Leseprobe Richard Bisig: Die Spitalschliesser (Roman)

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Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2019 allerArt im Versus Verlag AG, Zürich Weitere Informationen zu Büchern aus dem Versus Verlag unter www.versus.ch Umschlagbild: Thomas Woodtli · Witterswil Satz und Herstellung: allerArt · Zürich Druck: CPI books GmbH · Leck Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-909066-15-5


Die Personen Armin Blickensdorfer Betriebswirtschaftler und Verwaltungsdirektor am Regionalspital An der Furt, Mitglied der Spitalleitung und beratendes Mitglied der Spitalkommission und der Delegiertenversammlung des Spitalzweckverbandes, Initiant des Think-Tanks Gesundheitswesen Carl Derungs Allgemeinchirurg und Chefarzt am Regionalspital, Mitglied der Spitalleitung und beratendes Mitglied der Spitalkommission und der Delegiertenversammlung Emmy Fankhauser Pflegefachfrau und Leiterin des Pflegedienstes am Regionalspital, Mitglied der Spitalleitung und beratendes Mitglied der Spitalkommission und der Delegiertenversammlung Jakob Keller Präsident der Spitalkommission des Regionalspitals Lukas Müller Mitglied der Spitalkommission und Präsident der Delegiertenversammlung der achtzehn Trägergemeinden des Regionalspitals Hans Lüthi Mitglied der Spitalkommission Edi Lustenberger Mitglied der Spitalkommission Heidi Kundert Mitglied der Spitalkommission Nadja Omlin Präsidentin des Vereins «Für öises Akutspital» René Leisibach Chirurg am Regionalspital Werner Vogt Leitender Arzt des dem Regionalspital angegliederten Krankenheims Anita Angehrn Stellvertretende Leiterin des Pflegedienstes am Regionalspital und Pflegedienstleiterin des dem Akutspital angegliederten Krankenheims Paul Vieli Einwohner der Spitalstandortgemeinde Fährendorf sowie Initiant und Sprecher der Arbeitsgruppe FAKIR (Für unser Akutspital Kämpfen wIR) Klaus Meier Gemeindepräsident der Nachbargemeinde der Spitalstandortgemeinde und neuer Präsident der Spitalkommission nach der Volksabstimmung Xenia Wilhelm Planungschefin in der kantonalen Gesundheitsdirektion, Mitglied des Think-Tanks Gesundheitswesen Yvonne Zwahlen Ökonomin, Unternehmensberaterin, Dozentin an einer Fachhochschule und Autorin diverser Bücher zum Gesundheitswesen, Mitglied des Think-Tanks Gesundheitswesen

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Anton Bleiker Jurist und Direktor einer Krankenkasse, Mitglied des Think-Tanks Gesundheitswesen Caspar Döbeli Chefarzt an einem Schwerpunktspital, Mitglied des Think-Tanks Gesundheitswesen Walter Birnbaum Projektleiter für die Umwandlung in eine Akut-Neurorehabilitation Marcel Imoberdorf Kantonaler Gesundheitsdirektor Raffael Hunziker Redaktor der Regionalzeitung

Abkürzungen FAKIR Für unser Akutspital Kämpfen wIR FMH Standesorganisation der Ärzte (Foederatio Medicorum Helveticorum) KMU Kleine und Mittlere Unternehmungen OP Operationssaal RPK Rechnungsprüfungskommission Tarmed «Tarif Medizin»: Ambulanter Leistungskatalog

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Unausgelasteter Operationssaal – Eklat in der Spitalkommission «Wir haben Ihr Schreiben erhalten und zur Kenntnis genommen, Herr Blickensdorfer. Weil Sie darin schreiben, das Thema des unausgelasteten OP sei von Ihnen auch in der Spitalleitung zur Sprache gebracht worden, aber Massnahmen seien auf Ablehnung gestossen, habe ich mit dem Chefarzt, Carl Derungs, vorgängig gesprochen, denn ich wollte seine persönliche Meinung in Erfahrung bringen. Dies als meine Vorbemerkung zu diesem Traktandum.» Jakob Keller macht als Vorsitzender der Spitalkommission, dem strategischen Führungsorgan des Regionalspitals, nach der offiziellen Begrüssung den Vorschlag, das brisante Schreiben des Verwaltungsdirektors als erstes Traktandum zu behandeln. Da niemand widerspricht, fährt er fort: «Zum Vorgehen: Wir kennen alle das Anliegen des Verwaltungsdirektors, aber noch nicht die Meinung der übrigen beiden Mitglieder der Spitalleitung, und deshalb schlage ich vor, Carl Derungs und Emmy Fankhauser legen ihre Sicht dar, und danach bitte ich euch Kommissionsmitglieder, eure Meinung kundzutun.» Kellers unsicherem Blick ist anzumerken, dass ihn das Schreiben des Verwaltungsdirektors an die Spitalkommission beunruhigt. Für ihn ist es absolutes Neuland, dass ein Mitglied der Spitalleitung, dem operativen Führungsorgan des Regionalspitals, mit einem Schreiben an die vorgesetzte Instanz gelangt und dass seine Kommission nun so quasi als Schiedsrichter auftreten sollte. Was ihn zusätzlich belastet, ist das vorgängig geführte Gespräch mit dem Chefarzt. Dieser ist stocksauer über das Schreiben des Verwaltungsdirektors. Chefarzt Derungs ist überzeugt, dass die in der Spitalleitung von ihm vorgebrachten Argumente, unterstützt von der Leiterin des Pflegedienstes, hätten genügen müssen, um den Verwaltungsdirektor von einem solchen Schritt abzuhalten. Obwohl dieser ihm und der Leite-

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rin des Pflegedienstes an der letzten Spitalleitungssitzung sagte, er sehe sich nach der negativen Reaktion der beiden gezwungen, seine Sicht der Dinge der Spitalkommission schriftlich mitzuteilen, hatte Derungs gehofft, Blickensdorfer würde diesen Schritt nicht tun. «Nun, liebe Kollegin, liebe Kollegen, was ist eure Meinung zum Vorgehen?» Kommissionsmitglied Hans Lüthi, Metzgermeister in der Spitalstandortgemeinde, nickt zustimmend, blickt in die Runde und meint: «Ja, das ist absolut notwendig, dass wir auch die Meinungen der beiden anderen Mitglieder der Spitalleitung zu hören bekommen.» Jakob Keller seinerseits prüft die Gesichter der Mitglieder seiner Kommission und erteilt Chefarzt Derungs das Wort. «Verwaltungsdirektor Blickensdorfer ist nun seit einem Jahr in unserem Haus, und als akademisch gebildeter Verwaltungsfachmann hat er Ruhe in den Verwaltungsbereich gebracht. Dies wird allseits anerkannt. Ich habe mich vor dieser Sitzung auch in der Ärztekonferenz erkundigt, ob die seinerzeitigen Probleme insbesondere der verzögerten Fakturierung und der damit verbundenen Abrechnungen für die Ärzte behoben worden seien. Unisono wurde bestätigt, dass die Probleme gelöst sind. Was wir aber unter keinem Titel akzeptieren können», und jetzt wird seine Stimme lauter und bestimmter, «ist seine Kritik an der Auslastung des OP. Wir sind ein Grundversorgungsspital und unser Auftrag ist es, die Bevölkerung mit Basisleistungen gut zu versorgen. Dem medizinischen Fortschritt entsprechend haben wir in den vergangenen Jahren einen Orthopäden angestellt. Damit erfüllen wir unseren Grundversorgungsauftrag. Dass der OP nicht voll ausgelastet ist, ist sekundär, denn die Bedürfnisse der Bevölkerung sind gedeckt. Dies haben wir auch in der Spitalleitung versucht, Herr Blickensdorfer darzulegen – leider erfolglos, wie der Brief an Sie zeigt.»

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Die Vehemenz, mit der Chefarzt Derungs sein Votum vorgebracht hat, spiegelt sich auch in seinem leicht geröteten Gesicht wider. «Frau Fankhauser, was ist Ihre Meinung?», wendet sich der Vorsitzende an die Leiterin des Pflegedienstes. Emmy Fankhauser, eine zierliche Person, sehr geschätzt innerhalb des Pflegedienstes und der Ärzteschaft wegen ihrer fachlichen Kompetenz, ihrer mütterlichen, fürsorglichen Haltung und auch wegen ihrer jahrelangen Erfahrung in diesem Haus, räuspert sich: «Ich bin nun schon seit bald fünfundzwanzig Jahren in diesem Spital tätig, zuerst als Stationsschwester und seit rund zehn Jahren in der jetzigen Funktion. Wir engagieren uns sehr für eine hervorragende pflegerische Leistung, und die uns anvertrauten Patienten sind sehr zufrieden mit der Leistung insgesamt, die dieses Haus bietet. Dass der OP nicht zu hundert Prozent ausgelastet ist, ist mir auch bewusst, und wir setzen insbesondere einen Teil des OP-Personals in flauen Zeiten auf den Stationen ein. Gleiches gilt für das Pflegepersonal im Notfalldienst. Ich bedaure, dass wir in der Spitalleitung keinen Konsens finden konnten und dieser Brief an Sie gelangt ist.» Ruhig und nur wenig aufgeregt legt die Leiterin Pflegedienst ihre Sicht dar. Nach diesem Votum erteilt der Vorsitzende seinen Kolleginnen und Kollegen das Wort. Metzgermeister Lüthi weist auf die gute Leitung des Regionalspitals hin. Er kann sich dabei auf viele Kundenstimmen in seiner Metzgerei berufen und als Gemeinderat der Spitalstandortgemeinde gibt er dezidiert seine Auffassung kund: «Als Gesundheitsvorstand unserer Gemeinde habe ich in der Vergangenheit die Vorschläge des Chefarztes in dieser Kommission unterstützt, denn sie waren sachlich begründet und dienten dem Patientenwohl», ereifert er sich und löst beim Chefarzt zustimmendes Kopfnicken aus.

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«Weitere Voten? – Ich möchte auch Stellungnahmen zum Schreiben des Spitaldirektors hören.» Der Vorsitzende ermuntert die übrigen stimmberechtigten Mitglieder, ihre Meinung kundzutun. Heidi Kundert, Physiotherapeutin, junge Mutter und erst seit den letzten Wahlen in diesem Gremium, äussert sich mit den Worten: «Ich schliesse mich den Voten der Vorredner an, was das gute Image dieses Hauses anbelangt. Das Schreiben des Verwaltungsdirektors fand ich sehr aufschlussreich und gut mit Zahlen dokumentiert. Die zu geringe Auslastung des Operationssaals wurde von niemandem in Abrede gestellt und deshalb gehe ich davon aus, dass die zu geringe Auslastung auch von ärztlicher und pflegerischer Seite nicht bestritten wird. Meine Aufgabe als Mitglied dieser Spitalkommission sehe ich vor allem als zweifache: die gute Versorgung steht im Vordergrund, aber auch die ökonomische Seite muss beachtet werden. Deshalb muss das Schreiben von Verwaltungsdirektor Blickensdorfer vertieft diskutiert werden.» Ohne die Einladung des Vorsitzenden abzuwarten, äussert sich auch Edi Lustenberger, selbständiger Dachdecker und Vertreter der zahlungskräftigsten Gemeinde des Spitalverbandes, zu Wort. «Das Vertrauen in unser Spital ist zweifelsohne sehr gut. Ich bin froh, dass wir einen betriebswirtschaftlich geschulten Verwaltungsdirektor haben und dieser uns auf ökonomisches Sparpotential aufmerksam macht. Deshalb bin auch klar für eine eingehendere Diskussion der zu geringen Auslastung.» Alle Augen sind nun auf das letzte Mitglied der Kommission gerichtet. Wie gewohnt hält sich Lukas Müller, Ökonom und selbständiger Unternehmensberater, Gesundheitsvorstand der kleinsten, aber zahlungskräftigen Gemeinde des Spitalverbandes und Präsident der Delegiertenversammlung, des obersten politischen Organs des Spitalzweckverbands, zurück. Seine jeweils sehr analyti-

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schen Meinungsäusserungen werden von allen, auch von den nicht stimmberechtigten Mitgliedern der Spitalleitung, sehr beachtet. «Das Schreiben des Verwaltungsdirektors ist absolut nachvollziehbar, denn die aufgeführten Zahlen zeigen eine tiefe Auslastung und die daraus abgeleiteten Kostenfolgen. Ein wichtiger Aspekt wurde in diesem Schreiben nicht erwähnt, ist aber die Folge der – und ich muss das so sagen – ineffizienten Leistungserstellung, nämlich unser Beitrag an die steigenden Krankenkassenprämien. Auch wenn wir nur ein Regionalspital sind, hat jedes Spital in diesem Lande, ob klein oder gross, eine kosteneffiziente Leistungserstellung zu gewährleisten. Dies zu überwachen ist eine unserer ureigensten Aufgaben. Die Wahrnehmung dieser wichtigen Aufgabe sind wir unserer übergeordneten Delegiertenversammlung schuldig und damit auch unseren Stimmbürgern. Der Verwaltungsdirektor macht in seinem Schreiben auch Lösungsvorschläge. Ich bedaure, dass die Spitalleitung nicht in der Lage war, über dieses Thema und auch über Lösungsvorschläge zu diskutieren, was aber zwingend notwendig ist. Ich stelle deshalb den Antrag, dass dieses Geschäft hier nicht mehr weiter besprochen wird und die Spitalleitung den Auftrag erhält, das Thema nochmals zu behandeln, um uns Lösungsvorschläge zu unterbreiten.» Der Vorsitzende Jakob Keller nickt zustimmend, und da niemand auf seine Frage, ob jemand gegen diesen Antrag sei, antwortet, leitet er zum nächsten Traktandum über.

Turbulente Ärztekonferenz Chefarzt Carl Derungs hat in der Nacht vor dieser Konferenz schlecht geschlafen. Er weiss um die kritische Sicht eines Grossteils seiner Ärzte zum in der Spitalkommission behandelten Vorstoss des Verwaltungsdirektors. Er fühlt sich im Sandwich zwischen der Spi-

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talkommission und seinen Kollegen und Kolleginnen. Für die Diskussion in der Spitalleitung will er sich von ärztlicher Seite her absprechen und hat deshalb kurzfristig zu einer Ärztekonferenz, dem Führungsgremium der Ärzteschaft am Regionalspital, eingeladen. Einleitend schildert er die Ausgangslage und gibt das Wort frei. Wie so oft äussert sich sein Gynäkologie-Kollege Heinrich Vogel als Erster und gibt seine kritische Meinung wieder. Vogel ist Oberst eines Spitalregiments und war über viele Jahre einziger Frauenarzt in der Region. Mit der Bewältigung von über fünfhundert Geburten während einigen Spitzenjahren hat er sich allerorts grossen Respekt in dieser ländlichen Spitalregion geschaffen. «Ich war immer gegen die Anstellung eines studierten Betriebswirtschaftlers, denn damit erhält die ökonomische Seite unserer Arbeit ein zusätzliches Gewicht. Meine Befürchtung ist jetzt sogar massiv übertroffen worden, indem dieser Herr sich überhaupt nicht an die Gepflogenheiten hält. Die Spitalpolitik haben bis anhin de facto wir bestimmt und jetzt müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass du, Carl, in der Spitalleitung versagt hast und es nicht zustande gebracht hast, den Verwaltungsdirektor an die Kandare zu nehmen. Es geht sogar so weit, dass wir Aufträge erhalten! Wir sollten …» Vogel hat sich in Rage geredet – und gleichzeitig Carl Derungs wütend gemacht, der ihn unterbricht. «Es bringt nichts, Heiri, alte Geschichten aufzutischen! Wir müssen uns den Realitäten stellen. Der unausgelastete OP ist eine Realität. Bis anhin hat dies niemand hinterfragt, aber die Zeiten ändern sich. Und von uns werden nun Lösungsvorschläge verlangt, denn es kann doch nicht sein, dass uns der Verwaltungsdirektor sagt, was wir zu tun haben. Wenn du schon kritisierst, Heiri, dann mach gefälligst auch Lösungsvorschläge. Wir haben nochmals eine Chance erhalten und müssen taugliche Vorschläge diskutieren. Deshalb mein Vorschlag: Wir bilden eine Arbeitsgruppe mit einer Vertretung pro Disziplin.»

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Conradin Walder, ein langjähriger Internist, äussert sich: «Ich bin mit einer Arbeitsgruppe einverstanden, habe aber zum Verwaltungsdirektor noch Folgendes: Hat er euch in der Spitalleitung orientiert, dass er den Doktortitel erworben hat, Carl, denn in der Eingangshalle ist sein ‹lic. oec.› in ‹Dr. oec.› geändert worden?» «Ja, das hat er uns mitgeteilt und ich habe ihm gratuliert. Ist das ein Problem?» Der zweite Internist, Dieter Zahler, antwortet: «Es befremdet mich schon seit seinem ersten Arbeitstag, dass er unseren Titel negiert. Das hat es ja noch nie gegeben, dass uns der Verwalter nicht mit ‹Herr Doktor› anspricht! Und jetzt hat der Neue auch noch den Doktortitel und jetzt ist mir auch klar, wieso er uns noch nie mit unserem Titel angesprochen hat. Ich denke, Carl, du solltest ihm klarmachen, dass unser Titel eine Berufsbezeichnung ist, und deshalb muss dieses Kommunikationselement integral angewendet werden. Ich muss schon festhalten: Unsere Autorität bröckelt, seit dieser sogenannte Doktor oec. …», und er verliert komplett seine Fassung, «dieser Halb-Akademiker in unserem Hause ist.» Chefarzt Derungs, sichtlich perplex über dieses zusätzlich vorgebrachte Problem, antwortet ungehalten: «Wichtig ist das Sachthema und dieses nun vorgebrachte emotionale Thema ist doch überhaupt kein ernstzunehmendes. Auch in meiner Praxis hat es immer häufiger junge Leute, die mich nicht mehr mit dem Titel ansprechen. Ich habe dies als Wandel innerhalb unserer immer selbstbewussteren Gesellschaft akzeptiert.» Derungs weiss, dass sich einige seiner Kollegen mit selbstsicher auftretenden Patienten schwertun. Seiner persönlichen Erfahrung mit diesem für ihn nebensächlichen Thema entsprechend fährt er fort:

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«Mit dieser Frage können diejenigen, die es für nötig finden – und die die Antwort auch nicht scheuen –, mit dem Verwaltungsdirektor direkt Kontakt aufnehmen. Ich erachte es nicht als meine Aufgabe als Chefarzt, ihn dazu anzusprechen, denn wir haben wahrlich andere Sorgen.» Er räuspert sich und fährt fort: «Der Bildung einer Arbeitsgruppe hat niemand widersprochen und ich bitte euch um Nominationen.»

Die Sitzung der Spitalleitung Der Vorsitz der Spitalleitung wechselt unter den drei gleichberechtigten Mitgliedern jährlich. Turnusgemäss ist die Leiterin Pflegedienst Prima inter pares. Sie begrüsst und eröffnet das Treffen. «Aus der Einladung für die heutige Sitzung habt ihr ersehen, dass ich als einziges Traktandum das Thema ‹Unausgelasteter OP› vorgesehen habe. Gibt es ein dringenderes spitalleitungsrelevantes Thema, das heute ebenfalls zu besprechen ist?» Emmy Fankhauser schaut in die Runde und nimmt zur Kenntnis, dass dies nicht der Fall ist. Sie denkt an die vorletzte Sitzung zurück und bedauert, dass Carl Derungs, mit dem sie schon seit Jahren per Du ist, dieses auch Armin Blickensdorfer schon nach kurzer Zeit angetragen hatte. Obwohl Carl sie vor dieser Sitzung einweihte und sie mit dem gemeinsamen Du einverstanden war, wäre es ihr doch lieber gewesen, diesen Schritt nicht getan zu haben, denn die Du-Form findet sie nicht zwingend. Ausser mit ihrer Stellvertreterin ist sie auch innerhalb des Pflegedienstes mit niemandem per Du. Bei den Männern liegen hier die Bedürfnisse offenbar anders. Ganz besonders scheint in diesem Punkt die Militärkultur zu prägen. Da auch Armin Blickensdorfer Offizier ist und Derungs mit der bisherigen fachlichen Leistung des Verwaltungsdirektors zufrieden ist, war es

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Während Armin Blickensdorfer seiner Kollegin Emmy Fankhauser zuhört, wird ihm bewusst, dass sie erstmals eine abweichende Auffassung zu derjenigen des Chefarztes hat. Dies findet er bemerkenswert – gerade in dieser wichtigen Frage der Zukunft ihres Regionalspitals. Für ihn ist auch das weitere Vorgehen offensichtlich und er schlägt vor, alle drei Stellungnahmen der Spitalkommission zukommen zu lassen. «Was ich noch zur Diskussion stellen will, ist die Prüfung der Einrichtung einer Akut-Neurorehabilitation durch die Gesundheitsdirektion. Bevor man sich eine definitive Meinung bilden kann, muss ein konkretes Konzept, das auf unsere konkrete Situation zugeschnitten ist, erarbeitet werden. Die Federführung dazu muss bei der Gesundheitsdirektion liegen und wir müssen …» «Dies kommt überhaupt nicht infrage, Armin», unterbricht der Chefarzt den Verwaltungsdirektor. «Wenn dies dein persönliches Anliegen ist, dann nimm es bitte in dein Papier auf, denn ein solcher Antrag kann nicht von dieser Spitalleitung kommen.» Carl Derungs ist sichtlich aufgebracht. Die ganze Angelegenheit nervt ihn und die Dynamik, die der Verwaltungsdirektor an den Tag legt, ärgert ihn immer mehr.

Der Think-Tank Gesundheitswesen «Seit ich im Gesundheitswesen tätig bin, sehe ich, dass Einiges nicht rund läuft in diesem Milliardengeschäft, Xenia.» Blickensdorfer hat sich nun schon zum fünften Mal mit seiner ehemaligen Studienkollegin zum Mittagessen getroffen und ihre Diskussionen fördern immer neue gemeinsame Erkenntnisse zutage und Punkte, die ihnen verbesserungswürdig erscheinen. Eines Morgens, als er über die Situation in seinem Spital nachdachte, kam ihm die Idee, mit Xenia und anderen Interessierten aus der Gesundheits-

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branche einen Think-Tank auf die Beine zu stellen. Seit er administrativer Leiter des Regionalspitals An der Furt ist und vertiefter ins Spital- und damit auch ins Gesundheitswesen Einblick hat, sieht er mehr und mehr Schwächen in diesem System. Die falschen Anreize, die politische Trägheit, die steigende Prämienlast, die unzulängliche Koordination unter den Kantonen sind nur einige wenige Beispiele. «Könnten wir nicht einen Think-Tank gründen und unser regelmässiges Mittagessen um weitere Teilnehmende erweitern? Was meinst du?» Erwartungsvoll sieht er sein Gegenüber an. «Eine gute Idee, Armin. Und eine anspruchsvolle. Ich kenne einige Leute, die fundierte Kenntnisse haben und vielem kritisch gegenüberstehen. Aber diese werden sich nicht zufriedengeben mit einem ‹Plauderstündchen über Mittag›. Zumindest müssten die diskutierten Themen und die unterschiedlichen Perspektiven auf die jeweiligen Themen festgehalten und ausgewertet werden.» Xenia Wilhelm ist sichtlich angetan von Armin Blickensdorfers Idee. Dieser Vorschlag kommt ihrem Ehrgeiz entgegen, über ihren beruflichen Alltag hinaus Lösungsideen für Verbesserungen im Gesundheitswesen zu diskutieren. Und aus einer solchen Diskussion verspricht sie sich neue Einsichten, die sie in ihre beruflichen Tätigkeiten einbauen kann. Sie schlägt Armin vor, ihre Fühler auszustrecken und ihn telefonisch zu orientieren, was ihre Recherchen ergeben haben. Sie einigen sich auf eine Aufgabenbeschreibung dieser Diskussionsrunde. Ziel muss es sein, von den einzelnen Teilnehmern vorgebrachte Mängel am Gesundheitswesen kontrovers zu diskutieren und einen gemeinsamen Konsens zu erzielen. Sollte ein solcher Konsens nicht möglich sein, würde das entsprechende Thema nicht mehr weiter verfolgt. Bei allen anderen Themen würde Armin Blickensdorfer die vorgebrachten Argumente dokumentieren und allen Diskussionsteilnehmenden vor dem nächsten Treffen

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zustellen, damit allfällige Korrekturen angebracht werden können. Diskussionsleiterin wäre Xenia. Vier Wochen später ist der mittägliche Diskussionskreis erweitert um die drei Personen Yvonne Zwahlen, Ökonomin, Unternehmensberaterin, Dozentin an einer Fachhochschule und Autorin diverser Bücher über das Gesundheitswesen, Anton Bleiker, Jurist und Direktor einer Krankenkasse, und Caspar Döbeli, Chefarzt an einem Schwerpunktspital. Xenia Wilhelm hatte Armin Blickensdorfer das Ergebnis ihrer Suche nach potentiellen Teilnehmenden mitgeteilt und auch erklärt, dass von fünf angefragten Personen diese drei Personen mit Interesse zugesagt hätten. Sie ergänzte die Orientierung mit der Bemerkung, sie hätte diesen drei Personen auch als Hausaufgabe für das erste Treffen mitgegeben, die drei für sie wichtigsten Probleme im Gesundheitswesen aufzulisten. Das Mittagessen dieses ersten Treffens wurde genutzt, um sich gegenseitig näher kennenzulernen. Obwohl alle einander zumindest dem Namen nach kannten, war es doch wichtig, die Beweggründe für die Teilnahme an einem solchen Treffen offenzulegen. Allen gemeinsam ist der Wunsch, interdisziplinär über das Gesundheitswesen zu diskutieren. Damit ist auch die Hoffnung verbunden, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Caspar Döbeli gibt sich nicht der Illusion hin, im Gesundheitswesen markante Veränderung durch diese zwanglose Diskussionsrunde erzielen zu können, findet es aber sehr anregend, andere Meinungen zu hören, denn er diskutiert hauptsächlich in Ärztekreisen und er will auch andere Meinungen hören. Auch Anton Bleiker erwartet keine konkreten Ergebnisse einer solchen Debattierrunde, glaubt aber an die Kraft der Interdisziplinarität und verspricht sich neue Erkenntnisse. Offen ist für ihn sowieso die konkrete Umsetzung. Xenia Wilhelm bedankt sich für das Mitmachen und schlägt die vertrauliche Du-Form vor, was mit allseitigem Kopfnicken bestätigt wird. Eine Voraussetzung für eine erspriessliche Zusammenarbeit

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ist auch das ganz klare Einverständnis aller Anwesenden, über die in diesem Kreise geführten Diskussionen Stillschweigen zu wahren. «Dies ist ein absolutes Erfordernis», quittiert Caspar Döbeli diese Aufforderung; die Zustimmung der übrigen ist offensichtlich. Xenia fährt fort mit der Aufforderung an Armin Blickensdorfer, seine drei wichtigsten zu diskutierenden Mängel im Gesundheitswesen zu nennen. «Vor meinem beruflichen Hintergrund sehe ich primär einmal folgende Mängel im Spitalwesen: Die Leistungserbringung in den Regionalspitälern erfolgt nicht kostenoptimal. Ein anderes Thema sind die Mängel des Tarmed. Als drittes Thema sehe ich die rechtliche Verselbständigung der Spitäler.» Die neben Armin Blickensdorfer sitzende Yvonne Zwahlen listet ihre drei Präferenzen auf. Für sie als Ökonomin sind die falschen Anreize ein grosses Problem, etwa bei den Kaderarztverträgen. Im Weiteren sei der Vertragszwang mit den Ärzten ein Anachronismus und dann ist sie der Meinung, im Bereich der Prävention werde zu wenig getan. Anton Bleiker stört sich an den in den letzten Jahren weit über dem Anstieg des Bruttoinlandprodukts liegenden Prämiensteigerungen. Zur Kostenreduktion beitragen würde eine vermehrte ambulante Leistungserstellung, es werde zu häufig operiert, und als weiteres Diskussionsthema sieht er Managed Care als Mittel zur Kostensenkung. Für Caspar Döbeli ist der Numerus clausus zu hinterfragen und das Fallpauschalen-System sei administrativ zu aufwändig. Als Letzte äussert sich Xenia Wilhelm. Für sie sind die Folgen von Subventionskürzungen, die Definition von Leistungsaufträgen nach Minimalhäufigkeiten und eine Aufteilung der Planungskompetenzen zwischen Bund und Kantonen zu diskutieren. «Eine interessante Palette an Themen», kommentiert Anton Bleiker.

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