Leseprobe: Chesney: Die permanente Krise

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Marc Chesney ist Professor an der Universität Zürich. Zuvor war er während vielen Jahren Professor an der HEC Paris, wo er ebenfalls Co-Dekan war.

Übersetzung: Monika Brüninghaus Französische Ausgabe: MARC CHESNEY, La crise permanente. L’oligarchie financière et l’échec de la démocratie. Quanto, Presses polytechniques et universitaires romandes, Deuxième édition 2018.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2019 Versus Verlag AG, Zürich Weitere Informationen zu Büchern aus dem Versus Verlag unter www.versus.ch Umschlaggestaltung: Thomas Woodtli · Witterswil Satz und Herstellung: Versus Verlag · Zürich Druck: CPI books GmbH · Leck ISBN 978-3-03909-261-1


FĂźr meine Familie, fĂźr die Meinen. In Erinnerung an meine Eltern.



Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Der Untergang der Zivilisation unter dem Vorwand ihrer Rettung . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kapitel 1:

Gestern und heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Kapitel 2:

Der Versuch, die Finanzmärkte zufriedenzustellen, ist vergeblich . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Kapitel 3:

Liberalismus: Die Finanzsphäre hält den Glauben hoch, praktiziert ihn aber nicht . . . . . . 55

Kapitel 4:

Die Charakteristika der Kasino-Finanzwirtschaft . . 71

Kapitel 5:

Die Geburt des Homo financiarius und die Unterwürfigkeit der Eliten . . . . . . . . . . . . . . 99

Kapitel 6:

Von einigen Abhilfen und Lösungsansätzen . . . . . . 113

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Stichwort- und Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

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Vorwort

Der Titel meines Buches überrascht vielleicht. Ich wage es, von einer ständigen Krise zu sprechen, während in den Medien sehr häufig vom Wiederaufleben des Wirtschaftswachstums die Rede ist. Gemäß vielen Kommentatoren, sogenannten Experten, seien die Wirtschaftsdaten gut, ja sogar exzellent. Als Argument dienen die Börsenkurse, die in den letzten Jahren bis 2017 immer weiter gestiegen sind – der Absturz Ende 2018 wird häufig als simple Korrektur dargestellt –, sowie gute Arbeitslosenstatistiken. Erstaunlicherweise scheint es kein Thema zu sein, dass dieses Wirtschaftswachstum vor allem auf einer Explosion der weltweiten Schulden basiert, seien es nun die privaten oder die staatlichen Schulden, und deswegen künstlich ist. Die Uhren werden neu gestellt werden müssen, wenn dereinst diese Schulden zurückzuzahlen sind. Das Wachstum beruht auch auf der programmierten Obsoleszenz; das heißt, dass Drucker, Handys oder Glühbirnen auf eine künstlich verkürzte Lebensdauer angelegt sind, was dazu führt, dass wir immer mehr konsumieren.

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Dass der Anstieg an den Börsen künstlich ist, in dem Sinne, als er immer weniger mit der Leistung der Unternehmen im Besonderen und der Wirtschaft im Allgemeinen zu tun hat, wird nicht erwähnt. Es handelt sich um eine Abkopplung des Finanzsektors von der Realwirtschaft. Dass dieser Anstieg durch die Zentralbanken, die astronomische Summen in den Finanzsektor einschießen, sowie durch die riesigen Aktienrückkäufe von großen Unternehmen erzeugt wird, scheint keine Beachtung zu verdienen. Das System hängt am Tropf dieser Beträge. Die Verbesserung der Arbeitslosenquote soll, so heißt es, auch zu diesen grundlegenden Wirtschaftsdaten zählen. Dass zahlreiche Arbeitslose aus den Statistiken gestrichen werden oder sich in Working Poors oder in verarmte Rentner verwandelt haben, wird verschwiegen. Das Aufkommen neuer Technologien und die digitale Transformation der Gesellschaft sollten zu mehr Freizeit führen; in Tat und Wahrheit führen sie zu prekären Arbeitsverhältnissen, zu Unterbeschäftigung und am Ende des Tages zu tiefer Unzufriedenheit, wie das Beispiel der Gelbwestenbewegung zeigt. Dieses Paradox würde eine Erklärung verdienen, doch sie bleibt aus. Was den Trickledown-Effekt betrifft, der in den Medien so gern hervorgehoben wird, so scheint er nicht den Gesetzen der Schwerkraft zu gehorchen, da er von unten nach oben funktioniert: Er erlaubt jenen, die bereits so viel Vermögen besitzen, dass sie nicht mehr wissen, wohin damit, noch mehr anzuhäufen. Zusammenfassend kann man sagen: Der Patient, in unserem Fall die Gesellschaft, ist schwer krank, aber die Operation ist gut verlaufen! Wer kann noch glauben, dass diese Taschenspielertricks eine erfolgreiche wirtschaftspolitische Therapie sind, wie sie von denjenigen präsentiert wird, die permanent über die positiven Fundamentaldaten sprechen? Dieses Buch untersucht die zunehmende Finanzdurchdringung der Wirtschaft und der Gesellschaft, die Rolle der Großbanken und der spekulativen Fonds in diesem Prozess sowie den Niedergang 10

Vorwort


einer Zivilisation, die das Sein mit dem Haben verwechselt und deren Werte vor allem finanzieller Natur sind. Es beschreibt die Haltung und die Mentalität der Croupiers der Kasino-Finanzwirtschaft ebenso wie jene der Söldner des Finanzkrieges. Probleme zu verstehen, sollte logischerweise zu Lösungen führen, was Sie, liebe Leserinnen und Leser, davor bewahren sollte, in eine tiefe Depression zu versinken. Dem Autor dieses Buches ist es ein Anliegen, Auswege aufzuzeigen. Diese Auswege existieren durchaus und sie basieren weder auf deregulierten Märkten noch auf einem Staat, der die Wirtschaft kontrolliert und lenkt und die Individuen überwacht. Die hier dargelegten Lösungen setzen auf mündige Konsumenten und auf aktive Bürgerinnen und Bürger, die ihr Schicksal selber in die Hand nehmen. Ich möchte mich bei der Universität Zürich für meine akademische Freiheit bedanken. Des Weiteren möchte ich insbesondere meinen Kollegen und Freunden Paul Dembinski und Jean-Charles Rochet für ihre erhellenden Kommentare und ihre hilfreichen Bemerkungen meinen Dank aussprechen. Ausserdem danke ich Claudia Bartholemy sowie Anne Buechi und Judith Henzmann vom Versus Verlag in Zürich. Auch Sylvain Collette von den Presses polytechniques et universitaires romandes danke ich für den fruchtbaren Austausch während der Realisierung dieses Buches, sowohl in der französischen wie auch in der deutschen Fassung, sowie Monika Brüninghaus für ihre Übersetzung ins Deutsche und Gabrielle Granegger und Vincent Wolff für ihre Übersetzung der letzten Änderungen. Ich möchte mich besonders bedanken bei Brigitte Maranghino-Singer für ihre ausgezeichnete und sorgfältige Überarbeitung der letzten Version. Meine tiefste Dankbarkeit gilt jedoch meinen Eltern. Ihre Persönlichkeit, ihr Mut und ihre Bildung haben meine Feder geleitet. Aus tiefstem Herzen widme ich dieses Buch im Gedenken an meine Mutter und an meinen Vater. 11


Zusammenfassung Wie lässt sich die aktuelle Situation verstehen, die Zukunft unserer Gesellschaft antizipieren und gestalten, ohne die Geschichte und insbesondere die kritischen Perioden von Kriegen und Krisen zu analysieren, die uns vorausgegangen sind? Es ist besonders lehrreich, sich mit dem Ersten Weltkrieg zu befassen. Ein Jahrhundert ist vergangen seit der Opferung der europäischen Jugend – vor allem der französischen und deutschen – in den Massengräbern jenes Krieges. Heute sind die Schützengräben im Herzen Europas glücklicherweise verschwunden; aber die heutige Generation leidet unter einer tiefgreifenden Krise, deren Verästelungen in die Wirtschaft und die Finanzwelt reichen – was in diesem Buch behandelt wird –, sich aber ebenso auf das Gesellschaftliche, die Umwelt und die Politik erstrecken. Damals hat die Mehrheit der Bevölkerung nicht an den Ausbruch eines Krieges geglaubt, oder wenn, dann glaubte sie, dass der Krieg nur kurze Zeit dauern würde. Jener Krieg hat jedoch vier lange Jahre gedauert. Heute beschleunigt sich der Bankrott des Systems immer mehr, trotz zahlreichen Interventionen der Regierungen, welche alle behaupten, sie könnten Lösungen gegen die Unterbeschäftigung und die zunehmende Verarmung finden. Dieses Buch untersucht die Gründe dieser Situation; es zeigt Parallelen zwischen der Gesellschaft von 1914 und der heutigen auf, und es skizziert Lösungen für das Problem der zu einem Kasino verkommenen Finanzsphäre.

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Einleitung

Der Untergang der Zivilisation unter dem Vorwand ihrer Rettung

Am Abend des 1. August 1914, einem Samstag, bereiten sich französische wie deutsche Familien auf eine schmerzliche Trennung vor. Soeben wurde die allgemeine Mobilmachung durch Aushänge angeordnet. Lange läuten die Glocken in den Städten und Dörfern. Sie verkünden die gefürchtete Nachricht des Kriegsausbruchs und werfen bereits die Schatten künftiger Ängste und Leiden voraus. Der erste Tag der Mobilmachung wird Sonntag, der 2. August, sein. Schon am frühen Morgen wird der Gare de l’Est in Paris voller Soldaten in Begleitung ihrer Familien sein. Das gleiche Bild bietet sich am Anhalter Bahnhof in Berlin. Unter dem Vorwand der Rettung der Zivilisation werden die Soldaten zu Vollstreckern und Opfern ihres Untergangs. Am Freitag, dem 1. August 2014, also hundert Jahre später, bereiten sich viele französische und deutsche Familien auf ihren Urlaub vor. Am nächsten Tag werden der Gare de Lyon in Paris und der Berliner Hauptbahnhof mit TGVs und ICEs vollkommen überlaufen sein. In Frankreich wird die Autobahn nach Süden wie gewöhnlich verstopft sein. Diesmal zieht es die Menschenmengen gen Süden zu

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den Stränden, und nicht mehr an die Ostfront die einen und an die Westfront die anderen, wie vor einem Jahrhundert. An die Stelle des Albtraums vom langen Weltkrieg tritt der Traum von Sonne und Meer. Es geht nicht mehr um das Wohl der Zivilisation, sondern eher prosaisch um eine wohltuende Auszeit, während die finanzielle und ökonomische Lage weiterhin instabil bleibt. In der Sommersaison dominiert in Europa nunmehr das Tourismusbusiness; das lenkt die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den wirtschaftlichen Ungleichgewichten ab, welche das Finanzkasino schafft, und es baut vorübergehend die Spannungen ab, die damit einhergehen. Die Massengräber des Ersten Weltkriegs verschwinden aus dem kollektiven Gedächtnis, die Erosion ist am Werk. Das monumentale Gemälde im Pariser Gare de l’Est erinnert uns an die Tragödien des Ersten Weltkriegs. Ist es vergleichbar mit den Wandmalereien in der Höhle von Lascaux – Spuren einer fernen Vergangenheit, deren Einfluss sich bereits in grauer Vorzeit verliert?

Die Höhle von Lascaux, die sich im französischen Departement Dordogne befindet, ist eine der bedeutendsten Fundstätten prähistorischer Höhlenmalerei.

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Einleitung: Der Untergang der Zivilisation …



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