Inhaltsverzeichnis
Gefühle
und die Angst vor Bewertung
Sicherheit und die Angst vor Verletzung
Vertrauen und die Angst vor Verletzung
Orientierung und die Angst vor dem Unbekannten................
Transzendenz und die Angst vor Sinn- und Bedeutungslosigkeit
Konfliktmuster
Kommunikation
Zusammenfassung: Konfliktbearbeitung auf der personalen Ebene
Literaturempfehlungen
Übersicht Methoden
Danke
Einleitung
»Daher ist es die Aufgabe, nicht sowohl zu sehen, was noch keiner gesehen hat, als bei dem, was jeder sieht, zu denken, was noch keiner gedacht hat.« Arthur Schopenhauer1
Dieses Handbuch ist vor allem für Menschen gedacht, die Jugend- und Erwachsenenbildung im Sinne des A.T.C.C.®-Ansatzes mit dem Fokus auf Konflikttransformation durchführen wollen.2 Fangen wir also beim Thema ‚Konflikte‘ an. Im Alltag sind Konflikte lästig und nervig. Sie lösen bei vielen Menschen ein Unbehagen aus. Als Erstes sehen wir das Defizit, das durch einen Konflikt sichtbar wird. Wer Konflikte hat, kann dies in der alltäglichen Denkweise als Mangel erleben und sich als ungenügend abwerten. Das hat viel damit zu tun, dass wir immer mehr in eine Kultur der Funktionalität geraten sind. Wir haben ‚störungsfrei‘ zu laufen. Am besten mit einer langfristigen Garantie. Dies sind auch die Fantasien bei beginnenden Beziehungen – sei es eine Paarbeziehung, die Beziehung zwischen Kindern und Eltern, zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden oder im großen politischen Geschäft mit den Bürger*innen.3 In diesem technischen Bild entwickelt sich eine Idee für eine Form der Konfliktbearbeitung, die dazu beitragen soll, dass Störungen bestenfalls ausgeschlossen, aber zumindest reduziert werden. Zu genau diesem Zweck wird heute auch eine Reihe von ‚Konfliktlösungsmethoden‘ eingesetzt. In diesen Heilsversprechungen finden regelmäßig unangemessene Reduzierungen statt. Es wird sich auf den Menschen
1 Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, 2 Bde., 1851. Zweiter Band. Kapitel 6. Zur Philosophie und Wissenschaft der Natur
2 A.T.C.C. steht im Französischen für approche et transformation constructif de conflit, im Deutschen sprechen wir von einem Ansatz für konstruktive Konfliktwahrnehmung und Bearbeitung.
3 Ich benutze bei geschlechtsbezogenen Begriffen in diesem Buch das *, weil mir wichtig ist, dass sich nicht nur cis-Männer und Frauen, sondern auch trans- und intergeschlechtliche Personen sowie queere oder nicht binäre Menschen angesprochen fühlen können.
in seiner Person konzentriert oder die Kultur als zentrales Übel diagnostiziert, oder es sind nur die gesellschaftlichen Bedingungen, die die Menschen zum Konflikt treiben. Der individuelle Mensch hat dann ‚gewaltfrei‘ zu kommunizieren, um die Welt zu erretten. Kulturelle Integration bedeutet dann ein Aushalten von Unterschieden, auch wenn sie schon gegen die Grundrechte unseres Landes gehen. Diese Vorstellung von Toleranz ist jedoch mehr ein Vermeiden als ein Annehmen davon, dass es wirklich Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt. Beides macht bekanntlich Angst – der Unterschied, wie auch das Gemeinsame.
Der Blick auf die Funktionalität verengt das menschliche Zusammenleben. Diese Reduzierung schafft eine Illusion der schnellen Lösungen, die häufig mit einer Verhaltenskonditionierung verbunden sind. Wer sich anstrengt, erhält eine Prämie. Nur leider haben Prämien fast immer zu einer reduzierten und begrenzten Zielerreichung geführt, wie der sogenannte Dieselskandal in Deutschland zeigt.4 Die Botschaft, die noch immer vermittelt wird, lautet dennoch: „Wenn wir uns alle anstrengen, erhalten wir die Firma, in der Ihr arbeitet.“ Dies sind alles nette Versprechungen. Verschwiegen werden dabei die gravierenden Unterschiede zwischen Vorstandsgehältern und dem Einkommen der Arbeitnehmenden, und dass meist die Arbeitnehmenden das Risiko zu tragen haben. Leider führen diese Heilsversprechungen außerdem in eine Welt, die uns allen Angst machen soll. Wir Menschen sind nämlich nicht funktional. Die Funktionalität ist der Heilsgedanke der Technologie. Nur, menschliches Leben ist anders. Trotz aller Entwicklungen erfüllt auch die Technologie die Erwartungen nur bedingt.
Wenn wir Menschen ‚funktionieren‘, dann spüren wir uns nicht mehr und werden langfristig krank und leer. Wir lernen unmittelbar aus
4 Deutsche Autofirmen manipulierten die Dieselmotoren, sodass sie auf dem Prüfstand weniger Stickoxide ausstießen als bei einer Belastung auf der Straße. https://www.rnd.de/ wirtschaft/chronlogie-des-dieselskandals-das-schmutzigste-kapitel-der-vw-geschichtePZZDQRN5LRELVGB35C2KDU6K7Y.html
Fehlern und mittelbar aus Einsicht. Die Fehler müssen sich oftmals wiederholen, bis dann irgendwann die Einsicht eintritt und echte, konstruktive Veränderungen die Folgen sein können. Konflikte sind dabei die Mittel, die uns auf ‚Fehlendes‘ und ‚Fehler‘ aufmerksam machen. Sie sind Entwicklungshelfer für uns als Personen und für uns Menschen als große Gemeinschaft. Aus diesem Grund ist es elementar, dass wir weiterhin viele Konflikte haben, jedoch lernen, auf eine konstruktive Weise mit ihnen umzugehen. Eine logische Voraussetzung dafür ist es, anzuerkennen, dass wir Menschen Fehler machen können und müssen. Somit sollten technologische Entwicklungen oder gesellschaftliche Veränderungen immer mit dem Fehler als Chance auf Entwicklung rechnen. Technologie sollte ihre Grenzen dementsprechend dort haben, wo ihre Fehler fatale, langfristige Folgen für die gesamte Menschheit und die Erde haben würden. Dazu braucht es sowohl Zeit und eine Entschleunigung als auch eine Kommunikationsfähigkeit, die Grenzen benennt, Perspektiven erlaubt und nachhaltig argumentiert. Dieses Handbuch ist kein ‚Heilsversprechen‘, sondern eine Möglichkeit unter vielen, um mit den beschriebenen Herausforderungen umzugehen.
Wie ein Buch zur Trainingsarbeit zum
A .T .C .C .-Ansatz beginnen?
Konflikt-Bearbeitung
Soll ich in den ersten Zeilen über das Leid schreiben, das wir in vielen Konflikten erfahren? Soll es um das Glück gehen, das wir durch einen anderen Zugang zum Konflikt erreichen könnten? Soll es um den ‚wahren‘ Aspekt des Konfliktes gehen oder um die Unsicherheit und Notwendigkeit von Entwicklung? Ich bin für die Variante der ‚Unsicherheit‘ in Kombination mit einer ‚glücklichen‘ Vision. In den Jahrzehnten, in denen ich mich beruflich und privat mit Konflikten beschäftigt habe,
ging es anfänglich vor allem darum, zu erkennen, worin Konfliktursachen liegen und wie wir diese beheben könnten. In diesem Sinn hatte ich einen ‚Reparaturbetrieb‘. Viel später und in einer anderen Phase erlebte ich, wie wichtig eine bestimmte Ausrichtung in der Konfliktbearbeitung ist: So können Konflikte nicht gelöst, sondern nur bearbeitet werden. Das heißt, Konflikte brauchen eine Ausweitung ihrer Komplexität, sodass mehrere Bearbeitungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Heute entdecke ich, wie wichtig der konstruktive Aspekt des Konfliktes ist. Nicht reduziert auf die personale Ebene, sondern mit Blick auf ein systemisches Gefüge. Kriege und Nachbarschaftskonflikte haben in ihrer Auswirkung gewaltige Unterschiede. Um uns einmischen und sie bearbeiten zu wollen, brauchen wir aber in beiden Fällen eine Vision, wie es während und nach der Bearbeitung aussehen soll. Aus diesem Grund beginne ich mit einer Vision. Die Vision ist ein Anfang, den Du selbst weiterentwickeln kannst. Sie ist keine abgeschlossene Version einer Sicht auf die Zukunft, sondern ein weiterer Einstieg für eine bewusst gestaltete Zukunft. Die Vision baut auf den Grundlagen des A.T.C.C.-Ansatzes auf. Du wirst feststellen, dass die sechs Elemente des A.T.C.C.-Hexagons, also des Konfliktdiamanten, die Grundlagen für diese Vision sind: Person, Recht/Regeln, Struktur, Rituale, Kultur und Werte. Darauf gehe ich im Anschluss noch verstärkt ein.
Ein Wort noch zur Trainingsarbeit
Es gibt eine schöne Geschichte von Martin Buber. Dort beschreibt er einen Suchenden. Ich gebe sie hier in eigenen Worten wieder.5 Ein Mann war sehr vergesslich und versuchte, Ordnung in sein Leben zu bringen. So kam ihm der Gedanke, dass er am Abend aufschreiben würde, wo er seine Kleidung und die anderen Dinge hinlegte, die er zum
5 Buber, Martin: Der Weg des Menschen, Gerlingen 1960. Neuauflage: Buber, Martin: Der Weg des Menschen, Gütersloh 2018, mit wunderbaren Aquarellen von Andreas Felger.
Leben brauchte. Gesagt, getan. Am Morgen nahm er das Blatt und sammelte entsprechend seiner Notizen all die Dinge ein. Er fand seine Hose, sein Hemd, den Kaffee und auch das Brot. Als er die Liste durchhatte, vermisste er noch etwas. Was war es wohl? Was hatte er vergessen? „Ja, aber wo bin ich?“, war seine Frage. Er hatte all die Dinge notiert, die er für wichtig hielt und suchte dann sich selbst – doch oftmals vergeblich.
Mir gefällt diese Geschichte, denn sie beschreibt etwas, das ich in der Bildungs- und Trainingsarbeit im Laufe der Jahre immer mehr wahrnehme. Viele Trainer*innen haben einen wahren Methodenschatz und setzen diesen auch entsprechend ein. Sie kennen Tools, die sie brillant anwenden und haben Folien, Filme usw. Nur leider fehlen sie selbst in dem Ganzen. Es ist wie eine grandiose Show, was heute angeboten wird, doch die Beziehung und der Kontakt zu den Menschen fehlt. In unseren Ausbildungen versuchen wir immer wieder, diese Frage zu stellen: „Wo bist Du in diesem Thema, in dieser Methode? Wo ist Dein Anteil an dem Konfliktthema, das Du hier bearbeitest?“ Deswegen versuche ich dieses Handbuch auch so dialogisch wie möglich zu machen. Du wirst viele Methoden finden, aber auch viele Anregungen, um an Dir selbst zu arbeiten. Keine Sorge: Auch ich arbeite, während ich das Buch schreibe, an meinen Themen. Deswegen lade ich Dich ein, mit mir die Zweifel und Hoffnungen zu durchleben, die mir in dieser Niederschrift begegnen. Dieses Buch ist für A.T.C.C.-Trainer*innen gedacht, deswegen das ‚Du‘. Aber auch wenn Du diesen Text außerhalb der Ausbildung erhalten hast, bist Du herzlich eingeladen, in Kontakt und Beziehung zu gehen und damit zu arbeiten.
Eine Vision
Stell Dir vor: Wir sind in unserer Einzigartigkeit eingebunden in eine Welt, in Beziehung mit ihr und den anderen Menschen. Wir verfügen über einen achtsamen und konstruktiven Zugang zu unseren Gefühlen. Wir nehmen unsere Gefühle wahr und haben gelernt, hinzuhören, was sie uns mitteilen wollen. Körpersignale sind dabei ebenso wichtig wie ein genaues Hinhören auf das, was wir durch unsere Sprache ausdrücken. Wir haben die Vorstellung, dass die sechs Bedürfnisse des A.T.C.C.-Ansatzes, also Liebe, Anerkennung, Orientierung, Sicherheit, Autonomie und Sinn wichtig für unser Leben mit anderen Menschen sind. Wir streben danach, sie auch zufriedenzustellen. Dabei wissen wir, dass die Bedürfnisse sozial sind. Wir können sie also nur befriedigen, wenn wir sie auch anderen erfüllen. Wir sind dadurch in der Lage, einen echten Kontakt mit unseren Mitmenschen einzugehen. Wir erleben Angst, wenn die Bedürfnisse in Gefahr sind. Wir haben viele Erfahrungen damit gemacht, dass es gut ist, auf diese Ängste zu hören. Indem wir unsere Ängste achten und zulassen, können wir rechtzeitig wahrnehmen, welches Bedürfnis gerade ‚zu kurz‘ kommt. So können wir uns um dieses Bedürfnis kümmern.
Kinder lernen frühzeitig, sich selbst zu beobachten, etwa in der Kindertagesstätte. Sie können durch diese Beobachtungsgabe wahrnehmen, welches Verhaltensmuster sie gerade anwenden. Durch Übungen mit anderen lernen sie, dass dieses musterhafte Verhalten mit möglichen Ängsten zu tun hat. Es ist dabei nicht schlimm, in so ein Verhalten zu rutschen, um sich z. B. einem Streit zu entziehen. Die Kinder können jedoch im Anschluss reflektieren, ob es sich um ein Muster oder eine bewusste Entscheidung gehandelt hat. War es ein Muster, so können sie nun entscheiden, ob sie ihr Bedürfnis als wichtig für sich nehmen und es in Verhandlung bringen wollen. Bringen sie es ins Gespräch, so nehmen sie auch das Verhalten ihrer Konfliktpartnerin* oder
ihres Konfliktpartners wahr und achten gleichzeitig auf sich selbst. Sie sind somit in Kontakt. Dieses Potenzial nehmen sie mit in ihre Erwachsenenwelt.
Die Menschen werden in der Zukunft eine klare Vorstellung über ihre Grenzen haben, sei es ihre Körpergrenze, ihre Intimitäts- oder Leistungsgrenze. Die eigenen Grenzen wahrzunehmen und wohlwollend mit ihnen umzugehen, ist eine wichtige Voraussetzung für Beziehung. Aggression wird als wichtige Lebensenergie betrachtet, die es braucht, um in Kontakt zu kommen oder auch klare Grenzen zu ziehen. Ebenso werden Unterschiede anerkannt, die um die Grenze herum kulturell geprägt sind. Viele Menschen haben Lust zuzuhören und von sich zu erzählen. Sie schildern eigene Erfahrungen und versuchen mit Bildern und Geschichten zu verdeutlichen, worin sie eigen sind und was sie mit dem Gemeinsamen verbindet. Sie haben ein Bewusstsein über die Wichtigkeit des Dialogs. Durch konstruktive, direkte und persönliche Gespräche wachsen Beziehungen, die tragfähig und integrativ sind. Wir können verschieden sein, solange wir im Rahmen der Regeln und Werte blieben. Die Werte, die in dieser Gesellschaft für jede*n Einzelne*n und für das Gesamte richtungsweisend sind, werden im Kindergarten, im Familiensystem oder in der Schule immer wieder vermittelt. Die Menschen finden in den Werten Orientierung für ein gelingendes Zusammenleben und einen gesunden Umgang mit sich selbst. Eine Hilfe sind die zehn Werte des A.T.C.C.-Ansatzes. Diese zehn Werte sind bereits in den Menschenrechten und den Verfassungen vieler Staaten angelegt. Ob sich die Staaten auch an sie halten, ist eine andere Frage. Allerdings sollte sich der Staat als wichtige Struktur für das Zusammenleben verbindlich nach den Werten ausrichten.
Um die Werte und deren Verwirklichung ranken sich viele Erwartungen. So kann es z. B. um unterschiedliche Interpretationen der einzelnen Werte gehen. Wiederum gibt es unterschiedliche Zugänge zum Scheitern bei ihrer Verwirklichung. „Der Konflikt ist die Mutter
der Werte“, schreibt der Pädagoge Hermann Giesecke.6 So werden um die Werte immer wieder Konflikte geführt werden – beginnend in der Erziehung bis hin zu Konflikten zwischen Gesellschaftsgruppen und Staaten. Falls Menschen einen Wert absolut setzen wollen, wissen die anderen Menschen, dass dies zur Einschränkung der anderen Werte führen wird. So werden immer wieder gesellschaftliche Auseinandersetzungen stattfinden, die zu einer Balance der Werte beitragen. Die Menschen der Zukunft können unterscheiden zwischen Werten, Zielen, Fähigkeiten und Eigenschaften. So werden Ziele verhandelt oder Fähigkeiten erlernt. Die dahinterliegenden Werte brauchen dagegen die ständige Auseinandersetzung und bringen uns in ein Dilemma. Daher brauchen wir emotionale Kompetenzen, um die Dilemmata und deren Wirkung auf uns selbst benennen können.
In der zukünftigen Welt werden wir sowohl kulturelle Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten wahrnehmen und besprechen können. Wir werden Integration als Spannungsfeld zwischen der Anerkennung der gesellschaftlichen Werte und der eigenen kulturellen Identität begreifen. So werden die Menschen in der Gesellschaftsordnung, in der sie leben, Verantwortung übernehmen und die eigene Herkunft als ein wichtiges Geschenk und Kraftquelle verstehen. Sie werden sich in einer ständigen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Werten besser kennenlernen. Es wird Orte geben, in denen ein reger unmittelbarer kommunikativer Austausch stattfindet. Die Menschen werden offen füreinander sein, die Straße als Ort der Kommunikation nutzen, die Häuser und Gärten als Begegnungsstätten begreifen. Sie werden voneinander etwas über die Rituale und Symbole ihrer Herkunftskulturen erfahren. In Arbeitsstätten ist Zeit vorhanden, um über die unterschiedlichen Interpretationen der Werte sowie die kulturellen Grundannahmen zu den Aspekten Zeit, Raum oder Verteilung zu sprechen. Durch diese Kommunikationsbereitschaft und die Anerkennung der Wichtigkeit dieser
6 Giesecke, Hermann: Wie lernt man Werte, Weinheim 2005.