Für Clara und Paula
Nun kommen die
ANDERS GERD WOLF MARTINA SPANGENBERG
Verlag Jörg Mitzkat
H
eute Morgen knatterte der alte Motor unheimlich. Als wenn er Husten hätte. Bauer Keese fuhr nach Hause zum Frühstück. Er hatte seine Schafe im
Lunautal gefüttert. Immer versorgte er zuerst die Tiere und dann sich selbst. So hatte er es von seinem Vater gelernt. Das machte man so im Solling. Bauer Keese stellte den grünen Trecker, einen alten Hanomag, auf dem Hof ab und stiefelte ins Haus. Es duftete lecker, als er die warme Küche betrat. Seine Frau Erna hatte schon Kaffee gekocht und saß am Tisch. Irgendwelche Musik plätscherte wie Wasser aus dem Radio. Erna liebte es, in der Küche Radio zu hören. Bauer Keese nervte das. „Schuhe aus, August, du Ferkel!“, rief Erna mit einem strengen Blick auf seine dreckigen Gummistiefel, während sie das Brot schnitt. Bauer Keese brummelte vor sich hin, zog draußen im Flur die Stiefel aus und betrat die Küche erneut mit dampfenden Wollsocken. Jetzt roch es auch ein bisschen nach Schweizer Käse. Bauer Keese setzte sich ebenfalls an den Küchentisch und begann, eine Scheibe Brot mit Butter zu beschmieren. Er schwieg. Das war seine Art. Er hasste es, am frühen Morgen das Radio mit seiner Stimme übertönen zu müssen.
„Was gibt’s Neues?“ Erna goss ihm Kaffee ein. Bauer Keese zog die Stirn in Falten und deutete mit dem Messer auf den Radioapparat neben dem Toaster. Erna drehte die Musik etwas leiser.
„Das kleine neue Schaf macht sich ganz gut. Du weißt schon, das, was ich aus dem Fluss gezogen habe, beim Hochwasser neulich“, antwortete der Bauer jetzt. „Es frisst und scheint Anschluss in der Herde gefunden zu haben. Die anderen nennen es So Anders.“ „Der Name passt. Das Lamm sieht wirklich sehr komisch aus mit seiner Brille und den schwarzen Kniestrümpfen. Was wohl mit seiner Familie passiert ist? Die armen Schafe.“ Erna rührte in ihrer Tasse, während sie mit der anderen Hand die Zeitung hochhielt. Es war nicht viel von ihr zu sehen. „Jukunda, unser Leitschaf macht mir etwas Sorge“, erzählte der Bauer. „Sie war heute ganz scheu. Kam nicht zu mir wie sonst. Blieb hinten am Zaun stehen. Und irgendetwas war mit ihren Augen. Sie waren so schwarz. Wie Ringe. Wohl schlecht geschlafen … Ich konnte es von weitem nicht richtig sehen.“
„Die Jukunda, die habe ich gestern in der Stadt getroffen. Sie kam beim Optiker aus dem Laden und lief dann ganz schnell weg, als sie mich bemerkte. Wenn mich nicht alles täuscht, hatte sie eine Brille auf.“ Erna lachte. „Da mach dir mal keine Gedanken. Dein Leitschaf ist schlau. Mit Brille sieht man besser.“ „Ach nee, guck an. Woher die wohl das Geld hat?“ Bauer Keese staunte nicht schlecht. Er musste schmunzeln. Seine Jukunda überraschte ihn. „Wie wäre es denn mal mit einem Fernglas für dich?“, frotzelte Erna. „Dann hättest du vielleicht erkannt, dass Jukunda keinen Dreck am Auge hat. Sondern eine schicke Hornbrille trägt.“ Erna lachte. „Was für Schafe hast du, August!“ Bauer Keese widmete sich jetzt ganz seinem Frühstücksei. Er schlug es mehrfach auf dem Tisch auf, dabei drehte er das Ei jedes Mal ein bisschen. Die Schale bekam Risse und ließ sich nun leicht abpellen. Dann schnitt der Bauer das hartgekochte Ei sorgfältig in feine Scheiben, belegte sein Butterbrot damit und streute ausgiebig Salz und Pfeffer darüber. Zuoberst kam ein bisschen Schnittlauch, frisch gehackt. Lecker! Zufrieden schaute er auf sein Werk. Er nahm das Brot mit beiden Händen vorsichtig vom Teller, stützte die Ellenbogen auf und biss mit geschlossenen Augen hinein. Bauer Keese war ein Genießer.
Er kaute in aller Ruhe sein Ei-Brot und blickte sich in der Küche um. „An deine neue Blümchentapete mit den Veilchen muss ich mich erst gewöhnen“, brummelte er mit vollem Mund. „Ich liebe meine Vergissmeinnicht.“ Erna strahlte. „Sie sind so herrlich anzuschauen! Ich möchte sie alle umarmen, mich reinlegen.“ Ein leichter Wind ließ das Fenster klappern.
I
m Radio kamen die Nachrichten. Bauer Keese wies mit dem Brotmesser in Richtung Toaster.
„Mach doch mal lauter. Gleich kommt das Wetter.“
Aber die Wetternachrichten waren schon vorüber. Man hörte nur die Abschlussmusik. „Tärätärä dingdong tzatza-wuh.“ Doch dann plötzlich erklang erneut die Stimme des Nachrichtensprechers. „Wir unterbrechen unser Programm für eine Eilmeldung. Im Bahnhof von Göttingen kam heute Morgen der Nachtzug aus Crawopoli an. Aus den Wagen des ICE stiegen nur Schafe aus. Eine große Herde, ganz allein ohne Schäfer. Sie blöken in einem fort, machen ein großes Spektakel und blockieren seitdem den kompletten Bahnsteig.
Die Tiere sehen seltsam aus. Die einen haben ein braunes Maul, die anderen tragen einen roten Stern im Fell. Manche sind mit Hut unterwegs. Einige beobachten alles mit Spezialbrillen. Sie haben schwarze Kniestrümpfe angezogen. Die ganze Herde wirkt sehr hektisch, ja, fast bedrohlich. Der Bahnhof ist abgesperrt. Die Polizei hat eine Sonderkommission gebildet und bittet die Bevölkerung um Mitarbeit. Es werden erfahrene Schäfer als Dolmetscher gesucht, um mit der Herde in Verhandlungen treten zu können. Sie erreichen das Krisentelefon unter 04711-122994007, ‚So-Ko MÄH’. Ab jetzt rund um die Uhr.“ Dann kam wieder die Abschlussmusik der Nachrichten: „Tärätärä dingdong tzatza-wuh.“ Und das Programm ging weiter. „Donnerwetter!“, entfuhr es Bauer Keese. „Das ist ja eine Geschichte.“
„Eine Schafherde im ICE. Das gibt’s ja gar nicht.“ Erna war aufgeregt und legte die Zeitung weg. „Stell dir mal vor, wie das da drin jetzt aussieht. Das stinkt doch schrecklich.“ „Wie kommen die denn da rein? Ohne Schäfer, ohne Hund. Das kann doch nicht sein.“