Olga Barbesolle
und
Hélène Coupé
Les Sans-Amour – Die Ungeliebten Erinnerungen
Zwangsarbeiterin Olga Barbesolle Hamelner Rüstungswerk 1942-1945
der ukrainischen
an ihre J ahre in einem
Zuschüsse zu den Kosten der Übersetzung haben gewährt Stadtarchiv Hameln, Volvo Construction Equipment, Hameln, Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Hameln Zuschüsse zu den Kosten der Drucklegung haben gewährt Stadtarchiv Hameln, Stiftung der Sparkasse Hameln, Katholische St. Augustinus-Gemeinde Hameln, Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Hameln, DGB-Region Niedersachsen Mitte, IG-Metall Hameln, Deutscher Frauenring Ortsgruppe Hameln
Redaktion der französischen Textfassung, wissenschaftliche Beratung und Anfertigung der Karten und Lagepläne: Maurice Born, Frankreich Mit Anmerkungen sowie einem Anhang versehen: Bernhard Gelderblom, Hameln Korrekturen und Beratung: Heinz Engelhard, Gisela Gelderblom, Mario Keller-Holte und Dierk Rabien, alle Hameln Muriel Couture-Brieu-Vicum, Jenny Hadameck und Annette Krech, alle Kassel
Ein kommentiertes Register der im Buch erwähnten Personen befindet sich im Anhang.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-940751-93-5 Verlag Jörg Mitzkat, Holzminden 2015
Olga Barbesolle
und
Hélène Coupé
Les Sans-Amour – Die Ungeliebten Erinnerungen
der ukrainischen
Zwangsarbeiterin
Olga Barbesolle an ihre J ahre in einem
Hamelner Rüstungswerk
1942-1945 Übersetzung: Sabine Denkwitz, Kassel Herausgeber: Bernhard Gelderblom, Hameln
Verlag Jörg Mitzkat Holzminden 2015
Inhalt
Inhalt
Inhalt 28. März 1942 – Von Charkow nach Hameln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Frühjahr 1942 – Ankunft in Hameln – Lebensmut und Solidarität der Frauen . . . 27 Sommer 1942 – Verschlechterung der Lage – Lust auf Leben – 17. Geburtstag . . 71 Herbst 1942 – Hunger-Streik bei MELAS – Noch mehr Schikanen – Arbeit bei Frau K. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Winter 1942/43 – Erstes Weihnachten in Hameln – Straflager und Festnahmen – Erkundung der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Frühling 1943 – OST-Abzeichen – Repression und Sabotage – Von Frau K. zu Frau R. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Sommer 1943 – Lidas Schwangerschaft und Abtreibung – 18. Geburtstag – Liebe und Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Herbst 1943 – Wanzen – Sabotage – Ärger mit den “Ungeliebten” . . . . . . . . . . . 227 Winter 1943/44 – Frostbeulen und Kohlenklau – Gesteigerte Repression – Die zweite Weihnacht in Hameln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Frühling 1944 – Blinddarm-Operation – Überleben im Schmutz – Wanzen – Verlegung der Franzosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Sommer 1944 – Glück beim Bombenangriff – 19. Geburtstag und Verlobung mit Robert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Herbst 1944 – Krankheiten, Kälte und Hunger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Winter 1944/45 – Tod der Freundin Lida – Bombenangriffe auf Hameln . . . . . . 321 Frühjahr 1945 – Ständige Bombenangriffe – Vorrücken der Amerikaner – Großes Zittern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
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Inhalt
7. April 1945 – Befreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 2. Mai 1945 – Heirat in der St. Augustinuskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Nach Paris
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
Epilog
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394
Anhang – zusammengestellt von Bernhard Gelderblom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Karten und Lagepläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Die Vorgeschichte des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Die Übersetzung ins Deutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Zur Arbeit des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Zum Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Zur Person von Olga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Kleines russisch-deutsches Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Abkürzungen 484 Gruppenbezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Personen nach Gruppenzugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Personen nach Alphabet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500
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28. März 1942
28. März 1942 – Von Charkow nach Hameln Für neun Uhr haben sie die Frauen zum Bahnhof bestellt. Seit sie die Stadt besetzt haben1, haben wir kein Radio mehr. Die Helligkeit des Tages dient uns als Uhr. Gerade zeigt sich ein erster schwacher Lichtschein am Himmel, der nichts Gutes verspricht. Wir müssen gehen. Ein letzter Blick zurück auf die Kropivnitski-Straße, ein letzter Blick zurück auf unser Haus. Mama und ich gehen Seite an Seite, richten die Augen auf die Eiszapfen, die von den Dachrinnen herabhängen. Die Dächer scheinen so niedrig, die Behausungen so traurig, wie erdrückt unter dem schmutzigen Schnee. Ich habe einen dicken Kloß im Hals. Wie gern würde ich mit ihr sprechen, ihr etwas sagen, das sie ein bisschen trösten könnte. Es ist unmöglich. Mama schweigt ebenfalls. Diese Ratschläge; wie oft hat sie sie mir schon gegeben! Wir gehen die Volodarski-Straße hinauf. Der Weg scheint kein Ende zu finden. Mutter trägt mein Gepäck. Ihr abgemagertes Gesicht, die dunklen Schatten unter ihren Augen, ihr gebeugter Rücken tun mir weh. Sie ist so sehr gealtert in den letzten Tagen! Sie geht weiter, in Gedanken verloren. Wer wird ihr helfen, wenn ich nicht mehr bei ihr bin? Leonid, mein jüngerer Bruder? Er ist erst vierzehn Jahre alt. Eine Straße nach links, und wir sind am Bahnhof von Charkow2 angekommen. Überall in dem unüberschaubaren Gedränge verzweifelter Frauen grüne und schwarze Uniformen.3 Ich wünschte, die Zeit würde stehen bleiben. Nicht bewegen, so bleiben, die Hand spüren, die von der vielen Arbeit rau geworden ist, aber doch so sanft, so beruhigend ist. Verzweifelt umklammere ich die Hand meiner Mutter, möchte sie auf ewig festhalten. Ich richte wieder einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht. Nur Kummer in ihren traurigen Augen! Ich habe nicht die Kraft, länger darüber nachzudenken. Wenn ich denn nun weggehen muss, so wollen wir uns jetzt trennen, schnell. „Versprich, dass du uns schreibst“, sagt Mutter endlich. „Der Postverkehr wird bald wieder aufgenommen. Vergiss uns nicht!“ „Sicherlich, Mamotschka4, das verspreche ich!“ 1 2 3 4
Im Oktober 1941 errichteten die deutschen Truppen in der ukrainischen Millionenstadt Charkow ihr Besatzungsregime; siehe Textanhang 1, Charkow unter deutscher Besatzung, S. 434-440 Statt ukrainisch „Charkiw“ wird hier das im Deutschen gängige und auch von der ethnischen Russin Olga Barbesolle gebrauchte russische „Charkow“ benutzt. Die Deportation aus Charkow wurde vom Landesarbeitsamt Hannover organisiert. Grüne Uniformen sprechen für die Beteiligung deutscher Polizei. Schwarze Uniformen trugen sowohl einheimische Hilfspolizei wie SS. Formulierungen, die in der französischen Originalfassung in russischer oder deutscher Sprache wiedergegeben sind, sind kursiv gedruckt.
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28. März 1942 – Von Charkow nach Hameln
„Nimm dich vor dem eisigen Durchzug in Acht! Setz dich nicht neben ein Fenster! Pass auf dein Gepäck auf! Du hast nicht viel.“ „Ja, Mamotschka. Ich passe auf.“ An der Eingangstür überprüfen zwei Männer in grünen Uniformen die Papiere. Mutter zeigt meine Einberufung5 vor, ein einfaches Blatt Papier mit einem Stempel. In der Halle entdecke ich Lena. Als wir klein waren, gingen wir in dieselbe Klasse. Ich laufe auf sie zu, lasse meine Mutter bei meinem Koffer stehen, vor einem der dicken Pfeiler, die das Dach stützen. Lena hat sich kaum verändert. Wir fallen uns in die Arme. „Haben sie dich auch geholt?“, ruft sie aufgeregt. „Das ist doch unmöglich! Wer wird auf die Kleinen aufpassen?“ „Von jetzt an lassen wir uns nicht mehr trennen“, stammele ich, den Tränen nahe, anstelle einer Antwort. Lena ist nicht allein. Weil sie keine kleinen Kinder haben, sind ihre Mutter und ihre Tante ebenfalls zum Arbeitsdienst6 nach Deutschland einberufen worden. Wie beneide ich die drei, dass sie zusammenbleiben können! Immer mehr Frauen treffen in der Halle ein. Sie weinen, jammern, rufen sich gegenseitig etwas zu. Wir müssen schreien, um uns verständlich zu machen. Von Zeit zu Zeit geht ein Uniformierter durch die Menschenmenge, die schweigend zurückweicht, um den Weg freizumachen. Die große Bahnhofsuhr zeigt jetzt kurz nach elf. Eine tiefe Lautsprecherstimme befiehlt uns, unser Gepäck zu nehmen und in Richtung Bahnsteig 1 zu gehen. Hastig sammeln wir unsere Bündel zusammen und folgen dem Strom der Frauen. Die alten Frauen jammern lauter; jemand schluchzt. Es wird gedrängelt. Wir gehen nicht mehr, wir rennen. Als wir an die große Treppe kommen, die zu den Bahnsteigen führt, schreit eine dicke Babuschka7: „Welcher Teufel hat euch denn gepackt, ihr Verrückten? Habt ihr es so eilig, in die Hölle zu fahren? Wartet doch, bis ihr seht, was sie mit euch vorhaben!“ Auf dem gegenüberliegenden Gleis eilen Soldaten und Polizisten geschäftig um einen Güterzug herum.
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Im französischen Original steht convocation = Einberufung. Im Original travaux obligatoires. 120.000 junge Frauen wurden aus Charkow zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert; siehe Textanhang 1, Charkow unter deutscher Besatzung, S. 435 Russisch für Großmutter.
28. März 1942
„Ihr müsst noch einen Moment warten“, erklärt uns ein Dolmetscher, „der Zug wird gleich kommen.“ Das Warten zieht sich endlos hin. Mutter wiederholt ihre Ratschläge. Ich höre nur mit halbem Ohr zu und antworte: „Aber ja, Mamotschka, ganz gewiss!“ Eine Stunde lang stehen wir nun schon herum, ohne uns zu rühren, mit eiskalten Füßen. Lena und ich wollen ein paar Schritte gehen. Wir schlängeln uns durch die Menschenmenge und erkundigen uns hier und da, wohin man uns wohl bringen wird, bekommen aber keine Antwort. „Achtung! Der Zug fährt ein!“ Wir weichen zurück. Schrill quietschende Achsen. Der Güterzug, den man auf dem anderen Gleis zusammengestellt hatte, hält langsam an unserem Bahnsteig. Wie alle anderen protestieren wir: „Um Himmels willen! Und wo ist unser Zug? Es reicht langsam, dass wir hier in der Kälte schlottern müssen.“ Männer in Uniform eilen diensteifrig um den Zug herum. Plötzlich kommt ein kurzer Befehl. Die Viehwaggons werden geöffnet. Dann hört man die Bassstimme von vorhin durch den Lautsprecher: „Einsteigen! Sucht euch einen Platz!“ Unsere Mütter schreien auf: „Was?! Das kann doch nicht wahr sein! Das ist nicht für uns!“ „Diese Taugenichtse! Diese Schurken!“ „In diese Schweinewagen verfrachten sie unsere armen Kinder?!“ „Schnell!“, schreien die Uniformierten, „steigt ein!“ Ich ergreife wieder Mutters Hand. Rechts und links an jeder Schiebetür steht ein Soldat. In der Mitte auf dem mit Stroh bedeckten Boden sehe ich einen Ofen, sonst nichts. „Steigt ein!“, wiederholen die Soldaten, als wir uns nicht bewegen. Es ist gar nicht möglich einzusteigen, denn es gibt keine Trittbretter. Einer der beiden Kerle postiert sich im Türrahmen, um jedes Mädchen am Arm hochzuhieven, während der andere sie vom Bahnsteig aus grob am Hintern anfasst und hochschiebt. Jetzt bin ich dran. Ich umarme Mama ganz fest. „Dass Gott dich beschütze, meine kleine Tochter!“, stößt sie tief erschüttert hervor und segnet mich mit drei Kreuzzeichen.
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28. März 1942 – Von Charkow nach Hameln
Und dann, mit einem Seufzer: „Wenn ich doch wenigstens wüsste, wie lange es dauern wird.“ Lenas Mutter und ihre Tante versprechen Mama, auf mich aufzupassen. Wir umarmen uns ein letztes Mal. So sind wir vier nun verladen. Unsere Namen sind auf einer langen Liste notiert. Die Ecken des Waggons sind sogleich gestürmt worden. Lena und ich finden zwei winzige Plätze an der Wand. Um mir ein wenig Platz zu reservieren, lege ich meinen Koffer flach auf den Boden und stürze zur Tür, denn ich will meine Mutter noch einmal sehen. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt. Jetzt lasse auch ich meinen Tränen freien Lauf. Immer weiter drängen die Soldaten die Frauen in die Waggons. Immer lauter schreien wir: „Wie sollen wir es denn hier aushalten? Das ist unmöglich!“ „Wir werden krepieren! Es ist schon jetzt brechend voll!“ Eine Blonde mit einer Gitarre, die wie ein junger Mann aussieht, geht auf unseren Waggon zu. Sofort erteilen die Frauen ihr eine Abfuhr: „Kein Platz mehr! Es ist voll!“ „Mir reicht‘s!“, erwidert das Mädchen. „Das hat man mir in jedem Waggon gesagt! Ich steige jetzt ein!“ Wieder die tiefe Stimme aus dem Lautsprecher. Die Familienangehörigen sollen den Bahnhof verlassen. Mutter muss jetzt gehen. Große Tränen rollen mir über die Backen. Zum letzten Mal winke ich meiner Mamotschka zu. Sie geht davon. Es ist vorbei. Der Soldat, der an der Tür Posten steht, fragt unsere Namen ab. Der andere gibt in sehr schlechtem Russisch Anweisungen: „Heute gibt’s kein Essen! Morgen steht euch eine warme Mahlzeit zu. Habt ihr daran gedacht, euch Essgeschirr mitzubringen? Das war euch mitgeteilt worden.“ Ach ja, sicherlich. Wenn ich an die Mühe denke, um so etwas aufzustöbern! Wir mussten von oben bis unten auf dem Dachboden von Babuschka suchen. Er sieht so erbärmlich aus, mein Blechnapf, dass ich mich gar nicht traue, ihn zu zeigen. „Und denkt daran, bei jedem Halt eure Bedürfnisse zu erledigen.“ Er zeigt auf zwei große Konservenbüchsen, die neben dem Ofen stehen: „Die hier sind nur für den Notfall.“ Verblüfftes Schweigen, dann allgemeines Lachen, während sein Kollege verschwindet, um zu der Gruppe von Uniformierten zu gehen, die sich auf dem Bahnsteig versammelt haben.
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28. März 1942
Der Deutsche kommt mit einem Sack voller Holz wieder zurück. „Für den Ofen“, sagt er, „für den Abend!“ „Kommen Sie bis nach Deutschland mit?“, fragt eine Frau. „Jawohl!“ „Ja, was ist denn nun?“, ruft das Mädchen mit der Gitarre. „Wenn ich Lust zum Pinkeln habe, muss ich Ihnen dann meinen Hintern zeigen?“ „Davon haben wir schon genug gesehen!“, erwidert der Ältere. Ein Pfiff. Wir zucken zusammen. Erneutes Warten. Minuten, die nicht enden wollen. Schließlich ein harter Stoß, der uns hintenüber wirft. Unheimliches Knirschen der Räder und Achsen. Jetzt wird es ernst; wir fahren ab. Ruckartig fährt der Zug an. Die älteren Frauen bekreuzigen sich, geben sich in Gottes Hand. Wir jüngeren weinen. Aus dem benachbarten Waggon klingt ein Lied herüber. Wir summen mit, und immer wieder unterbricht Schluchzen unsere Stimmen. „Charkow, ich werde dich niemals wiedersehen. Niemals werde ich dich, meine geliebte Stadt, wiedersehen.“ Beklemmende Stille, unterbrochen von Seufzern. Plötzlich hört man eine Stimme wie ein Murmeln: Du mein Land, mein Vaterland, ewiger Landmann und Heulen, Du bist wie die Wolga unter einer Weide, Du senkst das Haupt.8 Meine Tränen versiegen. Ich hebe den Blick, schaue mich um, sehe verkrampfte Gesichter. Fäuste umklammern ein Stückchen Stoff, einen Riemen, irgendetwas, das sich gerade findet. Die beiden Soldaten lehnen an der Tür. Schweigend beobachten sie uns russische und ukrainische Frauen.9 Trotz der Monate voller Entbehrungen sind wir gesund und kräftig.
Allmählich fangen wir an, uns zu bewegen. Einige stehen auf, reiben sich die Glieder, treten von einem Bein aufs andere, setzen sich wieder. Lena und mir gelingt es wenigstens, unsere Beine auszustrecken. Ein Mädchen mit dunklen Haaren bahnt sich den Weg zu den Wachtposten und bricht das Schweigen. Sie fragt auf Deutsch: „He du, Soldat, wie heißt du?“ 8 9
1916 erschienenes Gedicht von Sergei Jessenin (1895-1925), volkstümlicher russischer Dichter; zu Jessenin s. u., S. 55, Anm. 55 In der östlichen Ukraine, wo Charkow liegt, lebten neben Ukrainern zahlreiche Russen; in Charkow war das Verhältnis 2:1. Vgl. Textanhang 1, Charkow unter deutscher Besatzung, S. 435 Olga selbst hat russische Eltern.
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28. März 1942 – Von Charkow nach Hameln
„Franz.“ „Und der andere?“ „Karl.“ Und der fügt hinzu: „Ist euch kalt?“ „Aber nein! Wir ersticken eher.“ Der Zug rollt, immer mit der gleichen Geschwindigkeit. Ein eisiger Lufthauch dringt durch die halb geöffnete Tür. Wir halten an und fahren weiter. Immer wieder müssen die Waggons kontrolliert werden. Der Tag geht zu Ende. Der graue Himmel verschwimmt mit dem Horizont. Die Soldaten kümmern sich um den Ofen. Dichter Qualm zieht durch den Waggon, brennt in den Augen und lässt uns husten. Franz öffnet die Tür ganz weit. Angefacht durch den frischen Luftzug flammt das Holz zögernd auf. Dann lodert die Flamme glutrot und nimmt unsere Blicke gefangen. Wohlige Wärme breitet sich aus. Jetzt spüren wir Hunger. Aus unseren Beuteln holen wir die Essensvorräte und breiten sie auf unseren Knien aus. Fast alle haben das Gleiche mitgebracht: Pfannkuchen, gebacken aus Kartoffelschalen, erfrorenen Rüben und Kleie. Die besser Gestellten haben kleine Fleischklöße mitgenommen. Die Soldaten dagegen öffnen zwei Konservendosen. Ein unwiderstehlicher Geruch nach Fleisch mit Bohnen erfüllt den Waggon. Einige flüstern: „Eigentlich könnten sie uns davon ein bisschen abgeben! Welch eine Grausamkeit!“ Zwei Mädchen gesellen sich zu den beiden. „Zeigt mal, was ihr da esst!“, bittet die erste. „Deutsche Konserve?“ „Nein! Russisch!“ „Dürfen wir mal probieren?“ „Gut!“, nicken die Deutschen. „Nehmt den Rest!“ Die beiden Mädchen lecken sich die Finger; unter den belustigten Blicken der Wachtposten kratzen sie die letzten Überreste zusammen. „Schämt ihr euch nicht!“, empören sich die älteren Frauen. „Habt ihr keinen Stolz?“ Der Zug hält auf dem platten Land. „Steigt aus und geht pinkeln für die Nacht!“ Eilig erleichtern wir uns im Schnee. Niemand hält sich länger als nötig draußen auf, denn die Luft ist eiskalt.
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28. März 1942
Niemand ist abgehauen; der Zug kann weiterfahren. Es herrscht totale Finsternis. Karl zündet einen Kerzenstumpf an und wirft ein Holzscheit ins Feuer. Im flackernden Lichtschein bereiten wir uns für die Nacht vor. Wir zanken uns, weil wir zum Ausstrecken nicht genug Platz haben. Ein paar traurige Gitarrenakkorde lassen uns wieder ruhig werden. Ermüdet legt unsere Musikantin schließlich die Gitarre beiseite. „Warum hörst du auf? Es ist so schön!“ Da nimmt das Mädchen mit der wilden, blonden Mähne die Melodie wieder auf. Fasziniert schauen die Soldaten auf ihre flinken Finger, die über die Saiten huschen. Als unsere Gefährtin wieder müde wird, ziehen die Uniformierten Mundharmonikas aus der Tasche. Ich schmiege mich an Lena und denke an nichts mehr. Schließlich verstummen ihre Instrumente. Nur noch das Quietschen der Räder ist zu hören, die uns ein Wiegenlied singen. Stille, kaum unterbrochen durch das leise Schnarchen der Frauen und das Ruckeln beim Passieren der Weichen. Wieder und wieder drehe ich mich hin und her, finde schließlich eine geeignete Lage, um zu schlafen. Lenas Mutter und ihre Tante stehen an der Wand und wachen über meinen Schlaf, indem sie von Zeit zu Zeit die alte Pelzjacke zurechtziehen, die ich mir als Zudecke umgekehrt übergelegt habe, damit mir wärmer ist. Als ich aufwache, sind mein rechtes Bein und mein rechter Arm ganz steif. Mit aller Kraft massiere ich meine Gliedmaßen. Das Blut beginnt wieder zu zirkulieren. Ich drehe mich zur anderen Seite und döse erneut ein, trotz der üblen Gerüche, die den Waggon durchziehen. Früh am Morgen. Kälte. Hunger. Kummer. In der gegenüberliegenden Ecke stehen einige Frauen im Halbkreis. Zwei von ihnen – eine Konservenbüchse in der Hand – gehen zur halb geöffneten Waggontür und leeren den Inhalt aus. „Die Nächsten! Wer ist dran?“ Lena krallt ihre Fingernägel in meinen Arm. Ich schäme mich genau wie sie, im Gegensatz zu den Soldaten, die die Szene mit gleichgültiger Miene beobachten. Wir bitten die Männer, Feuer zu machen. „Ausgeschlossen! Wir fahren gleich in einen Bahnhof ein!“ Der Zug hält an einem Bahnsteig, auf dem sich viele Uniformierte befinden. Der Bahnhof ist groß. Vermutlich sind wir in Kiew. „Bekommen wir hier etwas zu essen?“ „Ich weiß nicht“, antwortet Karl. „Ich gehe zur Kommandantur.“
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28. März 1942 – Von Charkow nach Hameln
Wir treten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Wir haben die Nase voll, dass man uns hier einfach stehen lässt!“ „Franz, bitte, lass uns aussteigen. Bitte!“ „Gibt es nicht!“, raunzt der Soldat. „Dass sich niemand rührt!“ Karl kommt im Laufschritt zurück: „Holt eure Blechnäpfe raus! Ihr bekommt etwas zu essen.“ Ich fange an, mein Essgeschirr liebzugewinnen. Es ist abgenutzt, aber groß. Die Frau, die mir die Suppe auftut, lässt keinen Tropfen danebengehen. Einige Frauen müssen wegen ihres zu kleinen Essgeschirrs ein Viertel oder die Hälfte ihrer Ration verschenken. Nun, der Mischmasch füllt den Bauch, und, was noch wichtiger ist, er ist heiß! Unser Waggon hält direkt gegenüber dem Eingang zum Bahnhofsgebäude. Müde aussehende alte Frauen verkaufen dampfenden Tee oder Sonnenblumenkerne. Eine von ihnen humpelt auf unsere offen stehende Schiebetür zu. „He! Babuschka! Was verkauft ihr da?“ „Heiße Kartoffelklöße! Es sind nicht mehr viele da!“ „Was kosten die?“ „Bah, die kosten nur … Ich hätte lieber etwas anderes als Geld! Für Kopeken kann man nichts kaufen!“ „Was wollt ihr dann haben?“ „Was ihr habt. Alles ist gut.“ Wir suchen in unseren Taschen und Beuteln. Was würden wir nicht alles tun, um Kartoffeln zu essen! „Nehmt diesen Kamm, Babuschka!“ „Hier ist eine Garnrolle!“ „Hier, ein Heft, um an euren Sohn zu schreiben!“ „Eine Anstecknadel! Großmütterchen, gefällt euch die?“ Binnen fünf Minuten hat die Alte alle Wünsche erfüllt, und ihr Korb ist leer. Jetzt kommen auch die anderen Babuschkas an die Reihe. Die Mutter von Lena tauscht einige Haarnadeln gegen einen halben Krug mit heißem Tee, von dem sie mir ein volles Glas schenkt. So etwas Köstliches, etwas, das den ganzen Körper wieder aufwärmt! Lena und ich tauschen ein Taschenmesser gegen drei Gläser Sonnenblumenkerne, an denen wir eine ganze Weile herumknabbern werden. Der Zug hat sich wieder in Bewegung gesetzt. Über die endlos weite Ebene bricht die Nacht herein. Franz und Karl haben Feuer im Ofen gemacht. Er strahlt ein schwaches Licht aus.
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28. März 1942
Das gleichmäßige Rattern der Räder lässt uns traurig werden. Aber es ist viel zu früh, um zu schlafen, noch nicht einmal sieben Uhr. „Wollen wir singen?“, schlägt ein Mädchen vor. „Los, du mit deiner Gitarre, spiel uns etwas!“ Die Musikantin lässt sich nicht lange bitten. Im Chor wiederholen wir den Refrain. Aus aufeinandergestapelten Koffern haben einige Frauen, die Lust zum Tanzen haben, eine provisorische Bühne gebaut. Augenscheinlich scheinen die Soldaten die Musik nicht zu mögen; sie holen ihre Mundharmonikas heraus, um unsere Lieder zu übertönen. „Hört auf mit dem Krach!“, fordert uns die Dunkelhaarige auf, welche die Soldaten nach ihren Namen gefragt hatte. „Lasst lieber die Deutschen spielen!“ „Aber das ist Musik aus deiner Heimat!“ „Mag sein, aber hört euch doch an, wie schön das ist, was die Deutschen spielen!“ „Was ist das?“ „Lili Marleen!“10, antwortet Karl. „Wer singt das?“ „Eine schöne Künstlerin.“ Aus einer Ecke des Waggons kommt lautes Stöhnen. Ein Mädchen krümmt sich vor Schmerzen auf dem Boden und hält sich den Bauch. „Sie hat Koliken!“, ängstigt sich eine ältere Frau. „Wann hält der Zug wieder?“, erkundigt sich eine andere. „Jetzt nicht“, herrscht Karl sie an. „Zum Teufel! Gebt die Konservenbüchse!“ Das Mädchen weigert sich. Die älteren Frauen schnauzen es an: „Los, mach dich nicht lächerlich! Das kann jedem passieren!“ Die Unglückliche bricht in Tränen aus. Schließlich muss sie doch nachgeben und die Büchse benutzen. „He, Karl! Das ist für dich!“, scherzt eine der jüngeren Frauen und hält dem Soldaten die Büchse hin. „Mach sie leer.“ „Nein! Schweinerei!“ Ein Koloss von Mädchen greift sich das „Geschenk“ und stellt es Franz vor die Füße. „Los, beeil dich!“, schreit sie ihn an. „Mach die Tür auf!“ Wir halten den Atem an. Welch eine Dreistigkeit! Der Soldat aber ergreift die Büchse, öffnet die Tür einen Spalt weit und schleudert den Inhalt mit großem Schwung hinaus. Dann be10 Lili Marleen ist der Titel eines melancholischen Soldatenliedes, das – gesungen von Lale Anderson – 1939 weltberühmt wurde.
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28. März 1942 – Von Charkow nach Hameln
ginnt er wieder, auf seiner Mundharmonika zu spielen, als ob nichts gewesen wäre. Krämpfe. Gliederschmerzen. Eisiger Durchzug. Heiße, feuchte Luftschwaden. Ekelerregender Gestank. Jede von uns ist mit ihrem Kummer allein. – Die zweite Nacht. Ich habe Kopfschmerzen, und mein Hals tut mir weh. Der Morgen beginnt zu dämmern. Immer die gleichen zerstörten Marktflecken und Dörfer, kaum als solche zu erkennen. Nichts als Ruinen, nichts als Asche. Überall Haufen von verkohltem Schutt und Qualm. Nirgends eine lebende Seele. Missmutig teilen Lena und ich uns die letzten Sonnenblumenkerne. Einige Mädchen klauben die letzten essbaren Brocken aus ihren Taschen. Franz und Karl trauen sich nicht, in unserer Gegenwart zu essen. „Warum dauert es so lange, bis sie uns endlich zu essen geben?“ „Woher sollen wir das wissen?“, gibt Franz zurück. „Habt Geduld!“ „Ihr habt gut reden! Euch ist egal, wenn wir schon vor unserer Ankunft krepieren!“ Die beiden Kerle verziehen keine Miene. Sie haben genug damit zu tun, die Konservenbüchsen mit unseren Exkrementen auszuleeren. „Karl“, fragt ein kräftiges Mädchen, „stört es euch nicht, wenn ihr diese eklige Arbeit machen müsst? Das ist doch erniedrigend!“ „Verdammt noch mal! Lieber leeren wir Pisse aus, als dass wir uns an der Front die Fresse einschlagen lassen!“ Ein längerer Halt. Wir dürfen aussteigen. Alle drängeln, jede will als erste hinausspringen und ihren nackten Hintern in den matschigen Schnee halten. Franz zieht ein kräftiges Mädchen hoch in den Waggon. Sie heißt Lida. „Wann kommen wir an?“, fragt sie ihn. „Weiß nicht.“ „Wenn wir wenigstens ein bisschen Wasser hätten, um uns zu waschen! Wo bleibt die Zivilisation.“ „Im Krieg gibt‘s keine Zivilisation“, erwidert Karl. Und Franz ergänzt: „Wir beide sind auch schmutzig!“ „Aber euch scheint das nicht zu stören.“ Im Bahnhof Lemberg.11 Sie teilen uns Suppe aus, eine Mischung aus Kohl und Hirse. Die älteren Frauen entrüsten sich: 11 Im russischen Original Lwow (ukrainisch Lwiw)
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„Diese Verbrecher! Nur einmal pro Tag geben sie uns zu essen! Und dann ist es auch noch verdorben!“ „Beruhigt euch!“, sagt Klava, eine liebe, bedächtige junge Frau. „Es ist sinnlos, sich aufzuregen. Ihr ändert doch nichts.“ Wieder müssen wir warten. Die ständigen Kontrollen des Zuges erfordern es. Wir nutzen die Zeit, um unsere Blechnäpfe mit Wasser zu füllen und uns ein bisschen zu waschen. Die Kranken bleiben im Waggon. Wegen der Kälte ist es ausgeschlossen, dass sie ihre Nase nach draußen stecken. Franz bringt ihnen persönlich ihre Essensration. Trotz der warmen Suppe klappern die Mädchen mit den Zähnen. Ungeduldig geht Franz zur Auskunft und kommt mit einigen Tabletten in der Hand zurück. „Wir fahren gleich ab“, kündigt er an, gibt den Grippekranken die Medikamente und fragt sie: „Habt ihr Wasser zum Runterschlucken?“ Fassungslos schauen wir ihn an. Ein Mädchen wundert sich: „Das gibt’s doch nicht! In unserer Gemeinschaft sind sie plötzlich menschlich geworden!“ Der Zug nimmt seine Fahrt wieder auf. Karl und Franz machen Feuer im Ofen und holen ihre Mundharmonika heraus. Lena hat sich an mich geschmiegt. Sie flüstert mir alte Geschichten von der Schule ins Ohr, aus der guten, alten Zeit im Palast der Pioniere. Der Himmel ist grau, es regnet. Wasser tröpfelt durchs Waggondach. Das Mädchen mit der Gitarre schläft in der Ecke, um seinen Hunger zu vergessen. Es wäre sinnlos, die Soldaten danach zu fragen, wann wir ankommen. Gott allein weiß es. Die beiden Deutschen haben ihre Musikinstrumente weggepackt. Auch sie wirken erschöpft. Vor der halb geöffneten Tür fliegt die Landschaft vorbei. Es kommt uns vor, als wären wir in unserer Heimat: Felder, soweit das Auge reicht, kleine Häuschen aus rotem Backstein, kahle Birken. Polen ist nur noch wenige Kilometer entfernt. Eine Erschütterung. Der Zug rumpelt langsamer und hält. Wir sollen mit Gepäck aussteigen. Die für die Waggons Verantwortlichen führen die Gruppen an. Auf Befehl marschieren wir los. Füße und Beine tun weh, sind rot und geschwollen, wegen der Kälte und weil uns die Bewegung fehlt. Mein Gepäck, so klein es auch ist, zieht mir den Arm hinunter. Der Weg nimmt kein Ende. Plötzlich stockt unser langer Zug. „Schaut euch die Wachttürme an! Das könnte ein Gefängnis sein.“
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„Ich sehe keine Soldaten! Merkwürdig.“ „Vielleicht sind sie im Inneren.“ „Idiotenbande!“, schreit eine ältere Frau. „Begreift ihr denn nicht, dass dies Gefängnis für uns ist? Mit doppeltem Stacheldraht!“ In dreistöckigen Betten werden wir zusammengepfercht. „Was wollen sie mit uns machen?“ „Sie haben etwas vor!“ Liza und Lydia, Lenas Mutter und Tante, bemühen sich vergeblich, uns zu beruhigen, wissen aber selbst nichts. Glücklicherweise kommen Karl und Franz herein. „Beruhigt euch, habt keine Angst. Wir stellen einen anderen Zug für euch bereit. Morgen fahrt ihr weiter nach Deutschland. Nur Mut, Mädchen!“ Bevor es Nacht wird, bekommen wir noch einen wässrigen Brei. Ohne zu protestieren, schlucken wir ihn hinunter, schon damit zufrieden, dass wir etwas haben, was unseren Bauch füllt. Zwei Uhr nachmittags. Man teilt uns Suppe aus. Am Stacheldraht stehen Neugierige, mit denen wir einige Worte wechseln. Sie sind gekommen, um Brot oder Wurst gegen Kleinigkeiten zu tauschen. Alles können die Leute gebrauchen. Wir packen aus, was wir haben, um etwas Essbares zu bekommen. Spät in der Nacht fahren wir weiter, dieses Mal in alten Personenwaggons. Unsere beiden Soldaten sind nach Russland zurückgefahren, um neue Kontingente zu holen.
Müde von ihrer langen Reise, stößt die Lokomotive einen langen Klagelaut aus. Unser Zug fährt in den Braunschweiger Bahnhof ein. Ein Komitee steht zu unserem Empfang bereit – vor jedem Waggon zwei Männer in schwarzen Uniformen12. Wir warten auf Anweisungen. Die Stille wird durch eine bellende Stimme zerrissen: „Raus!“ Wir nehmen unser Gepäck, drängen in Richtung Tür und springen aus den Waggons. Ein paar Minuten später stehen wir alle in kleinen Gruppen auf dem Bahnsteig. Ich schaue meine Gefährtinnen an; sie sehen bleich aus. Eine halbe Stunde warten wir, dann ein durchdringender, schriller Pfiff. In Zweierreihen schleppen wir unsere Bündel und Koffer zum Ausgang. Eine Menge von Neugierigen heißt uns willkommen. 12 Auch hier dürfte es sich nicht um SS, sondern um ukrainische Hilfspolizei gehandelt haben.
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„Russische Schweine! Russland kaputt!“13 „Dreckige Kommunisten! An die Arbeit!“ Kinder spucken uns ins Gesicht, andere bombardieren uns mit Wurfgeschossen. „Dreckige Boches!14 Sollten uns lieber dafür danken, dass wir gekommen sind, um ihr Elend mit ihnen zu teilen!“ Das ist die Stimme des Mädchens mit der Gitarre; sie geht direkt vor uns. Nur mit Mühe kommen wir vorwärts. Kleine Steine und Müll werden auf uns geworfen. Einige Mädchen weinen. Eine junge Frau aus unserer Gruppe ruft auf Deutsch: „Wer hat ihn denn gewollt, diesen Krieg?“ Ein Mann in grüner Uniform geht auf die Unerschrockene los und verpasst ihr eine Ohrfeige. Lena, mit weit aufgerissenen Augen, drückt meine Hand ganz fest. „Sagt bloß nichts!“, flüstert Liza, „geht einfach weiter!“ Unser Ziel sind fünf trostlos aussehende, von Stacheldraht umzäunte Baracken. Eine Stunde lang stehen wir auf dem Innenhof herum. Aus den Fenstern der Gebäude im Hintergrund beobachten uns Gesichter voller Neugier. Schließlich kommt eine ziemlich hübsche, junge Frau in Begleitung von zwei Gestapo-Offizieren aus dem schmucklosen Gebäude. Über dem Haupteingang ist ein großes, weißes Schild angebracht, auf dem mit schwarzen, drohenden Lettern das Furcht einflößende Wort KOMMANDANTUR geschrieben steht. Die drei kommen auf uns zu. Die Hübsche stellt sich vor: „Ich bin Fraulein Galina, eure Dolmetscherin. Ihr könnt mich ‚Fraulein‘ oder ‚Fraulein Galina‘ nennen, aber auf keinen Fall nur ‚Galina‘. Ich stehe im Dienst dieser Herren“, fährt sie fort und wirft einen eindringlichen Blick auf die beiden Gestapo-Schergen, die zustimmend nicken. „Ich arbeite sehr fleißig und rate euch, es bei euren künftigen Chefs auch so zu machen.“ Dann wendet sie sich an einen der Herren. Der faltet ein Blatt Papier auseinander. Er liest satzweise vor, und Fraulein übersetzt: „Es ist verboten, die Baracken ohne vorherige Genehmigung zu verlassen.“ „Es ist verboten, sich den Toren und Zäunen zu nähern.“ „Es ist verboten, mit den Bewohnern anderer Baracken zu sprechen.“ Nach den Verboten kommen die Gebote: „Es ist immer in Reihen hintereinander zu gehen.“ 13 Diese Art des „Empfangs“ ist vielfach verbürgt. 14 Boches ist eine seit dem späten 19. Jahrhundert gebrauchte abwertende französische Bezeichnung für Deutsche. In ihrer Niederschrift benutzt Olga von Beginn an diese Bezeichnung, obwohl sie ihr während des Transports und in den ersten Wochen in Hameln noch nicht geläufig gewesen sein dürfte.
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„Befehlen ist Folge zu leisten.“ … Dann betet Galina die Litanei von Strafen herunter. Jegliche Regelverletzung wird strengstens bestraft. Als die Aufzählung vorüber ist, bestürmen wir die Dolmetscherin mit Fragen. „Warum sperrt man uns hier ein?“ „Was haben wir verbrochen, dass man uns wie Kriminelle behandelt?“ „Sagt uns die Wahrheit! Wohin bringt ihr uns?“ „Beruhigt euch“, antwortet Galina, „lasst es mich erklären. Ihr seid hier in dem Sammellager für deportierte Arbeitskräfte aus Russland.15 Wir werden euch hier untersuchen und für die Arbeit einteilen. Anschließend schicken wir euch in eine Fabrik oder zu einer Privatperson, sei es auf einen Bauernhof oder zu einem Geschäftsmann. Die Nachfrage ist sehr groß, und ihr werdet nicht lange hier bleiben. Vorher müssen wir aber einige Formalitäten erledigen.“ Sie zwinkert den beiden Offizieren zu und führt uns dann zu den Baracken. Wir dürfen unseren Schlafraum selbst aussuchen. Alle Räume sind gleich, wie Kaninchenställe, vollgestopft mit zwei- oder dreistöckigen Betten aus rohem Holz. Wir dürfen auch unsere Mitbewohner auswählen. Lena und ich achten auf das Mädchen mit der Gitarre. Wir bleiben ihr so dicht wie möglich auf den Fersen. Liza und Lydia folgen uns und schimpfen vor sich hin, denn sie hassen das Durcheinander. Das Belegen der Räume dauert nur ein paar Minuten. Fraulein rennt geschäftig zwischen uns hin und her, ohne die Uniformierten aus den Augen zu lassen. Vier Uhr am Nachmittag. Wir greifen unseren Essnapf und stellen uns in Reihe auf. An der Spitze gehen Galina und ihre Begleiter in Richtung Küche. Jede von uns bekommt eine große Schöpfkelle mit Suppe, die ziemlich dickflüssig ist, aber nicht gerade appetitanregend aussieht, und vor allem ein Stückchen Brot. Undenkbar, diesen kostbaren Schatz zu genießen, bevor nicht alle Mädchen aus der Baracke ihr Essen erhalten haben. Ein Uniformierter führt uns zu den Schlafräumen zurück. Wie die anderen passe ich höllisch auf meinen Essnapf auf, dessen Inhalt schon kalt geworden ist. Man hat uns gesagt, das sei die einzige Mahlzeit am Tag. Wir sollten nichts verschütten. Die Mahlzeit verläuft wie eine heilige Messe. Monatelang haben wir darauf gehofft und darum gebetet, ein Stück Brot zu bekommen, ein echtes Stück Brot, so wie am heutigen Tag. „Was sollen wir hier nur machen?“, jammert Lena. „Es ist sterbenslangweilig! Kannst 15 Im Original déportés.
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du mir nichts erzählen?“ Ich habe keine Lust zu reden. Das Mädchen mit der Gitarre hält sich im Hintergrund. Schließlich ergreift sie ihr Instrument und beginnt, eine melancholische Melodie zu spielen. Sogleich stimmt ein Mädchen ein, dann ein zweites, etwas älteres. „Großartig, dieses Mädchen!“, ruft Lena aus, die plötzlich wieder munter geworden ist. „Frag sie, wie sie heißt.“ „Das traue ich mich nicht. Sie sieht wie ein Junge aus. Schau, wie sie sich ausstaffiert hat!“ „Sie trägt eine Kossovorotka16, na und? Sie hat so wunderbare blonde Locken, dass man davon träumen könnte! Los, geh! Versuch es!“ Ich nehme all’ meinen Mut zusammen und gehe zu ihr. „Sag mir … Du weißt doch … Wir sind beim Transport im gleichen Waggon gewesen … Wir wissen noch nicht einmal deinen Namen.“ „Weshalb so umständlich? Könnt ihr nicht direkt fragen? Ich heiße Anna. Für meine Freunde Anka.“ Die Tür öffnet sich. Galina kommt und kündigt an: „Bis morgen früh ist es verboten, die Baracken zu verlassen. Geht früh schlafen. Punkt sieben Uhr geht ihr unter die Dusche, direkt vor der ärztlichen Untersuchung. Um acht Uhr abends schalten wir das Licht aus.“ „Fraulein Galina!“, ruft ein Mädchen. „Keine Zeit! Morgen!“ Alle im Schlafraum sind still und nachdenklich. Jede sucht ihren Platz auf. Einige kratzen sich am Kopf, andere zittern vor Kälte. Es ist fürchterlich kalt. Lena kuschelt sich an mich und flüstert mir ins Ohr: „Wenn wir nur zusammenbleiben könnten! Wie können wir das bloß schaffen?“ „Du musst zu Gott beten. Es gibt keinen Grund, uns zu trennen. Erstens sind wir beide gesund. Zweitens, wenn du nach dem Alphabet gehst, so kommt dein Name direkt vor meinem.“ „Wenn das wahr werden könnte! Ich habe überhaupt keine Lust, die ganze Zeit von meiner Mutter und meiner Tante kontrolliert zu werden.“ Sie überlegt weiter, sagt mit kaum hörbarer Stimme: „Wie können wir das nur anstellen?“ „Hör zu! Galina ist ein Miststück. Ist dir ihr falsches Spiel noch nicht aufgefal16 Russisches Männerhemd mit Stehkragen
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len? Hast du gesehen, wie sie sich herausputzt? Meiner Meinung nach ist es nicht schwer, sie rumzukriegen.“ Ich denke an Lionia, meinen älteren Bruder. Dieser hatte mir vor der verfluchten Einberufung zum Arbeitsdienst zwei Töpfchen mit Schönheitscreme geschenkt. Ein Nachbar hatte sie ihm gegeben, als wir, direkt nach Ankunft der Deutschen in Charkow, alles in Sicherheit brachten. Ich flüstere: „Hör zu, ich habe noch Parfum und eine Gesichtscreme. Das wird ihr gefallen. Hast du vielleicht auch ein kleines Geschenk, das du ihr geben könntest?“ „Ich will in meiner Tasche nachschauen“, sagt sie. Beim Runterklettern von ihrem Bett macht Lena Geräusche. Ihre Mutter und ihre Tante, die auf der unteren Etage der Stockbetten liegen, werden uns noch erwischen. „Komm wieder rauf“, flüstere ich. „Was ich habe, wird reichen.“ In dem Moment ruft Liza uns zur Ordnung: „Kinder! Es ist Schlafenszeit!“ Und Lydia ergänzt: „Hört mit der Schwatzerei auf! Seid vernünftig!“ Wir gehorchen. Außerdem finden wir unsere mit Stroh gefüllten Matratzen gut. Sich mit dem ganzen Körper ausstrecken, sich lang machen, die Beine anziehen und wieder ausstrecken, sich lebendig fühlen nach den letzten Nächten, welch ein Wohlgefühl! Jemand trommelt an die Tür. Wiederholtes Gebrüll: „Aufstehen!“ Ich öffne ein Auge, habe Schwierigkeiten, mir bewusst zu machen, wo ich bin. Noch ist nicht heller Tag. Genau wie meine Gefährtinnen, die auch ganz verschlafen sind, trödele ich beim Anziehen. „Bewegt euch!“, kommandiert Galina. „Bringt die Chefs nicht in Rage. Das könnte euch teuer zu stehen kommen!“ Wieder schreit der Wachtposten heiser: „Raus!“ Wir stürzen zur Tür. „Stellt euch in Reihe auf!“, befiehlt der Kläffer weiter. „Vorwärts!“ Unser langer Zug bewegt sich langsam in Richtung auf ein Gebäude, das etwas abseits der Baracken steht. In Gruppen zu dreißig sollen wir eintreten. Sie überprüfen unsere Namen und führen uns dann in einen riesigen Saal. „Zieht euch aus! Legt alles ab!“
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Schweren Herzens gehorche ich. Noch nie habe ich mich vor jemandem nackt gezeigt. Wir binden unsere Kleidungsstücke mit Schnüren zusammen. An jedem Bündel wird eine Nummer befestigt, damit wir unsere Sachen nach der Desinfektion zurückbekommen. Ein zweiter Saal, eine Art türkisches Bad. Sie verteilen Seife und Schwämme. Die diensthabende Frau schreit uns an: „Los, an die Arbeit! Und wascht euch den Kopf!“ Lena folgt mir auf Schritt und Tritt. Sie ist rot vor Scham. Mich geniert vor allem die Anwesenheit ihrer Mutter und ihrer Tante. Für mich wäre es einfacher, wenn ich sie nicht kennen würde. Ich richte meinen Blick starr auf den Knauf der Dusche, dann auf meine Füße und versuche, die Fassung zu bewahren. Nach einigen Minuten bin ich es leid, immer auf meine Zehen zu schielen, und ich sage zu Lena: „Was macht es schließlich aus? Wir sind doch alle gleich!“ Wir gehen in einen dritten, etwas kleineren Saal. „Entfernt jetzt eure Läuse!“, schnauzt uns eine andere Deutsche an und drückt uns einen eng gezähnten Kamm in die Hand. „Achtung, es gibt nur einen Kamm für zwei.“ Wir protestieren. „Welche Läuse?“ „Geht mit dem Kamm durch die Haare“, knurrt die Teutonin.17 „Ihr werdet schon sehen!“ Ich beginne zu kämmen. Wie furchtbar! Die kleinen Tierchen krabbeln in alle Richtungen durcheinander! „Nehmt euch Zeit!“ Das Weib freut sich, dass es Recht behalten hat. Dann hält sie uns eine Flasche mit einer Flüssigkeit hin: „Reibt euch damit ein!“ Unter lautem Gezeter bemühen wir uns jeweils zu zweit, die ungebetenen Gäste und ihre Nachkommenschaft herauszukämmen. Wir reißen sie sogar mit den Haaren heraus, damit keine Spur dieser Katastrophe auf unseren Köpfen bleibt. „Woher kommt bloß dies Ungeziefer?“ „Das ist doch klar! Das haben wir uns in den dreckigen Waggons geholt!“ „Mit dem Krieg kreuzen die Läuse auf.“ „Vor allem, wenn man geschwächt ist. Erinnert euch an 1932.“18 17 Teutone: leicht abwertende Bezeichnung für die Deutschen 18 Wohlhabende, selbstständige Bauern (Kulaken) wurden im Rahmen der Kollektivierung der ukrainischen Landwirt-
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„Vor zehn Jahren, während der Hungersnot, haben wir Schlimmeres erlebt. Weshalb sollten wir uns jetzt groß aufregen? Vernichten wir sie! Los geht‘s!“ Die kräftige Lida fragt die Diensthabende: „Wird der Quatsch hier noch lange dauern?“ „Das ist erst der Anfang!“, antwortet sie mürrisch. „Sollen sie in der Hölle verfaulen!“ Wir hören ein Kommando: „Bringt die erste Gruppe herein!“ Am Ende eines großen Saals steht ein langer Tisch. Dahinter sitzt eine Reihe von Deutschen reiferen Alters auf bequemen Stühlen, bereit für die peinliche Untersuchung, die uns jetzt bevorsteht. Eine nach der anderen gehen wir an ihnen vorbei. Die Teutonen lassen nichts durchgehen. Die Reihe hält an, wenn sie die kleinste Unregelmäßigkeit entdecken. Wir warten dann, bis die Gedemütigte genauestens betrachtet worden ist. Danach geht die Prozession weiter. Ich möchte im Erdboden versinken. Von Kopf bis Fuß zittere ich bei dem Gedanken, dass jemand mit seinem fürchterlichen Zeigefinger auf mich zeigen könnte, um mich dieser Demütigung zu unterziehen. Hinzu kommt, dass die zweifelhaften Fälle für eine zweite, noch gründlichere Untersuchung beiseite genommen werden. Die Untersuchung ist beendet. Ich danke dem Himmel und meinen Eltern, dass sie mich gesund und robust haben werden lassen, obwohl ich bei der Geburt nur ein Kilo und neunhundert Gramm gewogen habe. Neues Kommando: „Zu dritt in eine Reihe!“ Und dieselbe unangenehme Stimme befiehlt: „Rückt auseinander! Arme in die Höhe! Beine gegrätscht!“ Wir gehorchen, schon wieder den Tränen nahe. Ein jüngerer Mann, bewaffnet mit einer Art Flasche, auf der ein Zerstäuber sitzt, betritt den Saal. Vor jedem Mädchen stellt sich dieser brutale Kerl auf und betätigt zweimal den Apparat in Höhe der Achseln und der Schamgegend. Jetzt bin ich dran. Am liebsten würde ich sterben. Dann bin ich wild darauf, dem Kerl die Augen auszukratzen. Der Boche geht noch einmal durch die Reihen. Die übelriechende Flüssigkeit läuft mir langsam über die Haut. Ihr Geruch ist stechend. Meine Augen brennen. Ich schaft von 1928 bis 1933 unter Stalin als „Klassenfeinde“ in Arbeitslager deportiert oder erschossen. Die Folge war 1930-1932 eine katastrophale Hungersnot in der Ukraine mit Millionen Toten.
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niese, huste, ersticke. Meinen Gefährtinnen geht es kaum besser. Kurz darauf gehen wir wieder in den ersten Saal hinüber. Nach einer halben Stunde bekommen wir unsere Kleiderbündel wieder. Ich suche meine Nummer, irre mich, suche erneut, finde endlich die richtige. Der Vormittag ist fast vorbei. Fraulein kommt herein. Es ist Zeit, unsere Suppenration abzuholen. Der Mischmasch ist ekelerregend, genauso wie gestern, aber er füllt den Magen. Heute Abend werden wir auch Brot bekommen, eine tröstliche Aussicht. Es ist später Nachmittag. Lena kommt zum x-ten Male auf ihr Thema zurück: „Was werden sie mit uns machen? Ob wir zusammenbleiben?“ „Hab’ Vertrauen. Denk’ daran, was ich dir gesagt habe!“ Am nächsten Morgen. Ich lasse mir auf meiner Matratze Zeit, gähne, strecke mich, stoße Lena, die noch schläft, mit dem Ellenbogen an. Die Grünuniformierten befehlen: „Aufstehen!“ „Beeilt euch!“, treibt uns Galina an. Damit wir uns schnell frisch machen, begleitet sie uns zu den Wasserhähnen. Dann bekommen wir ein Stück Brot und ein Getränk, das mit Kaffee nur den Namen gemein hat. Draußen ist schon die Sonne aufgegangen. Wir genießen die ersten Strahlen und warten mit bangem Herzen darauf, dass man uns aufruft. Das Büro der Kommandantur ist bald voller älterer Herren, die sich eine von uns aussuchen wollen. Fraulein läuft hin und her, gerade in Begleitung von zwei Bauern. Einige Gefährtinnen, die in der Landwirtschaft auf Höfen arbeiten werden, brechen schon mit dem Koffer in der Hand auf. Nach und nach wird die Gruppe kleiner. Über den Hof schallt es „Adieu!“ und „Viel Glück!“ Mir ist die Kehle wie zugeschnürt. Wie auf dem Bahnhof in Charkow habe ich wieder dieses schreckliche Gefühl, dass ein Stück von mir selbst weggerissen wird. Plötzlich höre ich meinen Namen, dann den von Lena. Anschließend rufen sie ihre Mutter und ihre Tante auf. „Gott sei gelobt!“, seufzt Liza. „Lasst uns Galina danken!“19 „Dass der Herrgott ihr ein langes Leben schenke und gute Gesundheit!“, ergänzt Lydia. Lena und ich lächeln uns komplizenhaft an. Dann stellen sie uns einem kleinen, stämmigen Mann vor, der Zivilkleidung trägt. Sein Kopf 19 Offensichtlich hat der Bestechungsversuch mit dem Töpfchen Schönheitscreme geklappt.
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ist fast kahl; er wirkt jovial und hat einen aufrichtigen Blick. „Hier, das ist Herr Dreyer20, euer Dolmetscher und Lagerführer. Er ist für das MELAS-Werk21 in Hameln zuständig.“
20 „Oberlagerführer“ Heinrich Dreyer, wohnhaft nach 1945 Pyrmonterstr. 75, vorher Klütstraße (s. u., S. 215) 21 Metallwerke Alfred Schwarz, auch Union oder MELAS genannt (MELAS = griechisch für schwarz). Die MELAS war das größte Hamelner Rüstungswerk mit mehr als 2000 Arbeitskräften. 1937 eröffnet, hatte das Werk vorbildliche Sozialeinrichtungen. Siehe ausführlich im Anhang und bei Gelderblom/Keller-Holte, Ausländische Zwangsarbeit, S. 157-176.
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