperiment NEA MACHINA entstanden oder sich dabei konkretisierten. Aus der formalen Auseinandersetzung mit Gestaltung, anhand unserer eigenen Arbeiten und unseres eigenen Machens, »destillierten« wir eine Reihe von Denkansätzen. Dabei handelt es sich um die Theorie zu unserer Kreativmethode »Kopf - Bauch Hand - Computer« und zu unserem Kreativexperiment sowie um persönliche Gedanken zu Gestaltung und Kreativität, die wir für wichtig halten. Was Sie hier lesen, ist ein sehr persönlicher Erfahrungsbericht, und wir möchten anmerken, dass wir keine Didakten, Psychologen oder Wissenschaftler sind. Die »Thesen zu Gestaltung und Kreativität« sind Gedanken zweier Gestalter, die über ihre praktischen Erfahrungen berichten. Es darf jedenfalls rege diskutiert und widersprochen werden!
Sprachliche Anmerkung: Im Gegensatz zum »Live-Kommentar« im Bildteil unseres Kreativexperiments, der in der Ich-Form und im Präsens verfasst ist, sind die »Thesen zu Gestaltung und Kreativität« gemeinsame Erkenntnisse von uns beiden und ein Rückblick auf das Projekt. Wir benutzen deshalb das »Wir« und schreiben häufig in der Vergangenheitsform.
Aus der praktischen Auseinandersetzung mit unserem Kreativexperiment werden Erkenntnisse destilliert.
Kreativexperiment
Die Erkenntnisse wirken in Form von Inspiration und Optimierung unserer Arbeitsweise auf das Experiment zurück.
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Thesen
Einführung
Die formalen Konstanten unseres Kreativexperiments Als zentrale Konstanten für unser Kreativexperiment (ausführliche Aufgabenstellung siehe Seite 3) verwendeten wir zwei Elemente, die wir formal immer wieder anders variierten: Den Titel »NEA MACHINA« und ein menschliches Porträt. Warum haben wir uns ausgerechnet für diese beiden Elemente entschieden?
Warum »NEA MACHINA« ? Die Wörter »NEA MACHINA« verwendeten wir zunächst, von jeglichem Inhalt befreit, einfach als »Typo-Material« für unsere Gestaltung, also als Schriftzug oder als Titel. Davon abgesehen hat dieser Titel aber auch einen inhaltlichen Sinn: Er bezeichnet die Kreativstrategie, die hinter dieser Arbeit steckt. Die griechischen Wörter »NEA MACHINA« bedeuten übersetzt »Die neue Maschine« und stehen inhaltlich für eine extrem effektiv laufende »Kreativmaschine«, die durch die Verbindung von Kopf, Bauch, Hand und Computer funktioniert. »Neu« bezeichnet die innovative Neuverbindung dieser Parameter, »Maschine« steht dabei für die große kreative Kraft der Methode. Die alte Sprache »Griechisch« haben wir gewählt, weil der Fortschritt unserer Kreativtechnik zu einem wesentlichen Teil in der R|ückbesinnung auf »alte« handwerkliche Gestaltertugenden besteht. Somit ist der Begriff »NEA MACHINA« alt und neu zugleich und ist (wie unsere Denkweise bei diesem Projekt) sowohl vorwärts- als auch rückwärtsgewandt.
NEA MACHINA nea (griech.) = »neu«
machina (griech.) = »die Maschine«
»Die neue Maschine«
Warum ein Porträt ? Das Porträt, das in unserer langen Variationsreihe immer wieder auftaucht, ist ganz einfach das Bildmaterial für unser formales Experiment. Es ging also nicht darum, die abgebildete Person charakterlich zu interpretieren, sondern vordergründig um die stilistische Variation. Der Grund, warum wir uns für ein Gesicht entschieden haben, ist, dass es für uns das »interpretationswürdigste« Motiv ist. Ein Gesicht macht es uns leicht, Gefühle mit den verschiedenen formalen Varianten zu verbinden. Außerdem ist es ganz einfach ein starkes grafisches Motiv. (Und für alle, die wissen wollen, wer unsere Porträt-Person ist: Es handelt sich dabei um unseren Freund und Künstlerkollegen Toni Gruber, mit dessen Anblick wir ein extrem gutes Gefühl verbinden ...)
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Der Kreativraum Die Suche nach befreiender Beschränkung Im Vorfeld dieser Arbeit hatten wir lange überlegt, welches Thema für unser Vorhaben einer quasi »unendlichen« formalen Reihe am geeignetsten wäre. Wir wollten uns durch diese Arbeit eine Art »Musterkatalog« all unserer gestalterischen Facetten erschaffen. Und dafür brauchten wir ein Thema, das grundsätzlich alles zuließ und keinen Stil und keine Idee von vorneherein ausschloss. Trotzdem suchten wir nach einer haltgebenden Beschränkung.
Also überlegten wir, wie wir uns optimale Rahmenbedindungen für unser Projekt schaffen konnten. Wir dachten darüber nach, welche Beschränkungen wir uns auferlegen und welche Freiheiten wir uns gestatten sollten, um maximal kreativ zu sein. Metaphorisch ausgedrückt, suchten wir nach dem optimalen »Kreativraum«. Die ersten Überlegungen dabei waren:
Extremsituation 1 : Gestalten ohne Kreativraum Zunächst dachten wir an eine völlig freie Themenstellung ohne Beschränkung (also ohne einen begrenzenden Kreativraum). Dies erschien uns zunächst die einzig richtige Lösung zu sein, da jede Beschränkung natürlich bestimmte Möglichkeiten ausschließt und somit scheinbar die Vielfalt reduziert. Allerdings hatten wir mit solchen völlig freien »Ich mache was ich will«-Themen eher schlechte Erfahrungen gemacht. Wir hatten dabei immer hochmotiviert losgelegt und
unsere kreativen Schnellschüsse in alle Richtungen geschleudert. Durch das Fehlen einer klaren Zielvorgabe bzw. einer haltgebenden Begrenzung verpufften diese Ideen allerdings in den unendlichen Weiten des grenzenlosen Kreativraums. Wir generierten zwar eine große Masse von Ideen, schafften es aber nicht, eine Idee bis zum Ende zu verfolgen. Das Ergebnis dieser Taktik war ernüchternd bzw. gleich null. Es kamen kaum fertige Arbeiten dabei heraus.
Extremsituation 2 : Gestalten im zu eng gefassten Kreativraum Also überlegten wir, wie wir das Problem der »verpuffenden Ideen« in den Griff bekommen könnten. Als am Naheliegendsten erschien uns hierfür eine ganz klare Beschränkung. Also ein sehr eng umgrenztes Thema. Damit hatten wir in der Vergangenheit eigentlich gute Erfahrungen gemacht. Immer wenn wir mit einer klar definierten Aufgabenstellung konfrontiert wurden, kamen auch gute Arbeiten heraus, da wir unsere Kräfte bündeln konnten und durch die
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Beschränkung automatisch in die Tiefe gingen. Allerdings wollten wir beim Projekt NEA MACHINA ja gewissermaßen »über das Normale hinausgehen« und dafür brauchten wir mehr Freiheit. Eine allzu enge Beschränkung erschien uns dafür als zu starr, da sie uns zu viele Ideen »verboten« hätte. Wir wollten also trotz Beschränkung kreativ bewegungsfähig bleiben. Wir dachten also weiter nach ...
Der Kreativraum
Die Lösung: »Das selbstkontrollierte Freigehege mit Hintertür«
Wir stellten uns also die Frage, wie wir die Vorteile der beiden zuvor erprobten Herangehensweisen nutzen bzw. deren Nachteile kompensieren konnten: Wir wollten maximale Freiheit und zugleich eine haltgebende Beschränkung. Und so entstand: »Das selbstkontrollierte Freigehege mit Hintertür«. Wir definierten einen sehr geräumigen Kreativraum mit genügend kreativer Bewegungsfreiheit (erreicht durch eine sehr freie Themenstellung: Wir durften mit den Vorgaben »Porträt« und »Titel« ohne konzeptionelle Vorgabe »machen, was wir wollten«). Die »unüberwindbare« Mauer des Kreativraums steht dabei für die beiden festgelegten Vorgaben, über die wir uns zunächst nicht hinwegsetzen durften. Durch die feste Vorgabe konnten wir unsere Kräfte bündeln, die entstandenen Entwürfe immer wieder damit abgleichen bzw. als Neuanfang wieder zu dieser zurückkehren: Wir durften also weiterhin wild mit Ideen um uns werfen, wobei die Vorgaben als eine Art »Auffanggitter« dienten. Somit verpufften unsere Ideen nicht einfach, sondern wurden gesammelt. Zu diesem Zeitpunkt war der Kreativraum noch eine Art »fremdkontrolliertes Gefängnis« ohne Ausgang. Wir wollten uns aber in dieser Arbeit theoretisch alle Möglichkeiten offenhalten, was wir durch folgende Maßnahme lösten:
Wir führten eine »Hintertür« ein, die uns erlaubte, unsere Vorgaben gelegentlich zu verlassen und frei zu gestalten, was wir wollten. So gestatteten wir uns, auch Ideen, die nicht in unsere Vorgabe passten, nach draußen zu tragen, diese dort in Freiheit weiterzuentwickeln bzw. völlig neue Ansätze außerhalb unserer Vorgabe zu versuchen. In Freiheit entstanden schließlich wieder konkrete Ideen, die wir für unser Projekt adaptieren und an unsere Vorgaben anpassen konnten. Wir nahmen diese also wieder mit in unseren Kreativraum und legten sie dort ab. So wurde unser »Auffanggitter« auch zu einer Art »Sammelstation«, zu der wir immer wieder zurückkehren konnten. Eine wichtige Funktion des Freigangs durch die Hintertür war außerdem, gelegentlich frischen Wind von außen in das Projekt bringen zu können und ab und zu Pause vom Projekt machen zu dürfen. Oder allgemein gesagt: »das gute Gefühl der Freiheit« als Treibstoff für die Arbeit zu nutzen.
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Der Kreativraum
Der fertig konzipierte Kreativraum Hier sehen Sie, schematisch dargestellt, das Kreativkonzept unseres Experiments: Unsere festen Vorgaben bilden die Grenzen eines »Kreativraums«, der sowohl als »Auffanggitter« (für innerhalb seiner Grenzen entstandene Ideen) als auch als »Sammelstation« (für außerhalb seiner Grenzen entstandene Ideen) dient. Der Kreativraum ist zudem kein »Gefängnis« mit unüberwindbaren Mauern, sondern bietet die Möglichkeit zu gelegentlichen Ausflügen in die »Freiheit« (d.h. die Freiheit, ohne die Vorgaben gestalten zu dürfen) sowie die Möglichkeit, Inspiration von außen in das Projekt einzubringen. Dafür steht die »Hintertür« stets offen.
Folgende Vorgaben bilden die Grenzen des Kreativraums :
+
» NEA MACHINA«
festgelegtes Motiv
festgelegter Titel
Kreativraum raum Vorgaben
formale Var Varianten + Ideen innerhalb der Vorgabe (hier exemplarisch drei Varianten):
Vorgaben
Variante 1
Vorgaben
Variante 2
Variante 3
Hintertür
Ideen, die über die Vorgaben hinausgehen, werden nach draußen getragen, in Freiheit weiterentwickelt und inspirieren wiederum zu Ideen innerhalb der Vorgaben. Zudem können Ideen, die frei und unbeeinflusst von der Vorgabe entstehen, in das Projekt eingebracht werden.
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Die Kreativmethode »Kopf - Bauch - Hand - Computer« Während des formalen Variierens, das den Hauptteil dieses Projekts darstellte, versuchten wir, unsere dabei angewandte Arbeits- und Denkweise zu analysieren und herauszufinden, wie unsere persönliche Kreativstrategie aussehen könnte. Das heißt, wir mussten erstmals konkret darüber nachdenken, wie wir eigentlich genau arbeiten und Ideen entwickeln. Unsere eigene Arbeitsweise wurde zum Gegenstand unserer Forschung, wir waren somit Versuchsobjekt und Versuchsleiter zugleich. So untersuchten wir unsere Vorgehensweise während des Gestaltens nach ihren grundlegenden Prozessen und kamen zu einem Ergebnis, das uns zunächst recht banal, weil eigentlich viel zu einfach erschien. Bei genauerer Analyse lässt sich unsere Kreativstrategie in zwei wesentliche Wechselbeziehungen gliedern:
A Ideen-Ebene Kopf
Bauch
B Werkzeug-Ebene Hand
Computer
A Die Ideen-Ebene
B Die Werkzeug-Ebene
Diese Ebene bezeichnet den Ursprung der Idee, die nötig ist, um gestalten zu können. Hier geht es um die Frage: »Aus welchem Antrieb heraus entsteht Gestaltung?«
Diese Ebene bezeichnet die Art und Weise der technischen Umsetzung einer Idee, d.h. welches Werkzeug dafür benutzt wird. Hier unterteilt in zwei Hauptgruppen:
Kopf:
Hand:
bezeichnet eine planerische, konzeptionelle Herangehensweise an Gestaltung, die nach klaren Denkstrukturen funktioniert. Gestaltung entsteht hier als logische Folge eines Gedankengangs: »Ich mache es, weil ...«. Man geht nach Rezept vor.
bezeichnet manuelle Techniken wie Zeichnen, Malen, 3-D-Objekte modellieren, Installationen bauen, Druckgrafik wie Holz- oder Linolschnitte. Allgemein steht dieser Begriff für den »Umgang mit realem Material« oder das »Machen mit den eigenen Händen«.
Bauch:
Computer:
bezeichnet das gefühlsbetonte, nicht-rationale Vorgehen beim Gestalten. Am besten umschreibt dies der Begriff »intuitives Machen«. Diese Herangehensweise ist oft spielerisch, unsystematisch und nicht direkt logisch zu erklären. Man geht »nach Gefühl« vor.
bezeichnet das Gestalten mithilfe von Grafikprogrammen am Computer. Dieser nimmt dem Gestalter bestimmte Aufgaben (wenn auch nicht die richtige Entscheidung) ab und vergrößert dessen gestalterische Möglichkeiten. Das Gestalten findet hier in einer virtuellen Welt statt, die sich über Gesetzmäßigkeiten der realen Welt hinwegsetzt und den Gestalter von gewissen Zwängen befreit, die ihm das Arbeiten mit realem Material auferlegen würde. Somit erweitert der Computer die Fähigkeiten des Gestalters. 15
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Das Experiment beginnt! Bühne frei! Unsere formale Reihe kommt ins Rollen ... Gezeigt wird nicht nur ein einzelnes Endprodukt, sondern der gesamte Entwurfsprozess. Mal stärker, mal schwächer, mal fertig, mal roh, jeder Schritt ist wichtig. Denn so wird die Entstehung unserer Arbeiten »live« erlebbar. Hiermit also eine herzliche Einladung, durch unsere Augen zu schauen, während wir gestalten ... Dazu noch eine sprachliche Anmerkung: Die einzelnen Arbeiten unseres Experiments werden von unserem persönlichen »Live-Kommentar« begleitet. Dabei schreiben wir meist in der Ich-Form, weil in der Regel nur einer von uns beiden für die Entstehung einer Arbeit verantwortlich war und wir nur ganz selten gemeinsam an einer Entwurfsreihe arbeiteten. Nun aber los!
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Der traurige g Clown und die digitale Collage
... Schritt für Schritt verändert sich das Clowngesicht ... weitere Elemente werden hinzugefügt ... ich lege eine Färbung über das Gesicht und füge den Körper und Typografie hinzu ...
Die Variationsreihe kommt ins Rollen Hier scanne ich eine Bleistiftskizze unseres Porträts. Eigentlich gefällt mir diese nicht besonders, und so versuche ich sie zuerst durch das Colorieren (digital in Photoshop) zu kaschieren. Nach und nach entsteht ein »Clown«, den ich über eine lange Serie (gezeigt auf den nächsten 23 Seiten) variiere ... ... dann tausche ich die Zeichnung gegen eine gerasterte Variante unserer Foto-Vorlage aus und lasse die restliche Kompostion unverändert ...
... rastere die Zeichnung und setze sie noch einmal zum Test ein ...
... verändere die Farbstimmung und setze verlaufende Schminke unter die Augen ... 74
... dann klicke ich das Gesicht einfach weg und erreiche so unerwartet eine holzschnittartige Anmutung, aus der ich ein erstes Plakat entwickle. Und weiter und weiter ...
Die flexible digitale Collage Im Grunde ist die Clown-Serie eine einzige riesengroße PhotoshopDatei. Eine digitale Collage aus unendlich vielen Einzelteilen. Man kann diese Arbeitsweise mit der Erstellung eines Phantombildes, wie es bei der Polizei angefertigt wird, vergleichen. Jedes Bauteil bzw. jede Ebene ist flexibel, so als wären transparente Folien übereinandergelegt. Hier die einzelnen Ebenen:
Was ist dabei anders als beim Arbeiten am Original? Die flexible digitale Collage ermöglicht einen völlig anderen Kreativprozess, als es beim handwerklichen Arbeiten der Fall wäre. Die Gesetzmäßigkeiten des real Machbaren sind quasi außer Kraft gesetzt: Die zeitliche Reihenfolge, in der ich vorgehe, ist dabei völlig egal. Ich muss also nicht »von Schicht zu Schicht« denken, sondern kann meine Vorgehensweise frei und intuitiv bestimmen und mich voll auf das Formale konzentrieren. Zudem bin ich nicht an die spezifischen Einschränkungen eines handwerklichen Malprozesses gebunden. Die Bauteile (Ebenen) können jederzeit unabhängig voneinander verschoben, skaliert, umgefärbt, ausgeblendet oder hinzugefügt werden. Das ist so, als würde ich an einer Leinwand malen und könnte z.B. einfach die Farbe einer unteren Malschicht austauschen ohne die darüber liegenden Schichten zu verändern. Ich könnte sogar nach der Schlussfirnis im fertigen Gemälde noch einmal Änderungen vornehmen, ein Bildelement problemlos gegen ein anderes austauschen oder bereits Übermaltes wieder zum Vorschein bringen.
Im Vergleich der Varianten die Entscheidungen treffen Diese variable Art des Gestaltens wirkt extrem schulend für mein Form- und Farbgefühl, weil ich jedes Bildelement isoliert betrachten, bearbeiten, testen und vergleichen kann. Immer wieder wird im Vergleich die nächste Entscheidung getroffen. Ich denke flexibler, probiere mehr Varianten aus, begreife nichts als manifestiert, sondern nutze immer wieder die Vergleichbarkeit, um mich zu entscheiden. Sozusagen per »Trial and Error«. Beim handwerklichen Arbeiten gibt es diese Vergleichsmöglichkeit nicht, meine Vorgängervariante wäre nun schon längst übermalt. Natürlich könnte ein Maler sein Bild immer wieder reproduzieren und so Vergleichbarkeit erreichen. Ein ganz grundsätzlicher Unterschied ist jedoch die Geschwindigkeit: Das digitale Collagieren geht einfach und schnell und ein Fehler hat keine Konsequenz. Ohne großen Zusatzaufwand kann ich eine Variante testen und sie spurlos wieder verschwinden lassen.
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Ein Element verändern, analysieren, wieder darauf reagieren ... Während dieser sehr intuitiven Serie hangele ich mich beim Collagieren in Photoshop stets nach demselben Prinzip voran: Anschauen, Analysieren und ein Element verändern. Dann wieder auf die Veränderung reagieren und die Komposition in einer neuen Zusammensetzung stimmig machen. Dann geht der Prozess wieder von vorne los ... Wenn ich eine für mich stimmige Variante erreicht habe, speichere ich diese (sozusagen als Etappenziel) ab und mache weiter. Immer wieder ...
»Die Beschränkung auf das real Mögliche« als Gestaltungs-Strategie Obwohl ich hier sehr frei arbeite und keinen konkreten Inhalt zu kommunizieren habe, gibt es durchaus formale Strategien, nach denen ich vorgehe: Ich versuche, den Computer zwar intensiv zu nutzen, vermeide jedoch, dass dieser vordergründig die Ästhetik meiner fertigen Arbeit diktiert. Besonders wichtig ist mir der Bezug zu real machbaren Arbeitstechniken: Überdrucken, Überkleben, Übermalen ... Im Laufe der Arbeit an dieser Serie geht meine Assoziation immer mehr in Richtung »Siebdruck-Plakate«, was meine Vorgehens-weise stark beeinflusst. Ich collagiere zwar digital am Rechner, habe aber immer den handwerklichen Arbeitsprozess im Kopf. So arbeite ich viel mit Überdruckungen, gerasterten Fotos, einfachen Farbflächen, simuliere nicht passgenau oder schlecht gedruckte Flächen. Auch eine handgemachte, manuell gedruckte Anmutung ist mir wichtig, und ich versuche einige Fehler einzubauen. Gerade diese Fehler sind entscheidend, um meinen Arbeiten eine organische, unperfekte Wirkung zu geben.
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Handwerkliche und digitale Einzelteile werden wild kombiniert Zwar werden die Clown-Collagen alle digital komponiert, jedoch nutze ich vorwiegend manuell erstellte Bausteine, die ich mit digital erstellten Formen kombiniere. In Photoshop ist ein wildes Mixen von unterschiedlichsten Komponenten möglich (Foto, flüssige Farbe, Zeichnung, Druckgrafik, digitale Elemente, unterschiedliche Papiere). In diesem Entwurf (größer zu sehen auf der nächsten Doppelseite) werden beispielsweise folgende Elemente kombiniert: Die Haare und Augenbrauen sind mit der Computermaus gekrakelt, die Colorierung von Gesicht, Körper, Wangen und Mund sind per Linolschnitt gedruckt, der rote Punkt, der Rahmen und die Strahlen im Hintergrund sind Computerformen, verlaufende Tinte für die Schminke und ein gerastertes Foto dienen als leichte Textur des Gesichts. Alles digital vereint, orientiert an der Ästhetik von schlecht gedruckter Verpackung. Oft genügt ein plakativer manueller Effekt, wie hier der organische Abdruck des Linolschnitts, um auch den digital erstellten Elementen eine »handgemachte« Wirkung zu verleihen. Die digitale Machart wird also kaschiert durch manuell erstellte Elemente. Den Computer sieht man kaum noch.
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Mein Bauchgefühl zeigt mir einen neuen Weg ... Nicht jeden Schritt, den ich mache, kann ich systematisch erklären. Und ich will es auch gar nicht, denn so würde ich mir zu viele mögliche Wege verbauen. Hier zeichne ich ohne einen besonderen Sinn eine Gasmaske über die Illustration. Es gibt dafür keinen thematischen Grund, sondern ich folge in diesem Moment einem reinen Bauchgefühl. Das neue Element »Gasmaske« reizt mich ganz einfach und weckt mein Interesse. Jedenfalls macht das Element »Gasmaske« hier einen neuen Weg auf, verunsichert mich im positiven Sinn und setzt einen neuen Prozess in Gang. So halte ich während der hier gezeigten Reihe an dieser Konstante fest. Meist fällt es einem natürlich schwerer, auf ein unbestimmtes Gefühl zu hören, als einer klaren Strategie zu folgen. Aber es lohnt sich nach unserer Erfahrung immer wieder, die Intuition nicht zu vernachlässigen. Gerade in einem formalen Experiment wie diesem, in dem ich nach neuen und innovativen Stilen suche, sind solche ungewöhnlichen Schritte eigentlich Pflicht.
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... und ich entdecke Neuland War in Vorgänger-Entwürfen die Gasmaske noch das zentrale und dominierende Element des Plakats, so entsteht hier nach einigen weiteren Entwurfsstadien eine Variante, in der die Gasmaske nur noch ein Element unter vielen ist. Hier könnte man die Gasmaske getrost gegen ein anderes Bild austauschen, die ästhetische Wirkung wäre ähnlich. Farbe und Typografie stehen mittlerweile im Vordergrund, das Plakat gleicht eher einer abstrakten Studie und wartet nur darauf, auf Inhalte angewendet zu werden. Über die zunächst unsinnige Brücke »Gasmaske« habe ich so neues Terrain entdeckt, das ich ohne diese nie betreten hätte. Der Umweg über das Bauchgefühl hat sich gelohnt.
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Digitales Schnipseln und Kleben Hier beginnt die Entwicklung einer »Trashcollage«, die sich über die nächsten sechs Seiten ausbreitet. Ich »überklebe« das Gesicht des Clowns mit verschiedensten Elementen. Mit dem Unterschied, dass ich nicht mit Klebstoff und Schere hantiere, sondern alle Elemente digital collagiere. Allerdings ist meine Vorgehensweise von der manuellen Art des Collagierens beeinflusst. Ich benutze das digitale »Lasso«-Werkzeug in Photoshop wie eine Schere, »schnipsle« in der Art, wie ich echtes Papier von Hand schneiden würde, meine Formen aus. So wirken digitale Elemente wie hastig mit der Schere ausgeschnipselt (wie z.B. bei Passbild und Torte). Andere Elemente, wie die beiden runden Computer-Flächen (der gelbe und der blaue Kreis), werden zu hingeklebten Aufklebern, der Kreis über dem Auge ist ein Detail einer Schnittmarke, das ebenfalls den manuellen Eindruck unterstützt. grundlegende Der grundle egende Unterschied zu einer rein handwerklichen besteht Collage bes steht natürlich darin, dass ich meine Elemente jederzeit flexibell skalieren und neu kombinieren kann. Und es gibt noch einen ganz großen Vorteil: Ich kann das Material jederzeit wiederverwenden wiederverw wenden und unendlich viele Arbeiten aus genau demselben Material »zusammenkleben«. Das entstan entstandene ndene Design nutze ich nach einer Farbvariation schließlich noch für ein Buchcover.
Imitieren Im mitieren eines Makulaturbogens Alls weitere Variante lasse ich mich von Makulaturbögen Als (f falsch gedruckten Druckbögen) inspirieren: (falsch Am m Anfang steht eine absolut systematische Vorgehensweise: Ich analysiere die Anmutung echter Makulaturw bö ögen und versuche dann, diese nachzuahmen: bögen Ei in typischer Makulaturbogen entsteht durch falsches Ein Üb bereinanderdrucken unterschiedlicher Seiten oder einzel Übereinanderdrucken einzel-ne er Farbkanäle, es gibt zufällige Überdruckungen, kleine ner Ve erwackler und natürlich Schnittmarken. Oft entstehen so Verwackler na aive, durch zufällige Kombinationen bedingte Collagen, naive, di ie unnachahmlich spontan wirken (weil sie es sind). die N achdem ich mir also klargemacht habe, welche Regeln zu Nachdem be eachten sind, ist es für mich kein Problem, ein »Imitat« beachten he erzustellen. Hier wird also durch recht systematische herzustellen. An nalyse eine chaotische Wirkung erzeugt. Es gilt hier Analyse wieder: Ein Konzept suchen und sich daran orientieren. w Un nsere Umgebung ist voll von Gestaltung, die eigentlich Unsere ga ar nicht bewusst gestaltet wurde. Wie eben ein Makula gar Makula-tu urbogen, der im Prinzip nur durch Zufall entsteht. Und turbogen, wir nehmen diese Zufälle und deren spontane Wirkung w im mmer gerne in unsere Arbeiten auf. immer
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Ein Typo-Raster aus Platzhaltern wird zur typografischen Harfe, zum organischen Zufallsprodukt und d zum Schatten-Modell h d ll Automatisiertes Variieren mit »Platzhaltern« In der folgenden Serie wird anfangs ein Buchstabenraster festgelegt und mehrfach stilistisch variiert. Über die nächsten 20 Seiten wird dieses als Konstante beibehalten. Durch das gleichbleibende Grundgerüst kann ich mich voll auf das Variieren der verwendeten Einzelelemente und Materialien konzentrieren und erhalte eine gute Vergleichbarkeit der entstehenden Arbeiten. Den Einstieg in diese Variationsreihe liefert ein per Computer erstelltes Raster aus sogenannten »Symbolen«. Als »Symbole« werden in Adobe Illustrator flexible Platzhalter bezeichnet, die sich per Mausklick automatisch im kompletten Dokument austauschen lassen. Der Vorteil daran ist, dass ich lediglich einen Platzhalter gegen einen anderen ersetzen muss, um eine neue Variante zu erstellen, und es mir so erspart bleibt, alle Elemente komplett neu auszuwählen und anzuord-
nen. Für die hier abgebildeten Entwürfe reicht es also aus, zwei neue Platzhalter zu entwerfen, diese per »Symbol-Bibliothek« einzufügen und je nach Bedarf eine andere Hintergrundfarbe zu wählen. So probiere ich entspannt verschiedene Symbole aus, genieße den Überraschungseffekt, der bei dieser Technik Programm ist, und produziere unheimlich viele Varianten in kurzer Zeit. Aber nicht alle sind gut. Der schwierigste Part bei dieser Serie ist es, am Ende die besten Ergebnisse aus einer unüberschaubaren Masse von Feinvarianten herauszufiltern. Ein typischer Effekt beim Gestalten am Rechner. Unsere Kompetenz als Gestalter liegt vermehrt darin, in der unendlichen Anzahl von Möglichkeiten, die uns der Computer »wertfrei« offeriert, genau die eine Richtige zu erkennen. Was mir der Computer natürlich weiterhin nicht abnimmt, ist die Bewertung, ob Farben und Formen stimmig sind oder wann mein angestrebtes Ziel erreicht ist. Und natürlich muss ich auch die einzelnen Platzhalter selbst entwerfen und mir (zumindest mit einer vagen Vermutung) darüber Gedanken machen, wie diese in der automatisch generierten Gesamtkomposition wirken könnten. Mit ein bisschen Überlegung ist dies eine recht effektive Entwurfstechnik, die überraschende und ungewöhnliche Ergebnisse liefern kann. Aber sie ist auch mit Vorsicht zu genießen, da man ständig verleitet ist, sich in der Beliebigkeit zu verlieren.
Platzhalter 1 Platzhalter 2
Platzhalter 1 Platzhalter 2
klick!
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Kerze? Strahlen?
Gesicht? Fratze?
Vom »A« über die Kerze zu Spiderman p Zugegebenermaßen fällt mir an diesen Tag nichts Besonderes ein. Relativ unmotiviert bastle ich mit dem Buchstaben A herum und kombiniere mehrere »A« zu einem Konstrukt. Irgendwann erkenne ich in diesem eine »Kerze mit Lichtstrahlen«. Nun ist meine Aufmerksamkeit wieder geweckt. Die zuvor banale Konstruktion wird zur Illustration. Diese nutze ich für zwei Buchcover. Und dann geht es noch weiter ... Da ich dank unseres Themas mittlerweile auf Gesichter geeicht bin, erkenne ich in der leuchtenden Kerze ein Gesicht, oder besser gesagt eine »Fratze«. Um das gefundene Gesicht noch klarer zu machen, verändere ich die Kerze noch leicht ... und plötzlich erscheint Spiderman, der sich gerade von einem Wolkenkratzer auf seinen Gegenspieler hinunterstürzt. Aus völlig statischen Buchstaben entwickelt sich nun eine Illustration mit starker Bewegung und Lautstärke. Und was mich natürlich besonders freut: Ich komme zum Schluss wieder zu einem Porträt, und so fügt sich auch diese Serie in unser Thema ein. Das Dranbleiben hat sich gelohnt, und im Nachhinein bin ich froh, dass ich an diesem Tag nicht gleich zum Baden gefahren bin ... 142 42
Spiderman!!!
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Ölkreidezeichnung
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Graustufen + Kontrastieren
Vektorisieren + Screenshot
Färben + dreifaches Überlagern
Die Ästhetik des Grafikprogramms als malerisches Element Weiter mit meiner Ölkreidezeichnung experimentierend, komme ich mehr oder weniger zufällig auf eine digital anmutende Variante: In Adobe Illustrator wandle ich eine Graustufen-Variante der Zeichnung in Vektorpfade um (ursprünglich hatte ich vor, das Bild dadurch zu vergröbern). Als ich deren programmspezifische Darstellung in Pfadpunkten sehe, erkenne ich erst das künstlerische Potenzial einer eigentlich völlig technischen Computerprogrammästhetik. Ich mache einen Screenshot davon und verwende die bloße
Darstellung der Vektorpunkte und -linien als malerisches Element. Die Punkte und Linien werden gefärbt und dreimal überlagert. Was zunächst eine rein ästhetische Entscheidung ist, zeigt sich dann auch als interessante Erkenntnis: Ich habe einer völlig banalen Technikästhetik eine ästhetische Qualität abgerungen und die Vektorpunkte und -linien ganz selbstverständlich als malerische Elemente gesehen (als »Punkt und Strich« bzw. als Farbkomposition). Die fertige Grafik wirkt auf mich wie der abstrakte Bauplan einer expressiven, mit flüssiger Farbe gemalten Malerei. Und einen Touch von »Malen nach Zahlen« hat sie wohl auch ...
Aus einem Ausschnitt meiner »Vektor-Malerei« entsteht dann noch ein Plakat. Hier eher als dekoratives Muster verwendet. Dabei kommen die einzelnen Linien und Flächen als selbstständige grafische Elemente noch besser zum Tragen, da sie nun für sich stehen und nicht nur Teil einer Gesamtkomposition (des Gesichtes) sind. Die Farben und Formen an sich treten in den Vordergrund. 149
Sail to the Moon Nach der ersten gelungenen Interpretation versuche ich mich an einem zweiten Dachziegel-Gemälde und verwende dafür einen neuen Ausschnitt der fotografierten Dachziegel. Zuerst gedanklich wieder am Strich von Vincent van Gogh orientiert, hangele ich mich von Variante zu Variante weiter ...
... zuerst arbeite ich wieder an der Farbstimmung ...
... dann setze ich auf die für mich theatralisch spannendste Stelle des Berges eine Person, die im wahrsten Sinne des Wortes »entrückt« auf dem Gipfel steht. Die Person nimmt die Bewegung des Bildes (welche in die rechte obere Ecke fließt) auf ... ... dann wird es Nacht ...
... die Sonne geht auf ...
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... und dann kommt der Mond ... und es scheint meinen Protagonisten in den Himmel zu ziehen. »Sail to the Moon« (eigentlich ein Lied von »Radiohead«) wäre ein passender Titel dafür. Aus einem Stapel scheinbar banaler Dachziegel ist ein intensives Gefühlsbild entstanden. Es bestätigt mich einmal mehr, dass man »im Kleinen das Große« sehen kann. Ein neuer Mikrokosmos hat sich aufgetan.
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