Elise und die Summe der Tage

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Besonderen Dank möchte ich Gabriele de’ Medici sagen, der mich mit seiner Familie während meiner Italien-Recherchen so freundlich in Villa di Ingnano, wo ein guter Teil der Handlung spielt, aufgenommen und mich sachkundig, auch mit Blick auf die große Geschichte seiner Familie, unterstützt hat.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-95954-052-0 © Wolfgang Bellmer Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht auf Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden www.mitzkat.de


Wolfgang Bellmer

Elise und die Summe der Tage

Band 3 der Elise-Trilogie

Verlag Jรถrg Mitzkat Holzminden 2018


Editorischer Hinweis: Die Handlung dieses Buches ist nicht ganz frei erfunden und die Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen ist nicht immer zufällig. Allerdings wurden alle Namen verändert und vieles durch die Fantasie des Autors ergänzt. Der Autor bezieht sich in seinem Roman auf tatsächliche historische Ereignisse, allerdings wurden diese Geschehnisse der schriftstellerischen Absicht untergeordnet. Das hat historische Ungenauigkeiten zur Folge, für die Autor und Verlag um Nachsicht bitten.


1 ELISE Holzminden, 6. April 1945

E

lise Beckmann drückte die beiden armlangen Hebel in die Waagerechte und schloss die Eisentür, die in den Luftschutzkeller führte. Hier hatten sie und ihr kleiner Sohn Wolfgang die vergangene Nacht verbracht, zusammen mit den Nachbarn, die sich keinen Luftschutzkeller leisten konnten. Elise seufzte bei dem Gedanken an ihren Jungen. Die ganze Nacht hatte er angstgekrümmt in ihren Armen gelegen und gewimmert, wenn die schweren Bomber über das Haus hinweggedröhnt waren. Gott sei Dank war es seitdem ruhig geblieben, aber was bedeutete das schon. Das Luftwarnsystem funktionierte sowieso nicht mehr, und die Sirenen heulten erst, wenn die Flieger schon längst über ihnen waren. Und nun hatte sie Wolfgang vor einer halben Stunde mit Elfriede, dem Hausmädchen, nach Altendorf zu den Bollwinkels auf das einsame Gehöft in der Feldmark geschickt, wo er bleiben konnte, bis sie zurück sein würde. Das war besser, als womöglich hier im Haus verschüttet zu werden – ein so schrecklicher Gedanke, dass sie ihn nicht zu Ende denken mochte. Sie hatte sich endlich dazu entschlossen, nach Boffzen zu fahren und ihren Mann aus den Klauen des Volkssturms zu befreien – koste es, was es wolle. In ein paar Stunden würde sie wieder zurück sein. Wenn sie ihren Mann überhaupt noch retten konnte. Wenn diese Durchhaltefanatiker im Volkssturm ihn nicht längst für das sterbende Vaterland geopfert hatten. Wenn er noch lebte ... Wenn, wenn, wenn. Aber wenn alles gut ging, würde sie ihre Familie wieder zusammen haben. Bis auf Conrad natürlich, aber der war

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weit weg, als Soldat, als viel zu junger Soldat, irgendwo in Italien ... Die Garage war leer. Der schöne glänzende schwarze Mercedes W 21, den August und sie sich 1937 gekauft hatten, war schon kurz nach dem Kriegsausbruch konfisziert worden. Ebenso das Göricke-Herrenfahrrad, das nun in irgendeiner Fahrradschwadron Dienst tat. Die Hühner, die hinter dem geöffneten Kellerfenster in ihrem Verschlag saßen, den August, ungeschickt wie er war, mehr recht als schlecht angebaut hatte, gackerten aufgeregt und blickten neugierig durch den Maschendraht zu ihr ­herunter. Es stank nach Hühnermist. Es war schon wieder Zeit, gegen diese schrecklichen Milben zu spritzen. Aber was tat man nicht alles für ein paar Eier ... Wenn es überhaupt welche gab, bei all diesen Bomben. Auch Hühner waren schließlich lebendige Wesen, die ihren Frieden wollten. Elise nahm das Viktoria-Damenfahrrad, das man ihnen gelassen hatte. Ein stabiles Rad. Vorkriegsware. Dicke Ballonreifen und Spiralen als Federung unter dem Ledersattel. Auf der Sollingstaße war es ruhig. Totenstill. Totenstill. Eigenartig, wie ein Wort, das man früher eher gedankenlos in den Mund genommen hatte, an schrecklicher Bedeutung gewonnen hatte! In der Ferne hörte Elise das Wummern von Geschützen. Sehr viel lauter als gestern. Die Amis mussten Polle bereits erreicht haben. Sie würden inzwischen wissen, dass die braunen Idioten die Holzmindener Brücke gesprengt hatten. Als ob dadurch noch irgendetwas gerettet werden konnte! Acht Stunden höchstens, dann würden sie da sein. Sie musste sich beeilen, wenn sie ihren Mann noch rechtzeitig zurückholen wollte. Elise raffte ihren Rock, schwang sich in den Sattel, trat kräftig in die Pedalen und rollte bergab der Innenstadt entgegen. Als sie unter der Bahnbrücke hindurchfuhr, roch sie die

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Rauchwolken, die mit jedem Meter beißender wurden. Sie blickte zur Seite und sah erleichtert, dass ihr Geburtshaus noch stand, so unberührt, als hätte es nie einen Krieg gegeben. Und auch nicht das ganze Unglück mit der Bank und mit Wolf. Nachdem Elise die Villa verkauft hatte, um die Schulden der HARNACK-BANK abzuzahlen, war die Reichswehr dort eingezogen und hatte sie zehn Jahre lang als Offizierskasino genutzt. Aber auch damit würde es nun bald vorbei sein, und Elise fragte sich, was das Schicksal mit dem so vertrauten Gebäude, in dem sich die Erinnerungen stauten, im Schilde führen mochte. In ihrer Kehle bildete sich ein Kloß, und für einen Augenblick genoss Elise ihr Selbstmitleid. Dann aber kam die zerbombte Bauschule in Sicht, und die Gegenwart hatte sie wieder. Das Denkmal des Bauschulgründers, ihres Urgroßvaters, stand seltsam unversehrt neben den rauchenden Trümmern der Schule, die seit der letzten Bombardierung noch mehr in sich zusammengefallen waren. Segnend hielt Elises Vorfahr seine Hand zur Stadt hin, aber das Unheil, das die feindlichen Bomber brachten, hatte auch er nicht aufhalten können. Angefangen hatte es damit, dass ein gedankenloser Offizier seine beiden Lastwagen, die bis oben hin mit Panzerfäusten beladen waren, unter den Bäumen neben der Schule halten ließ – unbelaubten Bäumen, die keinen Sichtschutz boten, weshalb die Tiefflieger ihre Beute leicht ausmachen konnten und in Brand schossen. Die Panzerfäuste explodierten, und bald brannte das ganze Schulgebäude lichterloh. Am Nachmittag kreisten dann erneut Bomber über der Stadt. Sie kamen von Westen, wie das Gewitter, das die Stadt einhüllte und den Piloten die Sicht nahm. Ein Großteil der Bomben – die ausgereicht hätten, ganz Holzminden auszulöschen – landete in unbebautem Gelände am Stadtpark beim Thingplatz, den sich die neuen Machthaber gebaut hatten, damit sie ihren Hakenkreuzen zujubeln konnten. Die übrigen Bomben verwüsteten große Teile der In-

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nenstadt. Mehr als 200 Tote. Unzählige Verletzte. Das burg­ ähnliche Gebäude in der Bahnhofstraße, in dem die NSDAPKreisleitung residierte, brannte bis auf die Grundmauern nieder, während Fremdarbeiter unter scharfer Bewachung Kisten aus den Kellern auf Lastwagen schleppten, die eilig davonfuhren. Wohin, wusste niemand. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff, und mein Mann soll den Kopf für sie hinhalten, dachte Elise erbost. Nicht mit mir! Sie streckte den Arm aus und bog in die verlassen daliegende Fürstenbergerstraße ein, die nach Süden führte. Unwillkürlich musste sie lächeln. Die Welt zerfiel in Trümmer, und wenn man der BBC glauben konnte, verhandelte Großadmiral Jodl gerade irgendwo im Norden Frankreichs über die bedingungslose Kapitulation Deutschlands – und sie, Elise Beckmann, verwitwete Harnack, geborene Rennefeld, Mutter zweier Söhne, streckte immer noch brav den Arm aus, wenn sie abbiegen wollte. Ordnung musste eben sein, selbst wenn es nichts mehr zu ordnen gab. Aber vielleicht hatte selbst das einen tieferen Sinn. Dort, wo noch vor wenigen Monaten die rot-weißen Fahnen mit dem schwarzen Hakenkreuz vor den Häusern im Winde geweht hatten, hingen nun schlaff und regungslos weiße Bettlaken in der fahlen Frühlingssonne. In jedem Fenster eins, man konnte nicht vorsichtig genug sein. Was ihr Mann, was August wohl machte? Ob er schon wusste, dass die letzten Stunden des Regimes angebrochen waren? Erst vor fünf Monaten hatten sie ihn doch noch zum Volkssturm eingezogen. Das letzte Aufgebot. Und jetzt war er mit vier Kriegsinvaliden eingeteilt worden, den Steinkrug zu verteidigen, eine Ausflugsgaststätte, die, zwischen Lüchtringen und Boffzen hoch oben auf einem Felsen hockend, das Wesertal überblickte. An dieser strategisch herausragenden Stelle, so hatte man den Männern erklärt, seien sie genau an dem Ort, an dem die „anglo-amerikanischen Mord-

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brenner“ noch aufgehalten werden könnten. Elise war sich nicht sicher, ob die Kerle das nicht vielleicht sogar glaubten. Männer! Zur Erfüllung ihres Auftrages hatte man ihnen die einzige Panzerfaust, die die Explosionen an der Bauschule überstanden hatte, mitgegeben. Und ein MG 42, dem der Verschlusspuffer fehlte. Elise wusste zwar nicht, was ein Verschlusspuffer war, ahnte aber, dass ohne ihn das Maschinengewehr nicht würde schießen können. Dies beruhigte sie zunächst. Vielleicht konnte der hastig eingerichtete Adlerhorst sogar unentdeckt bleiben, wenn niemand einen Schuss abgab. Aber gerade darauf mochte sie nicht vertrauen. Männer und Waffen. Da konnte die Welt schon längst untergehen, irgendwer würde doch noch kämpfen und ein Held werden wollen. Warum waren Männer so leichtgläubig und taten auch jetzt noch, was man ihnen befahl? Die amerikanische Artillerie samt Tieffliegern würde jedenfalls kurzen Prozess mit den späten Helden machen. Wenn sie denn entdeckt würden. Aber das, so hoffte Elise inständig und trat noch heftiger in die Pedalen, würde sie vielleicht noch verhindern können. Einen Kilometer weiter, beim Sägewerk, rauchende Trümmer rechts und links der Straße. Leiterwagen, die vollgepackt wurden mit dem, was übriggeblieben war. Menschen liefen wie in Zeitlupe ratlos zwischen Schutt, zerborstenen Fensterrahmen, Kleiderschränken, Kinderbetten, Stühlen und Krimskrams herum, das innerhalb einer Minute seinen Sinn verloren hatte. Und immer wieder der Blick zum Himmel, weil die Tiefflieger jederzeit wieder auftauchen konnten. Nichts wie weg hier. Die Straße führte nun unterhalb des Stadtparks entlang. Dort oben, am alten Bismarckturm, hatte die Stadt ihre jährlichen Schulfeste gefeiert. Elise konnte sich noch gut daran erinnern. Immer an einem Spätsommertag waren die Kinder der Holzmindener Volkschulen, sonntäglich gekleidet, hinter

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einer Blaskapelle her zum Stadtpark gezogen. Verwaltungen und Betriebe schlossen ihre Pforten. Alt und Jung strömten hinaus in die Natur, um mit den Kindern zu feiern. Auf der Wiese unterhalb des Turmes, im Schatten der Bäume, lagen die Frauen auf Decken und aßen selbst gebackenen Kuchen und sahen ihren Kindern beim Spielen zu, während die Männer, die flachen Strohhüte ins Genick geschoben, an provisorischen Theken dem frisch gezapften Bier zusprachen. Wenn das Fest im vollen Gange war, sah man hier und dort leicht schwankende Väter auf der Suche nach einem einsamen Plätzchen durch das Gelände wanken. Die Musik spielte, und Luftballons standen in der Sommerluft. Welch eine Idylle! Und wie schnell war die schöne Zeit vorbei gewesen. Für Elise noch ein bisschen schneller. Nach Rüdiger Siekmanns Avancen war sie Hals über Kopf in die Höhere Töchterschule nach Wolfenbüttel verbannt worden. Ein unschuldiger Kuss – von welcher Wichtigkeit war das damals gewesen ... Rüdiger Siekmann. Der war inzwischen verheiratet und hatte zwei erwachsene Söhne. Clever wie er war, hatte er all die Jahre heimlich BBC gehört und lange vor den anderen gewusst, dass alles zusammenkrachen würde, dass alles zusammenkrachen musste. Und dass die Deutschen längst über ihre Kapitulation verhandelten. Und dass, wenn sie in Holzminden Glück hatten, die Tommys oder die Amis früher da sein würden als die Russen. Glück. Glück hatte er auch persönlich gehabt. Hatte zwei Weltkriege überlebt. Als im Zweiten die Bomben fielen, hatte eine ihn verschüttet, und die nächste hatte ihn wieder freigesprengt. Elise gönnte es ihm von Herzen, nicht nur wegen der Liebelei, die sie immer miteinander verbinden würde. Er hatte ihre Haut gerettet, mehrmals, zuletzt als er ihr seinen schüchternen Cousin August Beckmann schickte, der sie vor

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dem Landgericht freigekämpft hatte. Mit List und Tücke. Und mit Liebe. Liebe? Was war Liebe? Liebe vor zehn Jahren. Liebe heute. Kann sich Liebe ändern, die Farbe wechseln wie ein Chamäleon, sich dem Hintergrund anpassen? Liebe kann Kinder bekommen. Wolfgang. Ihr kleiner Sohn. Ihr Sonnenschein. Ja, es war wohl Liebe. Loyalität und Freundschaft. Manchmal fragte sie sich, wie ihr Leben verlaufen wäre mit diesem charmanten Franzosen, diesem Fliegerhelden. Pierre Vernin. Einmal richtig verliebt sein, einmal den Rausch der Liebe leben. Amour fou. Romantik und Leidenschaft. Es hatte nicht sein sollen. Stattdessen: Loyalität und Treue. Was hatte sie dafür bekommen? Wärme? Geborgenheit, Vertrauen. Ich darf nicht mehr darüber nachdenken. Das hatte sie sich schon so oft gesagt. Wenn ich darüber nachdenke, werde ich nie glücklich werden. Ich muss zufrieden sein. Ich muss darum kämpfen, zufrieden zu sein. Deshalb bin ich ja auch gerade hier. Wieder mal ein Kampf – sollte das ewig so weitergehen? Elise tauchte aus ihren Gedanken auf und blickte sich um. Der Ort lag hinter ihr. Die Straße stieg an und verlief nun am Hang entlang, folgte dem Tal, das der Fluss tief unter ihr in die Landschaft gegraben hatte. Die noch braunen Felder und die schon hellgrünen Wiesen lagen im Dunst. Dichter silbriger Nebel umlagerte die Bäume. Wind kam auf und trieb die Schwaden vor sich her. Die Weser wand sich schwarz glänzend durch die Ebene, staute sich vor der gesprengten, in sich versunkenen Weserbrücke und floss dann weiter dem Kiekenstein zu, von dem sie wusste, dass er auch in diesem schrecklichen Jahr am ersten Mai wieder grün sein würde wie all die Jahre, Jahrzehnte

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und Jahrhunderte zuvor. Das hatte auch eine Diktatur nicht ändern können. Und trotzdem, nachdem die Briten die Edertalsperre bombardiert hatten, sah es aus, als ob mit dem Wasser der Weser auch das Leben langsam fortfloss. Selbst hier oben am Berg roch die Luft nach Verfall. Hinter dem Kiekenstein stiegen schwarze Rauchwolken auf. Sie platzten stumm aus dem Nichts hervor. Elise begann zu zählen: einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwa... Dann erst hörte sie die Explosionen. Wie war das noch mit der Schallgeschwindigkeit? 330 Meter in der Sekunde, hatte die Kieckbusch, die alte Wolfenbüttler Direktorin, gepredigt. Wieso erinnert man sich an so ein Detail? Und warum weigert sich das Gehirn gleichzeitig, die großen Dinge zur Kenntnis zu nehmen? Vielleicht, weil alles wichtig erscheint, was sich als wichtig gebärdet. Sie rechnete und hatte dabei das absurde Gefühl, als ob die alte Kieckbusch sie wieder kritisch durch ihr Lorgnon musterte. Einundzwanzig bis vierundzwanzig? Vier Sekunden. Mal 330. Du lieber Gott. Viermal dreihundert? Eintausendzweihundert. Vier mal dreißig? Einhundertzwanzig. Macht eintausenddreihundertzwanzig. Plus – sagen wir – eine halbe Sekunde. Einhundertfünfundsechzig. Ergibt zusammen, na, Elise Rennefeld aus dem fernen Holzminden, schon alles wieder vergessen? Eintausendvierhundertsiebenundsechzig! Falsch! Eintausendvierhundertfünfundachtzig. Na also, geht doch! Jawohl, es geht noch, wollte sie der Kieckbusch antworten. Ja, Gott sei Dank, und sie war immer noch erleichtert, wenn die Kieckbusch zufrieden war. Die Amis waren also nur noch eineinhalb Kilometer entfernt. Luftlinie. Und unter der Voraussetzung, dass eine Brücke über den Fluss führte. Was aber nicht der Fall war. Sie würden einen Umweg machen müssen.

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Eine Gerade ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten. Pythagoras. Aber nicht unbedingt der schnellste. Bertold Brecht. Aber so oder so schnell genug, dachte Elise, wenn ich mich nicht endlich beeile. In diesem Moment sah sie das Flugzeug kommen. Ein kleines Jagdflugzeug. Spitfire. Diese Maschinen kannte Elise. Runde Flügel. Der Pilot ganz weit hinten. Dunkelgrün und grau gescheckt im bläulichen Dunst. Es kam genau auf sie zu. Tief fliegend. Noch hörte sie nichts. Elise warf das Fahrrad zur Seite. Schutz! Sie brauchte Schutz, irgendeinen Schutz! Ein Graben? Nichts. Keine Mauer. Rein gar nichts! Oder doch? Die Eiche! Zehn Meter weiter. Einsam in der Wiese. Elise lief, und während sie lief, hörte sie plötzlich dieses schreckliche Pfeifen des Motors. Und das Knattern des Maschinengewehrs. Die Eiche, die Eiche!!! Geschafft! Der Stamm war nicht breit. Aber breit genug, wenn sie sich seitwärts dahinterstellte. Die Geschosse schlugen – tock-tock-tock – in den Stamm ein. Splitter spritzten zur Seite und fegten zwirbelnd an Elise vorbei auf den Asphalt. Und während sie noch zitternd zur Ruhe kamen, glaubte Elise, sie auch riechen zu können, frisch gefälltes Holz, irgendwie süßlich. Die Spitfire war dicht über den Baum hinweggerast. Die Äste rauschten noch im Luftsog, als die Maschine schon wieder stieg, sich aufstellte, dann schräg zurückfallen ließ und plötzlich wieder Kurs auf sie nahm. Ein Immelmann, dachte Elise, eine Kunstflugfigur, weiß der Himmel, woher ich das weiß, aber das war ein Immel-

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mann, der Kerl da oben weiß, wie man mit einer Maschine umgeht. Und alles nur meinetwegen! Soll ihn der Teufel holen! Und dann war der Teufel auch schon wieder da. Der Stamm! Auf die andere Seite! Elise sprang um den Baum herum, presste sich an ihn, krampfte sich mit den Fingern in die Löcher und Riefen, die die Patronen in die Borke gerissen hatten. Ratsch-ratsch-ratsch-ratsch-ratsch. Die Geschosse frästen sich durch die Baumkrone. Blätter und Äste regneten herunter. Eine vertrocknete Eichel hopste auf Elises Schuh. Sie blickte ungläubig an sich herunter. Nichts weiter passiert. Er kann mich mal ... Sie streichelte die raue Borke. Danke Baum. Danke Eiche. Als Kind waren die Bäume im Garten der Villa ihre Freunde gewesen. Sie hatte sie Personen ihrer Familie zugeordnet. Die Eiche – das war natürlich ihr Vater gewesen. Eine Eiche konnte nichts umwerfen. Elise blickte in den Himmel. Danke, Papa. Sie trat hinter dem Baum hervor. Breitbeinig beobachtete sie kühl das Flugzeug, das wieder wendete, das sich mit jaulendem Motor wieder auf sie ausrichtete. Sie hob die Arme und winkte mit ausgestreckten Armen. „Du kannst mich mal!“ Sie schrie ihren Zorn heraus. Nur schade, dass der Kerl da oben ihr höhnisches Gelächter nicht hören konnte. Sie zog ihr rosa Tuch vom Hals und schwenkte es wie eine Capote, das rote Tuch der Toreros, herausfordernd an ihrer Hüfte. Komm, hol es dir! Aber das kannst du nicht. Bist nur ein Blödmann mit einer blöden Maschine, der nur aus einem Flugzeug heraus den Mut hat, mit einer Frau zu kämpfen ... Sie sah das Mündungsfeuer des Maschinengewehres und machte den einen, den winzigen, aber entscheidenden

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Schritt zurück in den Schutz der Eiche. Wieder schüttelte sich der Baum unter dem Schwarm der Geschosse. Schieß nur, los, lass das Gewehr glühen! Und wenn du es zehnmal versuchst, du dämlicher, auf Frauen schießender Engländer, so wirst du mich nicht bekommen. Alles vergebens! Haaaa! So vergebens wie damals, als sie nach Wolfs Tod aus Trauer und Frust selbst wie wild in die Bäume geschossen hatte, um diesen herumsegelnden Milan zu erlegen, der ihr eigentlich gar nichts getan hatte. Nur, weil er sie an die Demütigungen erinnert hatte, die sie hatte ertragen müssen, in Berlin, bei Wangenheim. Sie hatte den Vogel verfehlt, und am Ende war er triumphierend noch eine Ehrenrunde über sie hinweggeflogen. Und sie hatte hilflos und doch irgendwie erleichtert geweint. Endlich geweint ... Heute war sie der Milan, und sie fragte sich, wie sich der Mann, der auf sie schoss, wohl fühlte. Auf Wehrlose zu schießen – machte es das Töten einfacher, je weiter man vom Opfer entfernt war? Bomben auf Dresden. Eine ganze Stadt auszulöschen, die wie ein dunkler anonymer Klumpen unter einem in der Nacht lag. Aber dass man die Opfer nicht sah, machte Untaten nicht weniger schlimm. Der Mensch, der Täter. Der Mensch, das Opfer. Immer wieder. Wehrlos. Nie wieder wollte sie wehrlos sein! Die Eiche schien zerplatzen zu wollen unter dem Sturm der Projektile, aber dann, im Sog der abfliegenden Maschine, schüttelte sie die zerfetzten Äste ab, ruckte sich zurecht und stand wieder da, als sei nichts geschehen. Heute war sie in der Rolle des Milans gewesen, dem alle Kugeln nichts hatten anhaben können. Und keine Spitfire der Welt konnte sie daran hindern, das zu tun, was sie sich vorgenommen hatte: ihren Mann zu befreien. Ein viertes Mal griff der Saukerl nicht an. Stattdessen kreiste er über ihr, wackelte sogar zum Gruß mit dem Leitwerk. Fast hätte sie zurückgewinkt, aber dann dachte sie da-

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ran, dass er ein elender Feigling in einer gottlosen Maschine war, ein hinterhältiger Rotzlöffel, der mit Maschinengewehren auf wehrlose Frauen schoss. Von wegen Gentleman! ENGLISCHER PISSER! Sie spuckte ganz undamenhaft auf den Boden, als hätte er nichts anderes verdient. Nur schade, dass er es nicht sehen konnte. Es ist noch Leben in mir, dachte sie beglückt, eine ganze Portion richtiges Leben ...

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