Es ist sehr gut und schmeckt gar wohl!

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ISBN 978-3-95954-146-6

© Claudia Erler

Gestaltung: Verlag Jörg Mitzkat www.mitzkat.de Holzminden, 2023

Es ist sehr gut und schmeckt gar wohl!

Das Kochbuch der Sibylle Wilhelmine Freifrau von Münchhausen

Mutter des berühmten Erzählers phantastischer Abenteuer

geschrieben 1733

zu lesen als Wegweiser in Lebenswelten der Aufklärung

Mitzkat Verlag

Holzminden 2023

Wie es zu diesem Buch kam.

Wie kam es zur vorliegenden Veröffentlichung und was ist an ihr anders geworden als ich es noch zu Beginn meiner Arbeit selbst erwartet hatte?

Als ehemalige Schulleiterin in der Region übernahm ich im Ehrenamt die Leitung des Münchhausen Museums in Bodenwerder, der Geburtsstadt des Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen.

Gleich in den ersten Tagen meiner neuen Beschäftigung, in der ich keinen Winkel ausließ, um meine Neugierde zu stillen, fiel mir auf dem Archivboden fast wortwörtlich ein unauffälliger grauer Karton vor die Füße.

Professionell in Seidenpapier eingeschlagen, befand sich darin ein historisches Büchlein.

Offensichtlich hatte jemand den Wert erkannt und mit Bleistift im Einband dokumentiert: Kochbuch der Baronin.

Einige Seiten später erscheint die Jahreszahl 1733, offensichtlich von der Autorin selbst hinzugefügt. Glücklicherweise lag eine

Transkription dabei.

Ein handgeschriebenes Kochbuch aus dem Jahre 1733, so wurde es nochmals von Fachleuten der HAWK Hildesheim, Abteilung Restaurierung bestätigt, vermutlich von der Mutter des Hieronymus, das war ein aufregender Fund.

Zunächst versuchte ich naheliegenderweise, für eine Teilveröffentlichung den jeweiligen phantastischen Abenteuern des sogenannten Lügenbarons jeweils ein Rezept zuzuordnen und damit eine kleine Broschüre für ein nettes Mitbringsel aus Bodenwerder zu gestalten.

Doch zunehmend wurde mir klar, dass dieser Umgang dem historischen Buch in keiner Weise gerecht werden konnte.

Dies hier war eher Stoff für eine Sonderausstellung.

Es ist sehr gut und schmeckt gar wohl, wird dann auch der Titel.

Wir waren ein gutes Team, unsere junge begeisterte Mitarbeiterin im Bundesfreiwilligendienst Zoé und ich. Während unserer

Arbeit stärkten wir uns mit Unmengen der Plätzchen: Duran mit Honig

Die Reaktion der Gäste zeigte hohes Interesse an dem dargestellten Stoff, sie ließen nicht locker mit ihren Fragen.

Wann wird das Kochbuch veröffentlicht?

Ich liebe alte Kochbücher! Kann man das nachkochen? Haben Sie das schon ausprobiert?

Was schmeckt am besten? Ich suche ein neues Rezept für eine Zitronentorte.

Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen?

Ich spürte bei allen Nachfragen, dass man von Vorstellungen eines üppigen, mittelalterlichen Mahles ausging. Doch genau dem entsprechen die Rezepte nicht.

Auf der Suche nach einer Beschreibung des Andersartigen stieß ich auf die Notwendigkeit, die Rezepte kulturhistorisch einzuordnen und fand darin den Wert meiner Arbeit und die Struktur des vorliegenden Buches.

Nicht nur alle Sachinformationen, entnommen der Fachliteratur zum Zeitalter der Aufklärung, sondern auch die lebensweltlichen Einwürfe der Gedankenwelt der Baronin, basieren vollständig, sogar in der Wahl der Namen, auf Tatsachen, die ich, in den historischen Dokumenten, vorhandenen Briefen und Chroniken der Region festgehalten, vorfand.

Gern möchte ich mit diesem kommentierten Kochbuch die Freude, sich mit ungewohnten Zusammenhängen zu beschäftigen und den eigenen Wert, den der Umgang mit Lebensmitteln vermitteln kann, an alle Leserinnen und Leser weitergeben.

Es ist sehr gut und schmeckt gar wohl kann dabei durchaus zu einem positiven Sprachritual werden. Das wünsche ich besonders meinen Freundinnen und Freunden, die ich lange Zeit vernachlässigt habe und die jetzt das Recht auf ein gutes Menü haben. Bestimmt steht am Anfang eine gute Pastete mit allerlei Zutaten.

Einführung

„Nein, Hieronymus, es geht nicht um dich!

Von dir wird genug erzählt, zudem bist du erst 13 Jahre alt, als deine Mutter ihr Kochbuch verfasst.

Dieses Mal soll sie im Mittelpunkt stehen, deine Hochwohlgebohrne Hochzuehrende Frau Mama.

Sibylle Wilhelmine Freifrau von Münchhausen, geb. von Reden Hastenbeck.“

Was ist typisch an ihrer Lebenswelt als Mutter und Gutsherrin?

Welches Schicksal hat sie ertragen und welche Aufgaben hatte sie in ihrem Alltag zu meistern?

Wonach hat sie sich gesehnt? Worüber hat sie sich gesorgt oder womöglich gelacht?

Wie sah ihre Situation in dem kleinen Städtchen Bodenwerder im Jahre 1733, einer Zeit des Wandels, aus?

Vordergründig betrachtet, wissen wir nicht viel. Doch wenn wir uns intensiv mit dem Kochbuch, seiner geschichtlichen Einordnung und der Zeit, in der es entstanden ist, beschäftigen, lässt sich aus einzelnen Mosaiksteinen ein spannendes Gesamtbild kulturhistorischer Erscheinungen und Handlungen zusammenfügen. Dabei bleibt bis zum Schluss erstaunlich, in welch enger Beziehung diese gesellschaftlichen Prozesse auch mit Nahrungsgewinnung, Speisenzubereitung und der Bedeutung des Essens stehen.

Vor Ihnen liegt, dem Anliegen entsprechend, möglichst ein umfangreiches Gesamtbild zu erstellen und damit auch den Wert und die Bedeutung der einzelnen Rezepte besser einordnen zu können, ein kommentiertes Kochbuch.

Es soll nicht nur Hobby- oder Profiköchen Interessantes bringen, sondern besonders auch historisch Interessierten ungewohnte Zusammenhänge der Prozesse des 18. Jahrhunderts darstellen.

Der Titel der Veröffentlichung „Es ist sehr gut und schmeckt gar wohl.“ bezieht sich auf eines der bedeutungsvollen Zitate aus dem Kochbuch der Baronin.

Wer dabei den Namen Münchhausen liest und sich unmittelbar an den sogenannten „Lügenbaron“ und seine Abenteuer erinnert, erwartet vermutlich wohlschmeckende Wildrezepte.

Im zweiten Teil des Buches sind zwar sämtliche 266 historischen Rezepte, ganz in ihrer ursprünglichen Form und Reihenfolge belassen, lediglich in einer für uns heute leserliche Schrift transkribiert, niedergeschrieben, doch „Hirschbraten mit Kirschsoße“ werden Sie nicht finden. Dafür muss es Gründe geben.

Der Untertitel „Das Kochbuch der Sibylle Wilhelmine Freifrau von Münchhausen - geschrieben 1733 – Mehr als eine Rezeptsammlung“ verweist darauf, dass es in der vorliegenden Veröffentlichung um mehr geht. Sie ist aus diesem Grund in zwei Teile gegliedert.

Teil A Das Jahr 1733

Alles dreht sich um das 18. Jahrhundert, einer Zeit, die ganz im Wandel stand.

Europa wird zwar noch von Monarchen und Regenten beherrscht, die fast alle Aspekte des Lebens ihrer Untertanen bestimmen, doch entwickeln sich zunehmend Menschen, die etwas Neues wagen.

Die mittlere Weser war zwar nicht Mittelpunkt von gesellschaftlichen Veränderungen, aber auch hier fand ein elementarer Wandel statt, der sich in dem Kochbuch der Baronin nachweisen lässt.

Geschichtliches wird häufig als eine einfache Abfolge von Ereignissen, die meist von Männern dominiert erscheinen und wie Perlen auf einer Kette aneinandergereiht gedacht werden, missverstanden.

Doch stehen historische gesellschaftliche Prozesse in unterschiedlichen, auch weniger beachteten inhaltlichen Zusammenhängen, an denen Frauen mehr beteiligt sind, als wir es gewöhnlich wahrnehmen.

Aus diesem Grund beschäftigt sich die vorliegende Arbeit in allen Darstellungen auf folgende drei zusammenhängende Ansätze:

a) Es geht immer um Geschehnisse und Personen, die die Baronin direkt und indirekt betreffen, also um die Lebenswelt der Sibylle Wilhelmine Freifrau von Münchhausen als Mutter, Gutsherrin und Vertreterin des landsässigen Adels.

Ihre nachempfundenen Gedankenspiele beziehen sich in Namen, Ort und Zeit sowie den vermittelten inhaltlichen Hintergründen durchweg auf Tatsachen.

b) Aus den Geschehnissen der Zeit werden exemplarisch diese herausgefiltert, welche durch den Umgang mit Nahrungsmitteln im weiteren Sinne geprägt sind und durch welche die unmittelbaren Handlungen des Essens beleuchtet werden können, also um Aspekte der Kulturgeschichte der Nahrungsgewinnung und des Essens im Jahre 1733.

c) In allen Thementeilen stehen die Frauen im Mittelpunkt des Geschehens.

Dass die Situation der Stadt Bodenwerder genauer betrachtet wird, liegt natürlicherweise an der Herkunft des Kochbuches. Doch bleiben die beschriebenen Strukturen von allgemeinem Interesse, denn es lässt sich viel Übertragbares und Allgemeingültiges ausmachen.

Teil B „Es ist sehr gut und schmeckt gar wohl.“

Wir kennen wunderbare Gerichte, die wir besonders der Entwicklung von Interkulturalität, Globalisierung und einem differenzierten Transportsystem verdanken.

Setzt man seinen Gästen Penne Rigate mit Zitronen-Pesto und Burrata vor, werden alle begeistert sein.

Die Zubereitungen mit Einkaufslisten sind exakt vorbereitet, also gerät man nicht einmal in den typischen Hausfrauenstress, ob alles richtig ist.

Was kann da schon ein vergilbtes Buch entgegensetzen, in dem es um scheinbar Alltägliches geht?

Der Titel sagt es: Nicht nur das fertige Produkt der Speise, sondern der Vorgang der Zubereitung hat einen eigenen Wert.

Man könnte den Rezeptteil auch unter das Motiv stellen: Kochen mit allen fünf Sinnen.

So machen es nicht selten Profiköche und genauso kennen wir es von unserer Großmutter.

Beide messen weniger ab, als wir glauben, es tun zu müssen:

An der Farbe sieht man den Garzustand.

Man hört das Gekochte sieden.

Mit den Fingern spüren wir die richtige Konsistenz des Teiges. Die gewünschte Mischung an Gewürzen kann man riechen.

Natürlich schmeckt man die richtige Zugabe von Zucker.

Und bevor dann die Mahlzeit auf dem Tisch serviert wird, weiß man: Es ist sehr gut!

Probieren Sie es selbst.

Dem Rezeptteil vorangestellt sind Erläuterungen, die dazu auffordern, den Zusammenhängen nachzuspüren.

In sechs Kapitel hat die Baronin ihr Kochbuch eingeteilt. Sie entsprechen den unterschiedlichen Zubereitungsarten. Allen sechs Einheiten sind Einführungen, kulturhistorische Erläuterungen und Kommentare vorangestellt.

Und nun wünschen wir:

Freude an Neuem, Mut zu Experimenten und die Selbstgewissheit:

Es ist sehr gut und schmeckt gar wohl!

Inhaltsverzeichnis

– Kleinstadt an der Mittelweser

a. Straßen und Wasserwege | Von Südostasien, Piemont, Pyrmont und Nowgorod in die Pastete der Baronin

b. Autarkes Leben in einem Inselstädtchen | Von Broysamen – Hirten – Gildemeistern und Nachbarn - 85 c. Bodenwerder – eine hannoversch-englische Enklave im Herzogtum Braunschweig | Von „Ausländischen“ und Zäunen

B

„Es ist sehr gut und schmeckt gar wohl.“

I. Zum Umgang mit den Rezepten eines „adligen“ Kochbuchs aus dem Jahre 1733

„Gib es auf den Tisch!“

„Musst zugeben … und hat kein Maß“

„….. und musst nicht sparen!“

Das Menü „à la russe“ servieren

II. Zu den Rezepten der sechs „Teile“ des Kochbuches

Der erste Teil handelt von allerhand Pasteten.

Du mußt das Pastetel gar bald machen, es ist recht gut.

Der andere Theil handelt von allerhand Torten.

Der dritte Theil. Allerley ander gutes Gebackenes

Der vierdte Theil. Von allerhand Kochen

Der fünfte Teil handelt von allerhand eingemachten Sachen.

Der sechste Teil handelt von allerhand Essen und Suppen

C

Das Kochbuchder Sibylle Wilhelmine Freifrau von Münchhausen aus dem Jahre 1733

Teil A

Was uns das Kochbuch der Sibylle Wilhelmine

Freifrau von Münchhausen aus dem Jahre 1733 verraten kann.

I. Prolog

Wer ist Sibylle Wilhelmine Freifrau von Münchhausen?

SibylleWilhelmine Freifrau von Münchhausen geb. von Reden Hastenbeck, geboren: 19. Juni 1689 in Hastenbeck, (Hameln-Pyrmont), gestorben: 26. April 1741 in Hameln im Alter von 51 Jahren, 1711 Eheschließung mit Georg-Otto Freiherr von Münchhausen (1682-1724), Mutter von acht Kindern, darunter der berühmte Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen, bekannt als sogenannter Lügenbaron.

Sibylle Wilhelmine Freifrau von Münchhausen war Vertreterin des sogenannten landsässigen Adels.

Ihre eher umgangssprachlich für Freifrau im Mündlichen verwendete Anrede „Baronin“ stammt aus dem Französischen und ist dort seit dem 11. Jahrhundert in Anlehnung an den Titel „Baron“ gebräuchlich. Baron war die allgemeine Bezeichnung für einen Burgbesitzer.

Das Leben von Freiherren und Freifrauen war geprägt von einem Selbstverständnis des „Freisein“ im Sinne eines Freiseins von bestimmten Verpflichtungen. Sie genossen eine gesellschaftliche Vorrangstellung, sichtbar gemacht auch durch eine besondere Kleiderordnung.

Dafür hatten sie ihrem obersten Landesherrn entsprechende Loyalität entgegenzubringen. Ihre Aufgabe bestand darin, die Territorialmacht zu stärken. Das bedeutete im Wesentlichen, Kriegsdienst zu leisten, aber auch bestimmte Verwaltungsaufgaben zu übernehmen.

Im Gegenzug wurden sie mit besonderen Privilegien ausgestattet, die zwar territorial unterschiedlich waren, aber zu denen in allen Regionen das besondere Recht auf die Jagd gehörte.

Adlige Familien verfügten normalerweise über reichlich Grundbesitz. Von den damit verbundenen landwirtschaftlichen Arbeiten

sollten sie für die geforderten staatliche Aufgaben weitgehend freigestellt werden. Ihnen wurden das grundlegende und uns heute bekannteste Recht der Zehntabgabe sowie die Freiheit zum Einfordern von Hand- und Spanndiensten gewährt.

Handdienste wurden insbesondere von den weiblichen Abhängigen geleistet, während bei Spanndiensten Werkzeuge, Wagen und Zugtiere der abhängigen Bauern mit zum Einsatz gebracht werden mussten.

In welcher Form diese Abhängigkeitsstruktur gelebt wurde, wurde sicherlich durch den jeweiligen kulturell, religiös und politisch bestimmten Wertekodex sowie den Wissens- und Erkenntnishorizont des oberen Landesherrn geprägt, war aber auch von dem Selbstverständnis der einzelnen Adelsfamilien und ihrer Umweltbedingungen abhängig.

In welchem Rahmen deutete Sibylle Wilhelmine Freifrau von Münchhausen ihren Status der Gutsherrin? Dies hing nicht nur von ihrer familiären, ihrer sozialen und materiellen Situation als Witwe in Bodenwerder ab.

Sibylle Wilhelmine lebte im 18. Jahrhundert in einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels mit eigenen neuen Anforderungen und veränderten Einstellungen. Diese betrafen nicht nur politische Ereignisse, sondern wirkten sich bis in den privaten Bereich der Lebensführung aus.

1733 ist Sibylle Wilhelmine Freifrau von Münchhausen schon seit 9 Jahren Witwe.

Amtsschreiben unterzeichnet sie mit: „Witwe von Münchhausen gebr. von Reden“, offiziell wird sie als „verwitwete Frau Obrist Lieutenantin von Münchhausen“ tituliert.

Ihr oblagen nunmehr schon seit 1724, direkt nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter Anna Rebecca, die Verwaltung und Organisation des Gutshofes in Bodenwerder. Ihr Sohn Hieronymus war gerade 4 Jahre alt geworden.

Das erforderliche selbstständige Handeln war für eine Baronin durchaus keine ungewöhnliche Aufgabe, denn wie auch andere Männer des landsässigen Adels, durch ihren Stand legitimiert,

steuerfrei zu leben und im Gegenzug Militärdienst zu leisten, war ihr Mann als Obrist häufig und langfristig außer Haus.

Doch die Zeiten ändern sich, mit ihnen ihre Umwelt und die Anforderungen an eine alleinstehende Frau sind neu zu gestalten.

Dies stellt eine große lebensweltliche Herausforderung dar.

Präludium:

So könnte es gewesen sein!

Es ist der 1. Februar 1733.

Baronin Sibylle Wilhelmine von Münchhausen sitzt in Bodenwerder am Fenster und sieht besorgt über den Gutshof.

Gerade eben ist Pfarrer Johann Conrad Schmidt vorbeigekommen und hatte gewarnt, das Wasser stehe schon auf dem Marktplatz vor seiner Kirche.

Sie weiß genau, was das bedeutet. Es dauert dann erfahrungsgemäß nur ungefähr zwei Stunden, bis es vor ihrem Eingang in den Keller überschwappt.

Wie gut, dass ihr seliger Gemahl Georg Otto noch zwei Jahre vor seinem Tod 1722 den Hauseingang nach oben verlegt hatte und die Freitreppe bauen ließ. Anders könnte sie im Februar bei dem alljährlichen Winterhochwasser selten mit trockenen Schuhen vor ihr Haus treten.

„Mine Borg is God“, der Segensspruch für schwere Zeiten aus dem 46. Psalm passt wohl immer noch für mich“, denkt sie.

Einfach war es nicht all die Jahre, als alleinige Gutsherrin in Bodenwerder Verantwortung zu tragen. Aber so ging es manchen Frauen: Kriegsdienste, außerhäusige Geschäfte, rechtliche Verpflichtungen und vor allem, wie so oft, ein früher Tod hatten auch sie schon mit 35 Jahren gelehrt, ihren „Mann“ stehen zu müssen.

Seit nunmehr neun Jahren ist sie Witwe und immer darauf bedacht, ihren noch sechs unmündigen Kindern ein Leben zu ermöglichen, das ihnen angemessen ist. Der Älteste ist als kurfürstlich hannoverscher Lieutenant nunmehr unter der Garde des Königs von England vielversprechend untergebracht.

Gut, dass ihr Vater Jobst Johann von Reden sie für die häufig dringenden finanziellen Angelegenheiten aus dem Erbe vorzeitig ausgezahlt hatte. Er sorgte sich aber weiterhin um die, wie er meinte, „kümmerliche finanzielle Beschaffenheit seiner geliebten Tochter“.

So legte er testamentarisch fest, dass ihre beiden Brüder Claus Friedrich und Wilhelm Johann auch in Zukunft, nach adligem Gebrauche und dem Geschlecht der von Reden angemessen, sich um ihre Versorgung bemühen sollten. Das Wissen um die Unterstützung durch die Familie nahm zwar einen erheblichen Teil der Last von ihren Schultern, aber zeitweilig entmutigte sie auch das Angewiesensein auf diese Hilfe

Kein Wunder, dass ihr in der dunklen Jahreszeit trübe Gedanken kommen. Man war schon recht abgeschnitten in diesem kleinen Inselstädtchen, besonders wenn der Eisgang auf der Weser eine Überquerung des Flusses zu einem gefährlichen Unterfangen werden ließ.

Hinter ihr steht Frau Nolte, den Blick in dieselbe Richtung gelenkt. Ob sie wohl gleiche Gedanken beschäftigen?

„Wie froh kann ich sein, dass ich eine so treue Haushälterin habe“, denkt sie. „Sie kennt wahrlich die Aufgaben einer umsichtigen Hausfrau genau, weiß die Hausmägde für die Näharbeiten, das Spinnen, Kerzen ziehen, Putzen und Kochen immer nach deren Geschicklichkeit einzusetzen.

Diese jungen Dinger müssen doch so manches Mal ermahnt werden, morgens pünktlich zu kommen. Gestern hat Frau Nolte doch tatsächlich Anna, die Tochter von Bäcker Dünnehaupt, aus der Backstube holen müssen. Ob es dort einen neuen Lehrling hat, oder musste Anna etwa noch den Stuten für den Markttag morgen backen helfen? Jeden Tag muss aufs Neue die Arbeit verteilt werden.“

Sie seufzt. Eigentlich kann sie ganz zufrieden auf den Winter zurückblicken. Die Vorräte für die Winterarbeiten, das Flachs und der Talg, Seife und Garn waren sparsam, aber ausreichend berechnet worden. So konnte die Zeit gut genutzt werden.

Doch da macht sich schon wieder die Sorge um ihren Sohn Hieronymus breit.

War er doch heute mit fünf stattlichen Enten nach Hause gekommen und behauptete tatsächlich, sie mit nur einem Schuss getötet zu haben. Sie hätten gar so brav in einer Reihe hintereinander gesessen.

„Seine Phantasie ist so ausgeprägt, dass ich gar nicht mehr immer über seine Geschichten lachen mag.

Sobald er aus der Gertrudiskapelle von seinem Lateinunterricht um die Ecke gelaufen kommt, ist er nicht zu halten. Es fehlt ihm doch die feste Hand des Hausvaters“, seufzt sie. „Was soll aus diesem Knaben nur werden?“

Bei diesen Gedanken beruhigt sie erheblich, dass Hieronymus, wie mit ihren Brüdern abgesprochen, schon bald in Bevern bei der Familie des Prinzen Ernst Ferdinand von Braunschweig - Wolfenbüttel seine Pagenausbildung beginnen wird.

„Dort wird auf Bildung und Kultur geachtet und mein Hieronymus nicht nur Jagen, Fechten und Reiten lernen.“

Die förderlichen verwandtschaftlichen Beziehungen der Braunschweiger zum Zarenhof nach Russland, zur Königin von Dänemark, der österreichischen Königin Maria Theresia und dem emporstrebenden Preußen werden ihm auch nicht schaden.“.

Sie blickt beruhigt auf die Aussicht, für ihren Sohn eine sichere militärische Laufbahn, ganz im Sinne ihres Mannes, vermittelt zu haben.

Doch quält sie der Gedanke, ob er für das Ganze nicht doch noch etwas zu jung ist? Leicht fällt es ihr nicht, sich von ihrem Wildfang zu trennen, schließlich bringt er immer Abwechslung und lustige Stimmung ins Haus.

Als sie ihn neulich abends zur Rede stellt, warum er sich noch so spät draußen rumtreibe und ob er denn keine Angst vor Wildschweinen im Wald habe, lachte er ihr ins Gesicht und sagte, er wisse schon, was er dann mache. Er könne sich helfen. Er springe dann einfach hinter einen Baum.

„Hoffentlich ist es aber ein mächtiger Keiler, der dann auf mich zurast“, provozierte er sie, „der bleibt dann bestimmt mit seinen Hauern in dem Stamm hängen. Mit einer Bache geht das nicht. Einen Strick habe ich immer bei mir, dann kann ich dem Wildschwein einfach die Hauer mit einem Stein abschlagen und ihn als Hausschwein mit auf den Hof bringen.“

„Ach ja, er wird mir -ach was, er wird uns allen hier- fehlen“, spinnt sie die Sorgen um ihren Sohn weiter.

Aber jetzt gehen die Gedanken erst einmal zu ihrer Jüngsten.

Rebecca ist ohne ihren Vater aufgewachsen. Die älteren Brüder und die Paten haben sich zwar wirklich um die Kleine bemüht, doch Sibylle Wilhelmine hat das Gefühl, dass sie sich um das Kind besonders sorgen müsse.

Noch tobt die 8-Jährige am liebsten über den Hof.

„In den Garten, den sie so liebt, mag ich sie nicht allein gehen lassen. Immer muss sie erst durch den ganzen Ort, vorbei an der Kirche über den Markt und hinten zum Stadttor hinaus. Das ist nicht gut für das Kind, auch wenn Frau Nolte immer dabei ist, wer weiß, was sie da alles zu sehen bekommt,“ rechtfertigt sie das strickte Verbot.

Sibylle Wilhelmine hört Anna Rebecca leise auf der kleinen Hausorgel klimpern.

„Ja, eine gute Bildung soll meine jüngste Tochter haben und sie muss wie ich selbst, lesen und schreiben lernen“, plant sie, in ihre Gedanken versunken.

„Die Kleine stellt sich gut an. Sie lernt früh, ihren Verstand zu gebrauchen und für eine gute Partie werden wir schon noch gemeinsam in der Familie sorgen. Ob ich das wohl alles noch erleben werde?“

Lange hatte sie überlegt, ob sie ihrer Tochter ein Kochbuch mit ihren liebsten Rezepten als kleines Vermächtnis hinterlassen sollte und ob sie es selbst schreiben, oder zusammen mit ihrer Frau Nolte einem Schreiber diktieren sollte. Jetzt ist es fertig geworden.

Stolze 266 Rezepte haben sie beide zusammengetragen und für den Gebrauch wohl geordnet.

Wie schwer es insonderheit einem Niedersachsen falle, in seiner Muttersprache zierlich und ohne Fehler zu schreiben, da wir in der Jugend nicht angewiesen werden, die Sprache regelmäßig zu lernen. Otto II. von Münchhausen

Fast 40 Jahre vor diesem Stoßseufzer des geschätzten Verwandten aus Schwöbber legt Sibylle Wilhelmine Freifrau von Münchhausen ihren Federkiel zur Seite.

„Am liebsten schreibe ich doch mit der Reisefeder, sie liegt leichter in meiner Hand“, denkt sie. „Mir sind die Winkel doch recht gut gelungen. Was soll diese neumodische Bandzugfeder. Man sagt, dass sich die Strichstärke damit leichter ändern lässt, aber daran werde ich mich nicht mehr gewöhnen:“

Sie schaut nicht wenig stolz auf das Rezept mit dem Eier-Brot.

„Gut, dass ich noch vor Beginn des Frühlings fertig geworden bin. Danach hätte ich nicht mehr so viel Fleiß und Ausdauer aufbringen können.“

Sie streicht über den Deckel, blättert durch die Seiten mit der fein säuberlichen Schrift und wickelt das Büchlein in ein zartes Leinentuch.

Da, in der Truhe auf der Diele, soll es bis zur Hochzeit meiner geliebten Tochter aufbewahrt werden.

Ja, so könnte es gewesen sein.

Sibylle Wilhelmine erlebt die Hochzeit von Anna Rebecca nicht mehr und so gerät ihr Vermächtnis über lange Zeit in Vergessenheit.

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