Bundesarbeitskammer (Hg.)
Hinterm Horizont geht’s weiter ‌ Ein Lesebuch mit Erfahrungsberichten zur transnationalen gewerkschaftlichen Zusammenarbeit 2016
SOZIAL AKADEMIE
Hinterm Horizont geht’s weiter ... Ein Lesebuch mit Erfahrungsberichten zur transnationalen gewerkschaftlichen Zusammenarbeit 2016
Bundesarbeitskammer (Hg.)
Hinterm Horizont geht’s weiter ... Ein Lesebuch mit Erfahrungsberichten zur transnationalen gewerkschaftlichen Zusammenarbeit 2016
Europapraktika der Sozialakademie der Bundesarbeitskammer Ă–sterreich (SOZAK) 2016, 65. Lehrgang
IMPRESSUM Die Inhalte in diesem Buch sind von den Herausgebern und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann keine Garantie übernommen werden. Eine Haftung der Herausgeber bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass die namentlich gekennzeichneten Beiträge die Meinungen der einzelnen AutorInnen darstellen und sich nicht mit der Meinung von Verlag oder Herausgebern decken. Verlag und Herausgeber haben sich bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, dennoch wurden sie in Einzelfällen nicht fündig. Allfällige Ansprüche bleiben gewahrt. Rechtsstand: 2016 In drei Schritten zum E-Book Mit diesem Buch haben Sie nicht nur ein gedrucktes Buch erworben, sondern auch ein E-Book. So kommen Sie zu Ihrem E-Book: 1. Gehen Sie auf die Webseite www.oegbverlag.at/e-book 2. Füllen Sie das Webformular aus. Sie benötigen dazu insbesondere den 12-stelligen Registrierungscode, den Sie auf der Innenseite des vorderen Umschlages finden. 3. Laden Sie das E-Book herunter. Konzeption/Layoutentwurf/Umschlaggestaltung: Reinhard Schön, ÖGB-Verlag; Natalia Nowakowska, ÖGB-Verlag Layout/Grafik: Natalia Nowakowska, ÖGB-Verlag Lektorat: Karin Flunger, ÖGB-Verlag Foto Rudi Kaske Seite 9: Sebastian Philipp Foto Erich Foglar Seite 9: Michael Mazohl, ÖGB-Verlag Fotos Seite 10, 11 und sämtliche Fotos der Praktikumspräsentation ab Seite 146: Hari Mannsberger. Alle weiteren Fotos: Brigitte Daumen, Georg Sever und SOZAK-TeilnehmerInnen. Medieninhaber: Verlag des ÖGB GmbH, Wien © 2016 by Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes GmbH, Wien 1020 Wien, Johann-Böhm-Platz 1 www.oegbverlag.at, office@oegbverlag.at Verlags- und Herstellungsort: Wien Printed in Austria ISBN 978-3-99046-231-7
Inhalt Rudi Kaske und Erich Foglar, Vorwort
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Brigitte Daumen, „SOZAK goes Europe“
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Georg Sever, „Neuerungen und Highlights bei den SOZAK-Europapraktika 2016“
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Liste der TeilnehmerInnen
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Beiträge der TeilnehmerInnen des 65. Lehrgangs der SOZAK Skandinavien (Dänemark, Finnland, Schweden) Stefan Laufenböck, Dansk Metal, Kopenhagen Die FahrradmechanikerInnen von Kopenhagen
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Gerhard Papst, Metalliliitto, Helsinki Finnlands Zusammenarbeit mit Russland
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Jürgen Schmidt, JHL, Helsinki Der Weg zur Beteiligungsgewerkschaft
31
Christian Pomberger, IF Metall, Stockholm Die rosarote Brille – Mythos schwedischer Sozialstaat?
37
Angelsächsische Länder (England, Irland) Mario Danzberger, Unite, London What else if not Europe!?
41
Thomas Schauflinger, Unite, Nottingham Kill the Bill
49
Tanja Reiter, SIPTU, Dublin Pimp my Migrants
55
Thomas Summereder, SIPTU, Dublin Das „ir(r)e“ Arbeitsrecht und der KV
61
Belgien, Kroatien, Niederlande, Schweiz Andreas Laaber, ÖGB-AK-Europabüro, Brüssel Belgien – ein eigenwilliger Regenbogen mit Trauerflor
67
Snjezana Brajinovic, STH, Zagreb „Wir kämpfen nicht um Verbesserungen, sondern ums Überleben“
73
Christian Puhr, FNV Metaal, Weert Zeitarbeit: Sicher und flexibel?
81
Robert Freiinger, Unia, St. Gallen Kampf der Giganten
89
Deutschland Franz Steindl, DGB-Bildungswerk, IG Metall, NGG, Erfurt und Suhl 93 Bildungsfreistellungsgesetz in Thüringen, eine Erfolgsgeschichte wie die Thüringer Bratwurst? Thomas Rinaldi, IG Metall, IG BCE, Düsseldorf und Alsdorf 99 Energiewende in Deutschland – die „Dreckschleudern“ abschalten? Melanie Steckbauer, IG Metall, IG BCE, Köln Wir für mehr!
105
Wolfgang Skofitsch, mobifair, Frankfurt „Wer bescheißt, entgleist!“
109
Anton Affengruber, IG BAU, Dortmund IG Bau im Abseits?
115
Stefan Hölbling, IG BAU, München Arbeitsalltag eines IG-BAU-Sekretärs
121
Christian Ringseis, IG BAU, Nordheim Du bist es wert
127
Tina Meusser, ver.di, Berlin Happy Birthday, Mindestlohn! Jetzt wird abgerechnet!?
133
Christa Weißenbacher, ver.di, München BetriebsrätInnen müssen sich qualifizieren!
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Anhang Europäisches Seminar im Zuge der SOZAK-Europapraktikums-Präsentationen Präsentationen der Europapraktika im Bildungszentrum der Arbeiterkammer Wien
145 146
Vorwort Die Sozialakademie ist die höchstmögliche Stufe der gewerkschaftlichen Weiterbildung. Im Rahmen dieses jährlich stattfindenden Programms werden unsere zukünftigen gewerkschaftlichen Führungskräfte ausgebildet. Ein wesentlicher Bestandteil dieser einjährigen Ausbildung ist das Europapraktikum, in dessen Rahmen die TeilnehmerInnen vier Wochen bei europäischen Gewerkschaften, Betriebsratskörperschaften oder internationalen gewerkschaftlichen und gewerkschaftsnahen Organisationen mitarbeiten. In Zeiten einer zusehends globalisierten Wirtschaft und Arbeitswelt wird internationale Gewerkschaftsarbeit immer wichtiger. Die Interessen der ArbeitnehmerInnen können auf nationaler Ebene allein nicht mehr ausreichend vertreten werden. Insofern ist es absolut notwendig geworden, dass BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen in ihrer täglichen Arbeit die europäische und internationale Ebene mitberücksichtigen. Dafür braucht es einerseits ein großes Maß an Fachexpertise und andererseits eine starke Vernetzung mit ArbeitnehmervertreterInnen aus den europäischen Nachbarländern sowie dem internationalen Ausland. Die TeilnehmerInnen der SOZAK-Europapraktika werden vollständig in die Arbeitsabläufe der aufnehmenden Organisationen eingebunden. Dadurch erhalten sie tiefgreifende Kenntnisse über deren Arbeit und lernen das politische und gewerkschaftliche System des jeweiligen Landes grundsätzlich besser kennen. Zusätzlich können sie wichtige Kontakte zu gewerkschaftlichen KollegInnen knüpfen, die auch für die Arbeit in Österreich eine große Bereicherung sind. Genau diese Erfahrungen und Kompetenzen können sich die SOZAK-TeilnehmerInnen während des Europapraktikums aneignen. Hinzu kommt noch die einzigartige Gelegenheit, die politische und kulturelle sowie die gewerkschaftliche Kultur anderer Länder kennenzulernen und die eigene soziale Kompetenz zu stärken. Erich Foglar, ÖGB-Präsident
Rudi Kaske, AK-Präsident
9
Brigitte Daumen Leiterin Sozialakademie
„SOZAK goes Europe“ Liebe Leserin, lieber Leser! Versetzen Sie sich kurz einmal in folgende Situation: Sie haben die Möglichkeit, einen ganzen Monat im europäischen Ausland zu verbringen, bei einer befreundeten gewerkschaftlichen Organisation. Das Zielland haben Sie selbst ausgewählt. Es erwartet Sie ein sehr gut organisiertes Programm, finanziell werden Sie ebenfalls gut unterstützt. Seien Sie ehrlich: Wer möchte das nicht einmal gerne erleben? Die TeilnehmerInnen des 65. Lehrgangs haben diese Chance erhalten und angenommen. Sie haben einen Monat im europäischen Ausland verbracht und dort gearbeitet. „SOZAK goes Europe“ – unter diesem Motto stehen die Europapraktika in der Sozialakademie. Im Studienjahr 2015/16 verbrachten die TeilnehmerInnen ihre Praktika in zehn verschiedenen Ländern, zum ersten Mal war Kroatien als Zielland dabei. Die Europapraktika sind nun bereits seit sechs Jahren fester Bestandteil des Lehrplans. In diesem einen Monat begleiten unsere TeilnehmerInnen Kolleginnen und Kollegen aus anderen europäischen Gewerkschaften und ArbeitnehmerInnenvertretungen bei ihrer täglichen Arbeit. Meistens erstellen die Praktikumspartner ein sehr interessantes und ausgewogenes Programm für die vier Wochen. Es beinhaltet Betriebsbesuche, Teilnahme an verschiedensten Sitzungen und Arbeitsgruppen, die Vorbereitung von gewerkschaftlichen Maßnahmen oder z. B. die Teilnahme an Tarifvertragsverhandlungen. Die LehrgangsteilnehmerInnen erhalten in den vier Wochen einen guten Einblick in die Arbeit befreundeter Organisationen. Sie recherchieren Unterschiede zu der Arbeit in Österreich und suchen für gewisse Themen nach Best-PracticeBeispielen. 11
Die Ziele, die wir mit diesem Praktikum verfolgen, werden erreicht: Reisen bildet, so lautet ja auch ein gängiges Sprichwort. Die TeilnehmerInnen tauchen in andere Kulturen ein, erfahren andere Lebensumstände. Sie lernen andere Arbeitsweisen kennen und gewinnen Kenntnisse über Gewerkschaftsstrukturen in Europa und damit verbunden Wissen über die Besonderheiten der verschiedenen Länder. Beim Aufenthalt in nicht deutschsprachigen Ländern verbessern sie ihre Englischkenntnisse. Außerdem werden sie Teil eines gewerkschaftlichen Netzwerkes in Europa und damit tragen sie zur Zusammenarbeit von ArbeitnehmerInnen auf europäischer Ebene bei. Natürlich darf man die vier Wochen in einem anderen Land in ihrer Wirkung auch nicht überhöhen, aber man darf sie auch nicht gering schätzen. Die Zusammenarbeit der Gewerkschaften auf der Ebene der zentralen Organisationen ist in den vergangenen Jahren vorangeschritten. Die direkten Basisbeziehungen zwischen lokalen Einheiten, den Gremien und den Betriebsräten vor Ort, sind jedoch bisher kaum entwickelt. Hier liegt eine Bedeutung der Europapraktika. Die Praktika stellen direkte Kontakte zwischen den Menschen und dezentralen Organisationseinheiten her. Schön wäre es, wenn diese länderübergreifenden Kooperationen auch über die Praktika hinaus Bestand hätten und dadurch ein kleiner Beitrag zu europäischer Gewerkschaftspolitik auf allen Ebenen geleistet wird. Das Ursprungsmotto der Praktika, als wir sie im Jahr 2010 eingeführt haben, lautete „Hinterm Horizont geht’s weiter“, als Anlehnung an ein Lied von Udo Lindenberg. Der Liedtext geht weiter mit dem Satz: „Hinterm Horizont geht’s weiter – ein neuer Tag. Hinterm Horizont immer weiter, zusammen sind wir stark.“ Ich hoffe, dass wir mit diesen Praktika, wenn vielleicht auch nur einen kleinen, aber hoffentlich nachhaltigen Beitrag zur Zusammenarbeit und somit zur Stärkung der Gewerkschaften leisten können. An dieser Stelle möchte ich mich bei all jenen bedanken, die zum Gelingen der Praktika beitragen, insbesondere bei den Praktikumsgebern – ohne die das ganze Projekt nicht möglich wäre – und natürlich bei unseren Organisationen AK und ÖGB für die inhaltliche und finanzielle Unterstützung.
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Georg Sever Mitglied der Lehrgangsleitung Sozialakademie
Neuerungen und Highlights bei den SOZAK-Europapraktika 2016 Bildungs- und Kulturreisen haben in der europäischen Geschichte eine lange Tradition. So unternahm schon der griechische Philosoph Platon vor 2.400 Jahren Bildungsreisen nach Sizilien, auch Johann Wolfgang von Goethe machte eine im 18. Jahrhundert nach Italien und Alexis de Tocqueville bereiste im 19. Jahrhundert für neun Monate die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie alle einte, dass sie sich ausführlich Zeit nahmen, um die Geschichte, Kultur und Gesellschaft kennenzulernen und sich mit verschiedenen Gesprächspartnern über die Kultur, das Rechtssystem sowie die politische Ordnung des jeweiligen Landes zu unterhalten. Diese Reisen hatten maßgeblichen Einfluss auf ihr Denken und ihre Arbeit. Sie alle einte aber ebenso, dass sie aus privilegierten und wohlhabenden Schichten kamen und sich deshalb derartige Reisen auch leisten konnten, während dies für die Normalbürger der damaligen Zeit nicht möglich war. Dies ist auch eine Herausforderung, die wir in der heutigen Wirtschaft zu bewältigen haben. Während es für Manager internationaler Konzerne normal ist, sich über die Ländergrenzen hinweg auszutauschen und abzustimmen, ist die internationale Arbeit bei Gewerkschaften oft nur das Geschäft einiger weniger ExpertInnen. Dem versuchen wir an der Sozialakademie entgegenzuwirken und unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu europäisch agierenden ArbeitnehmervertreterInnen zu machen. Das soll helfen, den Arbeitgebern gestärkt entgegentreten zu 13
können, und dazu führen, die europäische Arbeit unserer Gewerkschafts- und AK-ExpertInnen bestmöglich unterstützen zu können. Mit den SOZAK-Bildungsreisen – wir nennen sie zeitgemäß Europapraktika – leisten wir einen Beitrag zur Erreichung dieses Ziels, und im sechsten Jahr des Praktikums hat es heuer wieder einige Neuerungen und Highlights gegeben, von denen nun einige erwähnt werden. Berichtet werden kann, dass die Vorbereitungen der TeilnehmerInnen auf das Praktikum heuer noch intensiver waren als in den Jahren zuvor. Neben den mittlerweile schon zur Tradition gewordenen Austauschgesprächen zwischen SOZAKAbsolventInnen und den aktuellen SOZAK-TeilnehmerInnen über die Praktika waren heuer sogar einige PraktikumsgeberInnen zu einem Vorgespräch in Wien. VertreterInnen aus Deutschland (der Gewerkschaften IG BAU und ver.di) sowie aus Finnland (von der Gewerkschaft Metalliliitto) waren vor Ort, um den TeilnehmerInnen mehr über ihre Organisation zu berichten und sie auf ihre Zeit in den jeweiligen Ländern vorzubereiten. Außerdem wurden die Kollegen, die nach England und in die Schweiz gingen, von den jeweiligen BotschafterInnen in Österreich eingeladen, um über die politische Situation zu sprechen und ihnen Tipps für ihre Aufenthalte zu geben. Die Praktika selbst waren mit etlichen Highlights gespickt. Einige seien hier kurz angeführt: In England und Deutschland kam es zu Gesprächsterminen mit den ORFAuslandskorrespondentinnen, die den TeilnehmerInnen Einblicke in ihre Arbeit gaben, aber auch wichtige Hintergrundinformationen zur politischen Situation in den jeweiligen Ländern lieferten. Erstmals kam es heuer auch zu Treffen mit VertreterInnen von Sozial- und Arbeitsministerien (in Dänemark, Deutschland, Finnland und Irland), bei denen ein Austausch über arbeits- und sozialpolitische Maßnahmen erfolgte. Dadurch können die TeilnehmerInnen die Maßnahmen in Österreich noch besser einordnen und einen Vergleich mit anderen Ländern ziehen. Hier konnten/mussten sie ihr Wissen, das sie etwa im Bereich Sozialpolitik und Arbeitsmarkt an der SOZAK erworben hatten, anwenden. Außerdem wurden auch heuer wieder einige KollegInnen zu einem Empfang 14
in die österreichische Botschaft zum Meinungsaustausch eingeladen (in Dänemark, Deutschland, Finnland, Irland und Schweden). Besonders spannend war es, dass viele KollegInnen von den Gewerkschaften zu politischen Verhandlungen und Veranstaltungen in die nationalen Parlamente mitgenommen wurden und hier hautnah die aktuellen politischen Themen sowie den Stand der Debatten erleben durften. Es gab dort auch etliche Treffen mit politischen MandatarInnen und anderen wichtigen EntscheidungsträgerInnen. Kollege Christian Pomberger, der sein Praktikum in Schweden absolvierte, traf mit dem aktuellen schwedischen Ministerpräsidenten, dem ehemaligen Metallergewerkschaftspräsidenten Stefan Löfven, zusammen. Außerdem war heuer erstmals eine Kollegin (Snjezana Brajinovic) im Zuge ihres SOZAK-Praktikums bei einer Gewerkschaft in Kroatien, nämlich bei der kroatischen Handelsgewerkschaft STH (Sindikat trgovine Hrvatske). Das waren jetzt nur einige Neuerungen und Highlights der heurigen Praktika, abseits der vielen gewerkschaftlichen und betrieblichen Kontakte, die es während der vier Wochen gab und die zur Stärkung der (europäischen) gewerkschaftlichen Handlungskompetenz beitragen. In diesem Buch kommen die TeilnehmerInnen des 65. SOZAK-Lehrgangs zu Wort und berichten über ihre vier Wochen bei europäischen Gewerkschaften. Sie haben sich ein für ihr Praktikum prägendes Ereignis/Thema herausgegriffen und dazu einen Artikel verfasst. „Die rosarote Brille – Mythos schwedischer Sozialstaat?“, „Happy Birthday, Mindestlohn!“ oder „Belgien – ein eigenwilliger Regenbogen mit Trauerflor“ sind nur einige der folgenden Artikel. Viel Spaß beim Lesen!
15
16
ÖGB
Holding Graz Kommunale DienstPRO-GE/Steiermark leistungen GmbH/AEVG Abfall‐Entsorgungs‐ und Verwertungs GmbH
STRABAG AG
Diözese St. Pölten
PRO-GE
GPA-djp
Opel Wien GmbH
DANZBERGER Mario
FREIINGER Robert
HÖLBLING Stefan
LAABER Andreas
LAUFENBÖCK Stefan
MEUSSER Tina
PAPST Gerhard
GPA-djp/Wien
GPA-djp/Wien
PRO-GE/Oberösterreich
GPA-djp/Niederösterreich
GBH/Kärnten
ÖGB/Oberösterreich
GPA-djp/Wien
Zielpunkt Warenhandel
BRAJINOVIC Snjezana
GBH/Oberösterreich
Gewerkschaft/Bundesland
HABAU
Arbeitgeber
AFFENGRUBER Anton
Name
Helsinki (Finnland)
Berlin (Deutschland)
Kopenhagen (Dänemark)
Brüssel (Belgien)
München (Deutschland)
St. Gallen (Schweiz)
London (Großbritannien)
Zagreb (Kroatien)
Dortmund (Deutschland)
Zielstadt/Zielland
Liste der TeilnehmerInnen und ihrer Hauptorganisationen
Metalliliitto
ver.di (FB Finanzdienstleistungen)
Dansk Metal
ÖGB-AK-Europabüro
IG BAU
Unia
Unite
Sindikat trgovine Hrvatske
IG BAU
Praktikumsorganisation
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voestalpine Giesserei Traisen GmbH
Prysmian OEKW GmbH
PRO-GE
NORSKE SKOG Bruck GmbH
GBH
FAB
younion _ Die Daseinsgewerkschaft
ÖBB Produktion GmbH Business Unit Personenverkehr
voestalpine Stahl GmbH
ÖGB
vida
Caritas der Diözese Graz-Seckau
POMBERGER Christian
PUHR Christian
REITER Tanja
RINALDI Thomas
RINGSEIS Christian
SCHAUFLINGER Thomas
SCHMIDT Jürgen
SKOFITSCH Wolfgang
STECKBAUER Melanie
STEINDL Franz
SUMMEREDER Thomas
WEISSENBACHER Christa
GPA-djp/Steiermark
vida/Oberösterreich
ÖGB/Niederösterreich
PRO-GE/Oberösterreich
vida/Wien
younion _ Die Daseinsgewerkschaft/ Wien
GPA-djp/Oberösterreich
GBH/Wien
PRO-GE/Steiermark
PRO-GE/Niederösterreich
PRO-GE/Wien
PRO-GE/Niederösterreich
München (Deutschland)
Dublin (Irland)
Erfurt und Suhl (Deutschland)
Köln (Deutschland)
Frankfurt (Deutschland)
Helsinki (Finnland)
Nottingham (Großbritannien)
Nordheim (Deutschland)
Düsseldorf und Alsdorf (Deutschland)
Dublin (Irland)
Weert (Niederlande)
Stockholm (Schweden)
ver.di (FB Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt, Kirchen)
SIPTU (FB Gaststätten)
DGB-Bildungswerk, IG Metall, NGG
IG Metall, IG BCE
mobifair
JHL
Unite
IG BAU
IG Metall, IG BCE
SIPTU (FB Metall)
FNV Metaal
IF Metall
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Beiträge der TeilnehmerInnen des 65. Lehrgangs der SOZAK Skandinavien (Dänemark, Finnland, Schweden)
Stefan LAUFENBÖCK – Kopenhagen Arbeitgeber: PRO-GE Gewerkschaft/Bundesland: PRO-GE/Oberösterreich Zielstadt/Zielland: Kopenhagen (Dänemark) Praktikumsorganisation: Dansk Metal
Impressionen
Abgeordneter Jeppe Bruus 19
Präsidentin des dänischen Gewerkschaftsbundes, Lizette Risgaard, und meine Mentorin und Bundesjugendsekretärin der Dansk Metal, Fatima Hachem Generalversammlung der Fahrradmechaniker (auch ich habe ein T-Shirt bekommen)
Zentrale der Dansk Metal
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Die FahrradmechanikerInnen von Kopenhagen Im Zuge meines vierwöchigen Praktikums bei der dänischen MetallerGewerkschaft Dansk Metal konnte ich Einblicke in die verschiedenen Bereiche dieser ArbeitnehmerInnenvertretung, insbesondere in der Branche der FahrradmechanikerInnen, gewinnen. Die Dansk Metal gehört mit circa 110.000 Mitgliedern nicht zu den größten, aber auf jeden Fall zu den einflussreichsten Gewerkschaften des Landes. Einen für mich ungewöhnlichen Zugang gibt es hier beim Mitgliedsbeitrag. Dieser beläuft sich nicht wie bei uns auf einen Prozentsatz des Einkommens, sondern ist ein Fixbetrag. Die Mitgliedschaft allein kostet 550 DKK (circa 74 Euro) und mit der Arbeitslosenversicherung knapp über 1.000 DKK (circa 140 Euro). Wie in Österreich sind die Mitgliedsbeiträge von der Steuer absetzbar.
Auf zwei Rädern Wenn man über die Branche der FahrradmechanikerInnen in Österreich spricht, denkt man an einen kleinen Bereich. In Kopenhagen ist die Situation anders. Im gesamten Stadtgebiet gibt es circa 560.000 Fahrräder. Dies ist bei einer EinwohnerInnenzahl von 590.000 Personen in der Kommune Kopenhagen eine riesige Anzahl. Momentan legen 35 Prozent aller BürgerInnen ihren Weg in die Arbeit oder Schule mit dem Fahrrad zurück. Der Anteil soll sich bis 2025 auf 50 Prozent steigern. Hier bemerkt man auch das Ausmaß dieser Branche. Bei einem Stadtrundgang möchte man glauben, dass es fast an jeder Ecke zwei Fahrradshops gibt. In Dänemark ist der Fahrradmechaniker ein eigener Lehrberuf. Die dänischen KollegInnen waren oft geschockt, dass wir FahrradmechanikerInnen in Österreich nicht im Rahmen einer eigenen Lehre ausbilden.
Der Beginn einer neuen Ära Bis vor zwei Jahren passierte in der gewerkschaftlichen Arbeit wenig im Bereich der FahrradmechanikerInnen. Jacob Harris, ein Mitarbeiter des Regionalbüros Hovedstaden der Dansk Metal, startete hier ein Projekt. Um verstehen zu können, wie das hier alles abläuft, muss vorher das dänische KV-System erklärt werden. Hier gibt es einige Unterschiede zu Österreich. Große Auswirkungen hat die nicht vorhandene Pflichtmitgliedschaft in den Arbeitgeberverbänden. Einer der größten Verbände ist die Dansk Industri. Wenn ein Arbeitgeber nicht Mitglied in einem Verband ist, gibt es nur eine Möglichkeit: Die Gewerkschaftssekretäre müssen mit jedem Unternehmen einen eigenen Kollektivvertrag 21
abschließen. Wenn kein Abschluss zustande kommt, hat dies nicht nur für die ArbeitnehmerInnen große Auswirkungen. Es ist dann auch unmöglich, einen Betriebsrat zu gründen, denn das dänische Rechtssystem gibt keine Regelungen für Betriebsräte vor. Auch die wöchentliche Normalarbeitszeit beträgt ohne Kollektivvertrag 47 Stunden. In den dänischen Gewerkschaften sieht man dies aber alles andere als problematisch. Sie sind nämlich der Ansicht, dass sie auf Gesetze keinen direkten Einfluss haben, auf ihre Kollektivverträge aber schon. Also ist hier der wichtigste Schritt, um Mitbestimmung erreichen zu können, ein Kollektivvertrag. Was diesbezüglich in den vergangenen zwei Jahren alles passiert ist, bemerkte ich bei der Generalversammlung des Branchenklubs der FahrradmechanikerInnen. Diese fand am 6. April im Regionalbüro Metal Hovedstaden statt. Schon im Eingangsbereich hatte ich meine Probleme, in den Sitzungssaal durchzudringen, denn hier standen sehr viele Fahrräder. Im Sitzungssaal wurde ich sehr herzlich von den meist jungen KollegInnen begrüßt. Mit Stolz trugen sie alle das T-Shirt des Branchenklubs mit dem Logo der FahrradmechanikerInnen. Das Logo besteht aus einem Zahnrad, in dessen Mitte sich eine Zange und ein Gabelschlüssel kreuzen. An diesem Abend stand nicht nur die Neuwahl des Vorsitzenden auf dem Programm, sondern es wurden auch wichtige Themen besprochen. Ein Punkt war das Erstellen einer Liste mit dem Stundenlohn der FahrradmechanikerInnen in ihren jeweiligen Werkstätten. Die Bandbreite war erschreckend: Die niedrigsten Löhne befanden sich bei etwa 17 Euro, der höchste lag bei 30 Euro. Im Bericht des neuen Vorsitzenden konnte ein großer Erfolg präsentiert werden: Während seiner Zeit als Gewerkschafter stieg der Stundenlohn in seinem Betrieb von 16 auf 27 Euro. Ich spreche hier von GewerkschafterInnen, da nicht alle in diesem Branchenklub BetriebsrätInnen sind. Meiner Meinung nach ist es sehr gut und spannend, dass es hier auch für Mitglieder die Möglichkeit gibt, sich aktiv in die Organisation einzubringen. Das Organisieren neuer Betriebe ist aber nicht nur die Aufgabe von Jacob Harris. Alle Anwesenden sprachen darüber, welche Betriebe sie noch kennen und wie sie Kontakt zu den MitarbeiterInnen herstellen können. Diese Motivation der anderen KollegInnen erleichtert die Arbeit von Jacob sehr.
Das unverzichtbare Netzwerk Wie wichtig dieses Netzwerk ist, bewies er mir auch, als ich zwei Tage mit ihm unterwegs war. Seine Arbeitstage sind sehr spannend und abwechslungsreich. Er versucht täglich, in neue Betriebe zu kommen, und hat einige Tricks und Argumente auf Lager, welche ihm dies ermöglichen. So haben Gewerkschaften in Dänemark nicht nur Vorteile für die ArbeitnehmerInnen. Die Arbeitslosenversicherung wird hier von den Gewerkschaften verwaltet, man nennt sie A-Kasse. Auch eine Arbeitsvermittlung wird in den jeweiligen Regionalbüros angeboten. Dadurch werden sie wichtige Partner der Arbeitgeber. Wenn die Arbeitgeber neue Arbeits22
kräfte benötigen, müssen sie sich nur an die Gewerkschaft wenden. Somit kann sich Jacob oft die Möglichkeit schaffen, zu den KollegInnen zu kommen. Einer der bekanntesten Bikeshops ist der Nyhavn Cykler. Er befindet sich am wohl berühmtesten Platz in Kopenhagen, dem sogenannten Nyhavn. Der Shop hat seit diesem Jahr eine neue Besitzerin. Leider ist hier die Geschichte nicht sehr fröhlich. Denn der eigentliche Inhaber ist Ende letzten Jahres plötzlich an einem Herzinfarkt im Shop verstorben. Nach diesem Tag ist seine gerade einmal 20-jährige Tochter in das Geschäft eingestiegen. Hier sind zwar alle MitarbeiterInnen Gewerkschaftsmitglieder, Kollektivvertrag gibt es aber keinen. Darum probierten wir erneut, mit der Besitzerin ins Gespräch zu kommen. Dankenswerterweise wurde für mich auf Englisch verhandelt. Es war jedoch alles andere als der perfekte Tag für die Inhaberin. Einige Stunden zuvor hatte sie einen großen Servicevertrag mit einer Hotelkette verloren. Nach einem längeren, konstruktiven Gespräch konnten wir uns darauf einigen, dass es im Herbst nach ihrer ersten Sommersaison so weit sein sollte und sie einem Kollektivvertrag ihre Zustimmung geben würde. Eine Stunde später meldete sich plötzlich die Inhaberin des Shops bei Jacob, denn sie hatte erfahren, zu welchem Preis drei andere Shops den Vertrag mit der Hotelkette bekommen hatten. Sie erklärte uns, dass es bei diesem Preis unmöglich sei, ordentliche Löhne zu bezahlen. Dies bestätigte mir auch Jacob. Da er die drei Shops nicht kannte, aktivierte er nun sein Netzwerk. Er hat mit allen KollegInnen aus dem Branchenklub eine geschlossene Facebook-Gruppe, über die auch das ganze Gremium koordiniert wird und in der sie sich jederzeit austauschen können. Jacob stellte die Namen der drei Shops in die Gruppe, um an Informationen zu kommen, denn viele der Mitglieder haben früher schon in anderen Werkstätten gearbeitet und kennen dadurch die Bedingungen in Betrieben ohne Kollektivvertrag. Es ist an dieser Stelle noch wichtig anzumerken, dass meistens nur die MechanikerInnen Mitglieder der Dansk Metal sind. Denn bei den KollegInnen im Verkauf handelt es sich überwiegend um StudentInnen, welche immer nur ein paar Stunden im Geschäft stehen. Diese sind Mitglieder in der StudentInnenvertretung und werden nicht angeworben. In den zwei Tagen mit Jacob Harris habe ich erfahren, wie viel er schon geleistet hat. In den vergangenen zwei Jahren hat er allein im Bereich der FahrradmechanikerInnen 48 Kollektivverträge installiert und etliche Mitglieder geworben. Ich war auch immer wieder fasziniert von seiner Spontaneität. Hier wird nicht überlegt, ob man in einem Betrieb mit den Beschäftigten sprechen kann – es wird ganz einfach versucht! Ich war auch auf Baustellen mit ihm unterwegs. Dort fragte er beim Portier, ob die gesuchte Firma heute anwesend ist. Wenn dies der Fall war, wurden die Beschäftigten zu uns gerufen. Bei den FahrradmechanikerInnen kann man nur sagen, dass hier ein extrem gutes Miteinander herrscht. Es war egal, ob wir mit MitarbeiterInnen oder dem Geschäftsführer gesprochen haben, wir wurden immer herzlich empfangen und 23
uns wurde immer genügend Zeit gegeben, um mit den einzelnen Personen Gespräche zu führen. Die lange Straße zur gerechten Arbeitswelt ist auch hier noch nicht zu Ende. Es wird aber laufend an den Schrauben gedreht, um noch mehr für die Rechte der ArbeitnehmerInnen in die Pedale treten zu können.
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Gerhard PAPST – Helsinki Arbeitgeber: Opel Wien GmbH Gewerkschaft/Bundesland: GPA-djp/Wien Zielstadt/Zielland: Helsinki (Finnland) Praktikumsorganisation: Metalliliitto
Impressionen
Empfang bei Botschafterin Dr. Kehrer
Jari Myllykoski Member of Parlament und Sanna Pajamäki 25
Finnlands Zusammenarbeit mit Russland Die finnische Metallarbeitergewerkschaft Metalliliitto arbeitet im Nahgebiet in Russland mit der Region Petrozavodsk zusammen. Ein waghalsiges Experiment, oder doch bloß vergebene Mühe? Einen Versuch ist es doch wert, nicht? Gemeinsame Projekte mit der Traktorenfabrik in Petrozavodsk Die Planung gemeinsamer Projekte mit dem Gewerkschaftskomitee der Traktorenfabrik Onega in Petrozavodsk begann 2009. Als Resultat der Planungsseminare wurde 2010 ein Arbeitsschutzprojekt eingeleitet, zusammen mit den Projektpartnern SASK (Solidaritätszentrum finnischer Gewerkschaften), Metallarbeitergewerkschaft, Bezirk Nordkarelien der Metallarbeitergewerkschaft sowie der Verwaltungsstelle Joensuu. Das Außenministerium gewährte dem Projekt finanzielle Unterstützung für Zusammenarbeitsprojekte von BürgerInnenbewegungen im Nahgebiet.
Da ist ein großer Wurf gelungen Ziel des Arbeitsprojekts war es, den Arbeitsschutz und die gewerkschaftliche Organisationsarbeit in der Traktorfabrik zu fördern sowie funktionierende Kontakte zwischen der Belegschaft, dem Gewerkschaftskomitee und der Firmenleitung zu schaffen. Während des Projekts wurde ein Schulungsprogramm für die Arbeitsschutzbevollmächtigten der Onega-Traktorenfabrik durchgeführt, im Rahmen dessen das ELMERI-System (Beobachtungstechnik der Arbeitsumwelt) gelernt wurde – sowohl theoretisch als auch in der Produktionspraxis. Bei der Schulung wurden auch andere Arbeitsschutzfaktoren berücksichtigt, z. B. wie man durch den Arbeitsschutz die Unternehmensökonomie und die Arbeitsmotivation positiv beeinflussen kann und welche Berufskrankheiten in der Metallindustrie vorkommen. Ein Schwerpunkt der Schulung lag zudem auf der Zusammenarbeit in Arbeitsschutzfragen zwischen der Belegschaft, dem Arbeitgeber und der Arbeitsschutzbehörde.
Nur wer vertraut, erntet Erfolg Nach dem Projekt wurde ein Evaluierungsseminar veranstaltet – unter der Teilnahme von Managementvertretern von Onega, des Gewerkschaftskomitees und seines Arbeitsschutzausschusses sowie der Metallarbeitergewerkschaft Finnlands. Die Parteien einigten sich darauf, dass ein wachsendes gegenseitiges Ver26
trauen und zunehmende Zusammenarbeit zwischen der Firmenleitung und dem Gewerkschaftskomitee eine Voraussetzung für den Erfolg des Projekts war. Auch die Einstellung des Konzerns gegenüber der gewerkschaftlichen Arbeit wurde deutlich positiver. Während des Prozesses erreichten die Parteien einen unternehmensspezifischen Tarifvertrag für die Fabrik. Der konkrete Arbeitsschutz mit ELMERI funktionierte im Betrieb als Bindeglied zwischen der Gewerkschaftsorganisation und dem Arbeitgeber.
Erweiterung auch auf andere Unternehmen Nach diesem Pilotprojekt in der Onega-Traktorenfabrik wollten die Parteien die Zusammenarbeit erweitern, und zwar für mehrere Metallbetriebe in dieser Gegend. Koordinator für das neue Projekt in Petrozavodsk war die Gewerkschaftsvereinigung der Republik Karelien, deren Aufgabe es wurde, die Organisation der Seminare vorzubereiten und auch eigene Ausbildner zur Verfügung zu stellen. Ausgangspunkt für das neue Projekt war, dass es nicht ausschließlich um den Arbeitsschutz gehen sollte, obwohl der Standard des Arbeitsschutzes in den Metallbetrieben von Petrozavodsk erheblich vom finnischen Niveau abwich. Bei der Projektarbeit entschieden sich die Beteiligten für vier jährliche Seminare zwischen 2011 und 2014 zu den Themen Entlohnung, Organisation, Vertragsgesellschaft und Verhandlungstechnik. Zu jedem Thema wurde ein Seminar veranstaltet, drei der Seminare fanden in Petrozavodsk statt, eines an der Murikka-Akademie in Finnland. Am Anfang beteiligten sich fünf Metallbetriebe von Petrozavodsk, später kamen noch ein Unternehmen aus Karhumäki und eines aus Kostamus hinzu. Auch dieses Projekt erhielt finanzielle Unterstützung vom Außenministerium.
Zu Gast bei der Akademie Murikka 27
Die kleinen Schritte führen zum Erfolg Der Arbeitsschutzteil im Projekt ist sehr gut gelungen, obwohl die Erwartungshaltung bestand, nahezu finnische Standards bei allem zu erreichen. Die Beobachtungstechnik der Arbeitsumwelt eignete sich gut für diesen Zweck und die Unternehmen merkten, dass das Eingreifen auch in kleine – vielleicht als zweitranging eingeschätzte – Probleme die Arbeitsumgebung schon verbessern kann, und zwar ohne größere Investitionen. Schon deswegen hatten die Firmenleitungen eine positive Einstellung zu der Schulung. Die lokal angepasste Version des ELMERISystems findet zurzeit in den meisten Betrieben Anwendung, da die Gewerkschaftsvereinigung der Republik Karelien das System eingeführt hat und dieses empfiehlt. Das Projekt wirkte auch auf die Einstellung der Belegschaft positiv.
Entlohnung nahezu gleichgestellt In den Entlohnungsseminaren wurden die Prinzipien der Lohnzusammensetzung sowie die Produktions- und Leistungsboni in Finnland behandelt. Nach dem ersten Seminar begeisterten sich die TeilnehmerInnen dermaßen dafür, dass sie dieses Modell in ihren eigenen Betrieben durchsetzen wollten, denn auch KollegInnen aus der Lohn- und Gehaltsauszahlung beteiligten sich an dem Seminar. In einigen Betrieben gelang es der Belegschaft, beachtliche Allgemeinerhöhungen zu erzielen, weil ihr das Wissen über die Kostenstruktur geholfen hat, klare Ziele für die Tarifverhandlungen zu formulieren. Das Verhandlungsergebnis war ein gutes Vorbild für andere Unternehmen in dieser Gegend. Es ist gut zu wissen, dass die Bilanzen finnischer Firmen öffentliche Informationen sind. Das gibt den Verhandelnden bessere Möglichkeiten, ihre Ziele durchzusetzen. Russland hat diese Praxis der Öffentlichkeit nicht. Für die Arbeitgeber ist es damit leichter, Lohnforderungen zu entgegnen, indem sie die schwache wirtschaftliche Situation des Unternehmens als Argument nutzen.
Es gilt, Transparenz zu erlangen Als Erfolg der Seminare ist auch anzusehen, dass sich die GewerkschafterInnen der Metallbetriebe über die Entgeltniveaus und Berechnungsbasen anderer Firmen informieren konnten. Daraus resultierte, dass sich die Lohnunterschiede zwischen den Betrieben verkleinerten und sich somit die Fluktuation der Arbeitskraft zwischen den Firmen reduzierte.
Gleichgültigkeit schon im Elternhaus Am wenigsten erfüllten sich die Ziele gewerkschaftlicher Mitgliederwerbung. Die Seminare sind vor allem für junge Leute gezielt organisiert worden, damit das 28
Interesse für Gewerkschaften geweckt werden konnte. Allerdings haben die Jugendlichen eine gleichgültige oder sogar negative Einstellung der Gewerkschaft gegenüber, die teilweise vom Elternhaus herrührt. Die gewerkschaftliche Arbeit in den Schulen ist vorwiegend „Party und Spaß“, und viele erwarten, dass das in der betrieblichen Gewerkschaftsarbeit so weitergeht. Organisationsarbeit und Mitgliederwerbung in Russland fordern ständige Bestrebungen schon deswegen, weil man beim Eintritt in einen neuen Arbeitsplatz die alte Mitgliedschaft nicht mitnimmt, da jeder Betrieb seine eigene Gewerkschaftsorganisation hat. Viele neue ArbeitnehmerInnen werden nicht neue Mitglieder, was für den Mitgliederschwund der Gewerkschaften verantwortlich ist. Der stärkste Eindruck von den russischen Jugendlichen ist, dass der eigene Vorteil am nächsten liegt, entweder direkt in Form von Geld, etwa für die Schaffung einer eigenen Wohnung oder für die Finanzierung von Studien, oder aber in einer guten Karriere und Hochschulausbildung. Für ihr gewerkschaftliches Engagement forderten die Jugendlichen Gegenleistungen. Die traditionell selbstlose Gewerkschaftsarbeit in einer Solidargemeinschaft war ein Fremdbegriff für die Jugendlichen, und es gab von den Jungen fast keine Anmeldungen mehr für Folgeseminare. Der TeilnehmerInnenschwund wurde schließlich mit älteren KollegInnen ausgeglichen. Während des Projekts veränderte sich der Organisationsgrad kaum. Sichtbare Ergebnisse sind natürlich nicht gleich zu erwarten, denn Mitgliederwerbung durch Informations- und Aufklärungsarbeit ist langwierig und deren Effektivität kann erst nach einer längeren Zeit evaluiert werden. Murikkas Kurse in Verhandlungstechnik brachten gutes Feedback. Mit den Tipps aus der Akademie Murikka konnten fast in allen beteiligten Betrieben die Tarifverträge neu verhandelt werden. Es sind geringe Lohnerhöhungen erzielt worden. Die KollegInnen von Petrozavodsk erinnern sich gerne an die AusbildnerInnen und deren hohe Qualifikation sowie ihre Fähigkeit, alle TeilnehmerInnen in den Prozess einzubeziehen. Auch die Umgebung und die Organisation der Kurse ernten Dank.
War die Finnlandreise mehr eine Belohnung als ein Lernprozess? Das Ziel bei der Planung der Zusammensetzung der Schulungsgruppen ist, dass die TeilnehmerInnen der verschiedenen Abschnitte sich auch im Betrieb hauptsächlich mit den jeweiligen Themen beschäftigen und dass dieselben TeilnehmerInnen sich immer an den Seminaren des eigenen Themenbereichs beteiligen. Die TeilnehmerInnen variierten jedoch sehr. Deswegen war es unmöglich, ein Kontinuum zu schaffen von einem Seminar zum anderen, wie ursprünglich geplant. Es stellt sich die Frage, warum die Fluktuation so groß war. War die Finnlandreise mehr eine Belohnung als ein Lernprozess? Und was kann daraus gelernt werden, wenn Kurse auch weiterhin in Finnland veranstaltet werden? 29
Was wurde erreicht? Die Veranstaltung der Seminare bot den GewerkschaftskollegInnen aus den Petrozavodsker Betrieben die Gelegenheit, gemeinsam tätig zu werden, und die Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaftskomitees nahm deutlich zu. Die Betriebsbesuche brachten die Gewerkschaftsorganisationen der verschiedenen Betriebe einander näher und aktivierten sie, Tarifverträge und Arbeitsverhältnisse im Allgemeinen zu vergleichen. Das nähere Miteinander erweiterte die Perspektiven und förderte die gewerkschaftliche Zusammenarbeit, was auch das erklärte Ziel des Projekts war. Nicht alle Vorhaben wurden zur Gänze umgesetzt, jedoch hat man in vielen Teilbereichen eine Annäherung an demokratische Systeme erreicht. Es mag sein, dass einer Komplettumsetzung auch die politische Erziehung und vieles bereits anders Gelebte im Wege standen. Jedoch kann man am Schluss von kleinen Erfolgen in einem doch noch starren System sprechen.
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Jürgen SCHMIDT – Helsinki Arbeitgeber: younion _ Die Daseinsgewerkschaft Gewerkschaft/Bundesland: younion _ Die Daseinsgewerkschaft/Wien Zielstadt/Zielland: Helsinki (Finnland) Praktikumsorganisation: JHL
Impressionen
Meidlinger, Kattnig, Schmidt und finnische GewerkschafterInnen
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Der Weg zur Beteiligungsgewerkschaft Europa: Die wirtschaftliche Gesamtsituation ist so angespannt wie schon lange nicht mehr. Der Druck auf Politik, Wirtschaft und Banken steigt. Die eingeleiteten Maßnahmen zeigen nicht den gewünschten Erfolg und so ist die Unsicherheit deutlich spürbar. Nach Sparprogrammen, Budgetumstrukturierungen und letztlich großen Investitionsprogrammen weiß niemand mehr so genau, wie es mit Europa weitergehen soll. Unbehelligt von dieser Problematik fordern InvestorInnen immer größere Renditen und setzen somit die heimische Wirtschaft und damit auch die ArbeitnehmerInnen noch mehr unter Druck. Es brodelt und die handelnden Personen wirken überfordert und paralysiert. Produktive Vorschläge vermisst man, eher prägen gegenseitige Schuldzuweisungen die europäische Medienlandschaft. Man könnte fast meinen, es herrscht ein unheimliches Chaos. In diesem Chaos sind die Schwächsten am meisten gefährdet. Die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich zunehmend, die Arbeitsplatzsicherheit gibt es de facto nicht mehr. Die Arbeitslosigkeit in Österreich und Europa ist auf einem Rekordhoch. Wenn man den Prognosen Glauben schenkt, wird sich das auch so schnell nicht ändern und das Problem wird sich sogar noch verschärfen. Es wird offen über Arbeitszeitverlängerung oder die Anhebung des Pensionsantrittsalters gesprochen. Man sollte meinen, dass sich Gewerkschaften aufgrund dieser Situation über einen deutlichen Mitgliederanstieg freuen dürfen. Schließlich sind sie doch die Einzigen, die sich gegen diese sozialfeindlichen Maßnahmen am Arbeitsplatz zur Wehr setzen und in allen Bereichen um Verbesserungen ringen. Dem ist aber nicht so!
Finnland, Helsinki Die Finnen sind allen Vorurteilen zum Trotz extrem freundliche und aufgeschlossene Menschen. Finnland ist neben der unglaublich schönen Landschaft auch durch eine stolze Tradition geprägt. Das spiegelt sich in Sprache, Musik und vielen anderen Dingen wider. Trotzdem stehen die EinwohnerInnen Finnlands Neuerungen offen und interessiert gegenüber. Diese bemerkenswerte Eigenschaft verhilft ihnen dazu, in Europa Vorreiterrollen zu übernehmen. Gerade die finnischen Gewerkschaften heften sich das auf ihre Fahnen. Sie scheuen keine Mühen, um sich in der Betreuung ihrer Mitglieder zu verbessern. Mit Organizing versucht die JHL stärker zu werden. Dabei sollen Mitglieder die Möglichkeit erhalten, selbst ihre Stimme zu erheben, um ihren Forderungen den notwendigen Druck zu verleihen. Die in die Jahre gekommenen Strukturen sollen einer modernen Strategie weichen. Dies ist eine große Herausforderung.
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Der Wind wird rauer! In der Vergangenheit haben sich die Gewerkschaften zum Sprachrohr der arbeitenden Bevölkerung entwickelt. Das ist Fluch und Segen zugleich! Dieses System hat es ermöglicht, schnell und gezielt flächendeckende Verbesserungen für ArbeitnehmerInnen zu erwirken. Die Mitglieder konnten sich in die Komfortzone zurückziehen und waren BeobachterInnen. Solange es große Erfolge zu verzeichnen gab und diese auch medial gut präsentiert wurden, bestanden da keine Probleme. Es gab jährlich Gehaltserhöhungen, die einen Reallohnzuwachs bewirkten. Die Arbeitsbedingungen wurden ebenso immer besser. Es reichte, wenn die Gewerkschaften mit Arbeitskampf drohten, und somit war es selten notwendig, die Basis zu formieren. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation sind diese Erfolge zunehmend schwieriger zu erreichen und somit steigt auch die Unzufriedenheit der Mitglieder. Kein Wunder, geht es doch gerade in eine andere Richtung! Aktuell weht Gewerkschaften ein rauer Wind entgegen. Unter dem Deckmantel der Wirtschaftskrise werden ArbeitnehmerInnenrechte beschnitten. Die Bedingungen am Arbeitsplatz haben sich in vielen Bereichen zum Schlechteren entwickelt. Gehaltserhöhungen in Österreich decken zwar noch die Inflation, in anderen europäischen Ländern stehen jedoch bereits jetzt schon Gehaltseinbußen an der Tagesordnung. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis eine Drohung nicht mehr ausreicht! Zunehmend wird es schwieriger, am Verhandlungstisch zum Erfolg zu kommen. Hinzu kommt eine gewerkschaftsfeindliche Politik, die sich auch in den Medien kein Blatt vor den Mund nimmt und Gewerkschaften – damit auch ihre Mitglieder – frontal angreift. Es braucht also dringend ein Umdenken beziehungsweise eine Neuausrichtung des gelebten Gewerkschaftssystems.
Gewerkschaft – die Servicedienstleisterin Aktuell bieten Gewerkschaften eine breite Palette an Servicedienstleistungen, wie Vergünstigungen in den Bereichen Kultur, Gesundheit, Freizeit, Urlaub, Versicherungen. Auch bei Angeboten in den Bereichen juristische Beratung, Ausund Weiterbildung sowie sozialer Wohnbau brauchen sich Gewerkschaften nicht zu verstecken. Dies ist ein wichtiges Standbein, da diese Angebote gut genutzt werden, aber das ist nicht die Kernarbeit einer Gewerkschaft. Jedoch ist genau dieses Bild in den Köpfen der Mitglieder verbreitet. In diesem Zusammenhang fallen auch immer öfter Phrasen wie: „Ich brauche keine Gewerkschaft, die machen ja eh nichts.“ Gerade junge Mitglieder fühlen sich von den Serviceangeboten nicht angesprochen und erwarten sich in anderen Bereichen, zum Beispiel bei Zukunftsthemen wie Arbeitszeitflexibilisierung oder Digitalisierung und Datenschutz, mehr 33
Engagement. Es ist wichtig, vom Bild des Servicedienstleisters wegzukommen und wieder zum Grundgedanken zurückzukehren. GewerkschafterInnen sind keine VertreterInnen! Nein, sie sind LeaderInnen! Sie haben die Aufgabe, Mitglieder anzuleiten und sie dabei zu unterstützen, selbst für ihre Rechte zu kämpfen und in ihrem Bereich zum Erfolg zu kommen. Im Moment fehlt es am „WIR schaffen es gemeinsam“. Die Solidarität, gemeinsames Auftreten und die Masse von Mitgliedern sind Schlüsselwerkzeuge für erfolgreiche Gewerkschaften. Nur so wird es in der Zukunft möglich sein, Erfolge und Errungenschaften mit ArbeitnehmerInnen zu feiern. Dieser Kurswechsel ist nicht einfach!
Vom Stellvertreter zum Leader! In meiner Zeit in Finnland bei der Gewerkschaft JHL, der Schwestergewerkschaft der younion, die ebenfalls für die Vertretung der kommunalen Bereiche zuständig ist, merkte ich, dass dieses Problem auch dort für Kopfzerbrechen sorgt. Was Sozialsystem, Pensionssystem und Gewerkschaftsstruktur angeht, sind die Unterschiede zu Österreich relativ klein. Für mich war es fast wie ein Blick in die Kristallkugel einer Wahrsagerin. In Finnland gab es 2015 einen Regierungswechsel – und unter der rechtskonservativen Regierung geraten Gewerkschaften und unselbstständig Beschäftigte unter Zugzwang. Es sind große wirtschaftsfördernde Maßnahmen auf Kosten der ArbeitnehmerInnen geplant. So wird etwa über Arbeitszeitverlängerung sowie die Reduzierung des Urlaubs- und Weihnachtsgelds diskutiert. Privatisierungen sind ebenfalls Teil des neuen Regierungsprogramms, welches keine neoliberale Forderung auslässt. Die Gesprächsbasis mit Wirtschaft und Politik ist plötzlich kaum noch vorhanden. Die finnischen Gewerkschaften sind nun also gezwungen, neue Wege zu finden, um sich Gehör zu verschaffen. Das muss ziemlich schnell gehen! Neben der grandiosen Arbeit in sozialen Netzwerken versucht die Gewerkschaft JHL, sich von einer Servicegewerkschaft zu einer Beteiligungsgewerkschaft zu entwickeln. Sie hat erkannt, dass es ohne die breite Masse nicht mehr geht. Ihre MitarbeiterInnen schaffen es nicht mehr, stellvertretend für ihre Mitglieder zu verhandeln. JHL benutzt eine bekannte Methode, um die Kehrtwende zu schaffen und aktive Mitglieder zu rekrutieren. Organizing dient hierfür als Grundelement. Es wird gezielt nach Personen gesucht, die aktiv an gewerkschaftlichen Maßnahmen mitwirken, ohne in der Gewerkschaftsstruktur verankert zu sein. Es sind Menschen, die hohes Ansehen unter den MitarbeiterInnen genießen, die in der Lage sind, eine Führungsrolle zu übernehmen und selbstständig mit Unterstützung der Gewerkschaft gegen die Missstände im eigenen Betrieb Zeichen zu setzen. Unter dem Motto „Ich bin Gewerkschaft“ soll ein Grundgedanke vermittelt werden: Die Betroffenen sollen erkennen, dass sie es in der Hand haben und nur mit ihrer aktiven Einbindung zum Erfolg kommen. 34
Die Umsetzung Im neu gegründeten JHL-Büro für Organizing beschäftigen sich vier MitarbeiterInnen mit der strategischen Planung. Sie versuchen, weiße Flecken mit schlechtem gewerkschaftlichem Organisierungsgrad ausfindig zu machen. Diese Recherchearbeit dauert einige Wochen, Informationen werden eingeholt und gesammelt. Die Organizer beschäftigen sich mit der Struktur des Unternehmens, erheben das Verhältnis zwischen Gewerkschaft und Dienstgeber und wer EntscheidungsträgerIn ist. Die Vorarbeit ist einer der grundlegenden Faktoren und entscheidet über Erfolg und Niederlage. Zusammengefasst: Kenne deinen „Feind“! Im nächsten Schritt geht es darum, Kontakt zu den DienstnehmerInnen herzustellen. Im Idealfall gibt es bereits Mitglieder in diesen Betrieben. Selbst wenn es noch keine Mitglieder gibt, läuft der Erstkontakt immer gleich ab. Einer der Organizer vereinbart mittels Telefonat einen Termin in entspannter Atmosphäre, um über seine Arbeit zu sprechen. In einem längeren Gespräch werden Detailinformationen über den aktuellen Stand eingeholt und mögliche Führungspersönlichkeiten, die ein hohes Ansehen unter den Beschäftigten genießen, identifiziert. Es wird hinterfragt, wie das Arbeitsklima ist und ob den MitarbeiterInnen etwas unter den Nägeln brennt. In der Regel gibt es immer etwas, das besser laufen könnte. Hier ist es wichtig, zu erfahren, ob dieses Problem auch noch andere Beschäftigte betrifft. Mit den Fragen „Wie fühlst du dich dabei?“ und „Findest du das fair?“ soll ein Bewusstsein und eine Sensibilisierung für dieses Problem entstehen. Die Kernfrage lautet aber, ob der oder die Betroffene daran etwas ändern will. Nach ein bis zwei Wochen wird ein weiteres Treffen vereinbart. Zwischen beiden Gesprächsterminen hat der/die mögliche LeaderIn die Aufgabe, MitstreiterInnen zu finden, die ebenfalls dazu bereit sind, aktiv etwas zu ändern. Aus dieser Gruppe soll das erste Arbeitskomitee entstehen. Beim zweiten Termin analysieren die neuen AktivistInnen das Problem und erarbeiten unter Anleitung der Organizerin bzw. des Organizers mögliche Maßnahmen und Ziele. Wichtig ist, dass die Umsetzung realistisch ist. Was dabei entsteht, liegt allein in der Hand des Komitees. Dessen Mitglieder kennen die Gegebenheiten vor Ort, sie wissen, welche MitstreiterInnen benötigt werden und welche Möglichkeiten sie für Aktionismus haben, um zum Erfolg zu kommen. Dieser Prozess wird seitens der Gewerkschaft so lang begleitet, bis das Problem gelöst wurde. Der ständige Kontakt ist entscheidend, da die neuen AktivistInnen auch an die Gewerkschaft zu binden sind. Zusätzlich werden gezielt Schulungen angeboten, um die Talente zu verbessern und weitere Forderungen umzusetzen.
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Der Erfolg Durch diese Maßnahmen entsteht eine unabhängige Struktur mit engem gewerkschaftlichem Kontakt. Dieses Netzwerk soll auch die Streikbereitschaft in gewerkschaftlich schlecht organisierten Betrieben sicherstellen und die Gewerkschaft in Verhandlungen zu alter Stärke führen. Die finnische Gewerkschaft ist mit diesem System erfolgreich, da die Mitglieder wieder erkennen, dass sie alle gemeinsam Gewerkschaft sind und es sich auszahlt, aktiv mitzugestalten und mitzuarbeiten. Der erste Schritt auf dem langen Weg zur Beteiligungsgewerkschaft ist gelungen!
Impressionen aus Finnland
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Christian POMBERGER – Stockholm Arbeitgeber: voestalpine Giesserei Traisen GmbH Gewerkschaft/Bundesland: PRO-GE/Niederösterreich Zielstadt/Zielland: Stockholm (Schweden) Praktikumsorganisation: IF Metall
Impressionen
Treffen mit dem Reichstagsabgeordneten Mattias Jonsson von der Region Göteborg im schwedischen Reichstag zu Stockholm
Mit Kollegen von Scania 37
Die rosarote Brille – Mythos schwedischer Sozialstaat? Schwedens Sozialstaat gilt als europäischer Musterschüler. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt, dass vieles nicht mehr so rosig ist. Die Vorgeschichte Schweden war für viele Staaten dieser Welt über einige Jahrzehnte das Vorzeigeland in Bezug auf soziale Errungenschaften, darunter auch Österreich, das sich an dem sogenannten Schwedischen Modell sozialpolitisch anzulehnen versuchte. Bis in die 1990er-Jahre betrug das Kinder- und Familiengeld 100 Prozent vom letzten Einkommen (heute 80 Prozent). Es gab gratis Schulbücher, Kinderbetreuungseinrichtungen, die auch heute noch von staatlicher Seite sehr gut ausgebaut sind, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, eine intensive Forschungs- und Entwicklungspolitik, Sozialleistungen für jede Frau/jeden Mann, ohne dafür entsprechende Nachweise erbringen zu müssen. Das Wirtschaftswachstum war hoch, die Lohnpolitik solidarisch. Viele Beschäftigte fanden gut bezahlte Jobs in der Industrie, die Arbeitslosigkeit war niedrig und eine geringe Inflation heizte zusätzlich den Motor für den schwedischen Sozialstaat an. Finanziert wurde der Wohlfahrtsstaat großteils über Steuern.
Die erste große Krise des schwedischen Wohlfahrtsstaates Der soziale Wohlfahrtsstaat Schweden, so wie wir ihn als ÖsterreicherInnen sehen oder glauben zu kennen, wurde mit Beginn der großen Wirtschaftskrise Anfang der 1990er-Jahre in seinen Grundfesten schwer erschüttert. Ausgelöst wurde diese Krise durch eine Spekulationsblase, wie sie die SchwedInnen bis dahin nicht kannten. Die damalige konservative Regierung unter Premierminister Carl Bildt von der konservativen Moderaten Sammlungspartei suchte das Allheilmittel in dieser für das Land sehr schwerwiegenden Krise in der Kürzung von Sozialleistungen, wie zum Beispiel bei der Arbeitslosen-, Kranken-, Pensionsversicherung, und anderen Wohlfahrtseinrichtungen, die den sozialen Wohlfahrtsstaat ausgemacht haben. Neben einer Preisexplosion bei den Lebensmitteln und Konsumgütern des täglichen Bedarfs sowie dem rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit auf mehr als zehn Prozent (0,2 Prozent im Jahre 1989) schrumpfte auch das schwedische Bruttoinlandsprodukt (BIP) um fünf Prozent. Die Staatsverschuldung stieg im Jahre 1993 auf über 13 Prozent des BIP. Ein Grund dafür war der Rückgang des Konsums der privaten Haushalte; die Ausgaben zur Arbeitslosenunterstützung stiegen außerdem um ein Vielfaches an und die Steuereinnahmen aus der Mehrwehrt- und 38
Lohnsteuer sanken beträchtlich. Das war auch der Auslöser der Diskussion darüber, den Wohlfahrtsstaat zu beschneiden.
Der verspielte Sieg der Sozialdemokratie Auch nach dem großen Wahltriumph der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei unter Göran Persson bei der Parlamentswahl 1994 kam es zu keinen nennenswerten Veränderungen bei den Sozialleistungen, die die konservative Regierung zuvor zuungunsten der schwedischen Bevölkerung verändert hatte. Die Wirtschaft stabilisierte sich zusehends, denn es wurden auch dementsprechend Zugeständnisse an Schwedens Unternehmungen gemacht. Einige größere Betriebe wie Saab und Volvo Cars wurden an chinesische Unternehmungen verkauft. Eine „große Pensionsreform“ wurde 1994 unter der konservativen Regierung eingeleitet und von der sozialdemokratischen Regierung ausgeführt. Dies bedeutete eine Abwendung von der staatlichen hin zur privaten Vorsorge, was natürlich zur Folge hatte, dass die Gelder der privaten Haushalte am Kapitalmarkt veranlagt wurden. Die Folgen bekamen die Menschen 2008 nicht nur in Schweden oder Österreich, sondern weltweit schmerzlich zu spüren. Nach der Parlamentswahl 2006 übernahm die konservative Moderate Sammlungspartei mit den Liberalen unter Premierminister Fredrik Reinfeldt die Regierungsmacht. Ziel der neuen Regierung war eine weitere Demontage des Sozialstaates. Die Leistungen zur Arbeitslosenunterstützung wurden massiv gekürzt, die Grund- und Erbschaftssteuer wurden abgeschafft, um so den KapitalistInnen zusätzlichen Spielraum am freien Kapitalmarkt zu geben.
Dem Volk die kalte Schulter zeigen In einem Interview mit dem SPIEGEL ONLINE1 meinte der konservative schwedische Arbeitsminister Sven Otto Littorin, es müsse sich einfach mehr lohnen zu arbeiten, als arbeitslos zu sein. „Die Menschen sollen flexibler werden“ und „sie müssen dahin gehen, wo die Jobs sind, und die Jobs machen, die nachgefragt werden.“ In dem Zeitungsinterview missbilligte er zudem das Modell Kurzarbeit, das in Deutschland und Österreich als Kriseninstrument weitläufig eingesetzt wurde. Laut Littorin verzögerten solche Maßnahmen nur den Verlust von Arbeitsplätzen, die über kurz oder lang sowieso verschwinden würden. Dass die Vorsitzende des Schwedischen Gewerkschaftsbundes LO, Wanda Lundby-Wedin, wenig Freude mit dieser Haltung hat, liegt auf der Hand. Sie sprach in diesem Zusammenhang von einer „Politik der kalten Herzen“ und konterte, dass Menschen mit schlecht bezahlten Jobs in konjunkturanfälligen Branchen bis zu 500 Prozent höhere Abgaben für ihre Arbeitslosenversicherung zahlen würden als krisensichere 1
Reise, Niels: Schweden: Scharfe Einschnitte im sozialen Musterland. SPIEGEL ONLINE, 18.2.2010, Zugriff am 7.6.2016
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Besserverdienende. Dazu brachte sie den Vergleich: „Das ist so, als würden billige Kleinwagen eine höhere Prämie für ihre Autoversicherung kosten als Luxuswagen.“ Laut „Spiegel“ gab ihr Littorin sogar recht und meinte: „Es ist eine Versicherung – wer ein höheres Risiko hat, soll auch mehr bezahlen.“
Die Finanzkrise 2008 und ihre dramatischen Folgen Die sogenannte Finanzkrise 2008 ging auch an Schweden nicht spurlos vorüber. Zahlreiche Banken und Institutionen mussten von der Regierung und der schwedischen Notenbank gestützt werden, um eine Krise wie in den 1990er-Jahren einigermaßen zu vermeiden. Aber auf wessen Kosten wurden die Rettungsaktionen gestartet? Sie geschahen natürlich zum Nachteil der unselbstständig Erwerbstätigen von Schweden. Weitere Kürzungen im Sozialsystem und im öffentlichen Sektor standen auf der Tagesordnung. Das Krankengeld wurde gekürzt, der erste Krankenstandstag nicht bezahlt, der zweite und dritte Tag brachte nur mehr 80 Prozent vom Letztbezug und es gab nur noch drei Wochen Krankengeldbezug von der Krankenkasse – und was dann? Hier kommen die starken Gewerkschaften von Schweden ins Spiel, wie zum Beispiel die IF Metall Schweden mit der Arbeitslosenkassa. Die Mitglieder der IF Metall bezahlen 1,7 Prozent von ihrem Bruttolohn als Mitgliedsbeitrag an die Gewerkschaft und an die Arbeitslosenkassa, die von der Gewerkschaft verwaltet wird. In Österreich wird ein Prozent vom Bruttolohn/-gehalt als Mitgliedsbeitrag an die Gewerkschaft bezahlt. Arbeitslose erhalten von der IF Metall, wenn sie Mitglied sind, bis zu 20 Prozent an Unterstützung aus der Arbeitslosenkassa bei einer Grundunterstützung von 40 bis 50 Prozent aus der Arbeitslosenversicherung. Seit 2014 ist wieder eine Sozialdemokratische Minderheitsregierung mit Grüner-Beteiligung unter Premierminister Stefan Löfven an der Macht. Diese ist bemüht, dem in der Vergangenheit eingeschlagenen Kurs der Deregulierung des Sozialsystems entgegenzuwirken, was angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament eine ziemliche Herausforderung darstellt.
Mein Resümee: Die Brille abnehmen … Als ich unseren österreichischen Botschafter in Schweden, Dr. Arthur Winkler-Hermaden, nach meiner ersten Praktikumswoche in Stockholm besuchte und wir uns über Schweden und Österreich unterhielten, gab mir unser Botschafter den Tipp, die „rosarote Brille“ in Bezug auf das schwedische Sozialsystem abzulegen. Er hatte recht. Glück auf! Christian Pomberger 40
Angelsächsische Länder (England, Irland)
Mario DANZBERGER – London Arbeitgeber: ÖGB Gewerkschaft/Bundesland: ÖGB/Oberösterreich Zielstadt/Zielland: London (Großbritannien) Praktikumsorganisation: Unite
Impressionen
Internationale Abteilung Unite Simon Dubbins, Mario Danzberger, Ben Richards, Clare Baker
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Office work in London
Thomas Schauflinger, รถsterr. Botschafter in London Dr. Martin Eichtinger, Mario Danzberger
Unite National Officer Transport, Food, Equalities Siobhan Endean, Mario Danzberger
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What else if not Europe!? Die Briten stimmten am 23. Juni 2016 über den Verbleib in oder den Ausstieg, den sogenannten Brexit (British Exit), aus der Europäischen Union ab. Die Kampagne der Unite the Union, einer der größten britischen Gewerkschaften des Landes, zielte auf den Verbleib in der EU ab. April 2016. Vom südöstlich der Londoner City gelegenen Vorort Beckenham, wo ich wohne, geht es zu Fuß zum Bahnhof Ravensbourne. Meistens teilen sich circa 15 Menschen mit mir die Station (in der Rushhour von 7.30 bis 9.00 Uhr sind es einige mehr). Dann geht’s ab mit dem Zug in Richtung West Hampstead Thameslink. Je näher man der City kommt, desto voller wird der Zug. Es scheint fast so, als ob Sprechen verboten ist, da es gespenstisch ruhig ist. Die einen lesen Zeitung, während die anderen Musik hören. Einige trinken Kaffee und wieder andere nutzen die Zeit im Zug, um sich zu schminken. Bei der vorletzten Station Elephant & Castle steige ich ebenso wie die meisten anderen aus. Jetzt bin ich im Großstadtdschungel angekommen und fahre entweder mit dem Bus oder der U-Bahn (die Engländler nennen sie liebevoll „Tube“) ins Büro zur Unite The Union. Die Gewerkschaft Unite the Union liegt sehr zentral in London nördlich der Themse. Die Hektik und der Stress haben mich und die meisten anderen jetzt voll im Griff. Jeder versucht, so schnell als möglich voranzukommen. Im Büro angekommen, kann ich bei einer Tasse Instantkaffee und ein bisschen Small Talk mit den KollegInnen das erste Mal durchschnaufen.
Womit sich die Unite beschäftigte Ich bin zu einer sehr spannenden und entscheidenden Zeit ins Vereinigte Königreich (UK) gekommen. Das EU-Referendum und die damit verbundene Frage nach dem Verbleib Großbritanniens in der EU rückte mit Riesenschritten näher. Die Abstimmung sollte am 23. Juni 2016 stattfinden. Auch die Teilgewerkschaft Unite befasste sich intensiv und eingehend mit diesem Thema. Um die Position der englischen Gewerkschaft vorwegzunehmen, möchte ich Len McCluskey, den General Secretary der Unite, zitieren: „Continuing membership is still the best hope for the jobs and rights of Britain’s workers“. Fast alle Gewerkschaften im Vereinigten Königreich, inklusive der Dachorganisation Trades Union Congress (TUC), sprachen sich für den Verbleib in der Europäischen Union aus.
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Die eigens für das EU-Referendum gestartete Kampagne der Unite beschäftigte sich vor allem mit der Politik des Verbleibs Großbritanniens in der Europäischen Union. Die Hauptpunkte der Diskussion bestanden aus: »» »» »» »» »»
Sensiblen und emotionale Problemstellungen, der Frage „Warum überhaupt eine Kampagne über den Verbleib?“, der Abstimmung, der Kampagnenplatzierung und dem Ablauf und den Rückmeldungen der Mitglieder.
Besondere Herausforderungen der Kampagne Die Kampagne war eine sehr schwierige, aber auch eine sehr bedeutsame. Sie wurde sehr stark von Emotionen beherrscht und war fokussiert auf die Mitglieder der Unite the Union. Es wurde vor allem eine positive Botschaft für „ein besseres Europa“ verbreitet und die wirklichen Ziele der „rechten Presse und politischen Parteien“, die für einen Austritt (Brexit) eintraten, wurden beleuchtet. Es sollte eine der wichtigsten Abstimmungen für diese Generation sein, wobei hier vor allem die Personen ausschlaggebend sein würden, die sich an der Abstimmung nicht beteiligten. Diese könnten nämlich die Mehrheit sein. Ziel war es also, vor allem die eigenen Mitglieder – und damit vorwiegend SympathisantInnen der europäischen Union – für die Abstimmung zu begeistern. Obwohl man dazu sagen muss, dass auch in den eigenen Reihen genug Personen der EU skeptisch gegenüberstehen. Die Ängste der Menschen, vor allem vor Immigration und Jobverlust, führen zu Unsicherheiten und Hass gegenüber Minderheiten. Es wird jemand gesucht, der Schuld daran hat, dass die Menschen verängstigt sind. Hier bietet sich für nationalistische und extreme (vor allem rechts denkende) Parteien die perfekte Gelegenheit, Stimmung zu machen. Schuldige sind auch schnell gefunden: nämlich die EU mit ihrem vermeintlich korrupten System und die Öffnung der Grenzen. In diesem Zusammenhang kann man sehr stark die Parallelen zu Österreich erkennen. Die Leute sind verärgert und haben große Ängste. Vor allem gegenüber den ImmigrantInnen bestehen große Vorurteile und Misstrauen. Zum Beispiel hat das Meinungsumfrageinstitut „Mori Poll“ erhoben, dass 80 Prozent der BritInnen Immigration als ein Problem sehen, aber nur 30 Prozent gaben an, dass sie lokal davon betroffen wären. An diesem Beispiel wird deutlich, mit welchen Ängsten und Unwahrheiten englische Medien und diverse Parteien spielen.
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Fakten statt Vorurteile Man kann es nicht oft genug erwähnen: Migration ist nicht schuld an der Wirtschaftskrise und mit einer Politik der Ausgrenzung von Minderheiten werden die Probleme nur verschlimmert. Großer Schuldiger dieser Krise ist vor allem das unverantwortliche kapitalistische System. Es stellt sich die Frage, ob die Leute aus unserer Geschichte denn nichts gelernt haben. Denn auch hier hört man – vor allem von den konservativen und extremen Parteien – als Antwort auf die Krise die Rufe nach Lohnkürzungen und Entfesselung der Wirtschaft. Die Politik verabsäumt es leider, wie in so vielen Ländern dieser Welt, vor allem eine Politik der Ausgeglichenheit voranzutreiben und für mehr Chancengleichheit und Unterstützung der Schwächeren in der Gesellschaft einzutreten. Stattdessen werden Banken und Konzerne bedient. Wie sonst kann man es sich erklären, dass die Menschen in Großbritannien gezwungen sind, Zero-hour-contracts-Jobs1 anzunehmen, und Mietpreise bzw. Immobilienpreise höher sind als je zuvor. Und sie werden noch weiter steigen. Aber es ist sehr schwierig, diese Diskussion mit Argumenten zu führen, denn es handelt sich um ein hochemotionales Thema und hier entscheidet der Bauch, nicht der Verstand. Trotzdem liegt es an uns, die Leute aufzuklären und dagegenzuhalten. In der Situation des Vereinigten Königreichs dienen dazu Fakten wie z. B.: »» der Anteil der EU-MigrantInnen beträgt nur fünf Prozent der Gesamtbevölkerung des UK; »» EU-MigrantInnen zahlen sehr viel mehr an Steuern zurück, als sie für Sozialleistungen erhalten; »» nur fünf Prozent der Gesamtbevölkerung bekommen Arbeitslosenunterstützung; »» EU-MigrantInnen brachten der Wirtschaft des UK zwischen 2001 und 2012 über 25 Billionen Pfund. Aber wie beschrieben zählen die Fakten oft leider nicht. Die Kampagne zielte vor allem darauf ab, den Mitgliedern das Thema positiv näherzubringen und die Chancen zu beleuchten, die die Mitgliedschaft zur EU bietet. Zu diesen gehören vor allem Arbeitsplätze sowie Arbeits- und soziale Rechte. Um die Frage der Fragen zu stellen: „What else if not Europe!?“
Was will die Bevölkerung Großbritanniens? Die Frage ist, was die EinwohnerInnen für das United Kingdom wollen – ein reguliertes oder ein unreguliertes Wirtschaftssystem? Denn eines ist klar: Ein Wirtschaftssystem wird es mit oder ohne einen EU-Verbleib geben. 1
Null-Stunden-Verträge, in denen Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen vereinbaren, dass für Dienste eine Vergütung erfolgt. Die Besonderheit liegt in der vertraglichen Mindestbeschäftigungszeit von null Stunden. Es handelt sich daher um mehr als prekäre Verhältnisse.
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Die EU ist der größte und vermögendste Binnenmarkt der Welt. 60 Prozent des UK-Handels finden mit der EU statt. Am meisten wird nach Deutschland, Schweden, Belgien und in die Niederlande exportiert. Die Frage nach den Vor- und Nachteilen eines unregulierten Systems (à la USA), in dem eine aggressive neoliberale Ideologie, eine starke Unternehmens-/ Aktionärsfokussierung, unsichere Arbeitsschutzrechte, gewerkschaftsfeindliche Stimmung etc. herrschen, oder eines regulierten Systems, in dem zumindest Gewerkschaften als Sozialpartner anerkannt werden, Mindest-ArbeitnehmerInnenschutzrechte gelten und festgeschriebene Grundrechte vorhanden sind, muss hier gestellt werden.
Was sich seit dem Beitritt in die EU getan hat Seit dem Beitritt Großbritanniens zur EU wurden eine Menge Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung eingeführt: »» Richtlinien, wenn ArbeitgeberInnen zahlungsunfähig werden, »» betriebliche Systeme für soziale Sicherheit, »» Arbeitszeitrichtlinien, »» Gleichbehandlung von selbstständigen Männern und Frauen, »» Rahmen und Richtlinien über Sicherheit und Gesundheit für ArbeitnehmerInnen, »» Entsenderichtlinien für ArbeitnehmerInnen, »» Europäische Betriebsratsrichtlinien, »» Schutz bei sexueller Diskriminierung, »» vereinbarte Laufzeit bei Arbeitsverträgen, »» Teilzeitarbeits-Richtlinien, »» Richtlinien bei Elternteilzeit, »» Leiharbeits-Richtlinien.
Brexit Was würde also passieren bei einem Votum für den Austritt Großbritanniens, dem sogenannten Brexit (British Exit)? Würden die über 100 EU-Regulationen, inklusive der Arbeitsplatz- und Umweltschutzregulationen, einfach wieder aufgelöst werden? Handelsabkommen zwischen Amerika und China würden trotzdem stattfinden. Aber wären Verhandlungspositionen als einzelnes Land leichter durchzusetzen? Bei der Kampagne wurden die Mitglieder immer wieder darauf eingeschworen, wie wichtig und kritisch dieses Votum für die arbeitende Bevölkerung, für 46
die Gesellschaft und für die künftigen Generationen ist. Die Kampagne durfte nicht stillstehen, die AktivistInnen und SekretärInnen mussten die Botschaften überbringen und die Mitglieder dazu bewegen, wählen zu gehen. Und immer wieder der Hinweis: „This is not going to be easy!“
Die Umfragen zeichnen ein sehr knappes Bild Die Umfragen zeichneten ein sehr knappes Bild. Bei einer Umfrage Ende März entschieden sich 51 Prozent für den Verbleib und 49 Prozent für den Brexit. Ein Durchschnitt aus sechs vergangenen Umfragen der letzten Monate zeigte, wie gespalten die britische Bevölkerung bei diesem Thema ist. Es wurde auch erhoben, dass es deutliche Differenzen zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten gibt: »» Frauen waren eher weniger bereit wählen zu gehen und noch unentschlossen. »» Unter 39-jährige WählerInnen waren stärker für den Verbleib in der EU, gingen aber weniger gerne wählen. »» Über 40-jährige WählerInnen waren stärker für den Austritt aus der EU, waren eher zu den Wahlurnen zu bewegen. »» Ober-, Mittelschicht und niedrigere Mittelschicht waren für den Verbleib in der EU. »» Facharbeiterklasse, Arbeiterklasse und Unterschicht waren für den Austritt. »» Nordirland, Schottland, London und Wales waren für den Verbleib. »» East and West Midlands, East Anglia, Yorkshire und Humberside waren für den Austritt. Ganz schwarz-weiß darf man es natürlich nicht sehen, aber dieses Ergebnis spiegelt den Trend relativ gut wider und es wird deutlich, in welchen Handlungsfeldern sich die Kampagne der Unite bewegte.
Die Positionierung der Unite Die Unite sieht sich als unabhängig und fuhr daher eine Kampagne, die auf alle – vor allem die eigenen Mitglieder – zugeschnitten war. Sie wurde nicht auf bestimmte Parteien ausgerichtet, sondern sollte quer über alle Parteien die Menschen ansprechen. Es waren arbeitsplatzbezogene Kampagnen vorgesehen, bei sogenannten Schlüsselarbeitsplätzen (also Arbeitsplätzen mit hohem MultiplikatorInnenfaktor) sollte die Kampagne speziell promotet werden. Es sollte also eine sehr zielgerichtete und koordinierte Kampagne sein. Alle SekretärInnen und Bereichsverantwortlichen waren dankbar und froh, wenn sie zu Meetings eingeladen wurden, um zu referieren. Die Unterstützung für jeden 47
und jede Einzelne war auch klar zugesagt. Das „head office“ (Abteilung für Internationale Angelegenheiten) stand jederzeit zur Unterstützung bereit, besonders bei Problemfällen. Sämtliche Unterlagen und Materialen konnten bestellt oder von der Homepage downgeloadet werden. Alle standen also bereit und waren höchst motiviert, denn nur gemeinsam war das Ziel – weiterhin in der EU zu verbleiben – zu erreichen.
Was würde passieren? Wie würde die Abstimmung ausgehen? Was würde passieren bei einem möglichen Brexit? Was würde sich verändern – oder bliebe alles gleich? Können noch genügend Leute mobilisiert werden oder würde sich das Bild in der Medienlandschaft doch noch in Richtung Pro-EU entwickeln und damit eine Menge Leute überzeugen? Wenn diese Zeilen gelesen werden, ist die Abstimmung schon vorbei. Vielleicht ein paar Wochen, ein paar Monate oder möglicherweise auch schon Jahre, und wir werden wissen, wie die Abstimmung geendet hat und wie die Geschichte ihren Lauf nahm. Bei allen Fragen zu den Vor- und Nachteilen der EU-Mitgliedschaft und den Pros und Kontras des EU-Verbleibs oder Austritts sollte man jedoch nie die Ursprungsidee und den Zweck der EU vergessen: die Einigung Europas durch freiwillige wirtschaftliche Verflechtungen, ein Friedensprojekt. Ein Blick über den Tellerrand ist wichtig – und sich von einem möglichem Tunneldenken zu befreien. Denn mit der Tube ist man zwar am schnellsten, aber es ist nicht immer der beste Weg.
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Thomas SCHAUFLINGER – Nottingham Arbeitgeber: FAB Gewerkschaft/Bundesland: GPA-djp/Oberösterreich Zielstadt/Zielland: Nottingham (Großbritannien) Praktikumsorganisation: Unite
Impressionen
Demonstration gegen Sparpolitik in London
Mark Young, Wegbegleiter und Freund von Unite the Union 49
Kill the Bill Die Trade Union Bill und Camerons Kampf gegen die Gewerkschaften und den Wohlfahrtsstaat. Einer der ersten Besuche im Laufe meines Europapraktikums in Großbritannien führte mich in die Ortschaft Shirebrook. Dieses kleine verschlafene Dorf liegt inmitten eines riesigen ehemaligen Kohleabbaureviers. Die ganze Gegend war einst übersät von großen Kohleminen, in denen Tausende Bergarbeiter beschäftigt und die Gewerkschaften sehr stark organisiert waren. Die Stärke der Gewerkschaften war der konservativen Regierung immer ein Dorn im Auge und in der Amtszeit von Margaret Thatcher begann ein Kampf gegen die Gewerkschaften. In einigen Gegenden in Mideast-England nahm dieser Konflikt regelrecht Ausmaße eines Bürgerkrieges an. Die Premierministerin scheute nicht davor zurück, die Minen wirtschaftlich ausbluten zu lassen, und setzte die Polizei gegen ihre eigenen Landsleute ein. Es kam zu mehreren Toten und unzähligen Verletzten auf beiden Seiten. Der „Eisernen Lady“ wird vorgeworfen, dies alles nur unternommen zu haben, um den gewerkschaftlichen Einfluss zurückzudrängen. Heute befindet sich auf den ehemaligen Abbauhalden in Shirebrook das Europalogistikzentrum von Sports Direct. Es wurde mit Unterstützung von vielen Steuermillionen erbaut, um der ortsansässigen Bevölkerung wieder Arbeit anzubieten. Doch was tat der – mittlerweile zum Milliardär avancierte – Sports-Direct-Eigentümer Mike Ashley stattdessen? Er errichtete ein „warehouse“, in dem bis zu 5.000 MitarbeiterInnen arbeiten, von denen nur ungefähr 200 einen regulären Arbeitsvertrag haben. Die restlichen – über 4.000 – KollegInnen sind sogenannte „agency worker“, also so etwas wie LeiharbeiterInnen, die kaum Arbeitsrechte besitzen, vorwiegend aus Osteuropa stammen und kaum Englisch können. Das verstärkt ihre Abhängigkeit gegenüber Sports Direct noch mehr.
A tough job – ein harter Job In diesem Logistikzentrum gibt es kaum Maschinen (es sind ja genügend austauschbare und billige MitarbeiterInnen vorhanden) und die wenigen Hilfsmittel, wie Trolleys, Wagen, sind meist defekt und werden aus Kostengründen kaum repariert. Außerdem müssen die MitarbeiterInnen nach einer Zwölf-StundenSchicht auch noch eine erniedrigende Durchsuchung über sich ergehen lassen, die möglichen Diebstahl verhindern soll. Diese Zeit – manchmal bis zu einer Stunde – bekommen sie nicht bezahlt. Hier treffe ich gemeinsam mit einem Gewerkschaftsmitarbeiter auf Monika S., eine Arbeiterin von Sports Direct und Mutter zweier Kinder, die sich an die Gewerkschaft gewandt hat, weil sie von Sports Direct entlassen wurde. Warum? 50
Sie hatte verschlafen! Im „warehouse“ herrscht ein Regime, das besagt: Wer sechs Verwarnungen bekommen hat, wird entlassen. Verwarnungen bekommt man allerdings bereits wegen Verschlafen, Reden mit KollegInnen, Krankenstand, Abwesenheit aufgrund von Kinderpflege usw. Ausgesprochen werden diese Verwarnungen von osteuropäischen ArbeiterInnen, die als „AufseherInnen“ eingesetzt werden, dafür etwas mehr verdienen und so für eine strenge Disziplin sorgen.
How it all began – Wie alles begann Doch wie konnten sich solche unwürdigen Zustände in einem Land durchsetzen, in dem die Gewerkschaft einst eine so bedeutende wie erfolgreiche Rolle gespielt hat? Wie konnte es passieren, das sich die Mitgliederzahl der „unions“ von einst circa 13,5 Millionen (1979) auf heute ungefähr 6,5 Millionen nahezu halbiert hat? Die bedeutendste Rolle dürfte – wie oben erwähnt – Margaret Thatcher mit ihrem Kampf gegen die Gewerkschaften im sogenannten „miners’ strike“ gespielt haben. So wird der folgenschwere Arbeitskampf der Minenarbeitergewerkschaften unter Arthur Scargill gegen die konservative Regierung unter Thatcher genannt. Als Vorreiterin im Kampf gegen den Einfluss der Gewerkschaften leitete sie zahlreiche gesetzliche Einschränkungen der ArbeitnehmervertreterInnen und ihrer Möglichkeiten des Arbeitskampfes („industrial actions“) in die Wege. Seit der Amtszeit von Margaret Thatcher wurden insgesamt acht gewerkschaftsfeindliche Gesetze in Großbritannien eingeführt. Unter anderem müssen die britischen Gewerkschaften, bevor sie Kampfmaßnahmen setzen, eine Umfrage unter den MitarbeiterInnen der betroffenen Firma auf dem Postweg durchführen, um überhaupt aktiv werden zu können. Nun versucht aber die britische konservative Regierung unter David Cameron, erneut eine Verschärfung der Gesetze zu erreichen, die in den Medien als der stärkste Angriff auf die Gewerkschaften seit 30 Jahren bezeichnet wird. Die Trade Union Bill (siehe Info-Box) verfolgt das Ziel, den Einfluss der Gewerkschaften noch weiter zurückzudrängen.
Fight austerity – Kampf dem Sparzwang Ein weiteres Motiv für diesen Angriff auf die Interessen der ArbeitnehmerInnen ist, dass die Gewerkschaften im öffentlichen Bereich noch relativ stark vertreten sind. Die britische Regierung, mit ihrer neoliberalen Sichtweise, ist aber darauf bedacht, den Anteil des Staates an öffentlichen Dienstleistungen zurückzudrängen. Unter anderem ist die nationale Gesundheitsversorgung (NHS = National Health Service) Zielscheibe diverser Sparmaßnahmen der Tory-Regierung. Zu der Zeit, als ich in Großbritannien war, streikten gerade die „junior doctors“ – 51
JungärztInnen im Spitalswesen – gegen geplante Gehaltskürzungen. Diese wären ein indirekter Anschlag auf die Gesundheitsversorgung in öffentlichen Spitälern. Die Cameron-Administration kürzt außerdem den Gemeinden das Budget um 20 Milliarden Pfund und bringt so die kommunalen Kinderbetreuungseinrichtungen unter Druck. Sogar die Mutter und die Tante von David Cameron haben an einer Kampagne gegen die Budgetpläne teilgenommen. Der hohe Organisationsgrad und die Stärke der Gewerkschaften im Gesundheitssektor (vorwiegend Unite the Union) stehen aber den Bestrebungen der Regierung im Weg. Den InteressenvertreterInnen gelang es bisher immer, durch öffentliche Aktionen auf sich aufmerksam zu machen und Sparmaßnahmen der Regierung zu bekämpfen. Dies ist also eine weitere Front, an der sich die Gewerkschaften dem Kampf stellen müssen und die erklärt, warum Cameron so auf die Gewerkschaften losgeht (abgesehen von den üblichen Ressentiments des Kapitals). Die Trade Union Bill hat bereits das Unterhaus (House of Commons) passiert und muss jetzt noch durch das Oberhaus (House of Lords), in dem es interessanterweise Widerspruch gibt. Das House of Lords wird normalerweise nicht als sehr gewerkschaftsfreundlich angesehen. Es sieht so aus, als ob die britische Gewerkschaftsbewegung, trotz aller Prügel, die ihr vor die Beine geworfen werden, der konservativen Regierung immer noch zu durchschlagskräftig ist.
So what? – Wie geht's weiter? Nach dem, was ich in meiner Zeit in den britischen East Midlands gesehen habe, kann ich – zum Glück – die Befürchtungen von Cameron bestätigen. Solange sich ArbeiterInnen organisieren, stellen sie immer eine Übermacht gegenüber den Arbeitgebern dar und können das auch zu ihren Gunsten verwenden. Übrigens: Aufgrund der Interventionen von Unite the Union wird den MitarbeiterInnen von Sports Direct in Zukunft die Zeit, die sie für die Untersuchungen (welche in Großbritannien leider nicht ungesetzlich sind) aufwenden müssen, bezahlt. Wie viel Mike Ashley für die bereits getätigten Untersuchungen nachzahlen muss, ist noch Gegenstand von Verhandlungen. Es wird auf jeden Fall eine erkleckliche Summe zusammenkommen und Herr Ashley muss mit den Gewerkschaften in einem Hearing zusammentreffen, was ihm auch sichtlich keinen Spaß bereitet. Alles Gute für die KollegInnen aus Großbritannien, denn wenn sie diesen Kampf gewinnen, hat das auf alle Fälle eine Vorbildwirkung und wird weitere Ungerechtigkeiten, wie jene in Shirebrook, bereits im Vorfeld zu verhindern helfen.
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Trade Union Bill: Bereits jetzt müssen britische Gewerkschaften, bevor sie betriebliche Kampfmaßnahmen organisieren, eine Umfrage unter den Gewerkschaftsmitgliedern des betroffenen Betriebes durchführen. Bevor gestreikt werden kann, müssen die Mitglieder per Post zur Urabstimmung aufgefordert werden. Sieben Tage vor dem Streik müssen dem Arbeitgeber sämtliche Namen der Streikenden mitgeteilt werden. Politische Streiks oder Solidaritätsstreiks sind unrechtmäßig und daher nicht zugelassen. Lehnt die Gewerkschaft eine unrechtmäßige Arbeitskampfmaßnahme nicht ab, haften die GewerkschaftsfunktionärInnen oder die Mitglieder für diese Maßnahme nach dem Gesetz. Werden die gesetzlichen Vorschriften nicht eingehalten, kann der Arbeitgeber eine gerichtliche Verfügung gegen den Streik erwirken. Doch hat die konservative Regierung noch nicht genug und fordert weitere Verschärfungen des Trade-Union-Gesetzes: »» M indestbeteiligung und Unterstützungsgrenzen bei Streikabstimmungen: 50 Prozent Beteiligung in allen Abstimmungen und mindestens 40 Prozent Stimmberechtigte müssen dafür stimmen in „wichtigen öffentlichen Diensten“ – einschließlich Feuerwehr, Gesundheit, Bildung, Transport, Verkehr, Luftfahrt, Schifffahrt und Bahnverkehr, Grenzschutz und Energieversorgung. »» Gewerkschaften müssen den Arbeitgebern zwei Wochen vorher eine Vorwarnung geben über alle geplanten Streikaktionen und Arbeitgeber und Polizei über geplante Social-Media-Kampagnen informieren. »» Verstöße gegen Gesetze zur Aufstellung von Streikposten werden nicht mehr als zivile, sondern als kriminelle Aktionen behandelt. »» LeiharbeiterInnen dürfen zukünftig als StreikbrecherInnen verwendet werden. »» Gewerkschaften müssen einen/eine StreikführerIn bekannt machen. Er/Sie muss eine Armbinde tragen, einen Brief von der Gewerkschaft bei sich haben und auch eine Kopie bei Arbeitgeber und Polizei abgeben. © Simon Dubbins (Unite the Union, UK)
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Vor dem britischen Parlament
Zum Meinungsaustausch bei ORF-Auslandskorrespondentin Bettina Prendergast
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Tanja REITER – Dublin Arbeitgeber: PRO-GE Gewerkschaft/Bundesland: PRO-GE/Niederösterreich Zielstadt/Zielland: Dublin (Irland) Praktikumsorganisation: SIPTU (FB Metall)
Impressionen
UnterstützerInnen der Migrant Workers
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Mit Gerry McCormack von der SIPTU
Impression der grĂźnen Insel
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Plakat der Migrant Workers in der SIPTU
Pimp my Migrants Die irische Gewerkschaft Services, Industrial, Professional and Technical Union (SIPTU) hat voriges Jahr für ihre BetriebsrätInnen mit Migrationshintergrund ein Netzwerk eingeführt. Es bietet verschiedene Kurse und Vernetzungstreffen. In Irland gab es einen rasanten Anstieg der Migration seit der Öffnung der Grenzen. Viele der MigrantInnen kommen aus den osteuropäischen Ländern. Die größte Gruppe ist die der PolInnen, gefolgt von den LitauerInnen und LettInnen. Nun wird die Gruppe der RumänInnen und SlowakInnen immer größer. SIPTU, vorrangig die Manufacturing Division, hat sich seit letztem Jahr intensiv mit den Mitgliedern mit Migrationshintergrund beschäftigt. Daher wurde das Migrant and International Workers Network gegründet. Juri aus Lettland ist Teil dieses Netzwerks.
Wie startete die Gewerkschaft? Begonnen hat die Manufacturing Division mit einer Untersuchung. Genauer angesehen wurde dabei: Welcher Nation gehören die MigrantInnen an? Wie viele von ihnen sind Gewerkschaftsmitglieder? In welchen Branchen arbeiten sie? Welche Sprachen sprechen sie und wie gut sprechen sie Englisch? Vorherrschende Nationen in Irland sind PolInnen, LitauerInnen und LettInnen. 15 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder haben einen Migrationshintergrund. Die Mehrheit der MigrantInnen arbeitet im Agrarsektor, hier vor allem in der Fleischindustrie und in sogenannten „mushroom farms“ (das sind Farmen, die ausschließlich der Produktion von Pilzen dienen). Bei all diesen Tätigkeiten braucht man keine besondere Ausbildung oder Schulbildung. In der Pilzproduktion haben 90 Prozent der ArbeiterInnen einen Migrationshintergrund. 90 Prozent von ihnen sind Frauen. Aber auch im Pharmasektor und der Elektronikindustrie sind ArbeiterInnen mit Migrationshintergrund beschäftigt. Hier macht diese Gruppe jeweils rund 10 Prozent aus. Viele dieser MigrantInnen sind seit 10 bis 15 Jahren in Irland. Sie sprechen aber kein bzw. kaum Englisch. Daher ist es für die Gewerkschaft sehr wichtig, dass auch in der Gewerkschaft ArbeitnehmerInnen mit Migrationshintergrund beschäftigt sind. Die Manufacturing Division hat eine eigene Mitarbeiterin für die Organisation von MigrantInnen, die Englisch, Russisch, Lettisch und ein bisschen Polnisch spricht.
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Was war der Auslöser für die Untersuchung? Warum konzentriert sich die Gewerkschaft nun besonders auf die ArbeitnehmerInnen mit Migrationshintergrund? In den frühen 2000er-Jahren verdiente ein durchschnittlicher Arbeiter bzw. eine durchschnittliche Arbeiterin in der Fleischindustrie zwischen 12 und 15 Euro in der Stunde. Der Organisationsgrad der Beschäftigten war sehr gut. Diese ArbeitnehmerInnen wechselten aber in der Krise 2007 in besser bezahlte Jobs. Die freien Stellen wurden durch MigrantInnen aufgefüllt. Das Lohnniveau sank und die Mitgliederdichte wurde sukzessive geringer, bis sie annähernd bei null lag. Als die Gewerkschaft auf diese Entwicklung aufmerksam wurde, waren die Verhältnisse in der Fleischindustrie bereits sehr schlecht. Nun versucht die Gewerkschaft, hier einzugreifen. Eine Mitarbeiterin lernte Juri kennen, der nun in einer Fleischfabrik Betriebsrat ist. Seit seiner Ankunft vor 15 Jahren arbeitet er in dieser Fabrik.
Viele Junge mit Migrationshintergrund? Am häufigsten sind MigrantInnen in der Gegend rund um Dublin und Cork anzutreffen. Das Alter liegt durchschnittlich zwischen 22 und 44 Jahren, die meisten MigrantInnen sind also noch sehr jung. Die Aufteilung zwischen Männern und Frauen ist annähernd gleich. Im Durchschnitt beträgt die Aufenthaltsdauer der MigrantInnen mehr als zehn Jahre. Viele der AuswanderInnen beauftragten Agenturen in ihren Heimatländern, sie nach Irland zu bringen. Diese verlangen dafür das Drei- bis Vierfache des Durchschnittsmonatsgehalts. Die Agenturen vermitteln die ArbeitnehmerInnen dann in Fabriken, zu denen sie gute Kontakte haben, daher entsteht hier eine Art Community. Die meisten MigrantInnen sprechen nun wieder in ihrer Muttersprache und lernen daher nur sehr schwer Englisch. Da die MigrantInnen hauptsächlich in der ersten Generation in Irland sind und ihre Schulpflicht bereits in ihrem Heimatland absolviert haben, lernen sie auf diesem Weg ebenfalls kein Englisch.
Was möchte die SIPTU nun mit diesem Netzwerk bewirken? Um einen Anfang zu setzen, wurden die BetriebsrätInnen mit Migrationshintergrund zum Training eingeladen. Den Mitgliedern und vorrangig den BetriebsrätInnen wird ein kostenloser Englischkurs angeboten, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Zum ersten Training waren nur BetriebsrätInnen eingeladen, die moderate Englischkenntnisse hatten. Bei diesem Treffen wurde festgelegt, was die BetriebsrätInnen von der Gewerkschaft brauchen, um die ArbeitnehmerInnen in ihren Betrieben organisieren zu können und ihnen ihre Rechte näherzubringen. Da 58
diese BetriebsrätInnen verschiedene Nationalitäten haben, ist eine Zusammenarbeit vor allem für Übersetzungsarbeiten für die verschiedenen MitarbeiterInnen von großer Wichtigkeit. Zu diesem Zweck gründete die Gewerkschaft auf Facebook eine Gruppe, in der sich die TeilnehmerInnen austauschen und um Hilfe fragen können. Außerdem stellten die Abteilungsleiter der SIPTU den BetriebsrätInnen beim ersten Training alle Abteilungen mit ihren AnsprechpartnerInnen vor. Dieses System ist von großem Vorteil, da die TeilnehmerInnen nun wissen, an wen sie sich bei Problemen wenden können. In diesen Abteilungen sitzen zum Teil auch MitarbeiterInnen, die mehrere Sprachen sprechen und sich so gut mit den ArbeitnehmerInnen mit Migrationshintergrund verständigen können.
Was passierte beim zweiten Training? Beim zweiten Training ein halbes Jahr später wurde den TeilnehmerInnen – zu denen auch Juri gehörte – eine Vielzahl von Inhalten nähergebracht. Zuerst verbesserte SIPTU den Zusammenhalt der Gruppe, indem den TeilnehmerInnen vermittelt wurde, dass man durch das Verbinden von mehreren Ideen zu einer besseren und schnelleren Lösung kommt. Gleichzeitig kann man auch durch verrückte bzw. unmögliche Ideen zur besten Lösung kommen. Für viele der TeilnehmerInnen führte bereits dieser erste Block zu einer Erweiterung des Horizonts. Im nächsten Block wurden die BetriebsrätInnen mit der Struktur der Gewerkschaft vertraut gemacht. Warum gibt es Gewerkschaften, was macht die Gewerkschaft? Warum ist es von Vorteil, ein Gewerkschaftsmitglied zu sein? Wie wird die Mitgliedsanmeldung richtig ausgefüllt? Wie funktioniert die Gewerkschaft? Diese und andere Fragen wurden beantwortet. Einer der wichtigsten Blöcke für Juri war jener über die ArbeitnehmerInnenRechte in Irland. Der gesetzliche Mindestlohn von 9,15 Euro, der Urlaub, die gesetzlichen Feiertage, Diskriminierungsgesetze, Gesetze gegen Mobbing, Arbeitszeit-, Ruhezeit- und Pausenregelung wurden den BetriebsrätInnen genau erklärt. Dieser Block war für die TeilnehmerInnen der wichtigste, denn die meisten ArbeitnehmerInnen in Irland kennen ihre Rechte nicht. Juri war sehr froh, an diesem Training teilgenommen zu haben, da er seinen KollegInnen in der Fabrik nun genau erklären kann, was ihre Rechte sind.
Wie geht die Gewerkschaft weiter vor? Im laufenden Jahr gibt es ein weiteres Treffen für diese Gruppe. Bei diesem werden konkrete Fälle bearbeitet, um den BetriebsrätInnen die Gesetze und das Verfahren vor Gericht zu vermitteln. 59
Außerdem sind weitere Kurse geplant. TeilnehmerInnen sollen nicht nur BetriebsrätInnen sein, sondern auch interessierte Mitglieder mit Migrationshintergrund. Voraussetzung dafür ist aber ein gewisser Sprachlevel.
Was wir daraus lernen können? Die SIPTU möchte mit diesem Netzwerk die ArbeitnehmerInnen mit Migrationshintergrund vernetzen, sie aber auch über ihre Rechte informieren. Diese Personen sollen dann als MultiplikatorInnen genutzt werden. Da die ArbeitnehmerInnen mit Migrationshintergrund in Österreich immer mehr werden, könnten die Gewerkschaften hier diese Art Training übernehmen. Es wäre eine gute Möglichkeit, den MigrantInnen ihre Rechte näherzubringen und ihnen außerdem Deutschkurse anzubieten. Denn nur wer die Sprache eines Landes sprechen kann, kann seine Rechte verstehen und einfordern.
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Thomas SUMMEREDER – Dublin Arbeitgeber: vida Gewerkschaft/Bundesland: vida/Oberösterreich Zielstadt/Zielland: Dublin (Irland) Praktikumsorganisation: SIPTU (FB Gaststätten)
Impressionen
Mit dem irischen Kobold Leprechaun Seamus
SIPTU - Hauptzentralgebäude (Büro)
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Kollektivvertragsverhandlung (links AG-Vertreter, Vorsitz fĂźhrt Vertreter vom Gericht, rechts AN-Vertreter)
Dublin (Aussicht vom SIPTU-BĂźro)
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Das „ir(r)e“ Arbeitsrecht und der KV Leider ist nicht alles im „grünen Bereich“, denn genau wie die wunderschöne Insel ist auch die irische Kollektivvertrags- und Arbeitslandschaft sehr zerklüftet. Hier möchte ich daher einen kurzen Einblick in irische Kollektivvertragsverhandlungen (KV) und einen Auszug einiger Unterschiede zwischen irischem und österreichischem Arbeitsrecht bieten. Mein „neuer Arbeitgeber“ Mein Auslandspraktikum verbrachte ich bei der Service, Industrial, Professional and Technical Union (SIPTU), der größten Gewerkschaft Irlands. SIPTU hat circa 200.000 Mitglieder in Irland und circa 7.000 Mitglieder in Nordirland. Das Hauptbüro befindet sich in der Liberty Hall in Dublin.
In der Krise ging’s bergab Während der Wirtschaftskrise wurde 2009 die Sozialpartnerschaft zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden in Irland einseitig von den Unternehmern aufgekündigt. Dies hat unter anderem zur Folge, dass heutzutage beinahe überall auf der „Grünen Insel“ nur noch auf regionaler und/oder betrieblicher Ebene Kollektivvertragsverhandlungen geführt werden können. Durch Intervention der Gewerkschaft gibt es seit 2015 wieder das Recht, flächendeckende KVs zu verhandeln. Vereinzelt, wie z. B. im Sicherheitsgewerbe, wird dies seit heuer auch schon durchgeführt. Des Weiteren gibt es für die Arbeitgeber leider keinerlei Verpflichtung mehr, KV-Verhandlungen aufzunehmen. Dies macht die Arbeit für die örtlichen GewerkschaftssekretärInnen und BetriebsrätInnen nicht gerade einfacher.
KV-Verhandlung: Ein Blick hinter die Kulissen Zuerst verhandelt der Betriebsrat im eigenen Betrieb gemeinsam mit den GewerkschaftsvertreterInnen und den EigentümerInnen über eine Lohn-/Gehaltserhöhung, die Arbeitszeit, Überstunden, Mehrarbeit, Schichtmodelle und Schichtzulagen, bezahltes Krankengeld, Pflegefreistellung, Zulagen usw. Wenn die VerhandlungspartnerInnen auf Firmenebene auf keinen grünen Zweig kommen, findet man sich zu einem vereinbarten Termin in einem Sitzungssaal des Dubliner Arbeitsgerichtes wieder. Ganz klassisch sitzen dann die ArbeitgebervertreterInnen, bestehend aus EigentümerInnen und ManagerInnen, auf der einen Seite des Tisches den ArbeitnehmervertreterInnen, bestehend aus BetriebsrätInnen und GewerkschaftssekretärInnen, gegenüber. Dazu kommen 63
noch ein/e VertreterIn vom Gericht, der/die den Verhandlungsvorsitz übernimmt, und ein/e ProtokollschreiberIn, der/die ebenfalls vom Gericht bestellt wird. Dann wird über die jeweiligen Forderungen diskutiert und verhandelt. Im Vordergrund stehen meistens die Lohn- und Gehaltsforderungen, aber auch Arbeitszeitverkürzung, vom Arbeitgeber bezahlter Krankenstand und die Verhinderung bzw. Bekämpfung von zero-hour contracts (siehe Infobox).
zero-hour contract = Null-Stunden-Vertrag Dies ist ein Arbeitsvertrag mit einer Mindestbeschäftigungszeit von null Stunden. Das heißt Arbeit auf Abruf und nur die tatsächliche Arbeitszeit wird bezahlt. Diese Verträge werden in Großbritannien vermehrt eingesetzt (circa 1,4 Millionen wurden bis jetzt schon unterzeichnet).
Deeskalation nach Schiedsrichter-Prinzip Wenn die Situation zu eskalieren oder die Verhandlung in einer Sackgasse zu verlaufen droht, unterbricht der/die Vorsitzende (wie ein/e SchiedsrichterIn) die Sitzung, zeigt beiden Parteien sozusagen die Rote Karte und trennt sie. Das Ziel besteht darin, Emotionen rauszunehmen, um wieder sachlich weiterverhandeln zu können – klingt erst mal komisch, hat sich aber schon vielfach bewährt. Die Parteien finden sich dann in verschiedenen Räumen wieder ein. Danach fungiert der/die Vorsitzende als neutrale/r VermittlerIn und pendelt jeweils mit dem aktuellsten Stand der Verhandlung zwischen ArbeitgebervertreterInnen und ArbeitnehmervertreterInnen hin und her. Die jeweilige Gruppe diskutiert dabei gemeinsam mit dem/der VermittlerIn, wie weit sie sich auf Kompromisse einlassen will bzw. wie weit sie gehen möchte. So kommt es zu einer schrittweisen Annäherung beider Parteien. Nach einer für den/die SchiedsrichterIn angemessenen Zeit bzw. seiner/ihrer Meinung nach gutem Fortschritt holt er/sie beide Gruppen wieder zusammen und bespricht den Status quo. Nun unterschreiben die ArbeitgebervertreterInnen und die ArbeitnehmervertreterInnen entweder den neuen KV oder ein Termin für eine neue Verhandlungsrunde wird vereinbart, in der sich dann das ganze Prozedere wiederholt.
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Für wen gilt der KV? Sollte es zu einem Abschluss gekommen sein, so gilt der neue KV in der Regel für die nächsten drei Jahre. Interessant dabei ist, dass im Gegensatz zu Österreich der KV nur für Gewerkschaftsmitglieder gilt, mit allem Für und Wider! Doch grundsätzlich möchte die Gewerkschaftsbewegung in Irland natürlich wieder zurück zu einer Sozialpartnerschaft, national bindenden Verträgen und einem verbesserten Arbeitsrecht. Dieser Weg ist allerdings – wie auch Irlands Küste – lang, steil und steinig.
Gegenüberstellung Arbeitsrecht in Irland und Österreich Mindestlohn/-gehalt
Im Gegensatz zu Österreich gilt in Irland ein gesetzlicher Mindestlohn/ein gesetzliches Mindestgehalt von 9,15 Euro pro Stunde. Dieser bzw. dieses wird von der Regierung festgelegt, das heißt, es steht im Gesetz und nicht im KV. Für unter 18-Jährige beträgt der Mindestlohn 6,41 Euro pro Stunde. In den ersten beiden Jahren nach dem 18. Geburtstag steigt dieser zuerst auf 7,32 Euro und danach auf 8,24 Euro. In Österreich wird der Mindestlohn im jeweiligen KV geregelt. Arbeitsvertrag
In Österreich muss ein Arbeitsvertrag vor Antritt des Jobs gemacht werden, er kann schriftlich, mündlich oder konkludent sein. In Irland hingegen ist innerhalb der ersten zwei Monate nach Beginn eines Arbeitsverhältnisses ein schriftlicher Arbeitsvertrag zu unterfertigen. Dieser muss mindestens den Namen von Arbeitgeber und ArbeitnehmerIn, den Arbeitsort, den Arbeitsbeginn (Datum), im Falle einer Befristung deren Dauer, die Einstufung, den Lohn/das Gehalt, die Arbeitszeit, mögliche Zulagen sowie – wenn vorhanden – Krankengeld und Pension enthalten (und falls vorhanden auch angeben, welcher Kollektivvertrag oder welche Betriebsvereinbarung gilt). Jedoch kann dieser Vertrag innerhalb eines Jahres ohne Gründe und Fristen vom Dienstgeber gekündigt werden. In Österreich ist eine Kündigung ohne Gründe beiderseits grundsätzlich immer möglich (außer bei einer Befristung), die gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Fristen und Termine müssen aber eingehalten werden.
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Arbeitszeit
Die irische wöchentliche Normalarbeitszeit beträgt 39 Stunden, die maximale Arbeitszeit 48 Stunden pro Woche. Die Durchrechnungszeiträume dafür sind 4, 6 oder 12 Monate. In Österreich beträgt die wöchentliche Normalarbeitszeit 40 Stunden. Die maximale wöchentliche Arbeitszeit beträgt 50 Stunden, kann aber ausgeweitet werden (Schichtmodelle, Bereitschaftsdienst usw.). Feiertage und Urlaub
In Irland gibt es 9 gesetzliche Feiertage. Die Urlaubsdauer hängt von der Dauer der Beschäftigung ab, kann aber 4 Wochen im Jahr nicht überschreiten. In Österreich gibt es 15 gesetzliche Feiertage. Der Urlaub beträgt mindestens 5 Wochen, kann aber auf 7 Wochen ausgeweitet werden (Schichtarbeit und/oder 25 Jahre Dienstzugehörigkeit). Pausenregelung
Bei einer Arbeitszeit von mindestens 4,5 Stunden muss in Irland eine 15-minütige Pause gemacht werden. Bei einer Arbeitszeit von mindestens 6,5 Stunden ist eine 30-minütige Pause einzuhalten. Die Nachtruhezeit beträgt 11 Stunden. Bei einer Sieben-Tage-Woche müssen mindestens 24 Stunden ununterbrochen Freizeit gewährt werden. In Österreich muss ab 6 Stunden Arbeit eine 30-minütige Pause gewährt werden. Die Nachtruhezeit beträgt 11 Stunden, kann aber in Ausnahmefällen auf 8 Stunden verkürzt werden. (z. B. im Gastgewerbe). Die ununterbrochene Freizeit beträgt in Österreich 36 Stunden. Fazit
Für mich ist somit klar: So schön Irlands Landschaft auch ist und so hilfsbereit und freundlich die EinwohnerInnen der Insel auch sind, arbeiten möchte ich weiterhin lieber in Österreich.
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Belgien, Kroatien, Niederlande, Schweiz
Andreas LAABER – Brüssel Arbeitgeber: Diözese St. Pölten Gewerkschaft/Bundesland: GPA-djp/Niederösterreich Zielstadt/Zielland: Brüssel (Belgien) Praktikumsorganisation: ÖGB-AK-Europabüro
Impressionen
AK-Büroleiter Amir Ghoreishi, Andreas Laaber, ÖGB-Büroleiter Oliver Röpke
ECON-Ausschusssitzung im EU-Parlament mit der kanadischen Außenhandelsministerin Chrystia Freeland 67
Belgien – ein eigenwilliger Regenbogen mit Trauerflor Belgien als einheitliches Land ist bei genauerer Betrachtung eine Illusion. Das Land, die Politik sowie die Gesellschaft sind bis in die kleinsten Einheiten gespalten. „Wie war es in Belgien?“ werde ich immer wieder gefragt, seit ich von meinem Europapraktikum in Brüssel zurück bin. Gemischt. Lange dauert es, bis mir ein passendes Bild dazu einfällt. Aber dann ist es da: ein eigenwilliger Regenbogen mit Trauerflor. Denn Belgien mit seiner schwarz-gelb-roten Flagge ist ein Land mit vielen Farben, die nur allzu oft keine Übergänge kennen. Selbst Yves Camille Désiré Leterme, der ehemalige Ministerpräsident der Region Flandern und von 2009 bis 2011 belgischer Premierminister und Regierungschef, schien als Spitzenpolitiker Belgiens gespalten: Auf einer Pressekonferenz 2007 bat ihn ein frankophoner Fernsehsender, die belgische Nationalhymne zu singen. Leterme stimmte jedoch versehentlich die „Marseillaise“, die Nationalhymne der Französischen Republik, an.
Belgien – Schwarz, Gelb, Rot: getrennte Nationalfarben 541 Tage – so lange kam Belgien ohne zentrale Regierung aus, bis diese schließlich im Dezember 2011 doch die Vertrauensabstimmung gewann. Dennoch hat der Staat funktioniert, irgendwie. Der Grund liegt in der Besonderheit der Machtverhältnisse, die in einem Video auf YouTube mit dem bezeichnenden Titel „Belgium for Dummies“1 erklärt wird. Belgien hat neben der Zentralregierung drei Regionalregierungen (Flandern im Norden, Wallonien im Süden und Brüssel im zentralen südlichen Flandern). Sie haben genauso viel Macht wie die Zentralregierung. Zusätzlich zu den Regionen gibt es „Gemeenschappen“ bzw. „Communautés“ bzw. „Gemeinschaften“: die niederländische, die französische und die deutsche. Auch sie stellen jeweils ihre eigene Regierung und ein eigenes Parlament. Den über die Sprache definierten Gemeinschaften ist es allerdings nicht erlaubt, sich außerhalb ihrer Region einzumischen, z. B. sich für die Rechte der sprachzugehörigen Minderheit in einer anderssprachigen Region einzusetzen.
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https://www.youtube.com/watch?v=QlwHotpl9DA
Die Flämische Gemeinschaft erhielt ihr Wappen am 30. März 1988. Das Wappen zeigt den Löwen von Flandern, so wie er seit dem 12. Jahrhundert im Wappen der Grafen von Flandern geführt wurde. Die Flämische Region, die durch die Flämische Gemeinschaft verwaltet wird, hat kein eigenes Wappen.
Die Französische Gemeinschaft erhielt ihr Wappen am 3. Juli 1991. Der Hahn ist seit 1913 das Symbol Walloniens.
Die Deutsche Gemeinschaft erhielt ihr Wappen am 1. Oktober 1990. Der Löwe ist der Löwe von Limburg, da die deutschsprachige Region früher zu Limburg gehörte. Heute gehört sie zur Provinz Lüttich. Die neun Blumen stellen die neun deutschsprachigen Gemeinden dar.
Seit dem 5. März 1991 ist die Lilie das Wappen der Hauptstadtregion Brüssel. Die Lilie wurde seit Jahrhunderten als Abzeichen in Brüssel benutzt.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Wappen_Belgiens
Nur Brüssel ist mit Niederländisch und Französisch zweisprachig. Der Norden ist einsprachig Niederländisch, der Süden einsprachig Französisch, auch wenn es anderssprachige Minderheiten in der jeweiligen Region gibt. Im Osten in der Provinz Liege/Lüttich lebt noch eine deutschsprachige Minderheit. 69
Die bunte Parteienlandschaft – Farben ohne Übergänge Diese klaren Grenzziehungen zwischen den Regionen und Gemeinschaften bzw. Zuordnungen führen natürlich auch zu Besonderheiten in der Parteienlandschaft Belgiens. Grundsätzlich sind die großen „Säulen“ die Katholiken/Christen, Sozialisten und Liberalen. Jedoch ist jede namhafte Partei geteilt in einen selbstständigen flämischen und wallonischen Flügel, die ihrerseits zwar zusammenarbeiten (können), aber voneinander unabhängig agieren. Die separatistische Bewegung Neue Flämische Allianz, die mit Abstand die aktuelle relative Mehrheit stellt, kennt diese Teilung natürlich nicht. Sie vertritt ohnehin nur die Interessen des flämischen Nordens, ja fordert die Unabhängigkeit Flanderns. Lediglich zwei Kleinst-Fraktionen stellen jeweils eine gesamtbelgische Partei. Somit gibt es im aktuellen Zentralparlament 13 Parteien. Der Zentralregierung gehören neben dem König und dem Premierminister weitere 14 MinisterInnen und vier StaatssekretärInnen an, die aktuell von vier Parteien gestellt werden. Insgesamt gestaltet sich die Regierungsarbeit sehr schwierig angesichts der unterschiedlichen Interessen, die sich zusätzlich noch um die sprachlichen Befindlichkeiten potenzieren.
Rot, grün, blau – die drei Gewerkschaftsbünde „Die Gewerkschaften sind neben der Sozialversicherung noch die einzigen Organisationen, die gesamtbelgisch denken und arbeiten.“ Darauf legt Gewerkschaftsvertreter Olivier Pintelon von der Angestelltengewerkschaft SETCa/BBTK großen Wert. Allerdings sind die Gewerkschaften ihrerseits in drei Lager geteilt. Das hat seine Wurzeln in der bereits angesprochenen „Versäulung“ der Gesellschaft mit drei historisch gewachsenen Kräften: katholisch/christlich, sozialistisch und liberal. Über 50 Prozent der ArbeitnehmerInnen in Belgien sind Gewerkschaftsmitglieder. Der Grad der Mitgliedschaft bei den Gewerkschaften ist deshalb so hoch, weil diese die Arbeitslosenversicherung ausbezahlen. Dabei ist es durchaus üblich, dass Gewerkschaftsmitglieder höher versichert sind. Die Stimmen verteilen sich auf CSC/ACV (Christlicher Gewerkschaftsbund, ca. 52 Prozent), FGTB/ABVV (Sozialdemokratischer Gewerkschaftsbund, 36 Prozent) und CGSLB/ACLVB (Liberaler Gewerkschaftsbund, 11 Prozent). Die Abkürzungen der Namen besagen immer dasselbe, einmal auf Französisch, einmal auf Flämisch – oder umgekehrt. Die Gewerkschaftsverbände arbeiten trotz der Unterscheidungen untereinander sehr gut zusammen. Da Parteien traditio70
nell einen großen Einfluss haben, kann es jedoch sein, dass es einem Gewerkschaftsbund einmal schwerer fällt, die Regierung anzugreifen, wenn gerade „seine“ Partei in dieser vertreten ist. Einen wesentlichen Unterschied zu Österreich stellt das Kollektivvertragssystem dar. Die belgischen Gewerkschaften verhandeln Kollektivverträge nämlich auf drei Ebenen aus: national, branchenübergreifend und betrieblich. Dabei gilt ähnlich wie in Österreich das Günstigkeitsprinzip, das heißt, dass der jeweils speziellere Vertrag nicht schlechter als der allgemeinere sein darf. Auch die Belegschaftsvertretung in den Betrieben ist aufgeteilt: So gibt es neben den Betriebsräten (die von der Gewerkschaft akzeptiert werden müssen) auch Gewerkschaftsdelegierte. Letztere vertreten allein die Mitglieder der Gewerkschaften, die weniger einflussreichen Betriebsräte die gesamte Belegschaft eines Betriebs. In der Praxis jedoch sind BetriebsrätInnen und Gewerkschaftsdelegierte meist ident.
Brüssel – die „Stadt“ der 19 Städte Brüssel ist nicht Brüssel. Was allgemein (außerhalb Brüssels) als „Brüssel“ bezeichnet wird, ist verwaltungstechnisch die „Region Brüssel“. Die „Stadt Brüssel“ selbst ist nur eine von 19 autonomen Gemeinden der Region. Brüssel ist neben Straßburg und Luxemburg einer von drei Sitzen der Europäischen Union. Dies macht Brüssel tiefblau mit zwölf goldenen Sternen und zeigt sich im Stadtbild deutlich. Die großen Glaspaläste bilden neben der Altstadt das zweite Zentrum Brüssels, unter anderem mit dem EU-Parlamentsgebäude, den drei EU-Ratsgebäuden und den beiden EU-Kommissionsgebäuden Berlaymont und Charlemagne. In ihrer Nähe tummeln sich in hippen Restaurants und Bars Männer in Anzügen und Krawatten sowie Frauen mit Kostümen. Wer sich die teuren Wohnungen in den schöneren Bezirken nicht leisten kann, pendelt wie viele ArbeitnehmerInnen der Mittelschicht zwischen den Vororten des Umlandes und der Stadtregion hin und her. Zum Glück ist das Zugnetz in Belgien eines der dichtesten in Europa und entsprechend günstig. Ein gänzlich anderes Bild als das moderne EU-Viertel bieten die hinter den modernen Glaspalästen gelegenen Straßen und Gassen der 1,5-Millionen„Stadt“. Wenn man dort in das Treiben der Menschen von Brüssel eintaucht, kann man ermessen, wie vielschichtig und bunt die Gesellschaft Belgiens ist. Im Schnitt gelten 57 Prozent der Bevölkerung Brüssels als Personen mit unmittelbarem Migrationshintergrund (Wien: 31 Prozent), wobei dieser Anteil von 24 Prozent bis 98 Prozent in den einzelnen Gemeinden und Vororten sehr unterschiedlich ist. Saint-Josse-ten-Noode, Saint-Gilles, Schaerbeek und Molenbeek-SaintJean verzeichnen den höchsten Anteil an allochthoner Bevölkerung. Sie gelten als besondere Brennpunkte in der aktuellen Diskussion über Terrorgefahr in Europa. Ausgestattet mit viel zu wenig Finanzmitteln zur Belebung dieser Stadtteile wirkt 71
die Quasi-„Ghettoisierung“ als Katalysator für Radikalisierung, Fundamentalismus und Gewaltbereitschaft. In diesen Gemeinden gibt es noch viel zu tun, um den Menschen eine Chance auf sinnvolle Lebensgestaltung zu geben. Doch nicht nur die Radikalisierung in den sozialen Brennpunkten stellt ein Problem dar. „Kritik an belgischen Sicherheitsbehörden wächst“, war eine häufige Schlagzeile nach den Terroranschlägen vom März 2016. 32 Menschen verloren dabei ihr Leben, vor allem auf für „EuropäerInnen“ neuralgischen Plätzen: dem Flughafen und in der im EU-Viertel gelegenen U-Bahn-Station Malbeck. Durch die Aufteilung der Autonomie und Zuständigkeiten entstand ein Wirrwarr an Kompetenzen, sodass nicht mehr klar ist: Wer darf wann wem was anordnen? Wer darf wann wem was an Informationen zukommen lassen? Die holprige Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden führte vor allem im Bereich der Sicherheit zu folgenschweren Defiziten, die wesentlich für die Terroranschläge vom März 2016 verantwortlich gemacht werden.
Unzählige Farben Die Anschläge wirken tief in die Gesellschaft quer durch alle Bereiche – auf erstaunliche Weise: Der Besuch des Börseplatzes während meiner Praktikumszeit lässt all die Gespaltenheit für kurze Zeit vergessen. „Drei Sprachen, drei Gemeinschaften, eine Nation!“ kann man hier auf Transparenten lesen. Noch einen Monat nach den Attentaten breitet sich hier ein riesiger Teppich aus Blumen und Kerzen zum Gedenken an die Opfer und als Zeichen der Anteilnahme aus. Die Trauer und der Schmerz über die geschlagenen Wunden sind an diesem Ort greifbar. Hier spüre ich das Herz Brüssels mit einem einzigen Rhythmus schlagen – in einem Meer unzähliger Farben, die zusammen ein Ganzes bilden. Auf diesem Platz scheint jeder Unterschied überwunden – ohne die Frage, wie das gehen soll. Trennende Details sind nicht mehr wichtig, die Menschen, ja die Menschheit als Gesamtheit besinnt sich ihrer selbst, bedroht vom Wahn der Trennung in Gut und Böse. Plötzlich vereinen sich alle Farben zu einem Regenbogen, einem Regenbogen mit Trauerflor. 72
Snjezana BRAJINOVIC – Zagreb Arbeitgeber: Zielpunkt Warenhandel Gewerkschaft/Bundesland: GPA-djp/Wien Zielstadt/Zielland: Zagreb (Kroatien) Praktikumsorganisation: Sindikat trgovine Hrvatske (STH)
Impressionen
Gewerkschaften ohne Grenzen
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„Wir kämpfen nicht um Verbesserungen, sondern ums Überleben“ Kroatien: Schwierige Rahmenbedingungen für die Gewerkschaftsarbeit in einem Land, in dem arbeitsrechtliche und soziale Standards weit hinter dem europäischen Umfeld liegen. „Dobro jutro“ Mit diesem „Guten Morgen“-Gruß hat für einen Monat mein Arbeitstag begonnen. Herzlichst aufgenommen im nur fünfköpfigen Team der Sindikat trgovine Hrvatske (STH) in Zagreb fühlte ich mich sofort als willkommener Teil der Gruppe. Ich durfte am gesamten Spektrum der täglichen Gewerkschaftsarbeit aktiv teilnehmen, an Besprechungen, Mitgliederwerbungen in Betrieben, Kollektivvertragsverhandlungen mit der Arbeitgeberseite auf Branchenebene oder auch Verhandlungen auf Betriebsebene mit den Personalverantwortlichen.
Die Organisation der STH Die STH ist die größte kroatische Handelsgewerkschaft und Mitgliedsgewerkschaft bei Savez samostalnih sindikata Hrvatske (SSSH), dem größten und stärksten Gewerkschaftsbund des Landes. Sie wird geleitet von Zlatica Štulić, die gemeinsam mit ihren nur sieben MitarbeiterInnen circa 15.000 Mitglieder in ganz Kroatien betreut. Die Gewerkschaft STH setzt sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der ArbeitnehmerInnenrechte ein. Ihr oberstes Ziel ist es, die Sicherheit der Arbeitsplätze auszubauen und die Interessen und Bedürfnisse der Beschäftigten im Handel zu schützen sowie soziale Verantwortung in Kollektivverträgen zu verankern.
Rahmenbedingungen für ArbeitnehmerInnenvertretung In Kroatien erfolgt die Vertretung der ArbeitnehmerInneninteressen auf betrieblicher Ebene durch Gewerkschaften und BetriebsrätInnen. In betriebsratsfreien Betrieben kann die repräsentative Gewerkschaft fast alle Aufgaben und Zuständigkeiten des Betriebsrats übernehmen. Das ist auch häufig der Fall. Ein großes Problem stellt dabei die Zersplitterung der sozialpartnerschaftlichen Organisationen, insbesondere der Gewerkschaften, dar. Der ArbeitnehmerInnenseite mangelt es an Einheit und an der gemeinsamen Strategie gegenüber Arbeitgebern und Regierung. Laut kroatischem Arbeitsrecht kann eine Gewerkschaft bereits von zehn volljährigen Personen gegründet werden. Das führte dazu, dass im Mai 2012 dem 74
damaligen Arbeitsminister zufolge insgesamt 534 Einzelgewerkschaften, die meist nur in einem einzigen Betrieb vertreten waren, sowie 24 Gewerkschaftszentralen registriert waren. Nicht selten sind auch die Gewerkschaften selbst auf Betriebs- bzw. Unternehmensebene organisiert. So kommt es oftmals vor, dass in einem Unternehmen mehrere Gewerkschaften vertreten sind. Das Auftreten verschiedener Gewerkschaftsverbände in einem Unternehmen variiert mit der Größe des Unternehmens und hängt davon ab, ob ein Haustarifvertrag vorliegt. Wir haben es daher mit einem Phänomen zu tun, das praktisch in allen größeren Unternehmen vorkommt. Um das Problem der gewerkschaftlichen Zersplitterung zu beheben, hat die Regierung neue Regeln für die Teilnahme der Gewerkschaften an den nationalen dreigliedrigen Gremien eingeführt. Die betreffenden Rechtsvorschriften zur Repräsentativität der Gewerkschaften, die im Juli 2012 verabschiedet wurden, hatten bedeutende Auswirkungen. Nach den neuen Regeln gilt ein Gewerkschaftsdachverband auf nationaler Ebene als repräsentativ, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: Der Dachverband oder seine Mitgliedsgewerkschaften muss bzw. müssen ArbeitnehmerInnen in mindestens fünf verschiedenen Wirtschaftszweigen organisieren und über Büros in mindestens vier Regionen verfügen; der Gewerkschaftsbund muss seit mindestens sechs Monaten amtlich eingetragen sein, über ausreichende Mittel verfügen, um mindestens fünf eigene MitarbeiterInnen zu beschäftigen, und vor allem Gewerkschaften umfassen, die insgesamt mindestens 50.000 Mitglieder haben. Es gibt zurzeit vier repräsentative Dachverbände: den SSSH mit 23 Mitgliedsgewerkschaften, den NHS mit 59 Mitgliedsgewerkschaften, den MHS (auch bekannt unter dem Namen Matica) mit 10 Mitgliedsgewerkschaften sowie den HUS mit 57 Mitgliedsgewerkschaften. Tarifverhandlungen finden in Kroatien derzeit auf Branchenebene, aber auch auf Ebene der Unternehmen bzw. Organisationen statt, wobei die letztgenannte Ebene an Bedeutung gewinnt. Für Branchen- und Unternehmenstarifverträge gelten weitgehend dieselben Vorschriften, wobei es keine hierarchische Beziehung zwischen Vereinbarungen auf Unternehmens-/Organisationsebene und Branchenvereinbarungen, die für dieselben ArbeitnehmerInnen gelten können, gibt. Die große Zahl der Gewerkschaften und die mangelnde rechtliche Regelung der Vertretungsrechte stellt für die ArbeitnehmerInnenseite eine große Herausforderung dar. Kollektivverträge werden oftmals von Arbeitgeberseite nicht eingehalten, ohne Folgen oder Sanktionen fürchten zu müssen.
Die Situation der Beschäftigten im Handel Die Arbeitgeber haben im Jahr 2013 den Kollektivvertrag für die Branche Handel gekündigt. Seitdem wird neu verhandelt. Hinzu kommt, dass viele Un75
ternehmen die gewerkschaftliche Arbeit in ihren Betrieben oftmals erschweren oder ganz unterbinden. Reformen des Arbeitsrechts führen dazu, dass Arbeitsverträge bei Neueinstellungen zumeist befristet werden – bis zu drei Jahre. Kettendienstverträge sind zwar nicht erlaubt, jedoch keine Seltenheit. Die Arbeitsbedingungen haben sich für die Beschäftigten stark verschlechtert, begleitet von Lohnund Gehaltskürzungen. Laut STH belief sich im Jahr 2015 das Durchschnittsgehalt von VerkäuferInnen bei 40-Stunden-Woche auf 3.975,40 Kuna brutto. Das sind 3.098,18 Kuna netto, was circa 413 Euro entspricht. Der gesetzliche Mindestlohn im Jahr 2016 beträgt 3.120 Kuna brutto, das entspricht circa 416 Euro. Das Durchschnittsgehalt im Jahr 2015 in Kroatien betrug 8.076 Kuna brutto oder 5.720 Kuna netto, das entspricht circa 762 Euro. Die durchschnittliche Pensionshöhe in Kroatien betrug im Jahr 2015 2.238 Kuna, das entspricht circa 298 Euro. Die Arbeitslosenrate lag bei 17,7 Prozent. Quelle: Angaben laut DZS (Statistik Kroatien), HZMO (Pensionsversicherung)
Der Gewerkschaftsbund SSSH kommt bei seinen Berechnungen für den Warenkorb einer durchschnittlichen Familie bei den Aufwendungen für Ernährung auf einen Anteil von 40 Prozent. Das ist bei dem geringen kroatischen Lohnniveau zu hoch. Im Ländervergleich zeigt sich deutlich das überhöhte Preisniveau für Lebensmittel. Meine Wahrnehmung beim Einkaufen war, dass die Preise gleich hoch sind wie in Österreich! Da die Kollektivvertragsverhandlungen auf der Branchenebene nur sehr langsam vorangehen, versucht die Gewerkschaft in vielen großen Firmen, z. B. bei Spar, Interspar, Kaufland und Billa, die MitarbeiterInnen gewerkschaftlich zu organisieren, um dort auf Unternehmensebene einen Kollektivvertrag abzuschließen. Je höher die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder ist, umso mehr Gewicht haben die Forderungen und Argumente der Gewerkschaft STH. Im Handel gibt es derzeit neun Kollektivverträge auf der Unternehmensebene. In diesen Unternehmen liegt der Organisationsgrad der STH-Gewerkschaftsmitglieder bei 57 Prozent. Es geschieht häufig, dass drei bis vier Gewerkschaften an den Tarifverhandlungen beteiligt sind. Das führt dazu, dass Gewerkschaften mit 1.000 Mitgliedern in der Belegschaft und solche, die nur 20 Mitglieder vertreten, in gleicher Position verhandeln.
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Öffnungszeiten sowie Sonn- und Feiertagsarbeit Derzeit dürfen die Geschäfte 24 Stunden geöffnet bleiben, von Montag bis Sonntag. Die Sonntagsarbeit ist ein großes Thema bei den Handelsangestellten. Hiervon sind gerade Frauen betroffen. Die Beschäftigten fordern, dass die Geschäfte am Sonntag geschlossen bleiben. Wenn dennoch gearbeitet werden muss, verlangen sie eine höhere, faire Entlohnung sowie eine Regelung, um nicht jeden Sonntag arbeiten zu müssen. Es gibt in Kroatien vierzehn gesetzliche Feiertage, die Geschäfte haben aber nur an drei Feiertagen geschlossen. Und das in einem Land mit einer zu 85 Prozent römisch-katholischen Bevölkerung. Aufgrund des fehlenden Branchenkollektivvertrags für die Sparte Handel werden die Zulagen für Sonn- und Feiertagsarbeit großteils nicht oder nur teilweise bezahlt. Laut Arbeitsgesetz ist diese Arbeit höher zu entlohnen. Dem ist Genüge getan, wenn der Arbeitgeber nur eine Kuna mehr bezahlt.
Unterstützung auf internationaler Ebene Die Handelsgewerkschaft STH nahm diese Umstände zum Anlass, sich gesellschaftlich neu aufzustellen und EU-weit strategische Partnerschaften und Allianzen zu suchen. Die Vernetzungsstrategie umfasst internationale Zusammenarbeit und Kampagnen wie den „Wiener Dialog“, die „Allianz für den freien Sonntag“ oder „Gewerkschaften ohne Grenzen“ und treibt den Aufbau von Partnerschaften zu Partnerorganisationen in Deutschland, Österreich, der Slowakei, Ungarn und Slowenien voran. Gemeinsames Ziel ist es hier, zu einem Verbot der Sonntagsarbeit im Handel auf europäischer Ebene zu kommen und die gewerkschaftliche Arbeit in multinationalen Unternehmen zu koordinieren.
Aktionen auf nationaler Ebene Der Gewerkschaftsbund SSSH unternimmt gemeinsam mit STH immer wieder landesweit Aktionen. Hervorheben möchte ich zwei von mehreren Aktionen, an denen ich während meines Aufenthalts selbst teilnehmen durfte und die mich sehr beeindruckt haben.
Gewerkschaften ohne Grenzen Seit dem Jahr 2007 findet im Vorfeld der internationalen Feiern zum 1. Mai als Tag der Arbeit auch ein mittlerweile schon traditionelles Treffen der Gewerkschaften von Kroatien und Slowenien unter dem Titel „Gewerkschaften ohne Grenzen“ an einem gemeinsamen Grenzübergang statt. 77
Heuer fand dieses Treffen am 26. April 2016 um 11.00 Uhr zwischen SSSH und Savez slobodnih sindikata Slovenije (ZSSS) am Grenzübergang BreganaObrežje statt. Dabei haben die Präsidenten Mladen Novosel (SSSH) und Dušan Semolič (ZSSS) eine gemeinsame Erklärung zur Situation der Flüchtlinge – „Menschen- und Arbeitnehmerrechte sind für alle gleich“ – unterzeichnet und zu einem solidarischen und respektvollen Umgang mit Flüchtlingen aufgerufen.
Projekt Gewerkschaftsbund SSSH „Reci to cipelama“ Kroatien leidet unter einer massiven Abwanderung. In den vergangenen zehn Jahren haben über 110.000 EinwohnerInnen Kroatien verlassen, allein seit der Wirtschaftskrise 2009 waren es über 80.000. Davon sind über 40 Prozent nach Deutschland ausgewandert. In den letzten fünf Jahren haben sich die Beschäftigtenzahlen der KroatInnen, die in Deutschland arbeiten, auf 45,8 Prozent erhöht. Die wichtigsten Gründe auszuwandern sind: »» zu geringes Einkommen, »» schlechte Arbeitsbedingungen, »» hohe Arbeitslosigkeit. Die Höhe des Einkommens und die Arbeitsbedingungen werden von HochschulabsolventInnen als primäre Gründe genannt. Viele verlassen das Land gleich nach dem Studium. Der Gewerkschaftsbund SSSH hat daher in Zagreb die BürgerInnen zu der Aktion „Schuhe, die niemand mehr braucht“ aufgerufen. Die ZagreberInnen sollten am 27. April 2016 Schuhe in den Park Zrinjevac bringen, als Symbol für all diejenigen, die ausgewandert sind. Auch die dazugehörigen Geschichten sollten mit allen geteilt werden. Ziel dieser Aktion war, die Menschen wachzurütteln und darauf aufmerksam machen, wie viele junge Menschen Kroatien auf der Suche nach einem besseren Leben im Ausland verlassen. Unter dem Motto „Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte“ wurden Fotos der Aktion an die Regierung geschickt mit der Aufforderung, endlich mit Maßnahmen gegenzusteuern und nicht länger untätig zuzuschauen. Es ist an der Zeit, dass wir für ein besseres Leben und faire Arbeitsbedingungen in Kroatien kämpfen. Es ist an der Zeit, den Menschen vor den Profit zu stellen!
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Mitarbeit beim Projekt Schuhe
Projekt Schuhe
Fazit Die politische Situation im Land erschwert die Tätigkeit der ArbeitnehmervertreterInnen. Die neue Regierung ist seit 100 Tagen im Amt. Bis jetzt fehlt noch immer eine glaubwürdige Verpflichtung zum sozialen Dialog. Es besteht jedoch nach wie vor Hoffnung. Wichtig für die Zukunft sind ein besserer Zusammenhalt und eine intensivere Zusammenarbeit der Gewerkschaften und der Betriebsräte innerhalb der Europäischen Union, ganz besonders im Hinblick auf die vielen internationalen Konzerne! Mich haben die Arbeit und der persönliche Einsatz der kroatischen KollegInnen, ihre Offenheit gegenüber den ausländischen Partner-GewerkschafterInnen und ihr ungebrochener Optimismus sehr beeindruckt. Mit geringsten finanziellen Mitteln werden die großen gesellschaftlichen Probleme, wie Arbeitslosigkeit und Armut trotz Arbeit, mit starkem Willen und Ausdauer bekämpft – unter Rahmenbedingungen, die weit hinter unseren gewohnten Standards rangieren.
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Zagreb STH, Sandra Bahunek, Zlatica Stulic, Darko Garasic, Snjezana Brajinovic, Bojana Percan, Radmila Rumbak (v. l. n. r. )
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Christian PUHR – Weert Arbeitgeber: Prysmian OEKW GmbH Gewerkschaft/Bundesland: PRO-GE/Wien Zielstadt/Zielland: Weert (Niederlande) Praktikumsorganisation: FNV Metaal
Impressionen
Prysmian-Nieuw Bergen
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A1-Seminar
DAF-Abstimmung
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Zeitarbeit: Sicher und flexibel? Flexworking ist endlich gut geregelt, aber schwer einzuhalten. Das bedeutet große Verantwortung für PersonalvertreterInnen.
GewerkschaftssekretärInnen helfen In der Kantine einer Kabelfirma sitzen drei Dutzend LeiharbeiterInnen um einen Tisch. Gespannt folgen sie den Ausführungen eines Gewerkschaftssekretärs, der sie über ihre Rechte aufklärt. Hoffungsvoll präsentieren etliche von ihnen die letzten Lohnzettel, um sie von den PersonalvertreterInnen kontrollieren zu lassen. Erleichterung ist zu verspüren unter den ArbeiterInnen, bei denen alles korrekt abgerechnet wurde, aber auch bei den wenigen, bei denen Unstimmigkeiten festgestellt wurden. Es ist ja jemand da, der sich um die Korrekturen kümmert. Es ist ja ihr Recht. Die Niederlande werden auf dem Sektor Zeitarbeit oft als Aushängeschild und Nachahmungsbeispiel hergenommen. Die Flexibilität beim Einsatz der LeiharbeiterInnen sowie die Sicherheit bei der Arbeitszeit gelten in vielen Ländern Europas als Vorbild. Beschäftigt man sich etwas genauer mit dem Thema und macht sich ein Bild von betroffenen ZeitarbeiterInnen in den Beschäftigerbetrieben vor Ort, sieht die Situation aber anders aus.
Lange Tradition In Holland hat die Zeitarbeit eine lange Tradition. Neben Großbritannien gibt es hier den größten Anteil an Zeitarbeitsverträgen in Europa. Bereits in den 1950er-Jahren etablierten sich die ersten Zeitarbeitsverträge. In der folgenden Zeit wurde dieses Beschäftigungsmodell von den Firmen immer öfter genützt, was zur Folge hatte, dass bereits Mitte der 1960er-Jahre die ersten gesetzlichen Regelungen zur Bereitstellung von Arbeitskräften eingeführt wurden: Gesetz über die Bereitstellung von Arbeitskräften (Wet op het ter beschikking stellen van arbeidskrachten). Hier wurden allerdings nur Fragen zur Vermittlung geregelt. 1970 wurde eine Meldepflicht für private Leiharbeitsunternehmen eingeführt. Doch bis in die 1990er-Jahre gab es in den Niederlanden kein eindeutig geregeltes ArbeitnehmerInnenüberlassungsrecht. 1998 und 1999 traten deswegen Neuerungen in Kraft. Ab 1998 galt das WAADI (Wet allocatie arbeidskrachten door intermediairs). Die Genehmigungspflicht für Zeitarbeitsunternehmen wurde wieder abgeschafft, die Flexibilität der Leiharbeitskräfte sollte erhöht werden. Zum Schutz für Festangestellte vor dem Austausch durch ZeitarbeiterInnen und um eine Diskriminierung bei der Entlohnung der FlexworkerInnen zu ver83
hindern, wurde ein Gleichbehandlungsgrundsatz bei der LeiharbeiterInnenentlohnung vom Gesetzgeber eingeführt. 1999 wurde das Flexibilitäts- und Sicherheitsgesetz (Wet flexibiliteit en zekerheid) eingeführt. Neben der Flexibilisierung der Arbeitszeit wurde aber auch die rechtliche Stellung der Zeitarbeitskräfte gestärkt. Verbesserungen bei der Arbeitsund Einkommenssicherheit wurden vorgenommen. Rechtssicherheit bei den Arbeitsverträgen oder Ansprüche auf Krankengeld und andere Transferleistungen wurden geschaffen.
Kollektivvertrag für LeiharbeiterInnen Eine der wichtigsten Regelungen in diesem Gesetz betrifft die Kollektivverträge für diese ArbeiterInnengruppe. Seit 1999 erlaubt dieses Gesetz ausdrücklich, dass Regelungen in kollektiven Arbeitsübereinkommen (collectieve arbeidsovereenkomst – CAO) von den gesetzlichen Regelungen der Rechte und Pflichten der ZeitarbeiterInnen abweichen. VertreterInnen der Leiharbeitsunternehmen und Gewerkschaften haben Normen geschaffen, die zum Beispiel die Beschäftigungsdauer und den Weg in einen unbefristeten Arbeitsvertrag regeln. Diese Tarifabsprachen münden in einen Kollektivvertrag für ZeitarbeiterInnen. Neben den VertreterInnen der Leiharbeitsunternehmen (NBBU) verhandeln beim aktuellen CAO die Gewerkschaften FNV Flex, De Unie (Gewerkschaft für Industrie und Dienstleistung), CNV Dienstenbond und LBV. Ein großes Thema in diesem Kollektivvertrag ist, bei längerer Beschäftigungsdauer der ArbeitnehmerInnen deren Ansprüche aus dem Dienstverhältnis zu verbessern. Haben ZeitarbeiterInnen am Beginn ihrer Beschäftigung bei den Leiharbeitsfirmen wenig bis gar keine Rechte wie Kündigungsschutz, Krankengeld oder Weiterbeschäftigung, werden diese auf dem Weg zum fixen Arbeitsverhältnis immer besser. Das hört sich zunächst nicht schlecht an, aber der Weg zur festen Anstellung ist lang. Die Beschäftigten müssen dabei mehrere Arbeitsphasen durchlaufen. Am Ende dieser Phasen winkt ein fixer Arbeitsvertrag. Dass in den einzelnen Arbeitsphasen Unterbrechungen bei den Beschäftigungszyklen die ArbeitnehmerInnen wieder an den Anfang des Phasensystems zurückwerfen, ist ein großes Problem. Um dies zu veranschaulichen, muss man das Phasensystem der ZeitarbeiterInnen in den Niederlanden genauer erklären.
Das Phasenmodell für ZeitarbeiterInnen Auf dem Weg zu einem festen Arbeitsvertrag bei einem Leiharbeitsunternehmen müssen die Beschäftigten drei unterschiedliche Phasen durchlaufen.
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Phase A:
Hier gibt es Arbeitsverträge, die auf die Dauer des Einsatzes in der jeweiligen Beschäftigerfirma befristet sind. Endet die Überlassung oder tritt eine Krankheit auf, so endet der Vertrag automatisch. Gibt es keine Überlassung, besteht in dieser Phase keine Lohnfortzahlung durch das Leiharbeitsunternehmen. Es können beliebig viele Verträge abgeschlossen werden. Die Bezahlung ist bei jedem Vertrag anders, sie muss sich aber nach den Vorgaben aus dem Kollektivvertrag richten. Diese Phase kann erst dann verlassen werden, wenn bei ein und derselben Zeitarbeitsfirma 78 Wochen (eineinhalb Jahre) gearbeitet wurde. Wechselt man in dieser Zeit zu einer anderen Firma, beginnt die Phase A von vorne. Bei Arbeitsunterbrechungen ab 26 Wochen wird ebenfalls von vorne gezählt. In der Phase A wird außerdem schon ein einprozentiger Anteil vom Bruttolohn in ein persönliches Ausbildungsbudget zurückgelegt. Auf dieses können die ArbeitnehmerInnen aber erst in der nächsten Beschäftigungsstufe zurückgreifen. Phase B:
Diese Phase beginnt, wenn Phase A abgeschlossen ist. Sie dauert zwei Jahre oder endet nach maximal acht befristeten Arbeitsverhältnissen. Das heißt, dass Phase B grundsätzlich schon früher abgeschlossen werden kann, je nachdem, was früher erreicht wird. In dieser Phase endet die Beschäftigung nicht automatisch nach Abschluss der Arbeiten im Beschäftigerbetrieb. Endet die Überlassung vor dem im Arbeitsvertrag festgesetzten Zeitpunkt, wurde also zum Beispiel ein befristeter Vertrag für sechs Monate abgeschlossen und die Überlassung endete nach fünf Monaten, haben die LeiharbeiterInnen das Recht auf Lohnfortzahlung vom Leiharbeitsunternehmen. Oder sie werden in einen anderen Betrieb vermittelt. Dauert die Arbeitsunterbrechung in dieser Phase nicht länger als drei Monate, wird sie der Beschäftigungszeit angerechnet. Bei längerer Unterbrechung (ab 13 Wochen) fallen die LeiharbeiterInnen in Phase A zurück! In Phase B haben die ArbeitnehmerInnen auch Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und können auf ihr persönliches Ausbildungsbudget zugreifen. Unter Einhaltung einer Kündigungsfrist (je nach Vertragsdauer 7 bis 28 Tage) kann von beiden Seiten ein befristeter Vertrag gekündigt werden. Dazu bedarf es aber der Genehmigung des Arbeitsamtes (Centra voor Werk en Inkomen). Phase C:
Nach etwa 3,5 Jahren (!) beim gleichen Zeitarbeitsunternehmen haben die ArbeiterInnen Anspruch auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bei demselben. 85
Im Unterschied zu Phase A und B müssen LeiharbeiterInnen nun nicht nur für die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden bezahlt werden, sondern es gibt auch in verleihfreien Zeiten und an Feiertagen Bezahlung. Zudem besteht nur in dieser Phase ein Anspruch auf bezahlten Urlaub. Die Kündigungsfristen in Phase C betragen für beide Seiten mindestens einen Monat.
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Das Phasenmodell in der Praxis Dieses Modell soll die Beziehung zwischen ArbeiterInnen und Leiharbeitsunternehmen wachsen lassen. Auch der Aspekt der Entlohnung und die Transferleistungen sollen den Beschäftigten einen Anreiz bieten, die drei Phasen zu durchlaufen und nicht schon in der ersten Phase aufzuhören. Das soll außerdem den Arbeitsmarkt ankurbeln. Freilich ist das der Idealfall. In Wirklichkeit gibt es keine genaue Statistik, wie viele ZeitarbeiterInnen in den Genuss (wenn man so sagen will) der dritten Phase gelangen. Fakt ist auch, dass dieses System dazu missbraucht wird, ArbeiterInnen ihrer Rechte zu berauben. In der Realität kommt es sehr häufig vor, dass Beschäftigte kurz vor Erreichen der besseren Phase ihre Aufträge verlieren und wieder von vorne, also mit Phase A, beginnen. Auch beim Thema Entlohnung ist oft nicht alles so rosig, wie dieses Modell vermitteln will. Bei der Höhe der Einkommen kommt es auch bei ZeitarbeiterInnen auf den Ausbildungsstand an. Viele ArbeiterInnen können das Instrument des persönlichen Weiterbildungsfonds nicht nützen, weil sie die Phase B nur schwer erreichen. Oder Leiharbeitskräfte werden in den Beschäftigerbetrieben häufig von einem Arbeitsplatz auf einen anderen versetzt. Durch diese Praxis ist es sehr schwer, Erfahrungen zu sammeln, um eine entsprechende Qualifizierung zu erreichen – die aber notwendig ist, um in eine höhere Lohngruppe zu gelangen. Es kommt daher sehr auf die Tätigkeit der Gewerkschaften in Zusammenarbeit mit den Betriebsräten in den einzelnen Firmen an, die Umsetzung der Bestimmungen zu überwachen und überprüfen. Das wird klar, wenn man bedenkt, dass der Kollektivvertrag für ZeitarbeiterInnen in den Niederlanden 161 Seiten aufweist. Viele Voraussetzungen müssen erfüllt, Fristen eingehalten oder Qualifikationen erreicht werden, um Ansprüche geltend machen zu können. Das bedeutet, dass die Ist-Situationen der Beschäftigten im Einzelnen zu prüfen sind. In manchen Betrieben ist das zwar sehr aufwendig, aber trotzdem absolut notwendig. Es ist daher auch kein Wunder, dass in solchen Firmen der Organisationsgrad hoch ausfällt und der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder über 90 Prozent beträgt. Durch gute Betriebsratsarbeit kann auch im Bereich der Zeitarbeit viel erreicht werden. Die Rechte der leider viel zu uninformierten ZeitarbeiterInnen werden gewahrt oder umgesetzt. Das bedeutet im Umkehrschluss bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten und eben mehr Mitglieder für die Gewerkschaften.
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Referat im Zuge eines DAF-Seminars
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Robert FREIINGER – St. Gallen Arbeitgeber: Holding Graz Kommunale Dienstleistungen GmbH/AEVG Abfall-Entsorgungs- und Verwertungs GmbH Gewerkschaft/Bundesland: PRO-GE/Steiermark Zielstadt/Zielland: St. Gallen (Schweiz) Praktikumsorganisation: Unia
Impressionen
Schweizer Botschafter in Ă–sterreich Bubb, Robert Freiinger, Gesandter Jaggy
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Kampf der Giganten1 Die Schweizer Gewerkschaften kämpfen um jedes Mitglied. Seit Jahren sinken die Mitgliederzahlen, die Betriebsräte und die GewerkschaftssekretärInnen arbeiten aber nicht immer zusammen. Die Strukturen der schweizerischen Gewerkschaft, die sich nach dem Ersten Weltkrieg herausgebildet haben, bestanden bis zum Anfang der 1980er-Jahre weiter. Eine Vielzahl der kleinen und mittleren Branchenverbände und einige MultiBranchenverbände prägten das Bild. Aufgespalten waren die Gewerkschaften in fünf Dachverbände mit unterschiedlichen weltanschaulichen Ausrichtungen. Diese Verbände und Dachorganisationen lebten gut in der Hochkonjunktur der 1960er-Jahre, als fast alle Branchen in der Schweiz in die Breite wuchsen. Die Gewerkschaften konnten auch Fortschritte für die Mitglieder aushandeln. So hatten etwa noch im Jahre 1954 nur 96 Prozent aller FabrikarbeiterInnen Ferien. 1964 wurden schließlich nach guten Verhandlungen mindestens drei Wochen Ferien für alle im Arbeitsgesetz Unterstellten festgelegt. Bereits mit der Krise Mitte der 1970er-Jahre kündigte sich das Ende dieses „Goldenen Zeitalters“ an. Die Industrie schrumpfte und die Beschäftigten wanderten in die Dienstleistungsbranchen ab. Erste Diskussionen über Zusammenschlüsse einiger Verbände und sogar über eine Gründung von Multi-Branchenverbänden wurden geführt. Nichts davon aber wurde umgesetzt. Die Wirtschaft erholte sich in den 1980er-Jahren und dadurch wurde eine Fusion der Gewerkschaften nicht mehr als notwendig angesehen.
Der Sargnagel der Gewerkschaften In diesem gesamten Zeitabschnitt war die gewerkschaftliche Organisation der ArbeiterInnen und Angestellten nie sehr hoch gewesen. Der Organisationsgrad erreichte keine 30 Prozent. Zum Vergleich: In Schweden lag er bei 80, in Österreich bei 60 und in England bei 50 Prozent. Die 1991 einsetzende Wirtschaftskrise war der letzte Nagel im Sarg der Gewerkschaftslandschaft. Im Bauhauptgewerbe wurden 40 Prozent der Arbeitsplätze vernichtet, Zehntausende Saisonniers mussten zurück in ihre Heimat. In der Metall- und Maschinenindustrie verlor ein Drittel der ArbeitnehmerInnen ihre Arbeitsplätze. Bereits in den 1970er-Jahren hatten die Gewerkschaften ihre Sekretariate in den kleinen und mittleren Städten schließen müssen, weil aufgrund der Mitgliederverluste die finanziellen Ressourcen nicht mehr reichten.
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Quelle: Unia (Hrsg., 2014): Gewerkschaft in Bewegung – 10 Jahre Unia, Zürich
Gewerkschaftsfusionen Etliche Gewerkschaften diskutierten schon über eine Gewerkschaftsfusion. Dahinter stand die Idee, dass sich die Gewerkschaften neu aufstellen müssten, um der Arbeitgeberoffensive die Stirn zu bieten. 1992 wurde mit den ersten Zusammenlegungen begonnen. Die wichtigste Veränderung in dieser Zeit war wohl 1994 der Beginn der Diskussion zwischen den Spitzen der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) und der Gewerkschaft der Metall- und Uhrenarbeiter (SMUV) über ein gemeinsames Aufbauprojekt im privaten Dienstleistungssektor. Drei Postgewerkschaften schlossen sich zur Gewerkschaft Kommunikation (GeKo) zusammen, auch die beiden Dachverbände Schweizer Verband evangelischer Arbeitnehmer (SVEA) und Landesverband freier Schweizer Arbeitnehmer (LFSA) konnten nicht mehr überleben und suchten Unterschlupf bei den Christlich-Nationalen Gewerkschaften (CNG). Aber viele Probleme bestanden weiterhin und die Gewerkschaften waren noch nicht so aufgestellt, um diese zu lösen. Infolge der Krise und der antigewerkschaftlichen Politik vieler Arbeitgeber hatten die meisten Verbände in diesen Jahren weiter Mitglieder verloren. Im Jahre 2000 betrug der gesamte Organisationsgrad der Schweizer ArbeitnehmerInnenorganisationen nur noch rund 20 Prozent.
Wie die Unia entstand Die Dienstleistergewerkschaft unia war schon im Jahre 1996 gegründet worden – als Fusion der Gewerkschaften im Dienstleistungssektor – und hatte ihre Arbeit im Detailhandel und im Gastgewerbe aufgenommen. Die heutige Gewerkschaft Unia wurde im Herbst 2004 gegründet als ein Zusammenschluss, an welchem fünf Organisationen beteiligt waren: »» Gewerkschaft der Metall- und Uhrenarbeiter (SMUV), »» Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI), »» Gewerkschaft Handel, Transport, Lebensmittel (VHTL), »» Dienstleistergewerkschaft unia, »» Genfer Gewerkschaft (ACG). Alle diese Veränderungen, so die damalige Zielsetzung, sollten die Unia gut genug aufstellen, um den Trend der Mitgliederverluste zu stoppen und umzukehren. Die Gewerkschaft Unia steht heute unter dem Dachverband SGB/USS (Schweizerischer Gewerkschaftsbund). Unia ist wohl die größte und erfolgreichste Gewerkschaft in der Schweiz.
Die Situation heute Heute sind die Gewerkschaften unter zwei Dachverbänden und einzelnen Gewerkschaften aufgeteilt. Unter dem Dachverband SGB/USS befinden sich 91
19 Gewerkschaften, unter dem Dachverband Travail.Suisse sind elf einzelne Gewerkschaften vereint. Weitere elf Gewerkschaften sind ohne Dachverband. Insgesamt gibt es also 41 Gewerkschaften. In der Schweiz kann eine Gewerkschaft auch von einem Unternehmer gegründet werden. Dies ist natürlich ein Riesenproblem, da die Gewerkschaften untereinander um jedes Mitglied konkurrieren. Das Mitgliederwerben stellt sich daher nach wie vor als äußert schwierig heraus, denn Mitglieder werden zumeist von den SekretärInnen der Gewerkschaft, kaum aber von ArbeitnehmervertreterInnen angeworben. Die SekretärInnen gehen fast jeden Tag auf die Straße und besuchen Baustellen, um Mitglieder zu gewinnen. Dadurch werden auch Mitglieder von anderen Gewerkschaften abgeworben. Es scheint so, als ob es nur einen ständigen Kampf um Mitglieder gäbe.
Die wirtschaftliche Lage beeinflusst die Mitgliederstärke Im Gesamtarbeitsvertrag (GAV) wird der Mindestlohn verhandelt, jährliche Lohnerhöhungen können von den Betriebsräten in den Unternehmen einzeln verhandelt werden. Dass dies nur sehr selten geschieht, ist nicht überraschend. Es stellte sich auch heraus, dass die ArbeitnehmerInnen sowie deren VertreterInnen sehr auf die Qualität der Unternehmer vertrauen und den Gewerkschaften weniger Vertrauen entgegenbringen, was sich auch in den Mitgliederzahlen widerspiegelt. Die aktuelle wirtschaftliche Lage aufgrund des starken Franken und die bevorstehenden Umstrukturierungen der Industrie 4.0, bei der bereits jetzt abzusehen ist, dass ArbeiterInnen in den Angestellten-Sektor abwandern werden und wieder Kündigungen anstehen, stellen für die Gewerkschaften die nächsten großen Herausforderungen dar. Denn Angestellte sind noch weniger als ArbeiterInnen dazu bereit, der Gewerkschaft beizutreten.
Ausblicke Solange die Gewerkschaften sich gegenseitig Konkurrenz machen und BelegschaftsvertreterInnen nicht bereit sind, Mitglieder zu werben, wird sich die Situation nicht verbessern. Die Schweizer Gewerkschaften sind wohl noch nicht am Ende ihrer Fusionierungen und Umstrukturierungen angekommen, die Geschichte und die Landschaft der Gewerkschaften werden sich noch weiter verändern. Bei all den weiteren Bewegungen in der Schweizer Gewerkschaftslandschaft ist zu hoffen, dass sie nicht erst erfolgen werden, wenn die Not es gebietet. Gewerkschaften und BelegschaftsvertreterInnen müssen sich stärken und gegenseitig unterstützen, das geht nur mit einer guten Zusammenarbeit und mit Vertrauen in den jeweils anderen. Die Umstrukturierungen werden erst ein Ende haben, wenn sich die Mitgliederzahl der Schweizer Gewerkschaften verbessert hat. 92
Deutschland
Franz STEINDL – Erfurt und Suhl Arbeitgeber: ÖGB Gewerkschaft/Bundesland: ÖGB/Niederösterreich Zielstadt/Zielland: Erfurt und Suhl (Deutschland) Praktikumsorganisation: DGB-Bildungswerk, IG Metall, NGG
Impressionen
Seminar bei der Polizeigewerkschaft Thüringen
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Bildungsfreistellungsgesetz in Thüringen, eine Erfolgsgeschichte wie die Thüringer Bratwurst? Seit 1. Jänner 2016 hat Thüringen nach langen und zähen Verhandlungen ein Gesetz zur Bildungsfreistellung für alle ArbeitnehmerInnen. Doch kann es auch eine Erfolgsgeschichte wie die der Thüringer Bratwurst werden? In einem Hotel in Tabatz im Thüringer Wald fand Anfang April ein Seminar zum Thema Bildungsfreistellungsgesetz statt. Dieses hielt Melanie Pohner vom Bildungswerk Thüringen vor etwa zwanzig BetriebsrätInnen aus Thüringer Unternehmen, hauptsächlich aus der Autozulieferindustrie. Die Bildungsfreistellung soll die Möglichkeit bieten, sich für fünf Tage individuell weiterzubilden – ob gesellschaftspolitisch, arbeitsweltbezogen oder ehrenamtlich spielt hier keine Rolle. Bei diesem Punkt kam es aus den Reihen der TeilnehmerInnen zu den ersten Zweifeln, schließlich ist man es doch gewohnt, dass Weiterbildung immer auch zum Vorteil des Unternehmens zu erfolgen hat. Das jedoch ist bei diesem Gesetz nicht die Zielsetzung. Das Ziel ist eine Weiterbildung, die in erster Linie das Interesse der jeweiligen Person abdeckt. Eine solche Art der Bildungsfreistellung würde aus meiner Sicht auch für Österreich sinnvoll sein.
Was ist der Hintergrund? Seit den späten 1990er-Jahren versuchen die ArbeitnehmerInnenorganisationen in Thüringen, ein Bildungsfreistellungsgesetz durchzusetzen. Dieses scheiterte jedoch immer wieder am Widerstand der Arbeitgeber. Erst seit dem Jahr 2014, als Bodo Ramelow Ministerpräsident von Thüringen wurde, kam wieder Bewegung in die Sache. Für Ramelow, der selbst aus der Gewerkschaft kommt, war ein Bildungsfreistellungsgesetz unverzichtbar. Da Thüringen ein Bundesland mit hoher Abwanderung ist, versucht die Politik, durch ein Bildungsfreistellungsgesetz den Standort Thüringen attraktiver zu machen, und erhofft sich, dadurch mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Auf der einen Seite würde die Zufriedenheit der ArbeitnehmerInnen steigen. Denn durch eine individuelle Ausbildung wächst die Zufriedenheit und je nach Art der Weiterbildung auch die Qualifikation. Durch eine höhere Qualifikation und durch zufriedene ArbeitnehmerInnen würden in weiterer Folge auch die Arbeitgeber profitieren. Am Ende würde dann noch das Land Thüringen einen Vorteil daraus ziehen können, weil junge und zufriedene ArbeitnehmerInnen nicht mehr abwandern würden. Diese Argumente würden auch für eine Bildungsfreistellung in strukturschwachen Regionen in Österreich sprechen. 94
Bildungszugang für alle gleich? Ist der Bildungszugang in einem Unternehmen wirklich für alle ArbeitnehmerInnen gleich? Aus meiner Erfahrung ist das nicht immer der Fall. In vielen Unternehmen gibt es Schichten von ArbeitnehmerInnen, denen von Unternehmerseite keine Ausbildung oder Weiterbildung angeboten wird. Dies ist nicht nur in Thüringen der Fall. So gibt es in Produktionsunternehmen zahlreiche SchlosserInnen, die gerne einen Schweißerkurs besuchen würden, oder ElektrikerInnen, die gerne einen SPS-Kurs absolvieren würden. Auch im kaufmännischen Bereich haben viele KollegInnen den Wunsch, sich auf ihrem Gebiet weiterzubilden. Da jedoch das Unternehmen keinen Bedarf für eine Weiterbildung dieser KollegInnen sieht, ist es oft nur durch einen hohen Zeitaufwand der Betroffenen und außerhalb der Arbeitszeit möglich, eine Weiterbildung zu machen. Darum ist es verständlich, dass sich gerade GewerkschafterInnen – wie das in Thüringen der Fall ist – für ein Bildungsfreistellungsgesetz starkmachen.
Was sind die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme? Unter diesen Voraussetzungen kann eine Bildungsfreistellung in Anspruch genommen werden: Die Arbeitsstätte bzw. der Betriebssitz muss in Thüringen sein. Das Unternehmen muss über fünf Vollzeitbeschäftigte verfügen und das Beschäftigungsverhältnis muss mindestens sechs Monate bestehen. Folgende Personen haben die Möglichkeit einer Bildungsfreistellung: ArbeitnehmerInnen, Lehrlinge (Auszubildende), in Heimarbeit Beschäftigte, arbeitnehmerähnliche Personen, Beschäftigte in anerkannten Werkstätten für Menschen mit Behinderung sowie BeamtInnen und RichterInnen. Zu den Personen, die diese Bildungsfreistellung nicht in Anspruch nehmen können, gehören Arbeitslose, Lehrlinge (Auszubildende) in überbetrieblichen Lehrwerkstätten, Selbstständige und Personen, die im Dienst des Bundes und bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts stehen. Im Individuellen erstreckt sich der Anspruch auf fünf Arbeitstage, die innerhalb eines Kalenderjahres liegen müssen. Diese fünf Arbeitstage sind in zwei Blöcke teilbar, wobei ein Block mindestens zwei Arbeitstage mit sechs Unterrichtseinheiten beinhalten muss. Es ist auch ein einmaliger Anspruchsübertrag ins Folgejahr möglich. Dazu gibt es jedoch zwei Bedingungen, die eingehalten werden müssen: Es ist ein Antrag auf die Mitnahme ins nächste Jahr erforderlich und der Grund der Nichtinanspruchnahme darf nicht im Einflussbereich des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin liegen. Im Kollektiven oder im Gesetz als Überlastungsschutz bezeichnet, sind folgende Voraussetzungen zu erfüllen, um die Bildungsfreistellung in Anspruch nehmen zu können: In Betrieben bis zu 25 Beschäftigten ist eine/ein Beschäftigte/r 95
pro Kalenderjahr berechtigt, fünf Arbeitstage Bildungsfreistellung in Anspruch zu nehmen. In Betrieben bis zu 50 Beschäftigte ist die Bildungsfreistellung für zehn Prozent der Beschäftigten bzw. 25 Arbeitstage im Kalenderjahr möglich. Bei Betrieben ab 50 Beschäftigten liegt die Anzahl bei 20 Prozent der Beschäftigten oder bei maximal 100 Arbeitstagen im Kalenderjahr. Der Anspruch erstreckt sich nicht nur auf arbeitsbezogene Ausbildung oder Weiterbildung. Es ist auch möglich, sich gesellschaftspolitisch weiterzubilden. Dies gibt dem Bildungswilligen die Möglichkeit, sich politisches Fachwissen anzueignen. Ebenso hat die jeweilige Person die Gelegenheit, sich im Bereich der Ehrenamtlichkeit weiterzubilden. Das bringt den Vorteil, dass dadurch Vereine gestärkt werden. Die Bildungsfreistellung wird geltend gemacht, indem sich der/die ArbeitnehmerIn ein Bildungsangebot aussucht. Der/Die Bildungswillige erhält dann eine Anmeldebestätigung. Spätestens acht Wochen vor Beginn des Kurses ist die Bildungsfreistellung beim Arbeitgeber geltend zu machen. Dabei muss ein Anerkennungsnachweis beigefügt werden. Seitens des Arbeitgebers ist eine Reaktion binnen vier Wochen, und das schriftlich, erforderlich. Sollte der Arbeitgeber ablehnen, hat er das schriftlich zu tun und zu begründen. Sollte der Arbeitgeber nicht oder mit einer falschen, nicht anerkannten Begründung reagieren, so gilt das als Zustimmung. Nach der Teilnahme an der Bildungsveranstaltung ist der/die ArbeitnehmerIn verpflichtet, dem Arbeitgeber den Nachweis der Teilnahme vorzulegen. Die Bildungsfreistellung kann nur dann abgelehnt werden, wenn die Antragsfrist versäumt wurde oder der Betrieb in wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist, oder bei dringenden betrieblichen Belangen, wie z. B. bei genehmigten Urlauben anderer ArbeitnehmerInnen, die sich terminlich überschneiden. Die Kosten des Seminars müssen vom/von der ArbeitnehmerIn getragen werden. Er bzw. sie trägt auch die Kosten für die Anreise sowie für die Abreise. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, das Arbeitsentgelt während der Bildungsfreistellung weiterzuzahlen. Es besteht die Möglichkeit, Zuschüsse über die Gewerkschaften zu bekommen.
Besteht Interesse bei den ArbeitnehmerInnen? Ja, denn da die Bildungsfreistellung nicht nur für arbeitspolitische Weiterbildung gilt, ist es auch möglich, dass Anika, die als Monteurin in einer Kühlschrankproduktionsfirma in West-Thüringen arbeitet, ihren Traum verwirklichen kann. Anika interessiert sich schon lange für Spanien. Weil es jedoch ohne Spanischkenntnisse schwierig ist, längere Zeit in Spanien zu verbringen, um das Land besser kennenzulernen, würde sie gerne einen Spanisch-Sprachkurs besuchen. Für dieses Vorhaben würde sie die Bildungsfreistellung in Anspruch nehmen. Auch Ralf, der bei einer Firma Navigationsgeräte für die Autoindustrie herstellt, überlegt, die Bildungsfreistellung in Anspruch zu nehmen. Ralf ist in seiner 96
Freizeit bei der Feuerwehr in seinem Heimatort tätig. Er würde gerne einen Spezialkurs für Fahrzeug- und Unfallopferbergung der Feuerwehr besuchen. Sein Heimatort liegt an einer stark befahrenen Autobahn, auf der es immer wieder zu Verkehrsunfällen kommt. Einen Kurs mit dem Inhalt der richtigen Fahrzeugund Unfallopferbergung würde ihm die Feuerwehr bezahlen. Ralf bräuchte nur die Freizeit, um diesen Kurs besuchen zu können. Das würde ihm die Thüringer Bildungsfreistellung ermöglichen. Nele, die bei einem Autozulieferer im Einkauf arbeitet, interessiert die Bildungsfreistellung sehr. Sie ist im Stadtrat ihrer Stadt politisch tätig und würde die Bildungsfreistellung dazu nutzen, nach Wien zu reisen. Dort würde sie gerne ein Seminar zum Thema „Wohnen ist Menschenrecht – die soziale Frage zum Wohnen in Wien bis heute“ besuchen. Davon erhofft sie sich, sich in ihrer Stadt besser für soziales Wohnen einbringen zu können.
Mein Fazit zum Thüringer Bildungsfreistellungsgesetz Weil das Thüringer Bildungsfreistellungsgesetz ein sehr junges Gesetz ist und dadurch noch nicht so traditionell gefestigt, wie das etwa die Thüringer Bratwurst ist, wird es vielleicht noch Änderungen im Gesetz geben müssen. Nun sind vor allem die PolitikerInnen und auch die BetriebsrätInnen in den einzelnen Unternehmen gefordert, aus dem Thüringer Bildungsfreistellungsgesetz eine ähnliche Erfolgsgeschichte zu machen, wie sie die Thüringer Bratwurst schon vorweisen kann. Die ArbeitnehmerInnen in Thüringen haben die Möglichkeit, durch eine hohe Inanspruchnahme der Bildungsfreistellung den perfekten Senf dazuzugeben – so, wie sie es bei ihrer geliebten Thüringer Bratwurst auch tun. Dann wird das Thüringer Bildungsfreistellungsgesetz genauso erfolgreich und bekannt wie die Thüringer Bratwurst!
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Warnstreik bei der Telekom Th체ringen
Die Wartburg in Eisenach
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Th체ringer Staatskanzlei, Sitz des Th체ringer Ministerpr채sidenten
Thomas RINALDI – Düsseldorf und Alsdorf Arbeitgeber: NORSKE SKOG Bruck GmbH Gewerkschaft/Bundesland: PRO-GE/Steiermark Zielstadt/Zielland: Düsseldorf und Alsdorf (Deutschland) Praktikumsorganisation: IG Metall, IG BCE
Impressionen Thomas Rinaldi mit seinem gewerkschaftlichen BetreuerInnenteam
Auf Baustellenbesuch in Nordrhein-Westfalen
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Energiewende in Deutschland – die „Dreckschleudern“ abschalten? Dieses Thema ist für mich von sehr großer Bedeutung, denn die Energiewende wirft große gewerkschaftliche Fragen auf. Der Wandel in der Energiebranche betrifft nicht nur den Sektor der Energieerzeuger, wir alle brauchen Energie. Die große Problematik bei diesem sehr komplexen Thema ist, wie man mit der Energiewende umgeht bzw. wie man sie umsetzt. Die Umweltfrage ist eine sehr wichtige und Treibhauseffekt, Klimawandel und Ozonloch sind ihre zentralen Schlagwörter. Hervorgerufen werden diese Phänomene durch den weltweiten CO2-Ausstoß. Die Folgen und Auswirkungen sehen und erleben wir Tag für Tag: abschmelzende Polkappen, Überschwemmungen, heißeste Monate, seit es Aufzeichnungen gibt, Wirbelstürme usw. Wie kann man diesen Entwicklungen entgegenwirken? Alle Länder haben die sogenannten Kyoto-Ziele zur Verminderung des Treibhauseffekts nicht umgesetzt bzw. erreicht. Daraufhin wurden bei der jüngsten Klimaschutzkonferenz 2015 in Paris neue Ziele definiert. Deutschland ist aktuell für etwa zwei Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich, somit haben die Verantwortlichen einen ambitionierten Plan ausgearbeitet. Natürlich hat das große Unglück im japanischen Fukushima diese Pläne in der zeitlichen sowie auch strategischen Umsetzung in Deutschland durcheinandergeworfen.
Deutschlands Ziele und die Folgen für Nordrhein-Westfahlen In Deutschland sollen in Zukunft die umweltverschmutzende Braunkohleund die Steinkohleverbrennung, welche zur Stromerzeugung genutzt werden, auslaufen und die Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Die große Aufgabe der Gewerkschaft IG BCE (Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie) liegt genau darin, den Umbruch zu begleiten und für ihre circa 390.000 Mitglieder zu arbeiten. Die Region Nordrhein-Westfahlen ist durch die großen Abbaugebiete am stärksten betroffen. Der IG BCE und vor allem ihrer Bezirksleitung in Alsdorf mit Manfred Maresch kommt bei der Begleitung des Wandels daher eine sehr bedeutsame Rolle zu. Er und sein Team vertreten und betreuen die große traditionelle Bergbauindustrie mit ihren Zechen – aber nicht nur diese, auch die Sparten Papier, Chemie und noch viele mehr. Ihre Aufgabe dahingehend wird es sein, den Prozess der Wandlung und Umstrukturierung zu begleiten. Dass sich durch die Entwicklung, Forschung und den Fortschritt viele Neuerungen ergeben, ist unumstritten. Aber ist das alles so einfach umzusetzen? 100
Was sagt die lokale Politik? Ein sehr gutes Interview zu diesem Thema habe ich in der Hambacher Betriebsratszeitung „Gemeinsam“ vom März 20161 gelesen. Landtagsabgeordneter für den Rhein-Erft-Kreis Guido van den Berg, der stets ein Befürworter der Braunkohle war, wurde von Markus Breiden interviewt. Frei nach dem Ausspruch des inzwischen verstorbenen SPD-Politikers Klaus Matthiesen „Bergleute verrät man nicht“ – und daran will ich mich halten – sagte er Folgendes und begründete es auch gleich: „Wir erleben gewaltige Veränderungen in der Energiewirtschaft. Erneuerbare Energien haben mittlerweile einen Marktanteil von rund 30 Prozent am Strommarkt. Das bedeutet, dass wir politisch aufhören müssen, so zu tun, als ob hier weiter ‚Welpenschutz‘ notwendig wäre. Immer zu produzieren, egal ob es Nachfrage gibt, in kritischen Situationen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, gar nichts zur Energieversorgung beizutragen, ist keine Lösung. Auch das erneuerbare Angebot muss sich künftig an der Nachfrage und dem Markt orientieren, sonst wird die Energieversorgung im Industrieland Deutschland dauerhaft gefährdet.“2 Gerade diese Aussagen machen den ArbeitnehmerInnen in der Bergbauindustrie Hoffnung, weil ihre Arbeitsplätze durch eine solche Politik gesichert wären. Dazu gibt es schon „ausgearbeitete Pläne“ der Bundes- und Landesregierung sowie von WissenschafterInnen. Einen dieser Pläne liefert die sogenannte Agora. Die IG BCE steht diesen Plänen kritisch gegenüber.
Agora steht für den Ausstieg aus der Kohleverstromung Die Agora Energiewende ist eine gemeinsame Initiative der Stiftung Mercator und der European Climate Foundation und jenseits ideologischer Festlegungen. Die Agora Energiewende erarbeitet wissenschaftlich fundierte und politisch umsetzbare Wege, damit die Energiewende gelingt. Sie versteht sich als Denkund Politiklabor, in dessen Mittelpunkt der Dialog mit den energiepolitischen Akteuren steht. Zusammen mit Akteuren aus Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft entwickelt die Initiative ein gemeinsames Verständnis der Energiewende, ihrer Herausforderungen und der Handlungsoptionen. Das tut sie mit einem Maximum an wissenschaftlichem Sachverstand, zielstrebig, handlungsorientiert.3 Sie tritt mit ihrem 11-Punkte-Plan zur Dekarbonisierung des Stromsektors an. Dekarbonisierung bezeichnet die Umstellung der Wirtschaftsweise, speziell der Energiewirtschaft, in Richtung eines niedrigeren Umsatzes von Kohlenstoff. 1
GEMEINSAM. Der Betriebsrat Tagebau Hambach informiert. Ausgabe 8, März 2016
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GEMEINSAM. Der Betriebsrat Tagebau Hambach informiert. Ausgabe 8, März 2016. Mit der Kritik am „Welpenschutz“ ist gemeint, dass man die horrenden Summen der Subventionen überdenken muss.
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Vgl. Selbstbeschreibung der Agora, Quelle: Agora-energiewende.de, Zugriff am 7.6.2016
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Der Ausstieg aus der Kernenergie im Jahre 2022 und der sukzessive Rückzug aus der Kohleenergie bis 2040 haben zu erfolgen. Doch was geschieht mit den Arbeitsplätzen, wie löst man bis dorthin die Frage der Energie? Nach derzeitigen Berechnungen kann durch Wind-, Wasser- und Solarenergie im Jahre 2030 eine Abdeckung von 35–45 Prozent kontinuierlich gelingen. Erst bei einer Abdeckung von 70–80 Prozent werden laut Agora-Studien Stromspeicher ein Thema. Die IG BCE sagt, das sei reines Wunschdenken. Wie soll das klappen, wenn Sonne und Wind nicht zur Verfügung stehen? Jetzt bereits müssen Windkrafträder abgestellt werden, wenn zu viel Energie erzeugt wird, da keine Speicherkapazitäten vorhanden sind. Das Netz kann die Spitzen nicht aufnehmen. Aber was ist mit dem Energieüberschuss? Bis jetzt ist es noch mit keiner Technik gelungen, Energie in diesen Mengen zu speichern.
Wird erneuerbare Energie immer günstiger? Die Behauptung, erneuerbare Energie werde immer günstiger und somit lasse sich die Dekarbonisierung im Gegensatz zu früher heute auch wirtschaftlich darstellen, ist leider ebenso nur ein grüner Mythos. Allein 25 Milliarden Euro an Subventionen 2015 sprechen dagegen. Gerade diese Förderungen führen zu einer Verzerrung des Wettbewerbs. Wenn man weiterhin ein Industrieland bleiben will, kommt man an der Frage „Erneuerbare Energie, ja oder nein?“ nicht vorbei. Man denke nur an die großen Branchen Aluminium, Stahl, Chemie, aber auch Papier, die besonders energieaufwendig sind.
Wie ist das zu bewerkstelligen? Wie Berechnungen der Gutachter der Unternehmensberatung „enervis“ zeigen, stehen in der Transformationsphase jederzeit genügend Kraftwerkskapazitäten zur Verfügung. Das ist ein Widerspruch in sich, denn Agora sagt selbst, bei einem kompletten Ausstieg aus der Braunkohleverstromung benötige man 40 neue Gaskraftwerke! Wer soll das bezahlen? Die Preisexplosion der Gaspreise könnte eine Folge sein. Dazu gibt es nur eine Alternative seitens der IG BCE: die derzeitigen Ressourcen nützen! Garzweiler, Hambach und Inden sind drei große Abbaugebiete von Braunkohle in Deutschland. Sie gehören mit ihren dazugehörigen Kraftwerken zu den größten Energieerzeugern. Wegen ihres CO2-Ausstoßes sind sie als Umweltverschmutzer angeprangert. In diesem Segment wird jedoch sehr viel Forschung betrieben. Gerade vonseiten der Gewerkschaft wird darauf hingewiesen, wie wichtig und notwendig eine kontinuierliche Stromversorgung ist. Bei einer persönlichen Führung im Tagebau Garzweiler habe ich einen überwältigenden Eindruck 102
von dieser Industrie bekommen. Die Dimensionen sind schier unfassbar und beeindruckend: Sei es der Schaufelbagger 288 (die weltweit größte bewegliche Maschine), der unfassbare 240.000 Kubikmeter pro Tag fördert, oder die rund 90 Kilometer Fördergurtbandanlagen, die individuell verschoben werden können, oder ein Bunker, der 600.000 Kubikmeter Volumen fasst und in nur einer Woche leer wäre, wenn der Tagebau still stünde. Ich muss gestehen, als Techniker ist man einfach nur fasziniert und auch ein wenig verliebt in diese Anlagen.
Die Reduzierung der Schadstoffe hat schon begonnen Es wird ganz außer Acht gelassen, dass über die letzten Jahre sehr viel in die Reduzierung von Emissionen investiert wurde. Beste Beispiele dafür sind die BoA-Kraftwerke im Rheinischen Revier. Mit ihrer optimierten Anlagetechnik vermeiden die drei Braunkohleblöcke zusammen jährlich rund neun Millionen Tonnen CO2. Man belässt es auch bei vielen älteren Anlagen nicht dabei. Dort wird die Effizienz der Blöcke durch Retrofit-Maßnahmen gesteigert und der Einsatz von Braunkohle reduziert. Das bedeutet mehr Strom mit weniger Kohle und dadurch weniger Schadstoffe. Des Weiteren werden im Innovationszentrum in Niederaußem von RWE und renommierten Partnern wie BASF und Linde innovative Techniken zum Klimaschutz erforscht. Darunter befindet sich eine Pilotanlage zur CO2-Wäsche, mit der Kohlendioxid aus dem Rauchgas abgetrennt werden kann. Diese könnte dann weltweit in Kohlekraftwerken Anwendung finden. RWE betreibt bereits Grundlagenforschung für eine weltweite klimafreundliche Kohleverstromung.4
Braunkohle nur verheizen? Dabei kann Kohle noch viel mehr. So lassen sich chemische Ausgangsstoffe durch die Umwandlung der Braunkohle in flüssige (CtL – Coal to Liquid) oder gasförmige (CtG – Coal to Gas) Produkte gewinnen. Damit kann die Braunkohle einen wichtigen Beitrag – über die Stromerzeugung hinaus – zur Erweiterung der Rohstoffbasis der NRW-Industrie leisten. Gerade oder auch deswegen sollte man diesen sehr wichtigen Wirtschaftszweig, der über 10.000 MitarbeiterInnen direkt beschäftigt, nicht verunglimpfen. In Gesprächen nach meinem Praktikum in Alsdorf (Stadt nur wenige Kilometer von Düsseldorf entfernt) wurde mir bewusst, wie schwierig diese Situation ist. Selbst bei einigen Gewerkschaftsmitgliedern ist mangels Information die vorherrschende Meinung, man solle doch endlich diese umweltverschmutzenden „Dreckschleudern“ abschalten. 4
RWE Corporate Website, Zugriff am 6. Mai 2016.
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Resümee Im Umkehrschluss kann man nur in einer richtigen Kooperation die Versorgung von Energie sicherstellen. Das heißt, alle vorhandenen Ressourcen zu nutzen, vermehrt auf erneuerbare Energien zu setzen, aber für die Grundversorgung muss man auf die vorhandenen Kraftwerke zurückgreifen. Manfred Maresch, bei dem ich einen Teil meines Praktikums verbringen durfte, brachte es auf den Punkt: „Der Strom kommt nicht aus der Dose, auch wenn man den Schalter umlegt, wird es nicht von allein Licht. Entweder wir bekennen uns zum Industriestandort Deutschland oder wir alle setzen uns auf die grüne Wiese und pflücken Blümchen.“ Man muss sachlich, vernünftig und auf Augenhöhe ohne Zurufe, die zu ständigen Kurswechseln führen, in diesem Land Konzepte für die Zukunft ausarbeiten. Alle Beteiligten, auch die in den eigenen Reihen, müssen zusammenstehen für das Wohl der ArbeitnehmerInnen. Für diese sehr schwierige Aufgabe, die sicher nicht so einfach zu lösen sein wird, wünsche ich meinen KollegInnen aus Alsdorf viel Kraft und gutes Gelingen. Ich schließe mit dem Gewerkschaftsgruß „Glück auf!“ und unserem alten Papiermachergruß „Mit Gunst von wegen’s Handwerk“. Warnstreik bei Nacht
Kundgebung für mehr Kohle im Mercedes-Werk in Düsseldorf
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Melanie STECKBAUER – Köln Arbeitgeber: voestalpine Stahl GmbH Gewerkschaft/Bundesland: PRO-GE/Oberösterreich Zielstadt/Zielland: Köln (Deutschland) Praktikumsorganisation: IG Metall, IG BCE
Impressionen Ford-Warnstreik in der Nacht
Wir sind Ford
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Wir für mehr! Das Ford-Werk in Köln streikte und ich war live dabei. Gekämpft wurde für eine fünfprozentige Tarifvertragserhöhung. Die Arbeitgeber waren bereit, ein Plus von 0,9 Prozent hinzunehmen. Der Beginn von Ford in Köln Am 6. Oktober 1931 startete die Produktionslinie mit 439 MitarbeiterInnen. Eigentümer der Fabrik war der berühmte Henry Ford, der die Fließbandarbeit in der Automobilbranche perfektionierte. Die ersten Beschäftigten erlebten einen Start mit Höhen und Tiefen. Zwar wurde das Werk in kürzester Zeit erbaut und bot als eines der modernsten in Europa gute Arbeitsbedingungen, wie eine 25-prozentige Vergütung ab der 49 Arbeitsstunde, zehn Reichsmark zusätzlich für jedes Kind zu Weihnachten und neue Arbeitsplätze sowie eine überdurchschnittliche Bezahlung. Meister verdienten 3,50 bis 4,50 Reichsmark pro Stunde. 1932 war ein Jahr der Einkommenskürzungen aufgrund der Weltwirtschaftskrise, die Deutschland besonders hart traf. Der Lohn wurde auf 1,40 Reichsmark gekürzt, Angestellte mussten Einbußen von rund zehn Prozent hinnehmen. Außerdem betrug die damalige Arbeitszeit 40 Stunden pro Woche. Nur sechs Monate nach der Eröffnung wurden die Fließbänder als Folge der Weltwirtschaftskrise bereits wieder abgestellt, die Fabrik wurde stillgelegt. Die Belegschaftsmitglieder wurden – ohne Bezahlung – über Nacht nach Hause geschickt. Dieses Vorgehen ist heute kaum noch vorstellbar. Der erste Tarifvertrag wurde erst 30 Jahre später verhandelt und eingeführt, leider zu spät für die ArbeiterInnen im Ford-Werk Köln.
Besichtigung der Produktion im Ford-Werk 106
Tarifvertragsverhandlungen in Deutschland1 Jedes Jahr (manchmal auch alle zwei Jahre oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt) setzen sich VertreterInnen der Gewerkschaften zusammen und legen der Arbeitgeberseite ihre Forderungen vor. Der bestehende Tarifvertrag muss zuvor fristgerecht gekündigt werden. Nun sind Verhandlungen angesagt, die manchmal lange dauern können. Einigen sich die Parteien am Verhandlungstisch, kommt ein neuer Tarifvertrag zustande. Bleiben die Verhandlungen jedoch ergebnislos, kommt es zur Schlichtung. Mit dem Verfahren der Schlichtung wird versucht, festgefahrene Positionen auf beiden Seiten aufzubrechen und einen Kompromiss zu finden. Wird der Spruch angenommen, kommt es ebenfalls zu einem neuen Tarifvertrag. Wenn die Schlichtung scheitert, erlischt die Friedenspflicht der Tarifparteien. Bei der Friedenspflicht sind die Tarifparteien stets oder zu bestimmten Zeitpunkten (je nach Abmachung) verpflichtet, von Arbeitskämpfen abzusehen. Arbeitskampfmittel sind der Streik der Gewerkschaften und die Aussperrung durch die Arbeitgeber. Signalisieren die Parteien wieder Verhandlungsbereitschaft, wird in einer zweiten Runde neu verhandelt bzw. geschlichtet, so lange bis ein neuer Tarifvertrag entsteht – diesmal allerdings mit erheblicher Zeitverzögerung und Gewinneinbußen für die Unternehmen sowie Streikgeld, das die Gewerkschaften an ihre Mitglieder zahlen.
Was die Modernisierung brachte 85 Jahre nach Gründung des Kölner Ford-Werks produzieren weniger Menschen denn je mehr Autos als zuvor. Derzeit werden im Drei-Schicht-Betrieb von Montag bis Freitag zwischen 1.700 und 1.900 Ford Fiesta täglich produziert und alle 94 Sekunden fährt ein nagelneuer Ford aus der Produktionshalle. Roboter haben unangenehme und gefährliche Aufgaben übernommen, wie die Karosserie hochheben, damit nicht liegend unter dem Auto gearbeitet werden muss, schweißen, Teile verschrauben, Reifen montieren, lackieren usw. Zwar haben die Roboter die Arbeit erleichtert, sie haben jedoch auch Arbeitsplätze vernichtet. Die Rechte der ArbeitnehmerInnen wurden im Vergleich zu den 1930er-Jahren aber verbessert und gesichert. Dank der IG Metall und der gut aufgestellten BetriebsrätInnen konnte im letzten halben Jahrhundert der Tarifvertrag immer weiter verbessert werden, zumal derzeit die Arbeitszeit bei 35 Stunden pro Woche liegt. Ebenfalls konnte der Urlaub von zwei Wochen und drei Tagen (zu Henry Fords Zeiten) auf mittlerweile sechs Wochen aufgestockt werden. 1
Quelle: Schaubild Berufswelt, So entsteht ein Tarifvertrag, in: Sozialpolitik, Ausgabe 2010/11, hrsg. von Stiftung Jugend und Bildung in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, online unter: http://www.sozialpolitik.com/public-files/SB_Tarifpolitik.pdf
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Die Zukunft des Ford-Werkes Derzeit sind ca. 17.000 Beschäftigte bei Ford Köln. Doch wie wird es mit dem Automobil weitergehen? Zumal die Anforderungen der Europäischen Union immer höher werden, vom Treibstoff auf andere energiesparende Mittel zurückzugreifen und umweltfreundlichere Fahrzeuge zu bauen. Der erste Grundgedanke ist jedenfalls, die Standortsicherung zu gewähren. Daher wird sehr viel in die Forschung und Entwicklung investiert, um auf Zellenenergie, in Zusammenarbeit mit der Rheinenergie AG, umzurüsten. Ein großes Anliegen des Ford-Werkes ist es auch, dass die Batterien recyclebar werden sollen oder zumindest weiterverwendet werden können, also zum Beispiel als Energiebatterie für zu Hause oder als Stromerzeugung für Betriebe dienen sollen. Das wird noch eine große Herausforderung.
Flagge zeigen! Am 29. April 2016 startete der Warnstreik im Kölner Ford-Werk, da die erste Tarifverhandlung keine Einigung gebracht hatte. In Deutschland ist man aber durch das sogenannte Streikrecht auf die genaue Einhaltung der Richtlinien und der exakten Termine verpflichtet. Die genaue Dauer der Friedenspflicht wird zwischen den Tarifparteien festgelegt. Es gibt eine Friedenspflicht von der ersten Verhandlung bis zum eröffnenden Termin eines Warnstreiks. Die Tarifvertragsforderung lag bei 5 Prozent, doch das Arbeitgeberangebot waren nur schlappe 0,9 Prozent und für Betriebe, die überdurchschnittliche Gewinne einbrachten, zusätzlich +0,3 Prozent. Das zweite Angebot kurz vor Ende der Friedenspflicht waren 2,1 Prozent für 24 Monate. Dies war den ArbeitnehmervertreterInnen noch immer zu wenig, daher riefen sie zum Warnstreik auf. Es wurden zig Busse arrangiert, um mehrere KollegInnen aus anderen Betrieben wie Deutz, Siemens usw. zum Warnstreik ins Ford-Werk zu fahren. Um Mitternacht fing die erste Stilllegung an. Es herrschte eine Bombenstimmung unter den KollegInnen. Mit Fackeln, Fahnen und Musik machten sie sich sichtbar und deutlich bemerkbar. In dieser Nacht nahmen 2.000 Personen an dem Warnstreik teil. Um 9.00 Uhr, 11.00 Uhr und 17.00 Uhr fanden weitere Warnstreiks mit rund 8.000 Beschäftigten statt. Am 12. Mai wurde ein Tagstreik organisiert, von dem sich die Arbeitgeber nun doch endlich zu einer Einigung überzeugen ließen. In der fünften Verhandlungsrunde konnten sich die ArbeitnehmervertreterInnen und die ArbeitgebervertreterInnen auf einen Abschluss von 4,8 Prozent auf 21 Monate einigen. Ab 1. Juli 2016 werden die Gehälter und Löhne um 2,8 Prozent erhöht, weiters gibt es eine Einmalzahlung von 150 Euro und ab April 2017 folgt eine Erhöhung um 2 Prozent. Dieser Tarifvertrag gilt für 700.000 Beschäftigte in der Branche Metall- und Elektroindustrie.2
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http://netkey40.igmetall.de/homepages/koeln_neu/tarifpolitik-undtarifvertrge/metall-undelektroindustrie/ tarifrunde2016.html
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Wolfgang SKOFITSCH – Frankfurt Arbeitgeber: ÖBB Produktion GmbH, Business Unit Personenverkehr Gewerkschaft/Bundesland: vida/Wien Zielstadt/Zielland: Frankfurt (Deutschland) Praktikumsorganisation: mobifair
Impressionen
Veranstaltung von mobifair mit DGB-Chef Reiner Hoffmann
Beim Unterschriftensammeln gegen Lohn- und Sozialdumping
Aktion Dumpinghai stoppt Lohn- und Sozialdumping 109
„Wer bescheißt, entgleist!“ mobifair setzt sich in Deutschland für den Schutz von Beschäftigten, VerbraucherInnen und fairen ArbeitgeberInnen ein. Wäre das auch eine Alternative im Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping in Österreich? Wieder eine Arbeitszeitverletzung! Vor zwei Monaten hat der Betriebsrat den Arbeitgeber gemahnt, dass dies nicht noch einmal vorkommen soll. Vor einem Monat ein Blick in die Arbeitszeitaufzeichnungen: Siehe da – schon wieder! Das darf doch nicht wahr sein. Wieder folgt die Aufforderung, diesmal schärfer formuliert, die Arbeitszeitverletzungen zu unterlassen. Nein, nicht schon wieder! Vor zwei Wochen dieselbe Situation. Erneut ist der Busfahrer neun Stunden ununterbrochen am Steuer gesessen. Jetzt reicht es dem Betriebsrat zu Recht. Was folgt, ist ein Telefonat mit dem Arbeitsinspektorat und ein unangekündigter Besuch im Betrieb. Heute steht eine schwierige Verhandlung mit der Geschäftsleitung über Sozialkriterien im Betrieb an. Bestens vorbereitet und gebrieft von der Gewerkschaft wartet der Betriebsrat auf den Geschäftsführer. Zehn Minuten Verspätung, der Geschäftsführer lässt sich entschuldigen. Seine Assistenz begründet dies mit dem Hinweis, dass es zurzeit keine Gesprächsbasis gibt. Es könne ja nicht sein, dass der Betriebsrat das Unternehmen beim Arbeitsinspektorat anzeigt.
mobifair im Kampf für faire Arbeitsbedingungen Einige BetriebsrätInnen kennen diese unangenehme Situation. Wie kommt der Betriebsrat aus der Zwickmühle heraus? Eine Möglichkeit ist mobifair, ein deutscher gemeinnütziger Verein, der sich für faire Arbeitsbedingungen in der Verkehrswirtschaft einsetzt. Was wäre, wenn wie im Beispiel beschrieben nun mobifair die Anzeige beim Arbeitsinspektorat gemacht hätte? Der Betriebsrat hätte keinen Schriftverkehr zu diesem Thema gehabt. Folglich gäbe es den Konflikt zwischen dem Arbeitgeber und ihm nicht. Die Gesprächsbasis für Verhandlungen zu Sozialkriterien wäre gegeben. Fazit: Der Betriebsrat hätte größere Chancen gehabt, seine Anliegen durchzusetzen. In der Verkehrs- und Mobilitätswirtschaft sowie den verkehrsnahen Dienstleistungsbereichen wird der Druck auf die ArbeitnehmerInnen immer stärker. Durch Ausschreibungen ohne soziale Standards drängen zunehmend mehr unseriöse, sittenwidrige und skrupellose Unternehmen auf den durch die EU liberalisierten Markt. Was sind soziale Standards? Dabei handelt es sich um die Rahmenbedingungen zur Arbeitszeit, zur Fahrzeit, zu Ruhezeiten. Ebenso gehören die Beschäftigung älterer ArbeitnehmerInnen, ein höherer Frauenanteil, die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung und Sozialeinrichtungen dazu. Arbeitgeber, wel110
che diese Standards einhalten, können bei öffentlichen Ausschreibungen nicht mehr mithalten. mobifair hat sich dem Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping verschrieben. Der Verein finanziert sich über Förderungen, Zertifizierungen und Mitgliedsbeiträge von Unternehmen und ArbeitnehmerInnen. mobifair recherchiert, deckt auf und zeigt an. Über ihr Netzwerk nehmen die Mitglieder Einfluss auf die Politik und die Gesetzgebung, auch mit Unterstützung der Medien. mobifair hat gute Kontakte zu Fernsehsendern und den bekannten Print-Medien.
Dem Fernbus-Dumping die Reifenkrallen anlegen Die Fernbusbranche ist durch starken Wettbewerb und niedrige Preise geprägt. Die Deutschen freuen sich über spottbillige Tickets. Ab 1,50 Euro kann man die Reise von Köln nach Berlin antreten. In sieben Stunden ist der Fahrgast an seinem Ziel angelangt. Während sich die Kunden gemütlich chauffieren lassen, ist der Busfahrer voll auf den Verkehr konzentriert. Ob dieser seine Lenkzeiten – viereinhalb Stunden darf er am Stück fahren – einhält, sieht der Fahrgast natürlich nicht. Selbst wenn ein zweiter Busfahrer vorhanden ist, ist zu bezweifeln, dass dieser, wenn er sich auf einen Fahrgastsitz setzt und nebenbei noch Getränke verkauft, sich erholt. Gefinkelte Busunternehmen machen einen Fahrerwechsel auf einer Raststation. Allerdings wechseln die Busfahrer nur das Fahrzeug und sitzen gleich wieder hinter dem Steuer. Woher kommen nun diese Anschuldigungen? Eine Art, Gesetzesverstöße aufzudecken, funktioniert über ein gutes Netzwerk an InformantInnen. Die MitarbeiterInnen von mobifair recherchieren auch mit unkonventionellen Mitteln. Da kann es schon einmal vorkommen, dass sie sich ein Busticket kaufen und auf die Lenk- und Ruhezeiten der Busfahrer achten. Was sie dabei aufgedeckt haben, wurde von den Busunternehmen als Einzelfall heruntergespielt. Sind es Einzelfälle? Natürlich nicht! Das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) veröffentlichte auf Anfrage der Grünen im Deutschen Bundestag einen Sonderbericht zum Thema Fernbusse und Kontrollen. Die Zahlen belegen, dass die Beanstandungsquote bei Fernbussen im ersten Halbjahr 2015 bei 27 Prozent (2014: 15 Prozent) lag. Die Verstöße gegen die Gesetze im Bereich des Fahrpersonals sind „deutlich angestiegen“. Das sind lediglich die Ergebnisse der Kontrollen des BAG. Die Kontrollen der Polizei kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Dieser Sonderbericht bestätigt die Recherchen von mobifair, dass jede vierte Fernbusfahrt „gefährlich“ ist, weil vorrangig gegen Schutzbestimmungen der Lenk- und Ruhezeiten verstoßen wird. Die schwarzen Schafe in der Branche gehören ausgeforscht, zum Schutz seriöser Unternehmen, der ArbeitnehmerInnen und der VerbraucherInnen. Mit intensiver Pressearbeit und Lobbying bei PolitikerInnen ist es mobifair gelungen, hier mehr Sensibilität zu erreichen. 111
Kündigung bei Betreiberwechsel – ArbeiterInnen am Abstellgleis Wenn ein neuer Kommissionsvorsitzender gewählt wird, werden dann alle KommissionsbeamtInnen entlassen? Natürlich nicht! Anders geht die Kommission bei den EisenbahnerInnen vor: „Bei einem Betreiberwechsel ist der Übernehmende nicht verpflichtet, die Mitarbeiter aus den unterlegenen Ausschreibungsunternehmen zu übernehmen.“ Was mit den MitarbeiterInnen auf dem liberalisierten Markt passiert, ist ihr egal. Die Beschäftigten der alten Firma werden gekündigt und können sich bei der neuen Firma bewerben. Damit wird Lohn- und Sozialdumping Tür und Tor geöffnet. Eine kleine Lücke bleibt jedoch offen: Die nationalen Regierungen haben die Möglichkeit, in ihren Gesetzen den Betriebsübergang zu verankern. Angesichts der aggressiven und unfairen Kampagnen, welche die ÖVP in den vergangenen Jahren gegen die EisenbahnerInnen betrieben hat, muss abgewartet werden, ob sich diese Möglichkeit im Gesetz widerspiegelt.
Auf Schiene bringen – aber wie? mobifair unterstützt die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), ver.di in Deutschland und die Gewerkschaft vida in Österreich bei der Europäischen BürgerInneninitiative (EBI) „Für fairen Transport“. Die EBI greift die Forderung auf, dass nach dem Personalübergang den MitarbeiterInnen alle sozialen Standards erhalten bleiben müssen. Die Länder haben durch die EU-Verordnung 1370/2007 die Möglichkeit, den Bewerber zur Einhaltung von bestimmten Sozialstandards zu verpflichten. Dazu erarbeitet mobifair in Kooperation mit WissenschafterInnen und JuristInnen Lösungsvorschläge und nimmt politisch Einfluss auf Gesetzesvorhaben und Gesetzesänderungen.
Eisenbahn ohne EisenbahnerInnen ist wie eine Dampflokomotive ohne Dampf Neun Eisenbahnkorridore verbinden Europa zwischen Norden, Süden, Osten und Westen auf 320.000 Kilometern Schienen. Das entspricht achtmal dem Erdumfang. 1,5 Milliarden Tonnen an Fracht werden auf 4 Milliarden Zugkilometern transportiert. Durch die Liberalisierung der EU gibt es europaweit über 4.400 Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU). Viele gemeinwirtschaftliche Verkehre werden durch die Länder vergeben. Das Vorgehen dubioser Geschäftemacher sorgt dafür, dass es immer mehr zu Lohn- und Sozialdumping kommt. Der Vorsitzende von mobifair, Helmut Diener, sagt dazu: „Immer mehr zweifelhafte Machenschaften nehmen Einfluss auf sichere und ehrliche Zugfahrten. Sie brechen Vorschriften und zerstören die Qualität der Beschäftigungsbedingungen. Das ist möglich, da es eine ungeordnete Vielzahl an Vorschriften und Geset112
zen gibt. Diese werden unzureichend kontrolliert. Eisenbahn braucht Eisenbahner. Keine Freelancer, Verleiher von Eisenbahnern, keine dubiosen Ausbildungsstätten und keine Eisenbahnverkehrsunternehmen ohne eigenes Eisenbahnpersonal. Wer bescheißt, entgleist! Wir wollen einen fairen Wettbewerb und werden mit den Gewerkschaften auch grenzüberschreitend den Unfairen die Rote Karte zeigen.“ Eine starke Aussage, die sich mit Fakten hinterlegen lässt. Anhand des Triebfahrzeugführers (Tfzf ) in einem fairen Betrieb möchte ich ein positives Beispiel bringen. Hier wird der Tfzf in einer etablierten Ausbildungsstätte ausgebildet. Diese qualitativ hochwertige Ausbildung gewährleistet, dass der Tfzf die Kenntnisse der einzelnen Triebfahrzeuge und die nötige Streckenschulung erhält. Er hat dafür Sorge zu tragen, dass die notwendige technische Wagen- und Bremskontrolle durchgeführt wird. Es sind festgeschriebene Arbeitszeiten und Pausen vorhanden und diese werden eingehalten. Die Lohnund Sozialstandards sind in einem Tarifvertrag niedergeschrieben. Nun, wie schaut die Realität aus? In Deutschland gibt es 445 EVU. Viele davon haben unzureichendes Personal, das sie von 126 Dienstleistungsanbietern beziehen. Dadurch wird dem Lohn- und Sozialdumping Tür und Tor geöffnet. Durch diese Aufsplitterung haben diese Unternehmen keinen Betriebsrat. Der Tfzf in einem guten Unternehmen wird durch den Betriebsrat bei Arbeitszeitüberschreitungen geschützt. Tfzf von Personaldienstleistern werden unter Druck gesetzt. Wenn ein solcher auf seine Arbeitszeit besteht, muss er damit rechnen, keinen Einsatz mehr zu bekommen. Die Ausbildung und Prüfung wird im Eilzugverfahren vom eigenen Unternehmen durchgeführt. Im Durchschnitt gibt es 450 Signalüberfahrungen im Jahr in Deutschland. Zwei Drittel davon geschehen bei den privaten EVU. Trauriger Höhepunkt war der Unfall in Mannheim. Dabei ist ein Tfzf eines Dienstleistungsanbieters nacheinander dreimal über ein Halt zeigendes Signal gefahren. Trotz mehrmaliger Warnung durch das Zugbeeinflussungssystem (Zwangsbremsung) setzte dieser seine Fahrt fort und fuhr in die Flanke eines ICE. Es gab zum Glück keine Toten und Gröberes konnte verhindert werden, da eine Schnellbahn noch rechtzeitig zum Anhalten gebracht wurde. mobifair hat recherchiert, dass viele Tfzf nicht einmal wissen, wie sie aus einem Bahnhof hinauskommen, verschiedene geprüfte Triebfahrzeugreihen nicht bedient werden können und sie nicht wissen, wo die sicherheitsrelevanten Signale stehen. Unzählige Fälle wurden bekannt, wo die Fahrzeit drastisch überschritten wurde. mobifair unterstützt die Forderungen der Gewerkschaften und der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (europäische ArbeitnehmerInnenvertretung) nach einer festgeschriebenen Ausbildungsdauer, einer Prüfung durch externe PrüferInnen einer Behörde, um das Berufsbild zu schützen, nach digitalen Tachometern und Fahrerkarten, um die Arbeitszeit, die ununterbrochene Fahrzeit sowie die Eignung und Befähigung kontrollieren zu können. Außerdem fordern sie ausreichende Kontrollen durch eine Behörde sowie eine höhere Haftpflichtversicherung für EVU. 113
Konkurrenz oder Unterstützer der Gewerkschaft? mobifair arbeitet eng mit den Gewerkschaften in Deutschland zusammen. Der Verein unterstützt die Gewerkschaften bei Veranstaltungen, führt Studien durch, schreibt Stellungnahmen zu Gesetzen und übernimmt Projekte. In Deutschland ist mobifair für die europäische BürgerInneninitiative zuständig. Ich bin der Meinung, jede Institution, die sich dem Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping verschrieben hat, ist eine Bereicherung für die InteressenvertreterInnen und ArbeitnehmerInnen!
mobifair engagiert sich »» »» »» »» »»
zum Schutz von Beschäftigten, zum Schutz von VerbraucherInnen, zum Schutz von fairen ArbeitgeberInnen, gegen Lohn- und Sozialdumping, für Arbeitsschutz und Unfallverhütung.
mobifair »» »» »» »»
fördert den Umwelt- und VerbraucherInnenschutz, vergibt Sozialgütesiegel, nimmt politisch Einfluss, recherchiert, deckt auf und zeigt an. Weiterführende Infos unter: www.mobifair.eu
Unterschriftenaktionsteam: „Für fairen Transport“
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Anton AFFENGRUBER – Dortmund Arbeitgeber: HABAU Gewerkschaft/Bundesland: GBH/Oberösterreich Zielstadt/Zielland: Dortmund (Deutschland) Praktikumsorganisation: IG BAU
Impressionen
Christiane Braun, Assistentin der Regionalleitung, Anton Affengruber, Matthey Bodo, Regionalleiter, Sven Bönnemann, Stellvertreter (v. l. n. r.)
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IG Bau im Abseits? Befindet sich die IG Bau Rheinland/Westfalen – im Gegensatz zum BVB Dortmund – in der Defensive und wird vom Abstieg bedroht? Auswärtsspiel Mein Europapraktikum führte mich in das Ruhrgebiet. Ich wurde sehr freundlich vom Regionalleiter Rheinland/Westfalen empfangen, Bodo Matthey und sein Team hießen mich herzlich willkommen. Nach einer kleinen Vorstellrunde fuhren wir in der ersten Woche bereits viele Baustellen ab. Bodo hatte für uns ein abwechslungsreiches Arbeitsprogramm vorbereitet. Ein weiterer, für mich sehr interessanter Teil dieser Woche war der Besuch in einer Lehrwerkstätte, wo die Auszubildenden (Azubis1) ihre ersten handwerklichen Fähigkeiten im Baubereich erwerben können. Es ist den GewerkschaftssekretärInnen gelungen, mit einer sehr sensiblen, offenen Art zu den Lehrwerkstätten Zutritt zu erhalten. Die Lehrherren haben immer ein offenes Ohr für Gewerkschaftsanliegen und sind sogar Mitglieder. Österreichische Gewerkschaften können in diesem Zusammenhang nur neidvoll nach Rheinland/Westfalen blicken. Denn für österreichische ArbeitnehmervertreterInnen bleiben die Türen von Berufsschulen meistens verschlossen.
Erster Einsatz Mein erster großer Einsatz auf dem Spielfeld der Arbeit war, dass ich in die Berufsschulen eingeladen wurde – auch dort hatten die Gewerkschaften Zutritt. Wir wurden von den LehrerInnen sehr freundlich und hilfsbereit empfangen. Bei Kaffee und Kuchen führten wir zuerst im Lehrerzimmer interessante Gespräche und ich durfte den deutschen LehrerInnen meine Erfahrungen aus der österreichischen Berufsausbildung erläutern. Unser Programm für diesen Tag war dicht gedrängt. Wir stellten den Schülern der drei Abschlussklassen die SOKA-BAU, das deutsche Pendant zur österreichischen BUAK (Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse), genauer vor. In eineinhalb Stunden konnten wir den Azubis die rechtlichen Grundlagen des Überganges vom Auszubildenden zum Facharbeiter näherbringen und sie darauf hinweisen, dass sie ihre Ansprüche geltend machen können und so keine Urlaubstage oder Überstunden verloren gehen. Die Aufklärung, welche Mindesttariflöhne den jungen Gesellen zustehen und welche Vorteile sie aus einer Gewerkschaftsmitgliedschaft ziehen können, war selbstverständlich auch ein wichtiger Teil dieses Refera
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Ich habe übrigens nur männliche Azubis angetroffen.
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tes. Bei dieser Gelegenheit gelang es uns, sechs neue Mitglieder für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zu werben – ein nicht unerheblicher Erfolg. Im Rahmen unseres Besuchs durfte ich für das junge Publikum das österreichische Ausbildungssystem der dualen Lehre dem deutschen gegenüberstellen. Die Azubis waren sehr an unserer Lehre interessiert und ich musste viele Fragen beantworten. Nicht überraschend war das wichtigste Thema: das Geld! Interessant fanden wir alle den Vergleich der österreichischen Lehrlingsentschädigung von 911 Euro im ersten Lehrjahr mit den 690 Euro, die der deutsche Auszubildende in seinem ersten Jahr erhält. Die Schere geht im weiteren Verlauf der Lehre noch weiter auseinander. Im dritten Lehrjahr erhält der österreichische Lehrling sogar um 484 Euro mehr als seine deutschen Kollegen. Wir mussten aber auch feststellen, dass es wieder an der Zeit ist, für den Bauberuf zu werben. Zukünftig ist ein großer Bedarf an FacharbeiterInnen am Bau zu erwarten. Um die Qualität am deutschen Bau hochzuhalten, muss schon heute für das Know-how von morgen gesorgt werden. Dies ist beim Besuch der Berufsschulen deutlich geworden, auch wenn die Arbeitgeber davon noch überzeugt werden müssen. Denn der frühere Slogan „Sei schlau, geh am Bau“ ist heute durch strenge Lohnpolitik und schlechtere Rahmenbedingungen der Arbeitgeber nur mehr bedingt gültig.
Gelbe Karte für Qualitätsverzicht Aufgrund zunehmender Abbrüche von Lehrausbildungen wurde von Arbeitgebern und Gewerkschaften reagiert und versucht, mit einer sogenannten Zwischen- oder Abschlussprüfung im zweiten Lehrjahr diesem Phänomen entgegenzuwirken. Diese ursprünglich gut gemeinte Idee hat aber leider zwei Seiten. Der positive Aspekt ist, dass Azubis statt einem frühzeitigen Lehrabbruch einen – wenn auch geringerwertigen – Abschluss erlangen konnten. Mittlerweile sehen wir aber auch die Kehrseite der Medaille: Arbeitgeber sind daran interessiert, viele MitarbeiterInnen mit dem zweijährigen Abschluss – also keine GesellInnen – zu beschäftigen. Denn sie bringen bereits viele Kenntnisse mit, aber sie sind nicht wie FacharbeiterInnen zu entlohnen. Inzwischen kann man diese „kleine Abschlussprüfung“ als Möglichkeit betrachten, die Lohnkosten zu senken. Forderungen der Arbeitgeberseite, einen „Lehrabschluss light“ auch in Österreich zu schaffen, selbst wenn der Grundgedanke nicht schlecht gemeint ist, stehe ich daher skeptisch gegenüber, denn diese Vorlage verwandelt sich nur allzu leicht in ein Eigentor. Eine Billiglohnschiene über eine qualitativ schlechtere Ausbildung zu schaffen, das kommt für mich nicht infrage.
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Spielanalyse Auf der letzten Station meines Weges durch die Berufsschulen begegnete mir eine in Österreich nicht bekannte Berufsausbildung: jene zum Maschinisten. Interessanterweise entspringt dieser Berufszweig aus dem Ausbildungssystem der DDR, also einem System, das vor 26 Jahren aufgehört hat zu existieren. Obwohl dieses staatliche System – zum Glück – längst nicht mehr besteht, ist das Berufsbild des Maschinisten heute in Deutschland immer noch anerkannt und von Bedeutung. Denn auch vor der Bauindustrie haben die fortschreitende Technologisierung und Digitalisierung (z. B. GPS-Systeme) nicht haltgemacht. Das bedeutet für uns, dass sich die Anforderungen an einen Maschinisten/eine Maschinistin heute wesentlich geändert haben. BauarbeiterInnen der Zukunft werden sich auch in einer virtuellen Umwelt (3-D-Baupläne, GPS-Steuerungen etc.) zurechtfinden müssen. Eine profunde Ausbildung für diese Arbeitsbereiche erscheint mir mehr als nötig. Obwohl diese Ausbildung also aus einem vergangenen System entstanden ist, bedeutet das nicht, dass sie heute nicht mehr gefragt ist. Im Gegenteil, aufgrund der technischen Revolution, die auch im Baugewerbe Einzug gehalten hat, ist es umso wichtiger, FacharbeiterInnen zu haben, die mit der Entwicklung Schritt halten können, die Qualität abliefern und weiterentwickeln. Ein Betrieb in der Bauindustrie, der nicht die modernsten Technologien zur Anwendung bringt, wird sich langfristig nicht auf dem Markt behaupten können. Aber um diese Technologien einsetzen zu können, bedarf es auch qualifizierter und gut ausgebildeter MitarbeiterInnen (= „MaschinistInnen“), die die neuen Methoden effizient und rationell einsetzen. Die „Big Player“ im Baugewerbe setzen voraus, dass die ArbeitnehmerInnen sich mit neuesten Entwicklungen auf dem technologischen Sektor zurechtfinden und sehr viele Grundvoraussetzungen mitbringen. Die Arbeit am Bau, so wie sie sich in der Zukunft gestalten wird, stellt andere Anforderungen an die einzelnen MitarbeiterInnen, als sie das noch vor wenigen Jahren getan hat. Das Berufsbild der BauarbeiterInnen wird sich als solches in der Zukunft noch deutlich verändern, es verlangt mehr Know-how, wird technologischer und erfordert viel mehr die Verbindung von planerischer Gestaltung und Umsetzung. Die erfolgreichsten Unternehmen in der Bauindustrie waren auch bisher schon jene Firmen, die auf Innovation und Einsatzfreude ihrer MitarbeiterInnen gesetzt haben. Die bedeutendste Investition in die Zukunft einer Firma ist meiner Meinung nach immer noch jene in Human Resources, also unsere KollegInnen. Will ein Unternehmen zukünftig bestehen, ist es also gut beraten, sein wichtigstes Gut zu fördern, dementsprechend auszubilden und natürlich auch zu entlohnen.
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Spielanalyse Als Besucher eines Spieles von Schalke 04 – mein Kollege Thomas Rinaldi hat mich eingeladen – wurde ich von meinen KollegInnen aus der IG Bau, bekennenden BVB-Dortmund-Fans (die Rivalität ist legendär), spürbar nicht mit der üblichen Herzenswärme im Büro empfangen. Die Drohung, mich 30 Kilomenter von meiner Wohnung entfernt auszusetzen, war noch das harmloseste Übel. Meine deutschen KollegInnen leisten hervorragende Arbeit und sie haben es mir wirklich ermöglicht, mich wie zu Hause zu fühlen.
Akademie des Handwerks in Bochum
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Vor dem Schalke-04-Heimspiel mit Thomas Rinaldi
Stadion des FuĂ&#x;ball-Bundesligisten Schalke 04
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Stefan HÖLBLING – München Arbeitgeber: STRABAG AG Gewerkschaft/Bundesland: GBH/Kärnten Zielstadt/Zielland: München (Deutschland) Praktikumsorganisation: IG BAU
Impressionen
Aktion im Zuge der Tarifverhandlungen 2016
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Arbeitsalltag eines IG-BAU-Sekretärs Aktuelle Entwicklungen im bayrischen Baugewerbe Die Bauwirtschaft boomt in Bayern. Angesichts dieser guten Grundlage ging die IG Bau mit der Forderung von 5,9 Prozent Lohnerhöhung in die erste Runde der Tarifverhandlungen des Bauhauptgewerbes. Weiters forderten die VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen bezahlte freie Tage am 24. und 31. Dezember und 100 Euro Lohnerhöhung für Azubis (Auszubildende). Die Antwort der Arbeitgeber wurde beinahe als Beleidigung wahrgenommen. Obwohl die Wirtschaft brummt, boten sie nur 1,3 Prozent – trotz jahrelanger Lohnzurückhaltung –, und die restlichen Forderungen ließen sie überhaupt unbeantwortet. In Bayern bekommen FacharbeiterInnen zwar fünf Euro mehr Stundenlohn als in Österreich, dafür haben sie keine Regelung für den Einsatz bei Schlechtwetter und Hitzefrei kennt man auch nicht in Bayern. Stattdessen dürfen sie erst mit 67 Jahren in die – dann mehr als verdiente – Rente gehen. Im Vergleich dazu bestehen diese Regelungen in Österreich sehr wohl, und ein/e SchwerarbeiterIn auf österreichischen Baustellen kann mit 60 Jahren (unter bestimmten Voraussetzungen) in die Pension gehen.
Mein Einstieg ins Praktikum In dieser Situation führte mich mein Europapraktikum nach München zur IG Bau. Ich war bereits neugierig darauf, die Strukturen der STRABAG in Bayern (die ja auch meine Arbeitgeberin in Österreich ist) kennenzulernen und darüber hinaus auch internationale Kontakte in der Baubranche zu knüpfen. Gleich nach meiner Ankunft wurde ich einem Sekretär zugeteilt. Ohne lange zu zögern, fuhren wir zu einer Betonbaufirma, die Fertigteile für andere Baufirmen und Abnehmer wie die Deutsche Bahn produziert. Dieses Unternehmen besteht bereits seit 1946, beschäftigt 120 ArbeitnehmerInnen und hat fünf Auszubildende zum Beruf BetonbauerIn. Das Besondere an diesem Betrieb ist, dass er zu 100 Prozent gewerkschaftlich organisiert ist. Das ist in mehrfacher Hinsicht erwähnenswert, da der durchschnittliche Organisationsgrad in Deutschland bei 20 Prozent liegt. Dem Betriebsratsvorsitzenden ist eine gute Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft besonders wichtig. Als Sekretär wird man gut aufgenommen, zumal es auch zu einem Informationsaustausch über die Tarifverhandlungen kommt. Außerdem herrscht ein reger Telefonkontakt zwischen Gewerkschaft und Belegschaft, in dem viele arbeitsrechtliche Fragen geklärt werden können – ein weiterer Beleg für die gute Zusammenarbeit. 122
Herausforderung Mitgliederwerbung Grundsätzlich besteht die Arbeit eines Sekretärs bzw. einer Sekretärin zu einem großen Teil aus Mitgliederwerbung. Das Erreichen von besseren Mitgliederzahlen erweist sich als äußerst schwierig. Speziell wenn es zum Ausfüllen der Formulare und zum Angeben der Kontodaten kommt, blocken viele ArbeitnehmerInnen ab. Auch der Hinweis eines Sekretärs bzw. einer Sekretärin, dass die Daten vertraulich behandelt werden, nützt nicht viel. Meist sagen die ArbeitnehmerInnen, dass sie sich den Beitritt noch überlegen müssen. Aber natürlich muss man auch Präsenz auf Baustellen zeigen. Auf meine Frage, warum der Organisationsgrad so schlecht ist, bekam ich zur Antwort, dass man als GewerkschaftssekretärIn sehr viel Zeit mit Bürokratie und Sitzungen verbringt, anstatt sich auf die Arbeit bei den Mitgliedern vor Ort zu konzentrieren. Allerdings wird jetzt wieder vermehrt darauf Wert gelegt, Kontakt zu den Mitgliedern zu halten. Da sich die Gewerkschaft aus Mitgliedsbeiträgen selber finanziert, ist der Zuwachs an Mitgliedern für die deutschen Gewerkschaften überlebensnotwendig. Eine wichtige Rolle bei der Mitgliederwerbung spielen natürlich die BetriebsrätInnen. Jedoch ist die Unterstützung der BetriebsrätInnen nicht selbstverständlich. Es gibt genug ArbeitnehmervertreterInnen, die den Gewerkschaften nicht wohlgesonnen sind. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs bei der STRABAG Bayern Süd lag der Organisationsgrad in etwa bei den oben genannten 20 Prozent. Das liegt aber meiner Meinung nach nicht am Vorsitzenden des aus drei freigestellten1 und weiteren elf Betriebsratsmitgliedern bestehenden Betriebsratsgremiums, denn dieser bemüht sich wirklich redlich, sondern eher an einer allgemeinen „Gewerkschaftsverdrossenheit“. Die Gründe hierfür konnte mir aber niemand von der Belegschaft nennen.
Konferenz mit 70 BetriebsrätInnen Eine weitere Aufgabe einer Sekretärin/eines Sekretärs besteht darin, als Vortragende/r bei Betriebsratskonferenzen Informationen und Forderungen der Arbeitgeber sowie die Positionen der Gewerkschaften zu präsentieren – so auch im Rahmen einer allgemeinen Informationskonferenz der IG BAU für ihre BetriebsrätInnen am 6. April 2016 in Augsburg. Da gerade Tarifverhandlungen liefen, lag eine gewisse Spannung in der Luft. Für die Ansprüche der Arbeitgeber gab es laute Unmutsäußerungen von den 70 anwesenden BetriebsrätInnen. Für 1
Laut dem Betriebsverfassungsgesetz gibt es in Bayern ab 200 ArbeitnehmerInnen eine Freistellung eines Betriebsrates. Dazu zählen Angestellte als auch gewerbliche ArbeitnehmerInnen (in Österreich ArbeiterInnen). Je 200 weitere ArbeitnehmerInnen erfolgt eine weitere Freistellung. Anders ist es in Österreich, wo grundsätzlich zwischen den Gruppen der ArbeiterInnen und Angestellten unterschieden wird. Hier gibt es die erste Freistellung ab 150 MitarbeiterInnen und ab 700 die nächste.
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sie stellte das Angebot der Gegenseite eine Provokation dar, und die Gewerkschaft konnte und wollte Warnstreiks nicht mehr ausschließen. Es wurde auch über Protestaktionen mit Plakaten, Absperrband und Sprühkreide verhandelt. Die GIAS (Gewerkschaftssekretäre in Ausbildung) konnten ebenfalls noch Informationen zu den Verhandlungen beitragen. Außerdem diente ihr Auftritt der Mitgliederwerbung, was durchaus von Erfolg gekrönt war. GIAS spielen eine wichtige Rolle in der Gewerkschaft: Sie betreuen schon selbstständig Betriebe und halten Kontakt zu Mitgliedern. Da der Betriebsratsvorsitzende von STRABAG Bayern Süd auch an der Betriebsratskonferenz teilgenommen hatte, berief er am Abend eine Betriebsversammlung ein. Er berichtete über den Stand in den Tarifverhandlungen. Die Reaktionen der Belegschaft waren ähnlich wie jene in der Konferenz.
STRABAG – grenzüberschreitend Ein Termin mit dem Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der STRABAG Bayern Nord – Andreas Batke – wurde mir ebenso ermöglicht. Er ist auch stellvertretender Vorsitzender des europäischen Betriebsrates in der STRABAG SE. Da der ehemalige Vorsitzende aus Kärnten kommt, war mir dieser Termin besonders wichtig. Wir diskutierten ausführlich über Aufbau und Strukturen unserer Firma, und ich konnte dabei viel Neues erfahren. Eine Überraschung stellte für mich eine Regelung im Tarifvertrag dar: Ab 27 Grad im Schatten muss der Arbeitgeber auf der Baustelle alkoholfreie Getränke zur Verfügung stellen. Eine solche Regelung kenne ich aus dem österreichischen Recht nicht. Da die IG Bau auch für Agrar und Umwelt zuständig ist, handelt es sich beim Bayerischen Staatsforst (BAYSF) um einen bedeutenden Bereich für die Arbeit der Gewerkschaft. Bei den Staatsforsten liegt der Organisationsgrad immerhin bei 60 Prozent. Da der betreuende Sekretär Günther Busch selbst bis in die Mitte der Neunziger als Forstwirt bei den Staatsforsten tätig war, hat er ein großes Netzwerk. Ein Hauptaugenmerk liegt auf der Sicherheit in den Wäldern. Da vor kurzer Zeit ein schwerer Arbeitsunfall mit einem Waldarbeiter passiert ist, rückte das Thema Arbeitssicherheit wieder mehr in den Mittelpunkt. Unter diesem Aspekt waren auch Themen wie Zeckengefahr oder Hautkrebs Schwerpunkte der Arbeit der deutschen GewerkschafterInnen der Forstwirtschaft.
Aktion auf der BAUMA Im April findet alle drei Jahre auf einem riesigen Gelände die Internationale Baumaschinenmesse (BAUMA) – die größte Baumaschinenschau Europas – statt. Natürlich nutzte ich die Gelegenheit zum Besuch dieser internationalen Messe, da auch ein Aktionstag der Gewerkschaft stattfand. 124
Die Aktion gestaltete sich schwieriger als gedacht, da sich die Sicherheitsleute nicht sehr erfreut über die riesigen Plakate mit den Tarifforderungen der Gewerkschaft zeigten. Doch trotz dieser Schwierigkeiten war es eine gelungene Aktion, die viel Aufsehen in Deutschland erregte.
Resümee Das Europapraktikum waren vier sehr aufschlussreiche Wochen, und ich konnte viele interessante Kontakte knüpfen. Besorgt war ich über die Entwicklung der deutschen Gewerkschaften und ihrer Mitgliederzahlen und die teils äußerst negative Einstellung gegenüber den Gewerkschaften. Ich wurde durch diese Erfahrungen noch mehr darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig es ist, die österreichische ArbeitnehmerInnenvertretung zu stärken.
Werksbesuch in Simbach
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Baustellenaktion
Forderungen fĂźr Azubis
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Christian RINGSEIS – Nordheim Arbeitgeber: GBH Gewerkschaft/Bundesland: GBH/Wien Zielstadt/Zielland: Nordheim (Deutschland) Praktikumsorganisation: IG BAU
Impressionen
Mit dem Gewerkschaftsbetreuer bei der IG BAU
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Du bist es wert Mit dem Slogan „Du bist es wert“ hält die deutsche Baugewerkschaft IG BAU die Gewerkschaftsarbeit in allen Ehren. Die deutschen Gewerkschaften befinden sich in einer schwierigen Situation, da sie mit vielen – vom deutschen Staat hausgemachten – Problemen kämpfen. Eines dieser Probleme ist die Ost-West-Diskussion, die seit mittlerweile 26 Jahren kein Ende findet, was sich auch in den unterschiedlichen Mindestlöhnen/ Tariflöhnen widerspiegelt oder in der allgemeinen Haltung der Menschen im Westen gegenüber jenen im Osten und umgekehrt.
Gleiche Probleme – andere Lösungsansätze1 In der Bauwirtschaft ist das Thema Winterarbeitslosigkeit kein österreichspezifisches. Auch Deutschland beschäftigt sich mit der Lösung dieses Problems. Die IG BAU hat mit den Arbeitgeberverbänden und der Bundesagentur für Arbeit das sogenannte Saison-Kurzarbeitergeld (S-KUG) geschaffen. Diese Maßnahme soll die ganzjährige Vollbeschäftigung garantieren. Aus deutscher Sicht bietet das Saison-Kurzarbeitergeld die Vorteile der ganzjährigen Bindung der FacharbeiterInnen an den Betrieb, der Arbeitsplatzerhaltung über die Schlechtwetterzeit und der Ausgleichszahlungen, die der Lohnausfall durch Kurzarbeit mit sich bringt. Die Zeiträume, in denen die S-KUG-Regelung gültig ist, sind branchenabhängig. Während die meisten Betriebe den Zeitraum Dezember bis März vereinbart haben, beginnen die deutschen Gerüstbaubetriebe schon mit November. Wie bekommen ArbeitnehmerInnen das Saison-Kurzarbeitergeld?
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ArbeitnehmerInnen haben Anspruch auf S-KUG, wenn der Betrieb dem jeweiligen tarifvertraglichen Geltungsbereich angehört, wenn betrieblichen Voraussetzungen erfüllt sind, wenn persönliche Voraussetzungen erfüllt sind, bei erheblichem Arbeitsausfall, wenn der Arbeitsausfall bei der Agentur für Arbeit angezeigt worden ist.
Quelle: Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (Hrsg., 2006): Hintergrund und Chancen der neuen Regelung zum Saison-Kurzarbeitergeld. Gute Chancen für die kalte Jahreszeit, 2. Auflage
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Als saisonaler Arbeitsausfall wird ein Arbeitsausfall bezeichnet, der regelmäßig in der Schlechtwetterzeit aufgrund witterungsbedingter oder wirtschaftlicher Ursachen eintritt und unabwendbar ist. Der Betrieb muss mindestens einen/eine ArbeitnehmerIn beschäftigen. Dies gilt auch für Betriebsabteilungen mit eigenem Zweck bzw. Hilfszweck. Es spielen auch einige Voraussetzungen eine Rolle, welche der/die ArbeitnehmerIn persönlich erfüllen muss. Die Kriterien sind die Fortsetzung oder die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, sofern das Arbeitsverhältnis nicht gekündigt oder aufgelöst wurde bzw. der/die ArbeitnehmerIn die nicht vom S-KUG-Bezug ausgeschlossen worden ist. Des Weiteren ist der primäre Verbrauch des Arbeitszeitkontos vorgeschrieben, um S-KUG im Grunde zu vermeiden. Was ist ein erheblicher Arbeitsausfall?
Ein erheblicher Arbeitsausfall besteht grundsätzlich, wenn der Ausfall vorübergehend und nicht vermeidbar ist sowie aus folgenden Gründen auftritt: »» wirtschaftliche Ursachen (z. B. Auftragsmangel), »» witterungsbedingte Gründe (zwingende Witterungsgründe verursachen pro Arbeitstag mindestens einen Ausfall von einer Stunde), »» unabwendbare Ereignisse (Arbeitsausfall durch behördliche oder behördlich anerkannte Maßnahmen, z. B. bei Hochwasser), »» unvermeidbarer Arbeitsausfall (vergeblicher Versuch der Firma, den Arbeitsausfall abzuwenden).
Kein Anspruch auf Saison-Kurzarbeitergeld besteht aus nachstehenden Gründen: Rente geringfügige Beschäftigung unständige Beschäftigung Arbeitslosengeld bei beruflicher Weiterbildung Übergangsgeld bei beruflichen Vollzeit-Bildungsmaßnahmen vollendetes 65. Lebensjahr vor dem Beginn des S-KUG-Bezuges eingetretene Erkrankung mit Anspruch auf Krankengeld »» Erkrankung, die während eines Kalendermonats ohne S-KUG-Bezug eingetreten ist und bei der Anspruch auf Krankengeld besteht »» kein Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall »» Tage der Sperrzeit bei Meldeversäumnis »» »» »» »» »» »» »»
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Wie viel Geld bekommt ein/e ArbeitnehmerIn?
Leistungssatz 1 = 67 Prozent der pauschalierten Nettoentgeltdifferenz Gilt für ArbeitnehmerInnen, die mindestens ein Kind haben, sowie ArbeitnehmerInnen, deren Ehegatte-/gattin mindestens ein Kind hat – sofern beide Ehegatten uneingeschränkt einkommenssteuerpflichtig sind und nicht dauerhaft getrennt leben. Leistungssatz 2 = 60 Prozent der pauschalierten Nettoentgeltdifferenz Dieser Leistungssatz betrifft alle übrigen ArbeitnehmerInnen der deutschen Bauwirtschaft. Nettoentgeltdifferenz = Unterschiedsbetrag zwischen dem pauschalisierten Nettoentgelt aus dem Soll-Entgelt und dem Ist-Entgelt. Soll-Entgelt = Bruttoarbeitsentgelt, welches »» der/die ArbeitnehmerIn ohne den Arbeitsausfall im Anspruchszeitraum Vollzeit erreicht hätte, »» soweit dieser Verdienst beitragspflichtig im Sinne des SGB III ist und »» als Entgelt im Sinne der Sozialversicherung anzusehen ist. Ist-Entgelt = das im jeweiligen Anspruchszeitraum erzielte Bruttoarbeitsentgelt zuzüglich aller zustehenden Entgeltanteile. Beispiel: Hat ein/e ArbeitnehmerIn nur den halben Monat per Kurzarbeit gearbeitet und war den übrigen Monat mittels S-KUG zu Hause, so beträgt das IstEntgelt 50 Prozent des Sollentgelts. Einmal bezahltes Arbeitsentgelt ist nicht zu berücksichtigen. Bei der Berechnung des Saison-KUG ist in einer Tabelle zur Berechnung des Saison-Kurzarbeitergeldes, erhältlich in der Deutschen Agentur für Arbeit, nach Lohnsteuerklasse und Leistungssatz (siehe oben) zu unterscheiden. Diese Tabelle wird von der Bundesagentur für Arbeit ausgearbeitet und öffentlich zur Verfügung gestellt.
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Rechenbeispiel:
ArbeitnehmerIn mit 50 Prozent Arbeitsausfall (Lohnsteuerklasse 3, Kinderfreibetrag 1,0)
Soll-Entgelt im Kalendermonat € 2.000,00 Rechnerischer Leistungssatz Ist-Entgelt im Kalendermonat € 1.000,00 Rechnerischer Leistungssatz Auszuzahlender S-KUG-Betrag
€ 1.031,02 € 529,30
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Weitere Leistungen
Darüber hinaus werden auch ergänzende Leistungen über die Sozialkassen ausbezahlt. Zuschuss-Wintergeld (ZWG): Das ZWG für jede in der Schlechtwetterzeit ausgefallene Arbeitsstunde in der Höhe von 2,50 Euro gewährt, wenn durch die Auflösung von Arbeitszeitguthaben die Inanspruchnahme von S-KUG vermieden wird. Mehraufwands-Wintergeld (MWG): Das MWG wird in Höhe von 1 Euro für jede in der Zeit vom 15. Dezember bis zum letzten Kalendertag des Monats Februar geleistete berücksichtigungsfähige Arbeitsstunde erbracht. Berücksichtigungsfähige Arbeitsstunden: Dezember bis zu 90 Stunden, Jänner und Februar bis zu 180 Stunden. Die Leistungen des Mehraufwand-Wintergeldes sind sowohl steuer- als auch sozialabgabenfrei (Nettoauszahlung). Finanzierung
Die Finanzierung des Saison-Kurzarbeitergeldes wird auf ArbeitnehmerInnen und Arbeitgeber aufgeteilt. Berechnungsbasis ist das umlagepflichtige Bruttoarbeitsentgelt des jeweiligen Arbeitnehmers bzw. der jeweiligen Arbeitnehmerin. Diese Beiträge sind an die jeweils zuständige Sozialkasse zu entrichten. Im Durchschnitt bezahlt ein/e deutsche/r ArbeitnehmerIn, dessen Betrieb eine S-KUGRegelung per Betriebsvereinbarung abgeschlossen hat, 0,8 Prozent seines/ihres Bruttolohns, während der Arbeitgeber je nach Branche zwischen 1 Prozent und 1,7 Prozent an die Sozialkassen entrichtet.
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Wäre dieses System in Österreich anwendbar? Die Grundidee, ein System zu schaffen, das Vollbeschäftigung über das ganze Jahr garantiert, ist eine sehr gute. Der Lösungsansatz ist jedoch auch für deutsche arbeitspolitische Verhältnisse gewagt. In vielen Betrieben, in denen Tariflöhne bezahlt werden, steigen die ArbeitnehmerInnen oft schlechter aus, als wenn sie über den Winter gekündigt werden würden. Ich halte es für bedenklich, ein solches System in Österreich zu etablieren. Das Saison-Kurzarbeitergeld enthält für österreichische Standards sehr viele negative Aspekte. Der/Die ArbeitnehmerIn erhält weniger Lohn, als wenn er/sie arbeitslos wäre, und muss Arbeitszeitkonten führen. In diesen leistet er/sie zwar Überstunden, die aber ohne Zuschläge übernommen werden. Darüber hinaus ist er/sie verpflichtet, diese Arbeitszeitkonten wieder zu leeren, bevor er/sie den Anspruch auf die Auszahlung von S-KUG hat. Allein der Aspekt der fehlenden Überstundenzuschläge ist, meines Erachtens, in Österreich ein No-Go.
Gewerkschaftshaus in Nordheim 132
Tina MEUSSER – Berlin Arbeitgeber: GPA-djp Gewerkschaft/Bundesland: GPA-djp/Wien Zielstadt/Zielland: Berlin (Deutschland) Praktikumsorganisation: ver.di (FB Finanzdienstleistungen)
Impressionen
Mit der Leiterin des ORF-AuslandsbĂźros in Berlin Birgit Schwarz
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Happy Birthday, Mindestlohn! Jetzt wird abgerechnet!? Seit 1. Jänner 2015 gibt es den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland – ein Kompromiss, um die ArbeitnehmerInnen vor Lohndumping zu schützen. Berlin: eine Metropole, eine multikulturelle Stadt, voller Menschen verschiedenster Herkunft, Religion und Kultur, und doch noch immer mit vielen Unterschieden zwischen West und Ost. Während meines Praktikums erfuhr ich einiges über das Leben in Berlin Ost und West, angefangen von den Löhnen bis zu den Renten. Ich wohnte im Westen von Berlin und arbeitete bei ver.di im Osten. Die Preise sind die gleichen, aber wie ist das möglich, wenn es doch so einen Unterschied bei den Einkommen gibt? Ist der gesetzliche Mindestlohn die Antwort?
Warum ein gesetzlicher Mindestlohn? Mehr als zehn Jahre forderten die Gewerkschaften, allen voran ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) und NGG (Gewerkschaft Nahrung, Genuss und Gaststätten), einen gesetzlichen Mindestlohn zum Schutz gegen Lohndumping. Der wichtigste Grund für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns war die rasche Zunahme von Niedriglöhnen aufgrund des deutschen Tarifsystems. Besonders auffallend war der Rückgang der Tarifbindung in privaten Dienstleistungsbranchen, wodurch sich der Niedriglohnsektor immer weiter ausbreiten konnte. Im Jahr 2014 gab es in Deutschland über 4,8 Millionen Beschäftigte, die weniger als 8,50 Euro brutto pro Stunde verdienten. Dies entsprach einem Anteil von mehr als 14,8 Prozent aller abhängigen Beschäftigten, wobei der Frauenanteil höher war als jener der Männer. Vor der deutschen Wiedervereinigung waren rund 80 Prozent der Unternehmen tarifgebunden und die restlichen Unternehmen orientierten sich an diesen Tarifverträgen. Nach der Wiedervereinigung hatten viele Deutsche aus dem Osten die Hoffnung auf mehr Lebensqualität durch ein höheres Einkommen, bessere Berufsaussichten und Wohnraumschaffung. Doch das Gegenteil war der Fall. Durch die steigende Arbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung zuerst im Osten, dann auch im Westen, verließen viele Unternehmer die Arbeitgeberverbände oder traten erst gar nicht ein, um geringere Löhne zahlen zu können. Vor allem im Osten gab es eine hohe Anzahl Beschäftigter im Niedriglohnsektor, obwohl die Preise für Mieten und Lebensmittel immer mehr dem Westen angeglichen wurden. Deutschland war einer der wenigen EU-Mitgliedstaaten ohne einen gesetzlichen Mindestlohn. Andere Länder haben aufgrund verschiedener Regelungen eine deutlich höhere Tarifbindung als Deutschland. Mit der Dienstleistungsfreiheit in der der Europäischen Union konnten Arbeitskräfte, viele aus osteuropäischen Staaten, nach Deutsch134
land zu Lohnbedingungen ihres Heimatlandes entsendet werden. Dies förderte Lohndumping mit einem Stundenlohn weit unter 8,50 Euro brutto. Hartz-Reformen und die Aufstockung der Verdienstgrenze für Minijobs seit 2003 hatten weitere negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im Niedriglohnsektor.
Der gesetzliche Mindestlohn im Detail Der gesetzliche Mindestlohn ist ein angemessener Schutz für die ArbeitnehmerInnen. Seit 1. Jänner 2015 gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro brutto pro Stunde. Ausgenommen vom Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn sind zum Beispiel ArbeitnehmerInnen oder Auszubildende unter 18 Jahren, Personen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder in gemeinnützigen Tätigkeiten und Personen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung sowie PraktikantInnen mit bis zu drei Monaten Beschäftigung, die der Berufsorientierung dient, Pflichtpraktika im Rahmen einer Ausbildung oder eines Studiums. Jedoch gilt der Mindestlohntarif für Nebenjobs und Minijobs. Langzeitarbeitslose haben erst sechs Monate nach Wiederaufnahme einer Arbeit Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Übergangsregelungen bzw. tarifvertragliche Ausnahmeregelungen gibt es bei der Land- und Forstwirtschaft, den FriseurInnen, im Gartenbau und in der Fleischindustrie. Eine Anpassung soll 2017 stattfinden, angelehnt an die Entwicklung der vergangenen Tariflohnerhöhungen. Dafür wurde eine paritätische Mindestlohnkommission eingerichtet. Diese setzt sich aus jeweils drei VertreterInnen der Gewerkschaften sowie der Arbeitgeberverbände und einem/einer unabhängigen Vorsitzenden zusammen. Diese Kommission wird nachlaufend zu den Tarifverhandlungen alle zwei Jahre über eine Anpassung des Mindestlohns beraten. Beschlossen wird eine Anpassung durch die Bundesregierung.
Ein Jahr danach … Vor Einführung des Mindestlohntarifes warnten die Arbeitgeber mit zahlreichen Studien deutscher WirtschaftswissenschafterInnen vor den Auswirkungen am Arbeitsmarkt. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde zu enormen Arbeitsplatzverlusten führen und die Wettbewerbsfähigkeit wäre gefährdet. Bereits durch die jahrelangen Debatten und schließlich durch die Ankündigung eines gesetzlichen Mindestlohntarifes reduzierte sich die Zahl der betroffenen Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Im Jahre 2010 lagen noch über 16 Prozent aller tariflichen Lohngruppen unterhalb der 8,50 Euro brutto pro Stunde, während es im Januar 2015 nur noch 6 Prozent und im Januar 2016, nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, sogar nur noch 3 Prozent waren. Ein Jahr nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns konnte festgestellt werden, dass dieser nicht zu Arbeitsplatzverlusten geführt hat. Einen Rückgang gab es bei den geringfügig Beschäftigten, den sogenannten „Minijobs“. Dies ist jedoch nicht mit Arbeitsplatzverlusten verbunden, sondern viele dieser 135
geringfügigen Beschäftigungen wurden in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen umgewandelt. Der gesetzliche Mindestlohn nützt vielen ArbeitnehmerInnen. Durch ihn konnten überdurchschnittlich hohe Lohnsteigerungen im Jahr 2015 vor allem im Niedriglohnsektor verzeichnet werden. Besonders profitieren konnten die Beschäftigten in Ostdeutschland.
Der gesetzliche Mindestlohn Ein guter Kompromiss? Durch den gesetzlichen Mindestlohn konnte vor allem den Frauen geholfen werden, da diese vorwiegend im Niedriglohnsektor beschäftigt sind. Entgegen den Prognosen hat der Mindestlohntarif keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Die aktuellen Zahlen bestätigen eine Steigerung bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten. Das Lohnniveau von Ost und West konnte angenähert werden. Vor allem für die Integration von anerkannten Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt ist der gesetzliche Mindestlohn ein „Muss“, um Lohndumping zu verhindern. Ziel ist es, dass der Mindestlohn allen Beschäftigten ein „leistbares“ Leben ohne zusätzliche Aufstockungsleistungen ermöglicht. Ein Lohnzuwachs fördert den Konsum, somit die Kaufkraft im Inland und schafft Arbeitsplätze. Dafür sind weitere Anpassungen notwendig. Die Gewerkschaft wird auch weiterhin dafür kämpfen, dass die Ausnahmeregelungen fallen. Ein schlechter Kompromiss? Der gesetzliche Mindestlohn fördert aber nicht den Mitgliederzuwachs der Gewerkschaften, somit auch nicht die Tarifvertragsstruktur. Obwohl die Gewerkschaften ihre langjährige Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn durchsetzen konnten, ist dies kein Anreiz für ArbeitnehmerInnen, der Gewerkschaft beizutreten. Des Weiteren liegt die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland unter jener in den westeuropäischen Staaten. Oft ist er nicht ausreichend, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können, wie eine Begegnung in Berlin zeigte: Ich saß in einem Kaffeehaus am Potsdamer Platz und bestellte wie gewohnt eine Melange. Sofort merkte die Kellnerin, dass ich aus Österreich bin, und wir kamen ins Gespräch. Ich wollte wissen, wie sie über den gesetzlichen Mindestlohn denkt. Mit einem fragenden Blick: „Ist das Ihr Ernst?“ Dann erzählte sie mir, dass viele ihrer KollegInnen einen zweiten Job haben, um in Berlin leben zu können. In einigen Branchen, darunter auch im Gastgewerbe, gibt es fast nur Teilzeitjobs. Ein Stundenlohn von 8,50 Euro brutto reicht nicht aus, um die hohen Miet- und Lebenshaltungskosten abzudecken. Die Mindestlohnkommission prüft alle zwei Jahre eine Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns nach der im Mindestlohngesetz geforderten „Angemessenheit“ des Min136
destlohnniveaus. In dieser Funktion ist die Kommission durch ihre Ergebnisse mittels Vorschlägen an die Bundesregierung nur beratend tätig und kann keine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns beschließen. Darüber entscheidet allein die aktuelle Bundesregierung. Das bedeutet, dass diese aus VertreterInnen von Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen bestehende Kommission kein Entscheidungsrecht hat. Dazu kommt, dass es bei jeder neuen Entscheidung auf die derzeitigen Machtverhältnisse der Bundesregierung ankommt. Somit ist meiner Meinung nach keine Prognose über die Weiterentwicklung des gesetzlichen Mindestlohns erstellbar.
Braucht Österreich einen gesetzlichen Mindestlohn? Aufgrund der Tarifstruktur und der gesetzlichen Bestimmungen in Deutschland war die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns wichtig, um Lohndumping und eine weitere Ausbreitung des Niedriglohnsektors zu verhindern, jedoch ist diese gesetzliche Regelung auch einer Rückentwicklung der Tarifabdeckung zu verdanken. In Deutschland gibt es keine Pflichtmitgliedschaft seitens der Arbeitgeber und somit muss auch kein Tarifvertrag angewendet werden. In Österreich werden meist jährlich Kollektivvertragsverhandlungen geführt. Dazu ist es wichtig, gewerkschaftlich aktiv zu sein und eine gute Sozialpartnerschaft zu pflegen. Stark organisierte ArbeitnehmerInnen können sich einer Verschlechterung der Lohnpolitik entgegenstellen und für Verbesserungen kämpfen. Aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen und der Kollektivvertragsabdeckung in Österreich von rund 98 Prozent ist ein gesetzlicher Mindestlohn nicht notwendig.
ver.di Gebäude in Berlin 137
ver.di-Aktion „Weil es um mehr geht!“
ver.di-Kundgebung im Zuge der Tarifrunde 2016 138
Christa WEISSENBACHER – München Arbeitgeber: Caritas der Diözese Graz-Seckau Gewerkschaft/Bundesland: GPA-djp/Steiermark Zielstadt/Zielland: München (Deutschland) Praktikumsorganisation: ver.di (FB Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt, Kirchen)
Impressionen
Christa Weißenbacher (Mitte) mit ihren ver.di-BetreuerInnen Jasmin Geltinger und Christian Reischl
Streikzug in die Münchner Innenstadt
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BetriebsrätInnen müssen sich qualifizieren! Mit dieser Aussage sprach mir Rechtsanwalt Friedrich Schindele auf der Fachtagung „Mitbestimmung unter Druck: Behinderung der Betriebsratsarbeit – und wie ihr begegnet werden kann“ aus dem Herzen. An dieser Veranstaltung nahmen rund 300 BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen teil. Im Rahmen meines Europapraktikums bei der Fachgewerkschaft ver.di in München im Fachbereich 03 (Gesundheit, soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen) hatte ich die Gelegenheit, an dieser Fachtagung teilzunehmen. Hier wurde von allen Vortragenden erwähnt, wie wichtig es für BetriebsrätInnen ist, am Puls der Zeit zu bleiben und sich weiterzubilden.
Bildung ist ein wichtiges Instrument der Betriebsratsarbeit Auch in Deutschland wird man nicht als Betriebsrätin bzw. Betriebsrat geboren, sondern es ist ein gewähltes Mandat nach dem Betriebsverfassungsgesetz (§ 1 BetrVG). Die Periode dauert in Deutschland wie in Österreich vier Jahre, aber ein wesentlicher Unterschied ist, dass es vorgegebene Wahljahre gibt. Nächstes Wahljahr ist 2018 – wer 2016 erstmalig wählt, hat trotzdem 2018 die nächste Wahl abzuhalten. Im deutschen Recht gilt genauso, dass BetriebsrätInnen ein Mitbestimmungsrecht bezüglich sozialer und wirtschaftlicher Angelegenheiten haben. Dieses Wissen und die Möglichkeiten und Chancen, qualifiziert mitreden zu können, können sich BetriebsrätInnen durch Bildung aneignen. Im Folgenden möchte ich die in Deutschland geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür schildern.
Wo ist Bildung für BetriebsrätInnen geregelt? Bildung ist für BetriebsrätInnen im § 37 Abs. 6 und 7 im BetrVG geregelt. Hier steht, dass Mitglieder des Betriebsrates das Recht haben, zu ihrer Qualifizierung Seminare zu besuchen. Dieses Recht gilt für solche Seminare, in denen Kenntnisse vermittelt werden, die für die Betriebsratsarbeit erforderlich sind. Was das Wort „erforderlich“ heißt, wurde durch die Rechtsprechung geklärt. Die Vermittlung von konkreten Kenntnissen muss die Verhältnisse im Betrieb mitberücksichtigen.
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Themenbeispiele für Seminare nach dem Paragrafen 37 Absatz 6 BetrVG sind: »» »» »» »» »» »» »» »» »» »» »» »» »»
Grundlagen in Betriebsverfassung Allgemeines Arbeitsrecht Datenverarbeitung im Betrieb Lohngestaltung Betriebsrat und Arbeitskampf Betriebliche Berufsbildung Gremienarbeit im Betriebsrat Geschlechtergleichstellung Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Schwerbehindertenrecht Arbeitszeitsysteme Betriebliche Altersversorgung Umweltschutz im Betrieb
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§ 37 Absatz 7 BetrVG: Verfassung und Arbeitsrecht Betriebswirtschaft ArbeitnehmerInnenrechte in Europa Versammlungstechnik Frauen in Gesellschaft und Beruf Allgemeines Sozialrecht Globalisierung Grundsatzfragen der Ergonomie Managementtechniken Allgemeinwissen zur EDV Gewerkschaftspolitik bei Lohnfragen Personalführung
Betriebsrat hat Anspruch auf Weiterbildung Jedes Betriebsratsmitglied hat in Deutschland (BetrVG § 37 Abs. 7) gleich wie in Österreich drei Wochen Anspruch auf Bildungsfreistellung pro Periode. In der ersten gewählten Funktionsperiode steht in Deutschland jedem Betriebsratsmitglied eine Woche mehr, also vier Wochen, zur Verfügung. In dieser Zeit besteht ein gesetzlicher Anspruch auf Dienstfreistellung unter Fortzahlung des Entgelts. 141
Nach den Wahlen – im Besonderen, wenn man erstmalig gewählt wurde – ist es deshalb sehr wichtig, sich Grundwissen anzueignen, um seine KollegInnen gut vertreten zu können. Es sollte im Gremium immer genau überprüft werden, welche Seminare zu absolvieren sinnvoll wäre, um eine sachgerechte und erfolgreiche Betriebsratsarbeit leisten zu können. In der Fachgewerkschaft ver.di sind diese Grundmodule in vier Teile gegliedert. Im Anschluss an die Module gibt es die Möglichkeit, aufbauende Spezialseminare zu besuchen. Für gewählte Jugend- und AuszubildendenvertreterInnen (JAV) gilt ebenso, dass sie drei Wochen Bildungsfreistellung in Anspruch nehmen können. Die Funktionsperiode dauert gleich wie in Österreich zwei Jahre. Hier gibt es für die Grundschulung drei Module, die verschiedene Bildungsträger anbieten.
Drei große Bildungsträger in Bayern für BetriebsrätInnen Grundsätzlich können BetriebsrätInnen den Bildungsträger und Ort frei wählen, wo sie das Seminar absolvieren, und der Arbeitgeber hat dabei kein Mitspracherecht. Diese Seminare müssen aber den Anforderungen gerecht werden, nämlich dementsprechend fachliches Wissen vermitteln. In Bayern gibt es drei größere gewerkschaftsnahe Träger: 1. ver.di b+b (Bildung und Beratung) 2. Bildungswerk ver.di 3. DGB Bildungswerk Bayern
Finanzierung der Ausbildungskosten In Deutschland spezialisieren sich jedoch auch sehr viele private Anbieter auf die Ausbildung von BetriebsrätInnen, denn: Arbeitgeber müssen die Kosten für diese Schulungsmaßnahmen übernehmen und tragen (§ 40 Abs. 1 BetrVG)! Hier ist aber genau hinzuschauen bzw. zu hinterfragen, ob diese Anbieter nicht arbeitgebernahe sind. Solche Bildungseinrichtungen bieten die Grundmodule oft billiger oder auch kürzer an, damit sie TeilnehmerInnen anziehen. Die Seminarkosten sowie die Kosten für Unterkunft und Verpflegung während der Ausbildung werden dem Arbeitgeber in Rechnung gestellt. Des Weiteren können auch die Reisekosten abgerechnet werden. Sollte ein Arbeitgeber der Meinung sein, dass das Seminar woanders „besser sei“ (oder eher billiger!?), muss er die Einigungsstelle zur Entscheidung anrufen. Gewerkschaftsmitglieder können sich auch bei solchen Problemen an ihre Gewerkschaft wenden. 142
Im Rahmen des Europapraktikums hatte ich die Möglichkeit, einen Tag an einem Grundmodul I teilzunehmen. Spannend und toll fand ich, dass die Vortragenden zwei Betriebsrätinnen waren. Sie vermittelten die Lehrinhalte sehr praxisbezogen und lebhaft. Mein Eindruck war, dass die teilnehmenden BetriebsrätInnen diesen ersten Tag sehr motiviert und interessiert verfolgten. Spannend fanden sie auch, dass das Seminar branchenübergreifend war. In Österreich werden solche Seminare von den Gewerkschaften bzw. der Arbeiterkammer angeboten und auch die Kosten, die daraus entstehen, von diesen übernommen.
Wie kommen BetriebsrätInnen oder JAVs zur Weiterbildung? Im Betriebsratsgremium muss der Beschluss gefasst werden, dass das (einzelne) Betriebsratsmitglied zu einer Schulungsmaßnahme entsendet wird (Entsendungsbeschluss). Ein wirksamer Beschluss ist in der ordnungsgemäß einberufenen Sitzung (§ 30 BetrVG) mit einem angeführten eigenen Tagesordnungspunkt zu fassen. Bei der Beschlussfassung muss die Beschlussfähigkeit vorliegen und es muss die Mehrheit dafür stimmen. Bei Stimmengleichheit wird der Antrag abgelehnt. Das von der Entscheidung betroffene Betriebsratsmitglied kann aber mitstimmen. In der Beschlussfassung müssen die konkrete Schulungsveranstaltung und die Anzahl und Auswahl der teilnehmenden Betriebsratsmitglieder genannt sein. Von dem Beschluss wird der Arbeitgeber rechtzeitig unterrichtet, um die Teilnahme zu ermöglichen. Dabei sind betriebliche Notwendigkeiten zu berücksichtigen.
Warum sich Betriebsräte qualifizieren müssen Während dieser vier Wochen in München ist mir wieder bewusster geworden, welche Vorarbeit unsere gesetzliche Arbeiterkammer und die freiwillige(n) Gewerkschaft(en) geleistet haben. Unsere Bildungseinrichtungen wie BRAK (Betriebsratsakademie), ZAK (Zukunftsakademie) oder SOZAK (Sozialakademie) sind in Europa sicherlich einzigartige Modelle. Deshalb möchte ich betonen: Bildung ist für uns BetriebsrätInnen wichtiger denn je. Wir als ArbeitnehmerInnenvertretung müssen begreifen, dass wir auf dem Laufenden zu bleiben haben, denn auch Arbeitgeber schauen, dass ihre Führungskräfte gut geschult sind. Und wir sollten uns auch selbst als Führungskraft sehen – für die Interessen unserer KollegInnen und für die zukünftigen Rahmenbedingungen unserer Nachfahren.
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Streik in München
Fachtagung mit Günter Wallraff 144
Europäisches Seminar im Zuge der SOZAK-Europapraktikums-Präsentationen Am 12. Mai 2016 fanden im Bildungszentrum der Arbeiterkammer Wien die Präsentationen der SOZAK-Europapraktika statt. Bei dieser Präsentationsveranstaltung, die von AK-Präsident Rudi Kaske und ÖGB-Präsident Erich Foglar eröffnet wurde, waren neben zahlreichen österreichischen BetriebsrätInnen und GewerkschafterInnen auch BotschaftsvertreterInnen verschiedener Länder anwesend, in denen die SOZAKlerInnen ihre Praktika verbracht hatten. Außerdem waren viele PraktikumsbetreuerInnen aus sechs europäischen Staaten in Wien, um den Europapraktikums-Präsentationen des 65. Lehrgangs beizuwohnen. Mit den KollegInnen aus Deutschland, Finnland, Großbritannien, den Niederlanden, Kroatien und der Schweiz hielten wir von 11. bis 13. Mai 2016 ein Rahmenseminar ab, bei dem über verschiedene gewerkschaftliche Zukunftsthemen gesprochen wurde und auch eine bessere Vernetzung österreichischer ArbeitnehmervertreterInnen mit europäischen KollegInnen stattfand. Hauptthema dieses Seminars war neben den Europapraktikums-Präsentationen ein Vortrag von Julia Behrens von der Bertelsmann-Stiftung zum Thema „Digitales Lernen und Arbeiten – Potentiale für mehr Teilhabe und Chancengerechtigkeit“. Den Abschluss dieses europäischen Seminars bildete ein Besuch des Museums „Waschsalon“ im Karl-Marx-Hof, bei dem die PraktikumsgeberInnen Einblicke in die Geschichte der österreichischen ArbeiterInnenbewegung erhielten.
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Präsentationen der Europapraktika im Bildungszentrum der Arbeiterkammer Wien
AK-Präsident Rudi Kaske heißt die VertreterInnen der Praktikumsgeberorganisationen herzlich willkommen
Zahlreiche BesucherInnen aus Österreich und europäischen Partnerorganisationen bei der Praktikumspräsentation
ÖGB-Präsident Erich Foglar bei seinen Grußworten
SOZAK-Lehrgangsleiterin Brigitte Daumen eröffnet die Europapraktikumspräsentation des 65. SOZAK-Lehrgangs
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Beim IG-BAU-Stand: Christian Ringseis, Erich Foglar, Thomas Ruckdäschl (IG BAU München), Anton Affengruber und Stefan Hölbling
Christian Puhr (Niederlande), Andreas Laaber (Belgien), Snjezana Brajinovic (Kroatien) und Robert Freiinger (Schweiz)
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Christian Puhr und Andreas Laaber berichteten aus den Benelux-Staaten Belgien und Niederlande
Die Truppe, die bei der IG BAU war: Christian Ringseis (Nordheim), Anton Affengruber (Dortmund), Stefan HĂślbling (MĂźnchen)
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Die younion-Bildungsverantwortlichen Bernhard Stoik und Peter Marchsteiner bei Stefan Laufenböck, der ihnen über die Gewerkschaftsarbeit in Dänemark berichtet
Erich Foglar mit Heinz Fuhrmann, Wolfgang Skofitsch sowie Gerhard Tauchner und Christian Horvath von der vida
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Franz Steindl verbrachte sein Praktikum beim DGB, Christa WeiĂ&#x;enbacher und Tina Meusser ihres bei ver.di
Georg Sever, Mitglied der SOZAK-Lehrgangsleitung, berichtet Ăźber Besonderheiten der SOZAK-Europapraktika des 65. Lehrgangs
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Karl Dürtscher (GPA-djp), Gerhard Bröthaler, Gerald Wintersberger und Georg Sever (AK-Wien)
Gerhard Papst berichtet Roman Lutz von der AK Saarland über die Gewerkschaftspolitik in Finnland
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Isolde Ludwig (DGB-Bildungswerk) bei Wolfgang Skofitsch, Oliver Venzke (IG BCE Hannover) und Petra Bolster (FNV Weert) bei Melanie Steckbauer und Thomas Rinaldi
Josef Leitner (Leiter der Weiterbildungsabteilung der AK Niederรถsterreich) mit Roman Lutz (AK-Saarland-Bildung) beim Stand von Christian Pomberger, der sein Praktikum in Schweden verbrachte
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Karin Baker von der britischen Botschaft in Ă–sterreich mit den britischen Gewerkschaftern Mark Young, Scott McCabe und Mark Politt
Kerstin Baumgart (DGB-Vorstandsverwaltung) und Oliver Venzke (IG-BCE-Vorstandsverwaltung) bei Christa WeiĂ&#x;enbacher
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Klaus Breuss (OMAK Steiermark) mit den SteirerInnen Robert Freiinger, Christa WeiĂ&#x;enbacher und Thomas Rinaldi
Mario Danzberger, Thomas Schauflinger, Thomas Summereder und Tanja Reiter verbrachten ihre Praktika in England und Irland
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PRO-GE-NÖ-Landessekretär Patrick Slacik mit den niederösterreichischen SOZAKlerInnen
ÖGB-Präsident Erich Foglar mit den kroatischen GewerkschafterInnen sowie Snjezana Brajinovic und Robert Freiinger
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ÖGB-Präsident Erich Foglar und AK-Präsident Rudi Kaske mit der britischen Botschaftsrätin Jennifer Townson
ÖGB-Präsident Erich Foglar, AK-Präsident Rudi Kaske, Georg Sever, Karin Baker, Jennifer Townson, Mathias Henriksen, Andreas Laaber
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Stefan Laufenböck, Christian Pomberger, Gerhard Papst und Jürgen Schmidt machen auf ihren Skandinavien-Stand aufmerksam
Tanja Reiter und Thomas Summereder berichteten beim Irland-Stand über ihre Praktikumserfahrungen
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Thomas Kattnig (younion) spricht mit Jürgen Schmidt über dessen Praktikum in Finnland, Stefan Bartl (ÖGJ) spricht mit Vesna Holappa von der finnischen Metallergewerkschaft
VÖGB-Leiterin Sabine Letz mit Mario Danzberger und Thomas Schauflinger
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Wolfgang Skofitsch (Mitte) absovierte sein Praktikum bei mobifair, Thomas Rinaldi und Melanie Steckbauer bei der IG BCE
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Hinterm Horizont geht’s weiter ... Ein Lesebuch mit Erfahrungsberichten zur transnationalen gewerkschaftlichen Zusammenarbeit 2016 Europapraktika der Sozialakademie der Bundesarbeitskammer Österreich (SOZAK) 2016, 65. Lehrgang Die Europapraktika der SOZAK sollen die TeilnehmerInnen in die Lage versetzen, über ihren eigenen Arbeitsbereich hinauszuschauen, grenzüberschreitend Netzwerke aufzubauen und somit die Zusammenarbeit der Gewerkschaften in Europa zu verbessern. Dieses Buch gibt einen Überblick über die Praktika des 65. Lehrgangs der Sozialakademie. Die TeilnehmerInnen haben einen nennenswerten Aspekt ihrer Praktikaerfahrungen herausgegriffen und in Form eines Artikels aufbereitet. Weiters werden besondere Gesprächstermine und Highlights während der 4 Wochen angeführt. Die Praktika wurden in zehn verschiedenen europäischen Ländern absolviert: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Großbritannien, Irland, Kroatien, Niederlande, Schweden, Schweiz.
Mit redaktioneller Zusammenstellung von: Brigitte Daumen
Georg Sever
Mit Beiträgen von: Anton Affengruber Snjezana Brajinovic Mario Danzberger Robert Freiinger Stefan Hölbling Andreas Laaber Stefan Laufenböck Tina Meusser
www.oegbverlag.at ISBN 978-3-99046-231-7
Gerhard Papst Christian Pomberger Christian Puhr Tanja Reiter Thomas Rinaldi Christian Ringseis Thomas Schauflinger Jürgen Schmidt
Wolfgang Skofitsch Melanie Steckbauer Franz Steindl Thomas Summereder Christa Weißenbacher