Eine Erzählung von Gerd Wolf Illustrationen: Alexander Henne Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar ISBN 978-3-95954-104-6 Alle Rechte vorbehalten Verlag Jörg Mitzkat Holzminden 2020 www.mitzkat.de
Phil & R i ta
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Es war einmal ein Schaf. Das hieß Phil und lebte im wilden Weserbergland. Nachdem es einige Zeit auf der Welt war, bemerkte es, dass etwas nicht stimmte: Es wollte eigentlich überhaupt kein Schaf sein. Es mochte nicht gerne Gras fressen und schon gar keine Kräuter. Es wollte nicht immer auf allen vier Beinen laufen und auch keine Luftsprünge machen wie die anderen Lämmer. Es war ihm zuwider „Bäh“- oder „Mäh“-Laute von sich zu geben. Es fand die weiße Wolle voll blöd, den weichen, krausigen Flaum, mit dem sein ganzer Körper umgeben war.
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Na gut, es sah aus wie ein Schaf und alle sagten: „Phil, du bist ein schönes Lamm!“. Aber trotzdem. Ein Teil von ihm fühlte sich so nicht richtig an. Phil nervte es den ganzen Tag hinter den anderen Schafen herzulaufen. Er hatte keinen Bock mit seinem Schwanz vor Freude hin und her zu wedeln. Er liebte es gar nicht, wenn das Leitschaf der Herde ihm dauernd sagte, was er tun und lassen sollte. Er war irgendwie nicht damit zufrieden, ein Schaf zu sein. Phil stand am liebsten in der einen Ecke vom Schafspferch, dem runden Viehgehege. Hier wurden die Schafe vom Hirten im Dorf vor allem nachts eingesperrt, damit die wilden Tiere wie Luchs und Wolf sie nicht anfallen konnten. Er stand dort ganz allein. Mit neugierigem Interesse schaute Phil dem Treiben der Insekten zu. Er hörte auf das Zirpen der Zikaden. Er beobachtete den brummenden Tanz der Hummeln über den Blüten. Ihm imponierte die nervige Zudringlichkeit der Bremsen. Es interessierte ihn die Geschäftigkeit der Fruchtfliegen. Er bewunderte den leichten Flatterflug der bunten Schmetterlinge.
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„Ach, wenn ich doch einer von ihnen wäre!“ seufzte er dann sehnsüchtig. „Was gäbe ich dafür, fliegen zu können. Dann könnte ich die Welt sehen.“ Aber immer, wenn er zu fliegen versuchte – natürlich nur heimlich hinter dem Busch, damit es keiner von der Herde bemerkte – landete er unsanft auf dem Boden, im Dreck und in den Zweigen. Dann war er traurig. Seine Beine taten ihm weh und der Kopf auch. Manchmal weinte er. Doch nach einer Weile schüttelte er sich und stand wieder auf. Er überlegte, was er morgen anders machen könnte. Denn Phil wollte unbedingt, dass es mit dem Fliegen klappte. Also versuchte es mit einem ganz langen Anlauf. Er baute sich dafür sogar eine Rampe aus Reisig und Buchenblättern. Aber außer dass er wie ein Kartoffelsack von der Rampe plumpste und sich beim zweiten Mal böse den Fuß verstauchte, passierte gar nichts. Von Fliegen konnte keine Rede sein.
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Er probierte es mit den Vorderbeinen: er breitete sie aus wie Flügel. Und mit den Hinterbeinen: er nutzte sie wie Propeller. Nichts. Er versuchte es genau umgekehrt – auch nichts. Er hob nicht ab von der Erde. Er begann die Ohren hoch und herunter zu klappen und den Schwanz ganz schnell zu drehen. Aber auch so wurde kein Hubschrauber aus ihm. Einmal hatte eine Horde anderer Lämmer ihn dabei erwischt, wie er intensiv übte. Und alle hatten sich schrecklich lustig über ihn gemacht. „Du Spinner“, riefen sie. “Das schaffst du nie.“ Es war zum Verzweifeln.
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Abends war Phil ganz fertig nach all der Anstrengung. Dann seufzte er: “Ach, wenn ich nur fliegen könnte“ und schlief ein. Oft träumte er, er würde leicht wie eine Feder im Wind durch die Sommernacht tanzen. Die Luft war schön warm und würde ihn tragen. Endlos könnte er über das Lichtermeer aus Städten und Sternen schweben. Das war so schön, dass er davon jedes Mal eine Gänsehaut bekam, im Schlaf. Er erinnerte sich nicht, wie der Traum angefangen hatte. Er träumte nie das Ende. Im Traum war das alles so einfach…
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