Als Kriegsgefangener und 'Displaced Person' 1945 in Hameln

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Als Kriegsgefangener und „Displaced Person“ 1945 in Hameln Das Tagebuch des Slowaken Vladimír Varinský


Das Buchprojekt wurde mit Druckkostenuschüssen unterstützt von: Stadtarchiv Hameln Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Hameln e.V. Landschaftsverband Hameln-Pyrmont

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-95954-001-8

Alle Rechte vorbehalten. Verlag Jörg Mitzkat Holzminden, 2015 www.mitzkat.de

Titel des slowakischen Originals: Vladimir Varinsky, Peso z nemeckeho Hamelnu do slovenskej Kremnice. Zápisky vojnového zajatca, hrsg. vom Muzeum Slovenskeho narodneho povstania, Banska Bystrica 2010 Übersetzung: Edita Varinská, Düsseldorf Gestaltung: Verlag Jörg Mitzkat


Als Kriegsgefangener und „Displaced Person“ 1945 in Hameln Das Tagebuch des Slowaken Vladimír Varinský Vom slowakischen Nationalaufstand im August 1944 bis zur Rückkehr in die Heimat im Juni 1945

Herausgegeben von Bernhard Gelderblom, Hameln

Verlag Jörg Mitzkat Holzminden 2015


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Inhaltsverzeichnis Vorwort des Herausgebers Bernhard Gelderblom

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Vorwort von Dr. Mičev, 13 Direktor des Museums des Slowakischen Nationalaufstandes in Banská Bystrica, Slowakei Vorwort von Edita Varinská

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Lebenslauf von Vladimír Varinský

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Die Eintragungen im Tagebuch

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August 1944 September 1944 Oktober 1944 November 1944 Dezember 1944 Januar 1945 Februar 1945 März 1945 April 1945 Mai 1945 Juni 1945

Der slowakische Nationalaufstand Mobilmachung – Meldung zum Militär Gefangennahme durch die Deutschen Transport nach Deutschland ins Kriegsgefangenenlager Fallingbostel In Fallingbostel Über Bergen-Belsen nach Hameln Arbeit bei der Waggonbaufirma Kaminski in Hameln Arbeit bei Kaminski – schwere Luftangriffe Marsch nach Osten – Befreiung Feier 1. Mai – Leben als ‚Displaced Person‘ – langsame Erholung – Warten und Aufbruch Heimkehr

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Literaturverzeichnis 149 Archive 151

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Edita Varinská bei ihrem Besuch in Hameln am 30. März 2005 vor der Fabrik Kaminski Quelle: Museum des Slowakischen Nationalaufstandes, Banská Bystrica, Slowakei


Vorwort des Herausgebers Bernhard Gelderblom zur deutschen Ausgabe

Als Edita Varinská im Jahre 2005 auf den Spuren ihres Vaters Hameln besuchte, überließ sie eine Kopie der Aufzeichnungen ihres Vaters dem Stadtarchiv Hameln. Nachdem mich die Leiterin des Stadtarchivs, Frau Silke Schulte, auf dieses Material aufmerksam gemacht hatte, nahm ich Kontakt zu Frau Varinská auf. Meiner Bitte, die Erinnerungen ihres Vaters ins Deutsche zu übersetzen, kam sie gern nach. Als nach mehreren Monaten die Arbeit an der Übersetzung getan war, war auch die Idee für eine Buchpublikation da, zusätzlich angetrieben durch die Tatsache, dass die Befreiung von Vladimír Varinský aus der Kriegsgefangenschaft, die im Zentrum des Buches steht, sich im Jahre 2015 zum 70sten Male jährt. Es war bald klar, welch Schatz mit dem Tagebuch für Hameln zu heben war. Gut vier Monate hielt sich Vladimír Varinský in Hameln auf, davon zehn Wochen, von Januar bis Ostern 1945, als Kriegsgefangener im Zustand der Unfreiheit, und sechs Wochen, von Ostern bis Pfingsten, als ‚Displaced Person‘ im Zustand der Befreiung. Die Aufzeichnungen aus dieser Zeit stellen eine wertvolle Ergänzung des lokalen historischen Wissens über die letzten Monate des Krieges in Hameln und die ersten Wochen nach der Befreiung aus der Perspektive eines Kriegsgefangenen dar. Es sind erstaunlich genaue Aufzeichnungen, wenn man beispielsweise nur nimmt, was Vladimír Varinský über die alliierten Bombenangriffe auf Hameln festhielt. Obwohl die Bewegungsfreiheit der Kriegsgefangenen äußerst begrenzt war, berichtete er Faktum und Ausmaß der

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zahlreichen Angriffe, die Hameln in den letzten Kriegswochen trafen, bis in die Einzelheiten genau. Das darf schon deswegen nicht verwundern, als Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter jedes Mal um ihr Leben bangen mussten, weil sie die gegen Luftangriffe kaum geschützt waren, und anschließend zu den nicht ungefährlichen Aufräumarbeiten herangezogen wurden. Vladimír Varinský war am 19. Januar 1945 mit dem aus 120 slowakischen Kriegsgefangenen bestehenden Arbeitskommando 8009 aus dem Stalag XI B Fallingbostel nach Hameln zur Arbeit bei der Waggonbaufirma Kaminski geschickt worden. Allein die Fahrt in ungeheizten Zügen war eine Tortur. „Für 60 km haben wir 30 Stunden gebraucht.“

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Die Unterbringungsbedingungen bei der Waggonbaufirma Kaminski waren so schlecht, dass darüber sogar der Hamelner Stadtbaurat Bernhard gegenüber der Firma Klage führte. In einem Schreiben vom 23. Februar 1944 an Kaminski beklagte der Stadtbaurat „den gesundheitlichen Zustand in Ihrem Barackenlager“ und betonte, es sei „unmöglich, dass die Arbeitskräfte, die in ihren Baracken untergebracht sind, diesen Zustand ohne Gefährdung der Gesundheit ertragen können“.1 Wir erfahren aus dem Tagebuch zahlreiche neue Fakten. Am 4. April 1945 wurden die ausländischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter der Firma Kaminski gegen ihren Willen nach Osten auf Marsch gesetzt – drei Tage, bevor die amerikanischen Truppen sie in Hameln hätten befreien können. Von diesem Marsch wussten wir nur vom Hörensagen. Jetzt erfahren wir den genauen Verlauf und zahlreiche Einzelheiten. Das Leben dieser Gefangenen, die nach dem Willen des Regimes auf keinen Fall in die Hände der Befreier fallen sollten, stand

1 Stadtarchiv Hameln, Best. 1, Nr. 3599.


in diesen wenigen Tagen und auch sonst auf Messers Schneide. Vladimír Varinský schildert uns auch, wie Durchhaltewillen und „Moral“ des deutschen Wachpersonals allmählich ins Wanken gerieten, bis dieses schließlich angesichts des Nahens der Alliierten Waffen und Ausweise wegwarf und sich „in die Büsche schlug“. Das große Glück, ja, die Seligkeit der Befreiung war für Vladimír Varinský lange dadurch überschattet, dass er nicht nur völlig unterernährt, sondern von Erfrierungen und Geschwüren schwer gezeichnet war. Bei der Umstellung seiner Ernährung ließ er große Vorsicht walten. Seine Geschwüre und Erfrierungen heilten nur allmählich ab; an manchen Folgen litt er ein Leben lang. Fast nichts wussten wir bisher über das Leben, das die befreiten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in Hameln führten. Die Amerikaner konzentrierten sie, nachdem die ersten „wilden Tage“ vorbei waren, in den beiden großen Kasernenkomplexen Hamelns, der Scharnhorstund der Linsingen-Kaserne. Zeitweise sollen dort 15.000 „Displaced Persons“ (DPs) aus der Stadt und dem Landkreis gelebt haben. Vladimír Varinský hält die Einzelheiten des Lagerlebens fest, die Probleme mit Essen und Unterbringung, die Sport-Wettkämpfe zwischen den Nationen, die Schwierigkeiten beim Beschaffen von Nachrichten aus der Heimat und die Feier zum 1. Mai in der damals noch so genannten Hindenburg-Kampfbahn, dort, wo heute der Bürgergarten Spaziergänger einlädt. Von dieser großen Feier waren die Deutschen ausgeschlossen. Es war für die Ausländer die Zeit der mühseligen und schrittweisen Annäherung an ein menschenwürdiges Leben. Kontakte zu Deutschen waren selten und wurden von beiden Seiten eher gemieden. Mitleid

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mit dem Unglück der Deutschen fühlte Vladimír Varinský verständlicherweise nicht. Dafür genoss er die Solidarität der von den Deutschen so lange unterdrückten Nationen, besonders der slawischen „Brüder“. Deutsche und Ausländer lebten in getrennten Welten. Die Hamelner haben vor allem die Plünderungen der Displaced Persons in Erinnerung und vergessen dabei, dass sich auch viele Deutsche daran beteiligt haben.

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Die Zeit vom 7. April, der Befreiung in Hameln, bis zum 8. Mai, der Kapitulation des Deutschen Reiches, war für Vladimír Varinský eine Phase größter Spannung. Zunehmend weiter von Hameln entfernt ging der Krieg noch immer weiter, war die Gefahr des Nationalsozialismus noch nicht gebannt. Die ehemaligen Kriegsgefangenen hingen an den mühsam beschafften Radios und verfolgten über die Nachrichten der internationalen Sender das Geschehen an den Fronten. Zugleich erlebten die Männer den beginnenden Frühling und das Erwachen der Natur nach den zurückliegenden schlimmen Monaten wie ein Wunder. Seit dem 8. Mai 1945 rückten neue Schwierigkeiten in den Vordergrund: Die Rückkehr in die weit entfernte slowakische Heimat. Wir machen uns heute nicht klar, welches logistische Problem die Repatriierung der von den Nationalsozialisten nach Deutschland verschleppten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in ihre Heimatländer darstellte. Die Zahl der DPs wird für Deutschland auf bis zu 12 Millionen geschätzt. Für Hameln, wohin die Alliierten die Ausländer auch aus den umliegenden Orten zusammenholten, dürfen wir von 15.000 Personen ausgehen. Es folgte die Zeit des Wartens, der Langeweile und der zunehmenden Ungeduld. Zusammen mit einer kleinen Gruppe slowakischer Lands-


leute suchte Vladimír Varinský intensiv nach Möglichkeiten, die Rückkehr zu beschleunigen. Weil sich das als unmöglich erwies, beschlossen die Männer schließlich, sich zu Fuß in die slowakische Heimat aufzumachen. Nach 22 Tagen – am 20. Juni – war Vladimír Varinský glücklich wieder Zuhause. Die Aufzeichnungen beginnen im stichwortartig, und sie enden auch so. Die Umstände ließen in den ersten Wochen und ebenso am Ende nur sehr knappe Notizen zu. Nur für die Zeit in Hameln entwickeln die Aufzeichnungen fast epische Breite und eine große Detailliertheit. Aber auch da sind sie schmucklos, nüchtern, drücken kaum Gefühle aus, lassen das Leid, das dem Verfasser erfuhr, kaum erkennen. Über das, was Vladimír Varinský die innere Kraft gab, alle Widrigkeiten der monatelangen Gefangenschaft in Fallingbostel und Hameln zu überleben, berichten die beiden Vorworte von Dr. Mičev und von Vladimír Varinskýs Tochter Edita Varinská. Die deutsche Ausgabe ist nicht eine bloße Übersetzung des slowakischen Originals. Der Herausgeber hat zahlreiche Anmerkungen hinzugefügt, welche die Zeit in Hameln besser verständlich machen sollen. Ebenso hat er das Bildmaterial bedeutend erweitert. Sein Dank geht an Editha Varinská für die Übersetzung ins Deutsche. Die Arbeit erfolgte in einer angenehmen Kooperation mit dem Herausgeber, der sein Wissen um die lokalen historischen Umstände einbringen konnte. Für die Überlassung der Rechte an der slowakischen Originalausgabe ist Dr. Mičev, Direktor des Museums des Slowakischen Nationalaufstandes in Banská Bystrica, zu danken.

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Rolf Keller von der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten hat Hinweise auf einzelne Bilder und Anmerkungen zu den Stationen Fallingbostel und Bergen-Belsen beigesteuert. Mario Keller-Holte hat Korrektur gelesen und den Herausgeber beraten. Die Finanzierung des Buches haben das Stadtarchiv Hameln, der Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Hameln e.V. und der Landschaftsverband Hameln-Pyrmont ermöglicht. Auch ihnen sei gedankt.

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Vorwort von Dr. Mičev, Direktor des Museums des Slowakischen Nationalaufstandes in Banská Bystrica, Slowakei, zur 2010 erschienenen slowakischen Originalausgabe

Mit dem Buch „Zu Fuß vom deutschen Hameln in das slowakische Kremnica“ gelangen ungewöhnliche Aufzeichnungen in die Hände des Lesers. Geschrieben hat sie Vladimír Varinský, Lehrer, Ehemann und Vater einer einjährigen Tochter, der nach der Niederschlagung des slowakischen Nationalaufstandes2 im September 1944 als Soldat der ersten tschechoslowakischen Armee in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet, in der er mehr als ein halbes Jahr zubringen musste. Vom ersten Augenblick seiner Gefangenschaft an führte Vladimír Tagebuch. Die Eintragungen machte er mit gut gespitztem Bleistift in einen Taschenkalender und in ein Heftchen, in Schönschrift, die so klein war, dass man sie nur mit Lupe lesen kann. Es handelt sich um ein kostbares Schriftdokument, dessen Glaubwürdigkeit umso größer ist, als die Eintragungen unter den unvorstellbar schweren Bedingungen der Kriegsgefangenschaft durch einen einfachen Soldaten entstanden. Der Schreiber hat keinen Tag ausgelassen. Alles, was er erlebte und in den Kriegsgefangenenlagern beobachtete, hielt er absolut sachlich, ohne zu klagen und ohne jedes Selbstmitleid fest. Trotz des ständigen Hungers, der von allen Leiden die Gefangenen am stärksten quälte und Ursache lebensbedrohlicher Unterernährung sowie schmerzhafter Geschwüre und Schwellungen wurde, trotz der Kälte, die zu Erfrierungen, Vereiterungen und zum Absterben von

2 Der Beginn des slowakischen Nationalaufstands wird auf den 29. August 1944 datiert.

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Gliedern führte, trotz der unmenschlichen Behandlung der Gefangenen durch die Wachmannschaften der Lager – der Kriegsgefangene Vladimír Varinský hat seine Würde nicht einen Moment verloren. Er behielt immer die Hoffnung auf das baldige Ende des Krieges und die Rückkehr zu seiner Familie. Er verlor nie sein Interesse für die Geschehnisse an den Fronten. Mit Hilfe verschiedener Informationen, zu denen er sich Zugang verschaffte, verfolgte er die politische Entwicklung in der Welt und hielt alles Wichtige in seinen Notizen fest.

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Die Kraft zum Leben gaben ihm seine Liebe zu seiner jungen Familie, die er von einem Tag auf den anderen hatte verlassen müssen, sein Glaube, der starke Zusammenhalt der Gefangenen und nicht zuletzt auch Bücher. Bücher gab es im Lager nicht viele, aber wenn sie ihm in die Hände fielen, hat er sie mehrmals gelesen, wichtige Gedanken in sein Tagebuch notiert und sie gleichzeitig auswendig gelernt. Sie waren ihm in den schweren Momenten Balsam für seine geschundene Seele und seinen geplagten Körper. Obwohl Vladimír Varinský sein Tagebuch nur für seinen persönlichen Bedarf geschrieben hat, bleiben und sind seine Eintragungen ein wertvolles historisches Dokument. Sie sind ein wertvolles Zeitzeugnis aus der Sicht eines Opfers, eines Kriegsgefangenen. Vladimír Varinskýs Tagebuch beginnt im September 1944, in der Situation der allgemeinen Mobilmachung, als der Autor sich in der Slowakei zur Armee gemeldet hatte. Seine Eintragungen besitzen eine bewundernswerte Genauigkeit. Wir erfahren von langen Tag- und Nachtmärschen in den Wäldern um Banská Bystrica3, die schließlich am 30. Oktober 1944 bei Moštenica mit der Gefangennahme des Autors durch deutsche Soldaten und seine Verschleppung in ein Kriegsgefangenenlager nach Deutschland endeten.

3 Mittelslowakei, deutsch: Neusohl.


Die Gefangenen wurden am 5. November 1944 auf Güterwaggons verladen, die sie erst am Abend des 7. November nach der Ankunft im Kriegsgefangenenlager Stalag XI B Fallingbostel verlassen durften. Dort wurden sie registriert. Vladimír Varinský bekam die Gefangenennummer 187697. Untergebracht wurden sie in einer Holzbaracke, wo sich 200 Gefangene aus verschiedenen Nationen drängten. Es herrschten unvorstellbare hygienische Verhältnisse. Morgens und abends mussten die Männer antreten und wurden gezählt. Trockene Verpflegung erhielten die Gefangenen einmal am Tag; sie bestand aus Brot und einigen Gramm Margarine und Marmelade. Einmal am Tage bekamen sie eine wässrige Suppe aus Rüben. Die Gefangenen wurden zu schweren körperlichen Arbeiten ins Gelände geschickt. Sie mussten Bunker im Wald bauen, Bäume fällen und zersägen sowie Baumwurzeln aus dem Boden graben. Bald zeigten sich erste Anzeichen von Unterernährung. Gliedmaßen starben in der Kälte ab. Vladimír Varinskýs Leben wurde wahrscheinlich dadurch gerettet, dass er für kurze Zeit serbischen Kriegsgefangenen zugewiesen wurde, die Angora-Kaninchen4 hielten und aus ihrer Wolle Kammgarn herstellten. Am 5. Januar 1945 wurde Vladimír Varinský mit seinem Arbeitskommando für zehn Tage ins Kriegsgefangenenlager Bergen Belsen verlegt. Anschließend wurden sie nach Hameln transportiert, wo das Arbeitskommando am 19. Januar 1945 eintraf. 120 Gefangene mussten dort in kleineren Baracken hausen. In Hameln wurden sie zur Arbeit in der Fabrik Kaminski eingeteilt. Es handelte sich um eine Waggonfabrik, die seit Kriegsbeginn 1939

4 S.u. die Aufzeichnung zum 23. Dezember 1944.

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auch Flugzeugmotoren reparierte. Das Renaissancestädtchen Hameln, das am Ufer der Weser liegt, wurde von den westlichen Verbündeten wiederholt bombardiert. Die Bomben gefährdeten auch das Leben der Kriegsgefangenen. Nach jedem Bombardement mussten sie den Schutt der zerstörten Häuser abräumen.

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Obwohl die Tagebucheintragungen knapp und sachlich gehalten sind, kann man aus ihnen viel über die Situation der Gefangenen entnehmen. Sie schildern die ungenügende Zuteilung von Brot und der übrigen Nahrung. Der Hunger war so groß, dass Vladimír Varinský seine kostbare Omega-Uhr für 26 kg Brot verkaufte, um damit seinen und den Hunger seiner Mitgefangenen zu mildern. Wir erfahren, dass die Gefangenen ihren Hunger dadurch zu vergessen versuchten, dass sie untereinander leckere Rezepte tauschten. Vladimír Varinský hat all diese Rezepte sorgfältig notiert. Seine Aufzeichnungen zeugen auch vom gelegentlichen Diebstahl durch einzelne Gefangene. Am 4. April 1945, als die Befreiung durch die amerikanische Armee ganz nahe war, bekamen die Gefangenen den unsinnigen Befehl, aus Hameln nach Osten in Richtung Hildesheim zu ziehen. Sie sollten nicht in die Hände der Alliierten fallen. Drei Tage – ohne Essen und Schlaf – wurden Slowaken, Tschechen, Franzosen, Italiener und Serben nach Osten getrieben. Nicht alle haben diesen Marsch überlebt. Am 6. April setzten sich die deutschen Wachen plötzlich und unerwartet ab. Endlich erlebten die Gefangenen die ersehnte Befreiung durch die Amerikaner. Vladimír Varinský hatte davon schon Tage vorher geträumt. Er war neugierig, wie der erste Amerikaner aussehen würde, und wie es sein würde, endlich frei zu sein. Obwohl die Gefangenen nun frei waren, war ihr Transport in die Heimat nicht möglich. Die Situation in Hameln, wohin die Gefangenen zurückkehrten, normalisierte sich nur langsam. Für Tschechen, Slowa-


ken und Jugoslawen wurde ein Informationsbüro eingerichtet, in dem alle Kriegsgefangenen registriert wurden. Dort bekamen sie Ausweise und Lebensmittelkarten. Man brachte sie in den städtischen Kasernen unter, wo auf Ordnung und Sauberkeit geachtet wurde. Vladimír Varinský tauschte seine völlig abgenutzte Uniform gegen die eines gefallenen amerikanischen Soldaten ein. Man behandelte seine Geschwüre und Erfrierungen. Sein unterernährter und geschwächter Körper brauchte dringend Erholung. Langsam stellte sich sein Organismus auf normale Ernährung um. Der Zugang zu Büchern und vor allem zu aktuellen Informationen wurde leichter. Nachrichten in ihrer slowakischen Muttersprache konnten die ehemaligen Gefangenen über den Moskauer und Londoner Rundfunk hören. Am Mittwoch, dem 9. Mai 1945, feierten alle Gefangenen in Hameln das Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach unendlich langen Tagen des Wartens – ein organisierter Transport in die Heimat war aus technischen Gründen noch immer nicht möglich – war Vladimírs Sehnsucht so groß, dass er sich zusammen mit weiteren vier Slowaken entschloss, am 30. Mai morgens früh zu Fuß zur langen Reise in die Slowakei aufzubrechen. Mit einem Atlas, den er in einer Schule gefunden hatte, hatte er eine Route ausgearbeitet. Auch während des Marsches machte er sich Notizen. Nach neun Monaten Trennung von seiner Familie kehrte Vladimír Varinský nach Hause zurück. Spät abends am 20. Juni 1945 betrat er seine Wohnung in Kremnica. Er öffnete die Haustür mit seinem eigenen Schlüssel, den er die ganze Zeit der Gefangenschaft sorgfältig aufbewahrt hatte. Endlich, nach einer Ewigkeit, konnte er seine junge Frau, seine Erstgeborene und auch die zweite Tochter, die in seiner Abwesenheit am 4. April 1945 geboren worden war, umarmen.

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Vorwort von Edita Varinská, der Tochter von Vladimír Varinský Meine ersten 25 Jahre habe ich bei meinen Eltern in der Slowakei verbracht. Selbstverständlich wussten alle Mitglieder der Familie von Vaters Gefangenschaft, und gelegentlich sprachen wir auch darüber. Aber erst viel später, als ich selbst einen Schicksalsschlag erlitten hatte und genügend gereift war, um mich in andere Personen hineinzuversetzen, begann ich, mich auch mit dem zu beschäftigen, was meinem Vater geschehen war. Ich habe mich gefragt, wie es möglich war, dass mein guter Vater diese Zeiten nicht nur überlebt hat, sondern nach Hause zurückkehrte, ohne bleibende physische und psychische Schäden zu erleiden. Ich kannte viele Fälle, wo ein Mensch ähnlich grausame Umstände – ob im Krieg, in einem Lager oder im Konzentrationslager – überlebt hat, nach der Befreiung aber nie mehr sein Trauma überwinden konnte, sein Leiden auf die anderen Familienmitglieder übertrug und zum Urheber mancher Tragödie wurde. Dass mein Vater lebendig und in gewissem Sinne auch gesund nach Hause zurückkehrte, hatte er vor allem seiner übergroßen Liebe zu seiner jungen Familie, also zu seiner Ehefrau und zu mir, seiner erstgeborenen Tochter, zu verdanken. Mein Vater sehnte sich unendlich danach, uns in seine Arme zu schließen, mit uns zusammen zu sein und mit uns die Zukunft zu gestalten. Weitere Kraft boten ihm sein tiefer Glaube und seine Liebe und Ehrfurcht gegenüber dem Leben und der menschlichen Zivilisation. Deswegen konnte er die körperlichen Strapazen – Hunger, Kälte und Schmerzen – ertragen, deswegen zerbrach er nicht an der unmenschlichen Behandlung; deswegen zögerte er nicht, sich zu Fuß auf den

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langen Weg nach Hause zu begeben. Er kehrte zurück mit einem zeitweilig gebrochenen Körper, aber ungebrochen an Geist und Seele. Die Haustür öffnete er mit seinem eigenen Schlüssel, den er die ganze Zeit sorgfältig aufbewahrt hatte. Während die Generation unserer Großeltern ihre Erlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg voller Begeisterung zu erzählen pflegte, war die Generation unserer Eltern mit ihren Mitteilungen eher zurückhaltend. So auch mein Vater. Wenn wir ihn zu irgendeinem Detail seiner Gefangenschaft fragten, hat er uns bereitwillig geantwortet, dies aber immer knapp und sachlich gemacht. Gegenüber dem, was er erlebt hatte, blieb er neutral und hat nie die Informationen mit seinem persönlichen Standpunkt vermischt. Auch hat er die Unterschiede zwischen Opfern und Tätern nicht dramatisiert. 20 |

Ich erinnere mich, wie er davon erzählte, dass sie Tage und Nächte bei Kälte, Regen und Hunger im Lager zum Rapport stehen mussten. Täglich konnten wir an seinem Hinterkopf die große Narbe sehen, die von einem ausgeheilten Geschwür zurückgeblieben war, sowie seine von Erfrierungen deformierten Fußgelenke – es waren die nicht weg zu retuschierenden Zeichen seiner schrecklichen Zeit in den Gefangenenlagern. Irgendwo im Sekretär seines Arbeitszimmers liegen ein Messer und ein im Jahre 1913 herausgegebenes Gesangbuch der evangelischen Landeskirche Hannover – Gegenstände, die der Vater beim Räumen der Ruinen nach den Bombardements in Hameln gefunden hatte und die er als einziges Andenken an seine Gefangenschaft mitgebracht hat. Ihr Besitz hätte ihn sein Leben kosten können, da es beim Aufräumen nach Bombenangriffen bei Todesstrafe verboten war, irgendeinen Gegenstand an sich zu nehmen. Auf das Messer lies er sich später seine Gefangenennummer einritzen.


Über einen anderen „Diebstahl“, der ihn ebenfalls das Leben hätte kosten können, wussten wir nur aus seinen Erzählungen. Der größte Feind der Gefangenen war der Hunger. Eines Tages, beim Aufräumen der Ruinen, fand Vater ein Säckchen mit Mehl. Die Vorstellung gekochter Spätzle war stärker als die Furcht vor der Todesstrafe. Mein Vater – abgemagert auf Haut und Knochen – formte aus dem Säckchen einen „Gürtel“, der akkurat in das Loch zwischen Rippen und Hüfte passte. Er hatte Glück – der Wachmann, der die Gefangenen durch Abtasten kontrollierte, hat das Mehl nicht gefunden. Die Gefangenen genossen am Abend eine „Leckerei“ – was machte es da schon aus, dass die Spätzle ohne Fett gekocht waren. Zu Hause haben wir noch lange ein anderes Andenken aus seiner Gefangenschaft aufbewahrt, ja getragen, einen amerikanischen Pullover und eine Strickmütze. Als die Gefangenen am 6. April 1945 durch die Amerikaner befreit wurden, bestand Vaters Bekleidung eigentlich nur aus Lumpen. Die Amerikaner gaben ihm neue Kleidung – die Uniform eines toten Kameraden. In ihren Taschen waren sogar Dokumente, Fotos und ein Teil der Korrespondenz des Gefallenen zurückgeblieben. Meine Eltern spielten noch in den 1950er Jahren mit dem Gedanken, die Adresse der Angehörigen des amerikanischen Soldaten zu suchen und ihnen diese letzten Erinnerungsstücke zuzuschicken. Schließlich haben sie es nicht getan. Es war die Zeit des Stalinismus; der Kalte Krieg wütete, und ein Kontakt mit dem Westen wäre höchst verdächtig und gefährlich gewesen. Später geriet die gute Absicht in Vergessenheit. Aber den Pullover haben alle Mitglieder der Familie noch lange getragen. Er war von ausgezeichneter Qualität und im Grunde unverwüstlich. Er widerstand Regen und Kälte und hatte einen zeitlosen Schnitt, der immer modisch blieb.

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Mein Vater war ein extrem bescheidener und tief gläubiger Mensch, stets zuversichtlich und sehr ordentlich. Sein größtes Hobby waren Bücher. Er kaufte alles, was damals in slowakischen Verlagen erschien und las es mit großem Vergnügen. Er hatte nicht viel Freizeit, aber wenn er sie fand, setzte er sich mit gespitztem Bleistift in der Hand an den Tisch, las aufmerksam und unterstrich das Wichtigste (auch in der Zeitung) oder notierte es in ein kleines Heft.

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Mein Vater war auch technisch begabt. In unserem Haushalt hat er fast alles selbst gemacht oder repariert. Für uns Kinder hat er immer die Möbel gebaut – unserem Alter angepasst. Er war sehr fürsorglich und hat nie die elterlichen Pflichten in „mütterliche“ und „väterliche“ unterteilt. Seit unseren ersten Tagen hat er Windeln gewechselt, uns aufs Nachttöpfchen gesetzt, uns später in die Schule begleitet und die Schulsachen gekauft. Während unsere Mutter uns die Kleider nähte, war er es, der uns Schuhe kaufte. Mein Vater war stets freundlich und gut gelaunt. Wir Kinder durften uns jederzeit an ihn wenden, wenn wir es brauchten; er reagierte immer bereitwillig, ließ uns nie fühlen, wenn wir ihn eigentlich in einer wichtigen Arbeit störten. In Prešov, einer Renaissancestadt in der Ostslowakei, wohnten wir in der ehemaligen Villa des Direktors der technischen Fachschule. Sie war von der Schule, an der mein Vater das Fach Holztechnologie unterrichtete, nur durch ein Gartentürchen getrennt. In dem Gebäude befand sich damals auch die achtjährige Hauptschule, an der unsere Mutter unterrichtete und die wir Kinder besuchten. So haben wir uns nie allein gefühlt, weil wir wussten, dass wir, wenn nötig, die Eltern finden konnten (ein paar Mal war es so, als wir den Hausschlüssel suchten).


Kollegium und Schülerschaft der Staatsfachschule für Taubstumme in Kremnica (Vladimír Varinský vorn, dritter von rechts, fünfte von rechts Irena Varinská), 1944 Das Foto entstand, kurz bevor sich Vladimír Varinský zur tschechoslowakischen Armee meldete. Quelle: Museum des Slowakischen Nationalaufstandes, Banská Bystrica, Slowakei

Die Ehe meiner Eltern war harmonisch und sehr schön. Sie ist mir zum Vorbild geworden. Aus ihrem Mund kam nie ein überlautes oder grobes Wort. Sie besaßen ein ungewöhnliches pädagogisches Talent. Ihr Hauptprinzip war Liebe und das eigene Vorbild. Sie haben uns zur Liebe zur Literatur, Kunst und allem Schönen geführt und selbstverständlich auch zur engen Bindung an die Natur. Unsere „Freiheit“ hatte aber auch Grenzen; wir hatten unsere Pflichten – aber dies stets ohne Befehle oder Strafen. Ihre beruflichen Pflichten haben meine Eltern immer mit großer Sorgfalt erfüllt. Beide wurden von ihren Schülern verehrt und geliebt. Zu Hause bewahrten wir lange eine riesengroße Vase aus Pozdišovce,

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einem bekannten Ort der Volkskeramik, auf, welche die Abiturienten ihrem Klassenlehrer – also meinem Vater – mit einer schönen Widmung geschenkt hatten.

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Mein Vater war ein sehr stiller, friedfertiger und bescheidener Mensch. Nie redete er von jemandem schlecht, gegenüber niemandem hegte er gehässige Gedanken. Das Schicksal wollte es, dass ich mich in einen Deutschen verliebte und nach Deutschland heiratete, in das Land, in dem mein Vater gegen seinen Willen lange und schwere Monate seiner Kriegsgefangenschaft verbrachte. Nie hat er mir von meiner Beziehung abgeraten, nie hat er bitter auf meine Entscheidung reagiert, meinem Mann nach Deutschland zu folgen. Seinen deutschen Schwiegersohn hat er wie einen eigenen Sohn in seine väterlichen Arme geschlossen. Bis zu seinem Tod hat er sich über seine drei Enkelinnen und seine drei Enkel gefreut. Einer von ihnen ist mein Sohn, der zwar in Deutschland geboren wurde, aber perfekt slowakisch spricht und so zum Symbol einer ungewöhnlichen Genugtuung im Schicksal eines ehemaligen Kriegsgefangenen wurde. Mein unendlicher Dank gebührt Herrn Bernhard Gelderblom, ohne dessen Initiative und Hilfe die Übersetzung ins Deutsche und das Erscheinen des Buches nie verwirklicht worden wäre. Mein Dank gebührt auch dem Museum des Slowakischen Nationalaufstandes in Banská Bystrica (Slowakei) für die liebenswürdige Überlassung des fotografischen Materials. Und nicht zuletzt möchte ich meinen Dank Herrn Thomas Herbrich aussprechen für seine große fachliche Hilfe, vor allem bei der Bearbeitung des Fotomaterials.


Lebenslauf von Vladimír Varinský, geschrieben von seiner Tochter Edita

Geboren wurde Vladimír Varinský am 1. Oktober 1912 in Liptovský Trnovec als zweites Kind der Familie des Tischlermeisters Július Varinský und der Bäuerin Žofia Varinská, geb. Borsíková. Nach dem Absolvieren der technischen Fachschule hat er zuerst bei seinem Vater gearbeitet, dann in den Werkstätten der Eisenbahn in Vrútky, einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt in der Mittelslowakei. Im Jahr 1939 wechselte er auf die Staatsfachschule für Taubstumme in Kremnitz, wo er als Lehrer die Werkstatt für Möbelbau übernahm. An der Schule hat er seine spätere Frau Irena, geb. Višňovská, kennengelernt. Sie arbeitete als seine Kollegin in der Werkstatt für Damenbekleidung. Im Jahre 1941 haben sie geheiratet und im April 1943 bekamen sie ihr erstes Kind – die Tochter Edita. Nach der Mobilmachung am 6. September 1944 meldete sich Vladimír Varinský in Kremnitz zur tschechoslowakischen Armee. Damit schloss er sich dem Slowakischen Nationalaufstand an. Wie viele Aufständische geriet er Ende Oktober 1944 in deutsche Gefangenschaft. Er wurde auf einen Güterzug geladen und gelangte nach einer mehrtägigen, sehr beschwerlichen Reise nach Deutschland, wo er im Kriegsgefangenenlager (Stalag) Fallingbostel unter der persönlichen Nummer 187697 geführt wurde. Später wurde er in ein Lager in Hameln verlegt. Trotz der widrigen Bedingungen hat er die Befreiung am 6. April 1945 erlebt.

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Liptovský Trnovec, der Ort, in dem Vladimír am 1. Oktober 1912 geboren wurde. Quelle: Museum des Slowakischen Nationalaufstandes, Banská Bystrica, Slowakei


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