Das 100. Geburtstagsgeschenk
Mit Illustrationen von Marta Torretta
Nein, nicht so ein Brimborium!“
Mein Opa sollte dieses Jahr 100 werden, aber er wollte das gar nicht.
„Ich lasse meinen Geburtstag ausfallen“, erklärte er jedem, der ihn darauf ansprach.
„An dem Tag mache ich gar nichts!“, brummelte Opa unwirsch. „Wenn trotzdem jemand vorbeikommt, lasse ich ihn nicht rein. Mir reicht’s, ich habe genug zu tun mit dem Altwerden. Da muss ich nicht noch feiern.“
Das sah die Familie ganz anders.
„Gerade 100 ist doch so eine besondere Zahl, die muss gefeiert werden. Wir machen alles, du darfst gemütlich im Sessel sitzen. Du musst nur dabei sein.“
„Dann könnt ihr ja auch ein Foto von mir aufstellen. Bei so einem „Gefeier“ bringt ihr mir alles im Haus durcheinander. Alle Gäste gehen auf mein Klo, Pfui. Den ganzen Tag muss ich ein freundliches Gesicht machen wegen der Selfies. Das hasse ich. Nee, nee, keine Geburtstagsfeier.“
„Aber du bekommst eine große Geburtstagstorte. Einen Frankfurter Kranz in Maxiausführung XXL. Das ist doch dein Lieblingskuchen.“ Versuchte seine Tochter, Tante Lilly, ihn zu locken.
Opa schüttelte energisch den Kopf.
„Wir machen eine Feier ganz ohne Handy!“, versprach der Sohn Willi, mein Papa.
„Das klappt doch sowieso nicht“, widersprach der Enkel Emil, mein Bruder. Er machte ein scheinheiliges Gesicht und steckte sein Handy gleich schuldbewusst in die Hosentasche.
„Wir sind alle Handy-Junkies!“, rief der Cousin August dazwischen. Dann spielte er weiter auf seinem neuen Smartphone.
Opa zuckte die Achseln.
„Opa, wenn du nicht älter werden willst, musst du es machen wie Pippi Langstrumpf: immer umgekehrt im Bett schlafen. Die Füße auf dem Kopfkissen. Das mache ich seit gestern auch.“
Sagte ich und kuschelte mich an Opa, der wie gewohnt auf seinem grünen Sofa saß. Ich heiße Emma und bin die jüngste Enkelin.
Opa lächelte. „Das ist mal gute Idee, meine kleine Prinzessin!“ und er strich mir mit seiner großen Hand sanft über das Haar. „Klappt es denn?“
„Heute ja“, sagte ich. „Ich bin genauso nervig wie gestern, sagt Mama.“ Ich strahlte. „Also kein bisschen älter.“
Meine Mutter verdrehte die Augen. Alle saßen an dem langen Tisch in Opas Haus in der Veranda mit den großen Fenstern zum Garten … Opa hatte eingeladen und „Tante“ Thea hatte gekocht. Es schmeckte super lecker. „Tante“ Thea war die beste Köchin, die ich kannte. Vor allem ihre Kuchen zum Nachtisch. Dafür ließ ich alles andere stehen. Sie war total nett, aber überhaupt nicht mit uns verwandt. „Mein guter Geist“, sagte Opa immer. Opa hatte 4 Kinder. Tante Gerda war rund und gemütlich und kam meist im lila Kostüm mit braunen Turnschuhen daher. Tante Lilly liebte lange, bunte Pullover. Sie trug ihre roten Haare als geflochtenen Zopf und konnte schrecklich schnell reden. Ihr Mann, Onkel John, war eher praktisch und wortkarg. Sein Einsatz kam immer, wenn es etwas zu reparieren gab. Darin war er Weltmeister. Dagegen Onkel Oskar mochte Gespräche. Er hatte braune gelockte Haare, die wild
über seiner Nickelbrille hingen. Eine spitze Nase saß unter zwei freundlichen Augen.
Seine gelbe Fliege wippte am Hals, wenn er sich vor Lachen ausschüttete, und das tat er oft. Und mein Papa, Willi. Heute im schwarzen Cordanzug mit Ringel-T-Shirt.
Er hatte immer gemütliche rote Backen, die dieselbe Farbe hatten wie seine Knubbelnase. Er war klein, sein Spitzname „Zwerg“. Papa war der Jüngste und, wie ich fand, der netteste der vier.
Onkel Oskar war wie immer mit seinem schicken grünen Rennrad angefahren.
Tante Lilly fragte alle Menschen wie es ihnen geht, sie war Psychologin. Tante Gerda hatte Bienenstöcke auf dem Dach ihres Hauses stehen und war leidenschaftliche Stadtimkerin.
Mein Vater arbeitete mit den Ohren. Er war Klavierstimmer.
Früher waren wir öfter bei Opa zum Essen, aber in letzter Zeit nicht mehr.
„Opa geht es nicht gut“, sagte Mama, wenn wir fragten.
„Opa wird ein Eigenbrötler“, sagte Papa.
„Was ist ein Eigenbrötler?“, wollte ich wissen.
„Opa ist lieber allein. Er wird sonderlich. Manches, das er macht, scheint anderen merkwürdig“, versuchte sich Papa.
„Dass er nicht duscht?“, fragte ich.
„Woher weißt du das?“, meine Mutter guckte mich entgeistert an.
„Weil Opa mit den Tieren spricht?“, wollte es mein Bruder wissen. „Er sagt immer zu einer
Taube ‚Hallo Hildegard‘, als wenn das Oma wäre.“
Ich überlegte, „Vielleicht ist das ja auch Oma. Verkleidet.“
„Nein“, sagte Mama, „eine Taube ist eine Taube. Oma ist tot und liegt auf dem Friedhof. Und ihre Seele ist im Himmel.“
„Aber vielleicht ist die Seele von Oma mal zu Besuch gekommen. Die hatte Sehnsucht nach Opa und dann hat sie sich ein Taxi genommen, ein Tauben-Taxi sozusagen.“ Pause.
„Stimmt’s Opa?“
Opa schaute freundlich zu uns herüber. Seine Augen leuchteten. Man wusste nicht, ob er etwas verstanden hatte, weil er war inzwischen ziemlich schwerhörig. Sein langes weißes Haar stand zottelig zu Berge. Er trug eine Lederweste über dem blauen Hemd.
Langsam drückte er sich mit den Armen im Sofa hoch, drehte sich und nahm seine Gehhilfe. „Das Klo ruft!“ sagte er augenzwinkernd und stapfte los.
„Mach´ Opa mal die Tür auf“, rief ein Onkel John. Opa war schnell unterwegs, aber ich schaffte es gerade noch. Die Verwandtschaft schaute hinterher, wie der alte Mann im Flur verschwand.
„Kinder, Kinder, ihr habt ja wieder eine blühende Fantasie“, sagte Papa. „Das Beste ist, ihr geht mal in den Garten und versucht eine Taube zu fangen.“
„Dann bringen wir Oma mit zum Kaffee, abgemacht!“ Wir blieben aber drinnen, denn draußen schüttete es aus Mollen und das Gespräch am Tisch nahm eine interessante Wendung.
„Der Opa wird wirklich wunderlich“, raunte Onkel Oskar jetzt seinem Schwager John zu.
„Der redet nicht nur mit sich selber, sondern der redet auch mit seiner Frau.“
„Ist nicht wahr, woher weißt du das?“
„Habe ich bei meinen letzten Besuchen heimlich belauscht. Du glaubst es nicht!“
„Wie? Erzähl mal! Das ist neu!“ und alle Onkels und Tanten streckten den Kopf vor, über Apfelkuchen und Sahne hinweg und spitzten die Ohren. Ich auch. Und Onkel Oskar begann.
„Die tägliche Unterhaltung mit seiner Frau findet meist abends nach dem Essen statt. Wenn er die Zeitung gelesen und ein Glas Wein getrunken hat. Er tut so, als wenn sie wirklich da wäre. Manchmal spricht Opa mit ihr im Bad oder kurz vor dem Zubettgehen im Schlafzimmer. Es geht auch laut zu dabei. Sie sagen sich richtig die Meinung. Als ich das erste Mal an der Tür horchte, dachte ich, er braucht Hilfe. Er rief laut „Mensch Hildegard, was machst du?“ dann hörte ich ihn lachen. Ich merkte: Quatsch, er spricht nur mit seiner Frau. Im Wohnzimmer Omas Ohrensessel bleibt immer leer. Er stellt dann manchmal ein zweites Glas vor den Sessel. Auf den Tisch. Sie bekommt immer Weißwein, er trinkt seinen Rotwein. Dann prostet er ihr zu, hebt sein Glas und stößt mit ihr an. Ihren Weißwein lässt er zunächst im Glas. Den trinkt er dann als Betthupferl, beim Aufräumen in einem Rutsch. Manchmal bekommt ihm das nicht gut. Er ist dann so beschwipst, dass er durchs Zimmer tanzt und singt.“
Jetzt war es still am Tisch, alle hörten zu.
„Mensch Meier, meine Güte!“ entfuhr es Tante Gerda.
„Achtung, wenn er zurückkommt.“ Sagte Tante Lilly mit unterdrückter Lautstärke. Aber Onkel Oskar winkte ab.
„Einmal habe ich beobachtet, wie er versuchte, dass die Oma im Ohrensessel auch Rotwein trinken sollte. Er bot ihr immer wieder davon an. Willst du nicht heute mal ein Glas von meinem guten …? Doch dann schaute er hoch zum Sessel, der einfach so streng dastand und wer weiß,
was er die Oma sagen hörte. Nein, gut, gut! Antwortete er dann. Heute wieder der Riesling, ich habe verstanden. Ich hole ihn. Und er stapfte in den Keller, an mir vorbei, als ich mich hinter der Tür verdrückte. Er holte den Weißwein und machte die Flasche auf und schenkte ein. Mit einem besonderen Lächeln. Als wenn Oma zeitungslesend in ihrem Ohrensessel sitzen würde, so wie früher.“
Das erstaunte Geraune und Murmeln der Familienmenge hatte gerade begonnen, als es an der Türklinke klapperte. Einige Köpfe fuhren herum, wie ertappt. Die Tür wurde geöffnet und Opa kam wieder ins Zimmer geschlurft. Alle redeten schnell über etwas anderes.
„Ach, was ist das wieder für ein ekeliges Sauwetter draußen. Und so warm.“
„Jaja, der Klimawandel. Ich sage es Euch.“
„Als wir Kinder waren, sind trotzdem immer rausgegangen. ‚Schietwetter‘ hin oder her. Wir waren doch nicht aus Zucker.“
„Und hinterher packte uns Oma in blaue Mülltüten, damit wir das neue Auto nicht schmutzig machen sollten.“
„Dafür hast du es dann vollgekotzt, weil dir beim Fahren immer schlecht wurde.“
„Leute, Leute!“, sagte mein Vater beschwichtigend und dann mit gedämpfter Stimme.
„Was wollen wir Opa denn eigentlich schenken?“ Opa, der mit der Gehhilfe am Bücherregal stand und etwas zu suchen schien, sollte es nicht hören.
„Vielleicht eine Reise, als Gemeinschaftsgeschenk, ans Meer oder so?“
„Oder einen neuen Rollator mit 4 Rad Antrieb.“
„Du spinnst wohl!“
„Na, einer, der ein bisschen geländegängig ist. Sonst bleibt er am Strand noch im Sand stecken.“
„Ich finde, jeder sollte selbst ihr Geschenk bestimmen“, sagte Tante Gerda. Wie um die Diskussion zu beenden. Sie war Lehrerin und hatte gern das letzte Wort.
„Wir sollten ihm gar nichts mehr schenken. In den Himmel kannst du nichts mitnehmen. Und da ist er bald.“ Raunte Onkel Oskar.
Ein missbilligender Blick von meiner Mutter und ein Knuff in die Seite mit dem Ellenbogen von Tante Gerda stoppte seinen Redefluss. Es entstand eine kleine Pause.