MÖBELMARKT 01/2017

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01/2017

International Interior Business Magazine

imm cologne/LivingKitchen: 360 Grad Einrichten Customizing: Wie das Ende der Trends das Massen-Design verändert Eröffnung in Pulheim: Segmüllers „Verkaufsmaschine 4.0“ läuft an

Organ des Europäischen Möbelhandels


Mit Freu(n)den arbeiten Die Arbeit lieben, mit Freunden arbeiten und in kritischen Zeiten umsteuern – wie das gelingen kann, hat Gerd Bissinger mehrfach in seinem Leben gezeigt. Zuletzt 2014, als er den Vertrieb von Koinor komplett neu ausrichtete und wieder zum Erfolg führte. Was den geschäftsführenden Gesellschafter des oberfränkischen Unternehmens außerdem umtreibt, hat er in einem persönlichen Gespräch erzählt. Von Karin Henjes Als der unternehmungslustige Endvierziger Gerd Bissinger 1992 zu Koinor kam, stand es nicht gut um die Polstermöbelfirma in Michelau. Die Umsätze waren schlecht, Tendenz abwärts. Doch Gerd Bissinger ließ sich nicht beirren und kaufte Firmenanteile. „Ich kümmerte mich gar nicht lange um den Preis“, erinnert sich Bissinger. „Die Firma gefiel mir, und die damalige Kollektion sah ich als Herausforderung.“

Polstermöbel lieben lernen: Die Zeit vor Koinor Gerd Bissinger kam damals vom Polstermöbelunternehmen Himolla in Taufkirchen. 23 Jahre war er dort gewesen, die meiste Zeit als Marketing- und stellvertretender Vertriebsleiter. Nach den Plänen seines dortigen Förderers hätte Bissinger zu diesem Zeitpunkt die Nachfolge des legendären Vertriebsleiters Rolf Herrmann antreten sollen. Bissinger war extra von München nach Taufkirchen gezogen, seine damalige Frau hatte ihren Beruf als Dekorateurin im edlen Geschäft Beck am Rathauseck aufgegeben, und sie hatten eine Tochter und einen Sohn. Doch die Situation bei Himolla hatte sich am Schluss grundlegend geändert. Ein

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neuer Geschäftsführer war ins Haus gekommen. Von alten Abmachungen war plötzlich keine Rede mehr. Also tat Gerd Bissinger das, was er in seinem Leben immer wieder tun musste: den Plan ändern. Nach 23 Jahren Treue zu Himolla machte er sich auf die Suche nach einer neuen Wirkungsstätte. Er bekam viele Angebote, doch Koinor gefiel ihm am besten. Sein Herz schlug längst für Polstermöbel – obwohl er eigentlich aus der Auto­zulieferung kam. Geboren in Neuötting und aufgewachsen in München, hatte der junge Gerd eine Lehre als Großhandelskaufmann im Bereich Autozulieferung gemacht. Mit dieser Kompetenz und mit seinem Faible für Mathematik und Zahlen hätte er eigentlich die berufliche Nachfolge in der Agentur seines Vaters in der Autozulieferindustrie antreten sollen. Doch dieser starb früh, sodass Bissinger umdisponieren musste. Er war in verschiedenen Unternehmen tätig, unter anderem für die Firma IOS. In dieser Zeit absolvierte er auch ein Abendstudium zum Betriebswirt. „Das waren harte Jahre“, erinnert sich Bissinger. Doch die Mühe zahlte sich aus: Als Gerd Bissinger bei Himolla eine Anlage von IOS verkaufen wollte, holte ihn der Himolla-Geschäftsführer Man-

Gerd Bissinger, seit 1992 geschäftsführender Gesellschafter von Koinor.

fred Becker gleich mit ins Boot. „Ich habe unendlich viel von ihm und Hans Ascher gelernt“, erinnert sich Bissinger dankbar. Wie sehr er sich damals bei Himolla wohlfühlte, sieht man daran, wie begeistert er davon spricht. Überhaupt lacht und lächelt Gerd Bissinger viel, wenn er aus seinem Leben erzählt. Er macht den Eindruck eines Menschen, der mit seinem Werdegang im Reinen ist. Kein das Un- ganz lesen? Wunder Den –Artikel ternehmen Koinor steht spätestens Dann klicken Sie hier seit Mitte 2015 nach schwierigen Jahren wieder sehr gut da.

„Ich sah die Kollektion von Koinor als Herausforderung.“ Schon bei Himolla wurden Polstermöbel zu Gerd Bissingers großer Leidenschaft. Bei Koinor konnte der Manager mit dem Sinn für die richtigen, marktgängigen Formen diese Hingabe noch freier leben. „Die Kollektionsgestaltung hat mir immer am allermeisten Spaß gemacht,“ sagt Gerd Bissinger. Noch jetzt kann er alle Sofas, die für den Werdegang von Koinor maßgeblich waren, aufzählen: „Messina“, „Rossini“, „Volare“ – und, mit kindlicher Freude: die Neuentwicklung „Free Motion“.

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„Diese Kombination von Funktionen bieten nur wir“, ist sich Bissinger sicher. „Die Idee, die Sitze auf einer Plattform zu platzieren und die Möglichkeit, sie zu verschieben und auch schräg zueinander zu stellen, bietet außer uns niemand. Wir haben ein Patent darauf angemeldet.“ Diese Begeisterung fürs Produkt und die konsequente Integration neuester Relaxfunktionen in die Kollektion sind ein weiterer Grund für Gerd Bissingers positive Bilanz. Gerne überlegt er, welche Designer entscheidend zu den größten Modell-Erfolgen beigetragen haben. Die ersten Jahre war es HausDesigner Wolfgang „Moses“ Gebert. Modelle wie „Messina“ und „Genua“ entstanden mit ihm. Mit Cynthia Starnes als Hausdesignerin wurde „Volare“, das erfolgreichste Modell von Koinor, im letzten Jahrzehnt geboren. Die zunehmend designbetonte Linie wurde ab 2000 durch Kurt Beier – mit Modellen wie „Rossini“, „Rivoli“, „Raoul“ und „Avanti“ geprägt und brachte Koinor weiter voran. Die heutige InhouseDesignerin Tamara Härty schätzt Bissinger ebenfalls hoch, sowohl wegen ihrer ganz eigenen gestalterischen Handschrift als auch wegen ihrer Fähigkeit, die Vorstellungen anderer in erfolgreiches Design umzusetzen.

maßgeblich für den Kollektionserfolg. Seinem Faible für schöne Leder konnte Bissinger voll nachkommen. Jährlich zwei bis drei Reisen nach Arzignano, ins Zentrum der europäischen Leder-industrie, gehörten zu seinen wichtigen Aufgaben. Dort tätigte er Lieferabschlüsse für die 600.000 Quadratmeter, die Koinor jedes Jahr verarbeitet. Gerd Bissiner liebte es, neue schöne Leder und Farben zu entdecken – schließlich zeichnet sich die Koinor-Kollektion dadurch aus, dass neben Standard-Ledern sehr viele hochwertige, naturbelassene Leder verarbeitet werden. Selbst das beste aller Polsterleder, ein 3 – 5 mm dickes Bullenleder, kommt zum Einsatz, worauf Bissinger besonders stolz ist.

„Sofas for Friends“: Die Idee der Freundschaft in die Welt tragen Überhaupt, die Menschen bei Koinor. Sie liegen Gerd Bissinger sehr am Her-

zen. Mit Michael Schulz, seinem Mitgeschäftsführer, verbindet ihn eine enge Partnerschaft. Schulz ist mit seiner konsequenten Art, betriebliche und produktionstechnische Dinge zu lösen, und mit seinem umfassenden rechtlichen Wissen für Bissinger der ideale Partner. Gemeinsam setzten beide vor 15 Jahren auf „Made in Germany“ und bauten eine hochmoderne Fabrik nach Feng-Shui-Gesichtspunkten, um diesen Gedanken in die Welt zu tragen. Dazu gehörte auch die Markenbildung mit Katalogen und Anzeigekampagnen – und mit geeigneten Studiokonzepten für den Handel am ‚Point of Sale’. Wichtig war für Koinor auch die Präsenz auf internationalen Messen – insbesondere in Köln und Mailand. Vor allem durch Mailand gab es immer wieder neue Impulse für die Kollektion. Gerd Bissinger ist noch heute begeistert von der Atmosphäre in den Mailänder Hallen und den vielen internati-

onalen Besuchern. Viele wichtige Kunden wurden über die Präsenz in Mailand gewonnen, sodass Koinor heute in mehr als 40 Ländern zu finden ist. Zusammen mit Hans-Joachim Feddern, Exportleiter Übersee, bewirkte Bissinger, dass der AsienExport inzwischen 10 Prozent des Umsatzes von Koinor ausmacht. Die Abendessen mit Geschäftspartnern aus Japan, Korea, China und vielen anderen Ländern gehören jährlich zu den Messehöhepunkten. „Messen sind einfach die ideale Möglichkeit, Kontakte zu pflegen und neue Freunde zu gewinnen“, so Gerd Bissinger. Auch und insbesondere mit vielen Mitarbeitern fühlt Gerd Bissinger sich

Die Kollektionsgestaltung gehört zu den Lieblingsaufgaben Bissingers. Sofa „Raoul“ hat für ihn eine Schlüsselrolle – die extreme Bodenfreiheit hielten viele für unverkäuflich, doch „Raoul“ wurde zum Bestseller und steht auch bei Bissinger daheim. Fotos: Koinor

„Und das hier, das Modell ‚Francis‘, ist aktuell unser verkaufsstärkstes Modell“, sagt Gerd Bissinger, auf ein Prospekt deutend. Rainer Thiele, seit April 2015 Geschäftsführer und designierter Nachfolger von Gerd Bissinger, hat sich also ebenfalls schon um ein TopProdukt verdient gemacht. Doch nicht nur das richtige Design ist wichtig, auch Bezugsmaterialien sind

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freundschaftlich verbunden. Und anders, als man es bei dem eher zurückhaltenden Gerd Bissinger vielleicht denken würde, feiert er gern mit seiner Belegschaft. Auf Nachfrage fallen ihm viele Beispiele ein, wie das 50-jährige Firmen-Jubiläum mit dem Schlagerstar Costa Cordalis oder die fröhlichen Motto-Feste, die man seit 2000 in den zwei Höfen des neu errichteten Produktionsgebäudes feierte. Der Claim, den Bissinger damals in das Unternehmen trug, war damit längst Programm: „Sofas for Friends“.

ging es mir noch viel mehr um die Sache. Welch eine große Rolle die Menschen spielen, habe ich dann aber mehr und mehr gelernt.“ Ein eher zurückhaltendes Naturell zu haben, scheint für eine Karriere als Firmenlenker nicht abträglich zu sein – sofern man die richtigen Menschen um sich herum hat. Und solange man ehrgeizig ist. Fragt man Gerd Bissinger, was ihn treibt, so sagt er geradeheraus: „Ich denke, es ist richtig, von mir zu sagen, dass ich ehrgeizig bin. Das habe ich auch im sportlichen Bereich unter Beweis gestellt. Ich spiele schon seit vielen Jahren und bis heute auf hohem Niveau regelmäßig Tennis. Mein zweiter Lieblingssport ist Schach.

Dass Freude und Leid in menschlichen Beziehungen eng beieinanderliegen, hat Gerd Bissinger in seinem Leben des Öfteren erfahren müssen. NichtDen Artikel ganz lesen? nur, als er viel zu früh seinen Vater, sei- Dem Schachspielen ist es vielleicht Dann klicken Sie hier ne Mutter und seine Schwester verlor. auch zu verdanken, dass Gerd BissinSondern auch bei Koinor. Ganz beson- ger Koinor lange Jahre mit ruhiger ders beschäftigt ihn der Tod von Ver- Hand und Beharrlichkeit erfolgreich ins triebsleiter Manfred Seus. Mit großem dritte Jahrtausend führte. Doch dann Bedauern und in zutiefst freundschaft- gab es einen Punkt, an dem klar wurlicher Gesinnung spricht er von dem de, dass Koinor dringend eine neue schweren Verlust des Manfred Seus, Ausrichtung braucht. Das Fühder am 29. März dieses Jahres starb. rungsteam entwickelte eine neue Strategie – mit weniger und aktiveren Partnern. In einer beispiellosen Aktion Tennis, Schach, Business: handelte Bissinger mit allen Partnern Erfolgsmotor Ehrgeiz neue Verträge aus. „Das erste Halbjahr Redet man mit Gerd Bissinger über 2014 war hart“, erinnert er sich. „Aber wichtige Führungsqualitäten, so kann seitdem sind wir wieder sehr erfolgman durchaus ins Diskutieren kom- reich.“ Dazu hat auch eine zweite men. Ein Firmenchef müsse doch grundsätzliche Veränderung beigetrawohl eher durchgreifen, als in der Be- gen. Die Zulieferer finden sich nicht legschaft zwischen verschiedenen Po- mehr nur im regionalen Bereich, sonsitionen und Menschen auszugleichen. dern Gestelle und Schäume werden inNein, das findet Gerd Bissinger nicht. zwischen auch in Polen gefertigt. Auch „Ich denke schon, dass ich eher eine auf hohem Qualitätsniveau, aber eben ausgleichende Rolle im Unternehmen nicht in Deutschland. Selbst die deutinnehabe. Früher, als ich noch jünger sche Belegschaft weiß dies allerdings war, da war das vielleicht noch etwas laut Bissinger inzwischen zu schätzen. anders“, räumt Gerd Bissinger ein, „da Zum Beispiel, wenn – wie zuletzt häufi-

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ger geschehen – mehr Polstermöbel geordert werden als in Michelau von Grund auf produziert werden können.

„Seid mutig, entscheidungsfreudig und schnell!“ Seitdem ist Gerd Bissinger mit einer der wichtigsten Aufgaben eines guten Unternehmers beschäftigt: damit, die Firma Koinor in die richtigen Hände zu geben und sie in eine gute Zukunft zu führen. Mit Rainer Thiele, der die Aufgaben von Gerd Bissinger bereits zu einem Großteil übernommen hat, habe er „einen idealen Nachfolger gefunden“, so Bissinger. Aktuell ist er außerdem dabei, einen neuen Geschäfssührer zu installieren, um das Unternehmen ganzheitlich in eine neue IT-Struktur zu überführen, in der alle Arbeitsprozesse nahtlos ineinandergreifen. „Hierfür arbeiten wir bereits an einer Lösung“, sagt Gerd Bissinger. Bis diese implementiert ist, steht Bissinger seinem Kompagnon Michael Schulz – „Micha“ – noch freundschaftlich zur Seite. Die beiden möchten gemeinsam aufhören. Geplant ist das für 2017. Langweilig wird es Gerd Bissinger auch nach dem Firmenaustritt nicht werden. Aktuell ist er täglich mindestens bis mittags im Büro. Er erledigt immer noch klassische ManagementAufgaben und kommuniziert nach wie vor gerne mit den Mitarbeitern. Früher hat der leidenschaftliche Leser die gesamte Bibliothek im Dorf seiner Großmutter leer gelesen. Heute lässt er sich immer noch gerne von Büchern inspirieren und trägt dann auch gern mal – wie für die neueste Ausgabe der Koinor-Mitarbeiterzeitschrift geschehen – literarische Zitate weiter. In die-

sem Fall aus den „Schriften von Accra“ von Paulo Coelho. Die Botschaft Coelhos, dass man die Arbeit zu einer Liebesgabe an die Mitmenschen machen kann, könnte auch von Bissinger selbst stammen. Typisch, dass er seine Mitarbeiter im gleichen Editorial zur spirituellen Suche ermuntert und ihnen ein Buch von Coelho schenken möchte. Schon jetzt gestaltet Gerd Bissinger aktiv seinen Rückzug. Er fährt etwas öfter in den Urlaub. Macht mit seiner Enkelin ein tolles Sommer-Ferienprogramm. Und teilt mit seiner Partnerin die Leidenschaft fürs Sudoku und die Wochenend-Rätsel der Süddeutschen Zeitung. „Jedes Rätsel wird gelöst, egal wie lange das dauert“ – auch hier Sportsgeist. Seit einigen Jahren spielt Gerd Bissinger zudem Golf. „Ein Sport, den ich lange unterschätzt habe“, sagt er. „Hier einstellig zu werden, ist das Ziel für die nächsten ein, zwei Jahre. Nicht einfach, denn es ist ein Sport, den ich lange unterschätzt habe.“ Eine Frage noch zum Schluss. Was möchte Gerd Bissinger jungen Geschäftsführern mit auf den Weg geben? „Mit zunehmendem Alter und wachsender Erfahrung neigt man dazu, Entscheidungen kritischer zu prüfen und hinauszuschieben – aus Angst davor, Fehler zu machen. Aber wir leben in einer Welt, in der erfolgreiche Unternehmen mit raschen Veränderungen, Innovationen, Vermarktungs- und Produktionsideen punkten müssen. Deshalb kann ich nur dazu raten, mit Mut Entscheidungen zu treffen und nötige Veränderungen einzuleiten. Meist werden wir mit positiven Ergebnissen belohnt und gewinnen neue Perspektiven, neue Freude und neue Freunde.“

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Das Ende der Trends ...

... und wie es das Massendesign verändert

Es ist noch gar nicht lange her, da konnte man über eine Messe gehen, und hinterher wusste man ziemlich genau, was demnächst in den Einrichtungshäusern stehen wird. Bei den Kastenmöbelherstellern sah man stark gemaserte Holzoberflächen, die Polstermöbelhersteller kleideten ihre Sofas geschlossen in Grau oder die Tische bekamen Übermaße. Diese großen Trends gab es insbesondere in den Hallen, in denen Möbel des unteren und des mittleren Marktsegments ausgestellt wurden – dort, wo das Massendesign zuhause war. Solch konkrete Material-, Farb- und stilistischen Trends werden wir auf der imm cologne 2017 und auch auf allen anderen Messen nicht mehr finden. Doch wie schaffen es die Hersteller, immer individuellere – am liebsten pro Komission maßgeschneiderte – Möbel herzustellen? Und welche Entwicklungen in Sachen Massendesign erwarten die Zukunftsforscher? MÖBELMARKT-Redakteurin Karin Henjes hat sich umgehört.

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Foto: Vente Privee

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Segmüllers

Zugespitzte Prinzipien, Tabu-Brüche und Kompromisse in Pulheim (von links): die erste große Eröffnung von Florian, Andreas und Johannes Segmüller (ganz rechts), im Foto mit Hausleiter Jürgen Hallbauer (2. von rechts). Fotos: Segmüller, Schultheiß

„ Verkaufsmaschine“ der nächsten Generation Über eine Milliarde Umsatz mit nur sieben Möbelhäusern und einer eigenen Polstermöbel-Fabrik – und mit seiner Flächenleistung die Nummer 1 unter den Palästen: Mit ihrer „Verkaufsmaschine 4.0“ in Pulheim treibt die neue Generation um Johannes, Andreas und Florian Segmüller die ehernen Prinzipien dieses einmaligen Erfolgs in Zeiten der Digitalisierung noch drastisch auf die Spitze: Der erste Friedberger Gigant jenseits der Main-Linie, mit über 150 Millionen Euro zugleich der teuerste in der Geschichte von Segmüller, ist trotz dem in letzter Minute drohenden Baustopp am Netz: Gedrosselt auf 30.000 Quadratmeter, dafür aber mit einer umso besseren Mannschaft. In Pulheim sprach Gerald Schultheiß mit Geschäftsleitungs-Sprecher Reinhold Gütebier über die Erfolgs-Prinzipien der nächsten Generation und ihre Strategien, die Herausforderungen am neuen Standort positiv zu nutzen. Sowie darüber, warum Segmüller selbst trotzdem – noch – nicht von einer neuen „Verkaufsmaschine“ sprechen will.

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Am 14. Dezember war es letztlich doch bundesweiten Bekanntheit beiträgt, soweit: Knapp eine Woche verspätet wie Reinhold Gütebier bilanziert. startete Segmüller seine gedrosselte neue Verkaufsmaschine. Denn weil das „Für die Präsentation haben OVG Münster erst am 2. Dezember wir hier nochmals deutlich den drohende Baustopp vorrangig we- mehr Geld ausgegeben.“ gen des Schutzes der über 400 neuen Arbeitsplätze abgewiesen hatte, ver- Hatte der wortgewaltige Gesamt-Verschob Segmüller die für 8. Dezember triebschef in Weiterstadt bereits in der geplante Eröffnung wegen der kurzen Eröffnungsrede klar den Anspruch forVorlaufzeit für seine Werbung. muliert, dort das „umsatzstärkste MöDabei ist der erste neue Gigant seit der belhaus Deutschlands“ zu präsentieEröffnung der legendären Verkaufsma- ren, so hängt im Raum Köln zunächst schine in Weiterstadt vor über zwölf die Latte niedriger: „Wir kommen hier Jahren wie diese auf 43.000 qm Ver- mit Null-Bekanntheit an und starten kaufsfläche ausgelegt. Jenseits seiner daher mit ganz anderen VoraussetzunDrosselung um 13.000 qm und jener gen. Weshalb wir hier auch nicht so der Fachsortiments-Fläche auf 1.500 viele Mitarbeiter eingestellt haben wie qm aber setzt auch Pulheim mit seiner z.B. in Weiterstadt und auch mit ganz Konzeption wieder ganz neue Maßstä- anderen Umsatz-Erwartungen kombe. Die architektonischen Highlights men“, erläutert Gütebier. Den Artikel ganz lesen? sind u.a. die Event-Arena vor dem Por- Zwar ist Segmüller dafür berüchtigt, Dann klicken Sie hier tal und die futuristische Spindel. besonders viel zu säen, um entsprechend viel zu ernten. „In Pulheim ha„Eckpfeiler 1 – ein richtungsben wir trotz der neuen Situation nicht mehr gesät – im Gegenteil: Wir möchweisendes Haus, das dieses ten nicht überfüttern, sondern sehr ,Will haben‘-Gefühl erzeugt.“ fundamentiert starten und auf dieses Da Segmüller zuvor immer nur dort Gi- Fundament solide aufbauen. Zumal wir ganten aus dem Boden gestampft hat, 14 Tage vor der Eröffnung die Bremse wo das Unternehmen seit jeher be- etwas anziehen, die komplette Eröffkannt war, starteten diese stets fulmi- nungs-Werbung umswitchen und dann nant. Pulheim brach damit mit einem mit dem leben mussten, was noch Tabu: Erstmals öffnete ein Haus außer- machbar war“, schildert er. So musste halb der angestammten Bekanntheits- u.a. das geplante Eröffnungs-Highzone. Zumal auch der Web-Shop da- light, ein Auftritt des neuen Testimoniheim.de von Segmüller bisher noch als Thomas Gottschalk mit Chören, nicht wesentlich zur Steigerung der „Weihnachtsmann“ Toni Schumacher

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Reinhold Gütebier: „Ich sehe eine Riesen-Chance: Wir werden uns völlig neu aufstellen und dadurch in der Lage sein, bundesweit zu expandieren.“

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Wertige Materialien, Licht und Luft: Der enorme Spagat vom Hochwert-Bereich (Foto) bis zum einfachen Preiseinstieg wurde optisch noch deutlich verstärkt. und den Höhners, verschoben werden. „Der Eckpfeiler Nummer 1 für Pulheim ist ein richtungsweisendes Möbelhaus, das über die Waren-Präsentation und die damit verbundenen Stimmungen beim Kunden das ,Will haben‘-Gefühl erzeugt“, beschreibt der Vertriebschef die Positionierung. „Die Grundkonzeption ist à la Weiterstadt, aber diesen ,Will haben‘-Effekt haben wir nochmals deutlich weiterentwickelt und verstärkt – insbesondere durch die Art und Weise der Präsentation, vor allem einhergehend mit Beleuchtung: Neben der Grundbeleuchtung haben wir keine Kosten und Mühen gescheut, weitaus stärker noch als bisher indirekte Beleuchtung zu schaffen – durch Hänge-, Steh oder Tischlampen“, führt er aus. Ausgefallene Leuchten, die teilweise nicht zum Sortiment gehören und – ganz in Segmüller’scher Tradition – auch alle eingeschaltet sind.

„Ziel Nummer 2 – eine so intensiv ausgebildete Mannschaft, wie nie dagewesen.“ Ebenso wurde der Spagat zwischen Konsum und Marke noch deutlich verstärkt. Über die generell aufwändige Waren-Präsentation hinaus sind in den Hochwert-Bereichen spezielle DekoElemente und Highlights eingeflossen wie Glaskuben oder viel Grün, ergänzt durch detailbesessene Dekoration. Im Konsumbereich wurde der Warendruck über eine noch extremere Präsenz der Ware deutlich gesteigert. Und dazu gefühlt die in der Tradition von

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Emotionsgeladene Lichtinszenierung im Dschungel: Pflanzen-Highlights und die extrem aufwändige Beleuchtung schaffen eine überaus angenehme Wohlfühl-Atmosphäre.

Glas-Kuben mit „Grün“, extravagante Lampen und sehr stimmungsvolle Leucht-Displays – beim „Will haben“-Gefühl setzt Segmüller ganz neue Maßstäbe.

Eine detailbesessene, einzugsfertige Dekoration – hier im Kleiderschrank und auf der Hobelbank mit Werkzeug, Farbtöpfen, Lappen und echten Hobelspänen.

Interaktive Orientierung, Guided Selling, digitales StoryTelling und Smart Home: Auch Technik soll den anvisierten „Will haben“-Effekt zusätzlich potenzieren.

„Sappralot – der Segmüller“. Auch das fortentwickelte Bedienungs-Restaurant setzt bis zum Dirndl auf „BlauWeiß“. So wie die 1.500 qm-SpieleWelt, die ihresgleichen sucht, Pumuckl gewidmet ist. Die Garnituren, DiningSofas und Polsterbetten aus vollstufiger eigener Fertigung in Friedberg spielt Segmüller im Rheinland allerdings weitaus offensiver, als bisher: „Polstermöbel aus eigener Produktion in Bayern sind ein riesiges Pfund“, betont der Vertriebs-Chef. Dabei hat sogar das neue Promi-Gesicht für 2017 bayrische Wurzeln. „Ein Testimonial tut uns hier in Pulheim gut. Und mit Thomas Gottschalk haben wir eines, das für unsere Zielgruppe zwischen 30 und 60 Jahren noch Kult ist und unseren Anspruch hier, ,Bayern trifft Köln‘, perfekt verkörpert“, freut er sich. Obwohl er einräumt, dass Pulheim – gerade psychologisch – eben nicht Köln ist. „Wenn wir hier etwas gewinnen wollen, müssen wir Köln zu uns holen. Das wird uns auch gelingen“, ist Gütebier dennoch überzeugt. Trotz allem will er aber nicht von einer neuen „Verkaufsmaschine“ sprechen: „Die ,Verkaufsmaschine Segmüller’ ba-

letzten zwölf Monaten mehr als gut“, bilanziert Gütebier. „Aber Marktführerschaft streben wir mit den stationären Standorten an. Wir würden aber nicht herkommen und sagen: Mit einem 30.000er streben wir die Marktführerschaft in NRW an. Wir werden aber sehr gut beobachten, wie sich das hier entwickelt – und das jüngste Kind bedarf immer der meisten Pflege.“ Auch wenn der Kuchen mit Porta, Hausmann, Höffner, Flamme, Ikea, Polster Trösser, Meda Küchen, Mambo, Boss & Co. verteilt ist: Reine Verdrängung sieht er in dem Markteintritt nicht: „Segmüller kommt zwar hierher mit einer sehr eigenwilligen und sehr intensiven Werbung. Da daraus resultierend auch unsere Wettbewerber sehr intensiv werben, werden wir alle gemeinsam daraus mehr Markt machen – und nicht Verdrängung.“ Wie Pulheim letztlich aus den Startlöchern komme, lasse sich schwer einschätzen: „Wir kennen diese Größenordnung nicht. Die zweite Unbekannte ist, wie sich der riesige Medienrummel um einen möglichen Baustopp kurz vor der Eröffnung auswirkt. Dies könnte dazu führen, dass noch mehr Men-

Mit nur einem Schritt am Bett oder Schrank: Pulheim setzt diese Tradition noch konsequenter um – was die Präsenz der konsumigen Ware extrem steigert.

Segmüller verwurzelte kritische Grenze u.a. mobiles „Guided Selling“ weiter von maximal zwei Schritten bis zum ausgerollt, um auch Beratungszeiten Bett oder Sofa noch unterschritten. Die zu verkürzen. Technik ist auch über wechselnden Fußboden-Beläge und das Thema „Smart Home“ fast überall die konträre Art von Präsentation und präsent – wobei die Verkäufer auch daLadenbau ziehen eine unverkennbar rauf wie noch nie geschult wurden. klare Demarkationslinie zwischen Ein- Denn die Zielsetzung Nummer 2 war: fachem und Bestem. „Eine Mannschaft wird so intensiv ausNicht von ungefähr ist Pulheim auch gebildet über Monate, wie nie dagewebezüglich Ladenbau und Präsentation sen bei Segmüller. Um zu gewährleisbislang das teuerste Haus in der Ge- ten, dass wir hier mit einem Team an schichte von Segmüller: „Wir haben für den Start gehen, das in jeder Hinsicht die Präsentation hier nochmals deut- über eine Qualifikation und Kompetenz lich mehr ausgegebenen, als in der verfügt, als hätten wir schon Routine Vergangenheit. Im Zweifel gehtArtikel es im- ganz über einlesen? Jahr“, betont Gütebier. Den mer um den ,Will haben‘-Effekt – dazu Dann klicken Sie hier muss man bereit sein, Geld auszuge- „Eckpfeiler Nummer 3 – ben“, unterstreicht Gütebier. Was bis wir werden das freundlichste zum 6.000 Euro-Teppich unter der Ess- Handels-Haus hier sein.“ gruppe einer Marken-Koje reicht. Dabei schreckten Wettbewerber schon Dazu wurden die Mitarbeiter intensivst in der Vergangenheit vor den enormen geschult und in Bestandshäusern einKosten eines Ladenbaus und einer gearbeitet. Wofür ein Zentrum mit 40 Präsentation à la Segmüller zurück. Schulungsräumen gemietet, 40 MitarDigitale Medien potenzieren nicht zu- beiter intensivst zu Referenten ausgeletzt über Segmüller TV überall da, wo bildet und jedem Mitarbeiter eigens es Geschichten zu erzählen gibt, das geschulte Paten in den Bestandshäu„Will haben“-Gefühl weiter. So zeigt ei- sern zugeordnet wurden. „Dafür haben ne Screen-Wall in der Teppich-Abtei- wir insgesamt 22.800 Übernachtungen lung, woher die Ware kommt oder wie gebucht und eigens eine Abteilung geknüpft wird. Digitales Story-Telling ,Reisebüro’ gegründet“, unterstreicht soll weiter ausgerollt werden. der Vertriebschef. Auch die Industrie Auch darüber hinaus bietet das laut habe „toll mitgezogen“. Segmüller „modernste Möbelhaus „Der dritte Eckpfeiler ist, dass wir in Deutschlands“ digital alles, was Kun- dieser Gegend das freundlichste Handen heute voraussetzen – vor allem zur dels-Haus sein werden. Alle Kunden Orientierung und Verkaufs-Unterstüt- sollen begeistert sein: Das gibt es zung: Ein Digital Signage-Leitsystem doch gar nicht, dass man so freundlich lotst interaktiv durch die 30.000 qm empfangen und bedient wird“, formuAusstellungsfläche, im Verkauf wurde liert er den Anspruch.

Während die drei in etwa gleich großen Giganten in Parsdorf, Friedberg und Weiterstadt bis zu den Etagen, Abteilungen und Sortimenten absolut vergleichbar sind, musste dieses eherne Erfolgs-Prinzip in Pulheim nun erstmals auf 30.000 qm herunter gebrochen werden. „Das Erfolgs-Prinzip vom einfachen Preiseinstieg bis zum Besten findet hier genauso statt wie in den größeren Häusern. Wegen der reduzierten Fläche ist die Auswahl aber entsprechend kleiner, wobei wir aus unseren mittelgroßen Häusern Nürnberg und Mannheim einiges ableiten können. Und kein Schaden ohne Nutzen: Wenn ich weniger zeigen kann, muss ich die Top-Modelle präsentieren. Daher gibt es eine riesige Herausforderung für dieses Haus: Hier muss Waren-Management betrieben werden, wie in keinem anderen Segmüller-Haus zuvor; hier ist der Einkauf höchst gefordert, immer das Ohr am Gleis zu haben und top zu reagieren. Daher ist das kein Nachteil. Und wir sind nochmals mehr gefordert, eine Top-Mannschaft zu haben, um die fehlende Fläche zu kompensieren“, mahnt Gütebier.

„Hier muss Waren-Management betrieben werden, wie in keinem anderen Haus zuvor.“ Auch seine bayrischen Wurzeln pflegt Segmüller sogar westlich des Rheins – authentisch zwar, will sie aber nicht überstrapazieren. So heißt es nun auch in Kölle, „Da, wo das Möbel haust“ und

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siert auf über 40.000 qm. Wir bezeichnen unsere mittelgroßen Häuser Nürnberg und Mannheim auch nicht als ,Verkaufsmaschine’ – und hier liegen wir mittendrin. Da muss man abwarten – daher würde ich hier und heute dieses Wort nicht in den Mund nehmen.“ Dennoch biete diese neue 30.000erKlasse weitere Vorteile: „Bisher hatten wir den Giganten und das mittelgroße Haus. Jetzt haben wir noch einen 30.000er. Darin sehe ich eine riesige Chance: Wir werden uns völlig neu aufstellen und durch diese unterschiedlichsten Haustypen auch in der Lage sein, bundesweit zu expandieren.“ Wobei er unterstreicht, dass dafür Segmüllers Keimzelle, ein Innenstadt-Studio wie in Frankfurt oder Stuttgart, keine Option ist.

„Polstermöbel aus unserer eigenen Produktion in Bayern sind ein riesiges Pfund.“ Zumal es offline – anders als im Netz – nie Segmüllers Anspruch ist, einer von vielen zu sein; sondern da, wo man ihn kennt, der Marktführer. „Mit daheim.de entwickeln wir uns besonders in den

schen eine gewisse Neugierde haben: Da muss ich jetzt mal hin!“ „Es hat sehr lange gedauert von Weiterstadt hierher nach Pulheim – hier müssen wir Geschwindigkeit aufnehmen. Das wollen wir auch tun“, unterstreicht der Vertriebs-Chef.

„Wir haben nicht in erster Linie die große Umsatz-Zahl im Auge – das ergibt sich daraus von selbst.“ „Wir werden weiter expandieren, aber in aller Ruhe, und haben nicht in erster Linie die große Umsatz-Zahl dahinter im Auge – das ergibt sich daraus von selbst“, bringt er ein weiteres ErfolgsPrinzip auf den Punkt, dem Segmüller auch weiterhin treu bleibt. Zu Redaktionsschluss an Weihnachten stand der erwartete Vergleich mit Bergheim und Leverkusen noch aus. Wobei das OVG die Ablehnung des Eilantrags gegen die Baugenehmigung gerade damit begründet hatte, dass diese mit der Reduzierung der Verkaufsfläche den Forderungen beider Kläger im Wesentlichen bereits entsprochen habe.

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Verband der Europäischen Möbelindustrie (EFIC):

Eine lautere Stimme

Die EFIC-Generalversammlung am 12./13. ­Dezember in Paris verabschiedete u.a. folgende Punkte: 1. Strategie-Papier „EFIC 2020“ Sinn des Papiers ist die klare Ausrichtung des Verbandes in den nächsten Jahren, eine weitere Steigerung seiner Effizienz und eine Verbreiterung der Basis. Neben der Vollmitgliedschaft nationaler Möbelverbände wird es auch die Möglichkeit einer assoziierten Mitgliedschaft für einzelne Unternehmen oder Verbände außerhalb der EU/EEA geben sowie die Möglichkeit einer Partnerschaft für Zulieferverbände und -unternehmen. Die langfristigen Aufgaben der EFIC als Lobby-Organisation sind künftig übersichtlich in einer WachstumsAgenda zusammengefasst. Dazu findet im Juni 2017 in Brüssel ein großes Event statt.

Steigende Kosten in Fernost, Risiko-Management, wachsendes Werte-Bewusstsein und der immer wichtigere Faktor „Time to Market“ verlagern den Importdruck auf west- und mitteleuropäische Möbelhersteller aus Nicht-EU-Staaten tendenziell Richtung Osteuropa, wobei durchaus auch andere Produktions-Standorte profitieren. Diese Verschiebungen in der globalen und europäischen ProduktionsLandschaft machen eine ebenso starke wie effiziente Lobby-Arbeit in Brüssel gegen ungleiche ProduktionsBedingungen innerhalb der EU sowie für eine Harmonisierung des Binnenmarktes nur umso dringlicher. Über ihr „Manifest der Europäischen Möbelindustrie“ von 2015 hinaus will die Konföderation der Europäischen Möbelindustrie (EFIC) daher ihr Gewicht in Brüssel mit ihren Budapester Beschlüssen aus dem Herbst 2016 stärken und hat auf ihrer Generalversammlung am 12./13. Dezember in Paris u.a. ihre Strategie „EFIC 2020“ festgezurrt. Gerald Schultheiß zog mit EFIC-Präsident Markus Wiesner eine Bilanz der Entwicklung der europäischen Möbelindustrie und der Initiativen seines Verbands in Brüssel und sprach mit ihm über die jetzt beschlossene Offensive 2020.

MM: Herr Wiesner, mit positiven Erwartungen bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung der europäischen Möbelindustrie waren Sie ins vergangene Jahr gestartet. Haben sich diese Erwartungen erfüllt und wie hat sich die europäische Möbelindustrie im abgelaufenen Jahr ganz konkret entwickelt? Markus Wiesner: Wie es aussieht, können die für die Möbelindustrie prognostizierten Werte für 2016 übertroffen werden. So verzeichnet z. B. Deutschland im 1. Halbjahr einen Zuwachs von 4,2%, Belgien 3,2%, Frankreich 2,2% oder Österreich 6,9%. Die Stimmung in den Unternehmen ist gut – also gehen wir auch davon aus, dass das gesamte Jahr 2016 positiv verlaufen wird. MM: Die globale Möbelproduktion hatte nach dem Einbruch 2009 bis 2014 wieder stark auf 424 Mrd. Euro zugelegt. Ein Zuwachs, an dem Europas Hersteller bis 2015 nicht partizipieren konnten, da das Wachstum an Produktion und Konsum vor allem in China stattfand. Hat sich hier 2016 eine Trendwende angedeutet? Wiesner: Grundsätzlich hat sich an der Entwicklung, dass die Zuwächse hauptsächlich in Asien lukriert werden,

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nichts geändert. Mehr als 50% der globalen Möbelproduktion entsteht in Asien, allerdings sehen wir seit 2013 eine spürbare Abschwächung der chinesischen Exporte.

„Über 50% der Produktion entsteht in Asien, allerdings sehen wir eine spürbare Abschwächung der chinesischen Exporte.“ MM: Schwacher Euro, Kostensteigerungen u.a. in China, Hanjin-Pleite, Entwicklung in der Türkei etc.: Im letzten Jahr sind die MöbeleinkaufsKarawanen zumindest in bestimmten Produkt-Segmenten tendenziell wieder nach Europa zurückkehrt – gerade im Polsterbereich. Hat dieser Trend bislang und künftig aber auch ernstzunehmende Effekte auf die Entwicklung und die Situation der europäischen Möbelindustrie und ihre Außenhandels-Bilanz? Wiesner: All diese Entwicklungen führen dazu, dass „global sourcing“ risikoreicher gesehen wird. Zudem rücken Werte wie Qualität, Zuverlässigkeit und Nachhaltigkeit wieder stärker in den Vordergrund der Kaufentscheidung. Schließlich schafft auch die intensivere

2. Positions-Papier zur „Circular Economy“ In Vorbereitung auf den kommenden Diskussions-Prozess wurden in dieser Unterlage die wesentlichen Forderungen der Möbelindustrie zur „Circular Economy“ festgeschrieben.

Globalisierungs-Diskussion mehr Auf- besondere China, auf west- und merksamkeit gegenüber mitteleuropäische Produzenten ver Den Artikeleuropäischen ganz lesen? Produkten. lagert sich durch die Verschiebun Dann klicken Siegen hier in der globalen und europäiMM: Deutsche Möbelimporte aus schen Produktionslandschaft nur Asien, Afrika und Süd- und Mittel- regional. Weshalb dem Manifest der amerika sind im 1. Halbjahr 2016 EFIC von 2015, das von der EU eine leicht geschrumpft, ebenso jene aus Förderpolitik mit Augenmaß geforWest- und Mitteleuropa, während sie dert hat, eine noch höhere Bedeuaus der EU insgesamt leicht und aus tung zukommt. Gab es im laufenden dem übrigen Europa stark gestiegen Jahr in Brüssel schon Signale oder sind – wobei sich gerade bei Pols- Bewegung in dieser Richtung? termöbeln eine stärkere Verlagerung Wiesner: Nein nicht wirklich, weil die in Richtung Ausland bzw. Osteuro- derzeitige Förderpolitik auf vereinbarpa andeutet. Welche Produktions- ten Verträgen basiert, die nicht ohStandorte in Europa bzw. der EU ne weiteres aufgelöst werden können. könnten neben Osteuropa und dort Aber wir müssen darauf achten, was in insbesondere Polen noch besonders der Zukunft vereinbart wird. profitieren – letztlich sogar auch frü- Und wir müssen uns bewusst sein, her einmal sehr starke Produktions- dass sich hier zukünftige Absatzmärkstandorte wie Dänemark? te entwickeln. Wiesner: Profitieren werden jene Standorte bzw Länder, die sich in „Global sourcing wird irgendeiner Form klare Wettbewerbsvorteile erarbeiten können. Das kön- risikoreicher gesehen. Zudem nen entweder Kostenvorteile sein, aber rücken Werte wieder stärker auch bessere Strukturen oder ein bes- in den Vordergrund.“ serer Zugang zu Ressourcen, Technologien oder Innovationen. MM: Weitere Herausforderung ist die mangelnde Harmonisierung der MM: Der Importdruck infolge des Rahmen-Bedingungen für die Möungleichen Wettbewerbs mit Her- belproduktion in der EU infolge der stellern aus Nicht-EU-Staaten, ins- mangelnden Bereitschaft der Mit-

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3. Positions-Papier zum Thema „Holzstaub“ Die EFIC unterstützt bei der Revision der Grenzwerte die Position der EU-Kommission und des Rates für einen Grenzwert von 3 mg/cbm. Eine jetzt vom EUParlament diskutierte weitere Reduktion bis auf 1 mg/ cbm und darunter lehnen wir aus technischen und aus Kosten-Gründen ab. Die vielen kleinen KMU in unserem Sektor können das nicht leisten. 4. TBT notification CHN 1094-1095-1096 Mit diesen Normen macht China den Heimat-Markt für europäische Produkte weiter zu. Dazu wurden weitere Maßnahmen beschlossen, weil aus unserer Sicht die Kommission nicht mit der entsprechenden Vehemenz auftritt.

Markus Wiesner: „Wir können nur unsere Position verstärken, wenn die europäische Möbelindustrie mit einer Stimme spricht.“

gliedstaaten, sich auf gemeinsame Standards zu einigen. Nun hat sich Europa im abgelaufenen Jahr gerade im Rahmen der Flüchtlingskrise eher noch uneinheitlicher präsentiert. Wie bewerten Sie denn aktuell daher die Aussichten auf eine deutlich stärkere Harmonisierung? Wiesner: Momentan hat man durch-

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aus den Eindruck, dass regionaler Protektionismus sehr populär ist. Die nationalen Möbelverbände, die zusammen die EFIC bilden, haben aber ganz klar die Harmonisierung im Fokus, weil man erkannt hat, dass die nationale Zersplitterung die einzelnen Unternehmen unglaublich viel Geld kostet und Bürokratie bringt.

MM: Ein Beispiel ist die unüberschaubare Zahl unterschiedlicher Brandschutz-Normen. Hier hat die EFIC im letzten Jahr mit neun weiteren Verbänden eine neue Allianz gegen Flammschutz-Mittel in Möbeln und für eine Harmonisierung auf europäischer Ebene gestartet. Was sind die Strategien und ganz konkreten Ziele dieser Allianz und wie kommen Sie damit voran? Wiesner: Zuerst ist es einmal gelungen, die Frage zu diskutieren, wie effektiv Flammschutz-Chemikalien im Hinblick auf Brandschutz wirklich sind. Es ist auch gelungen zu verdeutlichen, welche massiv negativen Auswirkungen diese Chemikalien auf die menschliche Gesundheit und die Um-

welt haben. Man findet diese Chemikalien zwischenzeitlich nicht nur in Muttermilch, sondern auch im Polareis. Fakten, die abzuwägen sind. Im Wohnbereich haben wir die Situation, dass ganz Europa ohne besondere Vorschriften für Brandschutz auskommt. Völlig kontrovers ist die Situation in England und Irland. Wir betrachten die dortigen Vorschriften als Protektionismus und haben dagegen bei der Kommission Beschwerde eingereicht. Im Office- und öffentlichen Bereich ist die Situation eine andere. Hier sind die Anbieter konfrontiert mit einer Vielzahl unterschiedlicher nationaler Normen und unklaren gesetzlichen Vorschriften. Vielfach müssen Flammschutz-

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Chemikalien eingesetzt werden, um die Anforderungen zu erfüllen. In Zeiten, wo es kaum mehr ein Bürogebäude ohne Rauchmelder gibt, wo in öffentlichen Gebäuden schon lange Rauchverbote gelten, stellt sich für uns die Sinnfrage, ob Flammschutz-Chemikalien hier nicht mehr schaden als nutzen. Deshalb verlangt EFIC die Definition von Anforderungen, die die Verwendung von Flammschutz- Chemikalien vermeidet.

2020“ gearbeitet, die im Dezember anlässlich der GA in Paris beschlossen wurde. Betreffend Brandschutz-Chemikalien wurde der Beschluss gefasst, Beschwerde gegen UK und Irland bei der Kommission einzubringen. Die EFIC arbeitet weiters an einer gemeinsamen Position betreffend „circular economy“ und es wurden die nächsten Schritte in Bezug auf MES China und TBT China besprochen.

„Europäische Hersteller werden verpflichtet zu Standards, aber der Konsument darf das nicht wissen. Das ist inakzeptabel.“

„Die nationalen Verbände, die zusammen die EFIC bilden, haben ganz klar die Harmonisierung im Fokus.“ MM: Besonders am Herzen liegt Ihnen ein verpflichtender Herkunftsnachweis, ein „Origin Marking“, bei Möbeln. Bislang waren EU-Kommission und Parlament mehrheitlich dafür, der Rat überwiegend dagegen. Ist hier im letzten Jahr Bewegung in diese festgefahrene Situation gekommen und ein Ergebnis in Sicht? Wiesner: Der verpflichtende Herkunfts-Nachweis wird nach wie vor von einer Mehrheit im Rat blockiert. Dies ist unverständlich und inakzeptabel: Europäische Hersteller werden verpflichtet zu Qualitäts-Standards, zu Umwelt-Standards und zu SozialStandards, aber der Konsument darf das nicht wissen. MM: Die EU hat erkannt, dass Europas Möbelindustrie ein wichtiger Wirtschaftssektor ist – zumal die Kommission um Jean-Claude Juncker die industrielle Basis in Europa stärken und ausbauen will. Daher beschäftigt man sich in Brüssel mit Maßnahmen, wie man den Sektor unterstützen kann. Inwieweit bewegt sich Brüssel denn diesbezüglich in die richtige Richtung und inwieweit haben hier auch die Appelle und Vorschläge des Manifest der EFIC bereits Wirkung gezeigt? Wiesner: Wir haben zumindest einmal das Bewusstsein geschaffen, dass der Möbelsektor in Europa mit 1,1 Mio. Beschäftigten und 130.000 Unternehmen ein für die Beschäftigung und Kultur wichtiger Sektor ist. Konkrete Maßnahmen lassen noch auf sich warten. MM: Auch ein Grund, warum die EFIC ihr politisches Gewicht weiter stärken will? Derzeit repräsentiert

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MM: Global stellte Europa 2015 mit über 45% fast die Hälfte des weltweiten Möbelaußenhandels – 40 bis 45% aller Möbelimporte und 30 bis 35% aller Exporte, wobei über 85% der Ausfuhren auf den EU-Binnenmarkt entfallen. Wie könnten sich der Brexit und eine deutlich protektionistischere US-Politik auf Europas Möbelindustrien auswirken? Wiesner: Jede Form von Abschottung innerhalb entwickelter Volkswirtschaften mit ähnlichen Rahmenbedingungen ist grundsätzlich negativ für alle Seiten. Sichtbar und spürbar sind momentan nur die schlechteren Wechselkurse, aber man wird sehen.

„In Budapest wurde an der neuen Strategie „EFIC 2020“ gearbeitet, die im Dezember in Paris beschlossen wurde.“

Markus Wiesner:

MM: Und was sind denn Ihrer Meinung nach vor diesem Hintergrund die künftig interessantesten ExportMärkte außerhalb Europas? Wiesner: Für westeuropäische Produzenten sind es wieder die Märkte im CEE-Bereich, das Wachstum hat hier Den Artikel ganz lesen? wieder zugelegt. Natürlich der Mittlere Stimme Deshalb die Kom bekommen. Dann klicken Sie Osten hier und Asien – allerdings müssen munikations-Offensive in Richtung un- sich die Märkte dort stärker öffnen. serer Mitgliedsbetriebe und nach außen. Wir können nur unsere Position MM: Und Ihre Erwartungen an das verstärken, wenn die europäische Mö- neue europäische Möbeljahr 2017? belindustrie mit einer Stimme spricht. Wiesner: Trotz aller Unwägbarkeiten zeigt sich offenbar die Konjunktur roMM: Wie sehen diese Budapester buster als geplant, darum ist unser Beschlüsse der EFIC und ihre Ziele Ausblick positiv. eigentlich ganz konkret aus? Wiesner: In Budapest wurde haupt- MM: Herr Wiesner, ganz herzlichen sächlich an der neuen Strategie „EFIC Dank für dieses Interview!

„ Wir haben das Bewusstsein geschaffen, dass der Möbelsektor in Europa ein für die Beschäftigung und Kultur wichtiger Sektor ist.“ der Verband die Möbelindustrien in 15 EU-Staaten bzw. Nachbarländern und steht für 70% des Umsatzes von Europas Möbelindustrie. Und beim Vorstandstreffen in Budapest wurde eine neue Strategie zur MitgliederAkquise festgelegt und eine Kommunikations-Offensive gestartet. Wiesner: Ich denke, die EFIC ist eine sehr effizient arbeitende und von den EU-Institutionen anerkannte Organisation, aber wir müssen eine lautere

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MÖBELMARKT-Stand Internationaler BranchenTreffpunkt Traditionell ist unser – ganz lesen? Messestand Den Artikel gerade zur Mittagszeit – beliebter Treff Dann klicken Sie hier punkt der internationalen Möbelwelt. Bei Schäufele & Co. kann man sich hier in ungezwungener Atmosphäre bestens austauschen. Seit Jahren ein voller Erfolg! So freuen wir uns auch in 2017 auf all unsere Gäste aus dem In-und Ausland und die anregenden Gespräche mit Ihnen!

Stimmungsvoll geht es in das neue Möbeljahr. Wenn vom 16. bis 21. Januar mit dem Messe-Doppel imm cologne und LivingKitchen die wohl größte und ganzheitlichste Einrichtungsmesse in Köln wieder an den Start geht. 1.300 Aussteller aus 50 Ländern zeigen ihre Wohnideen aus der ganzen Welt und präsentieren die Neuheiten für die kommende Saison – für Sie perfekt in Szene gesetzt.

Passage zwischen den Hallen 10 und 11

MÖBELMARKT daily Ihre Messe-Tageszeitung Was läuft auf der Messe? Auch in 2017 produziert der MÖBELMARKT die offizielle Tageszeitung der imm cologne/ LivingKitchen. Von Messe-Montag bis Donnerstag informiert Sie der MÖBELMARKT daily – tagesaktuell – in zweisprachiger Fassung über das laufende Messegeschehen.

Die ersten neuen Möbel der Saison sind in Köln angekommen und auch die ausgefallenste „gute Stube“ der Domstadt, der historische Kronleuchtersaal, tief unter der Erde, wird dabei gemütlich. Foto: K. Jipp, Koelnmesse

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SCHULTER SCHLUSS für Komfort und Qualität

Dass Birkenstock bequeme Schuhe macht, die von Stars weltweit gehypt werden, weiß fast jeder. Dass sich hinter dem Namen „Birkenstock“ ein Konzern mit rund 3.800 Mitarbeitern, konsequent deutscher Produktion und Exporten in 90 Länder verbirgt, ist schon weniger bekannt. Ins Leben gerufen 1774, hat sich das Familienunternehmen einen ganz eigenen Geist aus Bodenständigkeit und Coolness, Herzlichkeit und Natürlichkeit bewahrt. Das Familienunternehmen ADA aus Anger in der Steiermark als damit seelenverwandt zu bezeichnen, ist sicherlich nicht übertrieben. Auch die ADA-Gruppe mit ihren gut 2.800 Mitarbeitern stellt Unverwechselbarkeit, ein nachhaltiges Denken und Naturnähe unter Beweis. Anlässlich eines Treffens zum Interview bei Birkenstock in Neustadt/ Wied im grün-hügeligen Westerwald zeigten die Chefs von ADA und Birkenstock, dass sie bestens gewappnet für die Vermarktung der Birkenstockbetten sind.

MÖBELMARKT: Wie entstand die Idee zum Birkenstock-Bett ? Oliver Reichert: Wir haben ja, als Erfinder des Wortes „Fußbett“, eine sehr enge Bindung zum Wohlbefinden von Menschen. Dazu zählt neben dem Gehen, Stehen und Laufen eben auch das Liegen – auch, weil das Thema „Schlaf“ immer mehr an Bedeutung gewinnt. Wir schlafen im Zweifel alle zu wenig und zu schlecht gebettet, und das will Birkenstock ändern – auf einem sehr kompetitiven Markt, der meist über den Preis funktioniert. Birkenstock ist für zwei Sachen bekannt, für Qualität und Funktion. Unter diesem Vorzeichen haben wir nach einem Partner für die Betten-Gestaltung gesucht. Wir als Familienunternehmen haben uns gefragt, welche Möbelfirma tickt denn ähnlich wie wir? Wo ist denn, außer bei uns, noch so ein gallisches Dorf? Wir sind dann in Graz bzw. im schönen Anger bei ADA fündig geworden. Mit einem Team, das ein

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Teil der Birkenstock-Familie geworden und Birkenstock zum Teil der ADAFamilie.

„Vom Fußbett zum Bett“ – unter diesem Leitsatz starten ADA und Birkenstock eine Allianz, die es so noch nicht gegeben hat. Sechs Betten, allesamt im Birkenstock-Spirit gestaltet und von ADA produziert, werden auf der imm cologne zu sehen sein. Wie es zu der Partnerschaft kam und warum sie so vielversprechend ist, verraten ADA-Vorstand Gerhard Vorraber und Oliver Reichert, CEO von Birkenstock, im exklusiven MÖBELMARKT Interview mit Karin Henjes.

Oliver Reichert: „Wir fragten uns: Welche Möbelfirma tickt denn ähnlich wie wir?“ MM: Wie wir gehört haben, plant Birkenstock weitere neue Produkte? Reichert: Ja, das ist Naturkosmetik. Auch ein Thema. Letztendlich genau das Gleiche wie das, was ich gerade über die Betten gesagt habe. Mit dem Unterschied, dass wir da keinen Partner im Markt gefunden haben, der das so sieht wie wir. Da produzieren wir in Deutschland unter eigener Führung und sind völlig autark.

MM: Aber bei diesen beiden Themen bleibt es erst einmal? Reichert: Ja, auch, weil wir unsere Kräfte realistisch einschätzen. Kosmetik und Schlafen, das sind zwei große Themen, mit denen wir da Gas geben. Aber da sind definitiv noch der Schreibtisch und Bürostuhl, die uns interessieren. Es gibt sehr viel teure Sachen im Markt, die aber ergonomisch nicht so sinnvoll sind. Und das ist es aber, was wir brauchen: gute, bezahlbare Produkte mit durchdachter Qualität. Ichlesen? bin der festen Überzeugung, Den Artikel ganz dass jetzt das Jahrhundert der Qualität Dann klicken Sie hier wahnsinniges Herzblut mit an den kommt. Die Leute sind durch das InterTisch bringt und Liebe zum Detail. Un- net gut informiert. Sie wissen, was gut sere ersten Meetings drehten sich nur für sie ist, aber sie brauchen die entums Produkt. Wir fragten uns, was für sprechenden Angebote. Betten und Matratzen wollen wir gemeinsam bauen, und da ist eben diese MM: Was bieten Sie denn mit den Blutsbrüderschaft entstanden, weil Birkenstock-Betten? man wirklich gemerkt hat: Okay, wir Reichert: Die Materialsprache ist eine sind vom Gleichen beseelt und wollen natürliche, es sind alles nachhaltige, dem Markt ein Produkt zuführen, das nachwachsende Rohstoffe, die wir verdurch Qualität glänzt und wo auch arbeiten. Für die Schlafsysteme und Form und Inhalt stimmen. Bei ADA Matratzen haben wir natürlich auch wussten wir, dass wir die gleiche Qua- unsere Leitstoffe Kork und Latex verlitätsvorstellung haben. ADA ist zum wendet. Weitere Materialien, die mit

Birkenstock assoziiert werden und in der Gestaltung eine Rolle spielen, sind Filz, Holz, Messing und Leder. Insgesamt gibt es sechs Modelle. Gerhard Vorraber: Die Betten werden nicht, wie meist üblich, aus Spanplatte gefertigt, sondern aus Sperrholz in Kombination mit Massivholz. Das hebt sich vom üblichen Markt deutlich ab. Unsere Birkenstock-Lattenrahmen sind alle aus Buche-Massivholz hergestellt. Die Schlafsysteme wurden über unseren Produktmanager und Vertriebsleiter für den Bereich Schlafen Frank Janaschek mit Dr. Florian Heidinger vom Ergonomie Institut München abgestimmt und fein angepasst. Es gibt zwei Arten von MassivholzLattenrostrahmen, flache und wellenförmig vorgeformte, speziell auf die Körperkontur angepasst. Dazu gibt es dann die jeweils passenden Matratzen – entweder in der üblichen Form oder in Kontur geschnitten. Letztere sind quasi die Übertragung des Birkenstock-Schuhprinzips auf das Bett. Reichert: Wir von Birkenstock denken, das ist doch ganz klar, dass es so sein muss. Da erzählt dir jeder Schlafprofi etwas von der Eintauchtiefe vom Becken und der Eintauchtiefe der Schultern, also von Entlastungszonen im Becken- und Schulterbereich. Da frage ich: Warum machst du die denn nicht gleich rein, wenn man doch sowieso eintaucht? Das zweite Schlafsystem, das wir anbieten, ist unsere BirkoBalance-Entwicklung, ein Tellerrahmen, der über Punktelastizität funktioniert und in dem auch natürlicher Kork zum Einsatz kommt. Vorraber: Was das Material der Matratzen betrifft, so bieten wir drei verschiedene Varianten: Wir haben eine spezielle Kaltschaummatratze mit zwanzig Prozent natürlichem Rizinus­öl; eine Tonnen-Taschenfederkernma­ tratze, die dem Trend zum Boxspring-Bett entspricht; und eine Matratze mit Naturlatexkern. Damit decken wir auf einem sehr hohen Niveau die jeweils un­ terschiedlichen Bedürfnisse

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und Schlafeigenschaften unserer Kunden ab. Reichert: Wir denken hier, im Rahmen unserer familiären Partnerschaft, durchaus auch global. ADA kennt die Bedürfnisse der europäischen Kunden sehr gut. Birkenstock ist natürlich ein globaler Brand. Wir interessieren uns sehr stark dafür, was die Chinesen, Japaner oder Südkoreaner denken und was vor allem auch in den USA pas-

siert. Es ist sehr schwer, es allen recht zu machen, und deswegen haben wir von Anfang an ein breites Spektrum an Matratzen und Schlafsystemen entwickelt.

Oliver Reichert: „Bei der Gestaltung hatten wir den globalen Markt im Visier.“ MM: Welche Prinzipien haben Sie im Design verfolgt? Reichert: Wir waren uns von Anfang an einig, dass wir kein Chichi wollen. Meist gefällt dann nämlich doch eher das Schlichte. Das wird gern dem Skandinavischen zugeordnet, aber das finden wir doch auch in der Handwerkskunst aus Österreich. Vorraber: Wir wollten ein markantes, vernünftiges Design, das gefällt, aber nicht überzogen ist. MM: Wer hat die Betten designt? (Gerhard Vorraber und Oliver Reichert schauen sich an und grinsen.) MM: Sie zwei? Reichert: Also für Gerhard Vorraber

trifft das wesentlich mehr zu als für mich. Er designt wesentlich mit. Das darf man nicht unterschätzen. Vorraber: Wir haben viel von anderen Designern angeschaut, aber das haben wir auch schnell wieder weggelegt. Letztendlich stammt nun ein Bett von der Grazer Designerei, zwei kommen von unserem Inhouse-Gestalter Thomas Probst und der Rest vom weltbekannten Designer „Girardi“ (schmunzelt). Das ist seit einem Viertel-Jahrhundert mein augenzwinkerndes Designer-Pseudonym. Sehr viele Betten und Garnituren von ADA habe ich selbst designt. Weil ich durch meine vielen Gespräche und Reisen tief im Markt bin und ziemlich genau erspüren kann, was er will. Und auch, weil ich es schon immer sehr gern gemacht habe. MM: Von wem stammt das Modell „Canberra“, das Sie den Medien ja schon vor der imm cologne Premiere gezeigt hatten und das unser MÖBELMARKT-Titelbild ist? Vorraber: Das ist von mir, der erste Entwurf überhaupt. Er entstand, als wir das allererste Mal zusammensaßen, da habe ich das im Dialog mit Herrn Reichert entworfen. Wir sagten uns: ‚Neh-

Gemeinsam für eine neue Schlafkultur: Gerhard Vorraber (ADA) und Oliver Reichert (Birkenstock) sprachen in der stylischen Birkenstock-Zentrale in Neustadt/ Wied über ihre Zusammenarbeit. men wir doch das Leder, das eigentlich für Schuhwerk eingesetzt wird. Das wäre doch ein Traum. Das gibt es da draußen so nicht.‘ Natürlich weiß ich aus Erfahrung, dass man so etwas maschinell gar nicht nähen kann. Also wird es handvernäht. Das heißt, da arbeitet ein kräftiger Mann einen Tag dran. Das ist Schwerstarbeit. Das sieht man und das spürt man. Das ist das Markante daran.

Gerhard Vorraber: „Ein Bett für 5.000 Euro ist heute durchaus akzeptiert und kein Drama mehr.“ MM: Da bietet sich die Frage zum Preisgefüge Ihrer Kollektion an. Vorraber: Da muss ich vorwegschicken: Wenn wir früher ein Bett anboten, das über 1.000 Euro kostete, erklärten uns alle für verrückt. Das hat

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SCHULTER SCHLUSS sich durch den Hype um das Boxspring-Bett schlagartig geändert. Das heißt, heute ist es kein Drama, wenn du ein Bett im Handel für 5.000 Euro stehen hast. Das ist durchaus geduldet und okay, und keiner verdreht die Augen. Das heißt, wir reden bei den Birkenstock-Betten von einer Preisspanne zwischen 5.000 und 10.000 Euro. Gehobene Mittelklasse. Die Leute sind mittlerweile dafür bereit. Reichert: Ich sehe es so: Leute kaufen sich Flachbildschirme für 2.000 Euro. Wieso um alles in der Welt soll ein Bett, in dem ich ein Drittel meines Lebens verbringe, nicht 10.000 Euro kosten? Man muss die Relation sehen. Vorraber: Hinzu kommt, dass Betten heute durchaus singulär verkauft werden. Früher gab es ja das Komplettschlafzimmer, so mit Schrankwand und Nachtkästchen, und alles hat zusammengepasst. Heute wird ein Bett oft einzeln gekauft. Reichert: Viele Leute ziehen auch los und kaufen eine einzelne Matratze. Man kann die Schlafsysteme, die wir anbieten, einzeln erwerben, das ist dann erschwinglicher. Wenn man sagt: Ich kaufe jetzt einfach erst einmal Lattenrost und Matratze und zwei Jahre später das Bett dazu, dann wird Birkenstock für viele bezahlbar. Das muss man einfach ganz pragmatisch sehen. In Summe haben wir als Birkenstock keine Bauchschmerzen mit dem gehobenen Preissegment, weil wir MarktFür Birkenstock-Betten wurden u. a. der Massivholz-Lattenrostrahmen Birko Active mit Körperanpassung (u.) und der punktelastische Tellerrahmen Birko Balance (r.) entwickelt.

für Komfort und Qualität

hält, ist angesprochen. Es ist Voraussetzung, dass mindestens drei Betten und je zwei Matratzenvarianten in je zwei Härtegraden gezeigt werden und mindestens zwei Lattenrostmodelle.

schneller Geld verdienen kann als im Möbelbereich. Aber das ist nicht unser Interesse. Wir sind getrieben von einem tiefen Glauben daran, dass wir den Menschen wirklich weiterhelfen.

MM: Geht das auch über Verbände? MM: Wenn es um den internatio- Vorraber: Nein, Verbandsverhandlunnalen Handel geht, ist ADA eher gen gibt es da keine. europäisch ausgerichtet und Bir- Reichert: Wir sind auf den selektiven kenstock global. Wie sieht Ihre inter- Vertrieb eingestellt. So verkaufen wir nationale Vertriebsstrategie aus? auch unsere Schuhe. Wir müssen da Vorraber: Das ist geklärt. Europa, die im Sinne unserer Marke agieren und EU und die Schweiz machen wir, denn schauen, dass die Produkte passgeda sind wir sehr gut aufgestellt. Den nau im Markt sind. Wir beide, also ADA Rest der Welt bearbeitet Birkenstock. und Birkenstock, sind an langjährigen Reichert: Wir werden auch ADA zu Partnerschaften interessiert, nicht an dem einen oder anderen Thema mit- irendeinem Big Bang. Wir wollen organehmen. Deshalb haben wir eine Part- nisch Schritt für Schritt wachsen. Da nerschaft, damit man zusammen neue denken wir in Jahrzehnten. Dinge macht. Es steht auch nirgends Vorraber: Wichtig ist, dass die Händler geschrieben, dass ADA nicht auch an- das leben können. In dem Partnerdere gute Produkte vermarkten kann. schaftsvertrag wird stehen, dass die Vorraber: Wir sind sehr an der Inter- Partner Birkenstock-Schulungen besunationalisierung interessiert. Wir haben chen, damit sie wirklich tief im Thema auch neues Personal eingestellt, weil sind. Es wird eine Birkenstock-Akade wollen. Den Artikel lesen? wir den Weg gehen Bei der ganz mie geben, die auch von BirkenstockGröße, die ADA jetzt ist klicken Leuten bespielt wird. Gelebte Partner erreicht hat, Dann Sie hier das der nächste logische Schritt. schaft eben. Reichert: Wir haben keinen Lizenztitel im klassischen Sinne, das ist ja gerade Gerhard Vorraber: das, was wir nicht machen. Wir begeg„Es wird keine Verbandsnen uns auf Augenhöhe und erschaffen verhandlungen geben.“ zusammen ein neues Produkt, das wir gemeinsam weltweit vermarkten. Es MM: Mit welchen Partnern möchten gibt Segmente, wo man wesentlich Sie im deutschen und europäischen Handel arbeiten? Vorraber: Also wir haben vorhin noch einmal darüber gesprochen. Wir schließen niemanden aus. Derjenige, der das Umfeld schaffen kann, der markengerecht präsentiert, der uns die Fläche gibt und Platzierungen für uns bereit-

MM: Wie würden Sie die Partnerschaft nennen? Reichert: Wir feiern jetzt Weihnachten zusammen und die runden Geburtstage. Wir sind eine Familie. Es gibt weltweit eine Hand voll Brands, die sich wirklich über Jahrhunderte der Qualität verpflichtet haben. Die finden wir alle irgendwann und arbeiten mit ihnen irgendwie zusammen. Und vielleicht tun wir mal für den einen was und der andere tut was für uns. Der Schulterschluss der Manufakturen ist unausweichlich, weil die anderen nur Geld verdienen wollen. Das ist nicht unsere Position. Bei uns geht es um eine Ehe, nicht um einen One-Night-Stand. Vorraber: Ich glaube, da gibt es eine ganz ehrliche Seelenverwandschaft. Ich kann nur unterstreichen, was Oliver Reichert sagt. Es gibt Partnerschaften, wo es nicht klappt, wo man sich irgendwo durchkrampft. Das war hier von Anfang an nicht der Fall. Vom ersten Gespräch an ging da was zusammen, egal auf welcher Ebene. Man darf nicht glauben, da macht es „klacks“, und die Betten stehen da. Es sind inzwischen zweieinhalb Jahre, die wir zusammenarbeiten. Heute wissen wir: Da gibt es ganz viel Potenzial für die Zukunft. Ich freue mich darauf.

forschung gemacht haben in den jeweiligen Ländern und da durchaus hohes Potenzial sehen.

Oliver Reichert : „In gut informierten Kreisen hat der Fashion Hype um Birkenstock nie aufgehört.“ MM: Gönnen wir uns noch einen Blick auf die Schuhmarke Birkenstock. In Deutschland hat sie das Image der Ökolatschen abgelegt und ist jetzt Kult ... Reichert: ... das ist eine rein deutsche Sicht. Birkenstock hat global gesehen alle zehn Jahre diesen Fashion Hype, und in gut informierten Kreisen hat er nie aufgehört. Wenn Sie nach San Francisco oder New York gehen, dann ist der Hype die ganze Zeit da. Bereits 1990 hat sich die junge Kate Moss mit Birkenstocks und Jeans ablichten lassen. Auch die großen Fotografen tragen Birkenstocks. Das ist wie bei Jeans, die tragen doch auch alle. MM: Vielen Dank für das Gespräch!

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Vor Ort in Indonesien: Crash-Kurs in Sachen Rattan

Vivere: Made in Indonesia – mit deutschem Fertigungs-Know-how Vorschau: Asiatische Messe-Highlights 2017


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Januar 1/2017  kuecheundbadforum.de

Stufe für Stufe ein Gewinn: die Etagenbecken-Linie „Blanco Etagon“. Die Neuentwicklung von Blanco fasziniert mit raffiniertem Zubehör, das drei Arbeitsebenen auf kompaktem Raum ermöglicht. Sie werden durch kleine Stufen im Becken geschaffen. Foto: Blanco

Die LivingKitchen zeigt, was die moderne Küche braucht Der Miele-Vertriebschef im Gespräch Die größten Herausforderungen für den Handel Den Küchen-Trends der Zukunft auf der Spur

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