Leseprobe Holger Regber: «Scheitern mit Erfolg», ISBN 978-3-03909-075-4, Versus Verlag

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Holger Regber

Scheitern mit Erfolg Eine Reise ins Innere von Organisationen

Versus 路 Z眉rich


Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Weitere Informationen über Bücher aus dem Versus Verlag unter http://www.versus.ch © 2007 Versus Verlag AG, Zürich Umschlagbild und Kapitelillustrationen: André Kozik · Chemnitz Satz und Herstellung: Versus Verlag · Zürich Druck: Sachsendruck · Plauen Printed in Germany ISBN 978-3-03909-075-4


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Inhalt Prolog

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Auf der Suche nach Potenzial

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Die Zertifizierung

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Chronist des Wachstums

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Die Reise nach Chiusi

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Zu wenig Schrauben

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Spülmaschine, Telefon & Bilderrahmen – ein Heimspiel

84

Fit für die Zukunft

96

Assistent des Seniors

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Lost in Open Space

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Fabrik des Jahres

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Kneipe mit Biergarten

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Prolog

»Willengud, einen Moment bitte!« »Chef?« »Willengud!« »Herr Professor Doktor Holstängel wünschen?« »Sie wissen genau, dass Sie mich in der Nähe von Studenten nicht mit Chef anreden sollen. Und zu übertreiben brauchen Sie deswegen auch nicht. … Die Aufgabe, die ich Ihnen vor einiger Zeit übertragen habe, sind Sie da weitergekommen?« »Sie meinen das Sondieren für neue Forschungsansätze?« »Sagte ich doch.« »Zwei Neuigkeiten gibt es. Eine schlechte und noch eine schlechte. Welche mögen Sie zuerst?« »Fangen Sie mit der schlechten an.« »Es gibt nichts Neues.« »Sie sprachen von Neuigkeiten.« »Das ist ja die Neuigkeit. Dass es nichts Neues gibt.« »Im Bereich Organisationsgestaltung soll es keine nennenswerten Entwicklungen geben?« »Die Informatiker entwickeln die 337. Programmiersprache, die Mathematiker bereiten völlig neue Beweisketten vor und die Techniker wechseln gerade von der Nano- in die Pikomechanik. Aber bei uns, alles erkundet und beschrieben: Zentralisierung und Dezentralisierung, Unternehmenszusammenschlüsse und Netzwerkgestaltung, Interimsmanagement und


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nachhaltige Organisationsgestaltung, autonome Gruppen und standardisierte Arbeit …« »Was ist mit den Engländern und Amerikanern? Den Japanern, den Russen?« »Ein paar neue Begriffe. Aber unter den Worthülsen verbirgt sich das, was wir eh schon kennen.« »Und diese Tool-Erfindungsindustrie?« »Sie meinen die Beraterbranche?« »Natürlich. Nach TOC und JIT, BSC und SCM muss es bei denen doch auch irgendwie weitergehen.« »Auch deren Maschinerie scheint zu stottern. Ein paar neuere Veröffentlichungen, aber ohne wesentlichen Gehalt.« »Das heißt, Sie haben nichts für unseren nächsten Forschungsplan.« »Sie sagen es, wir haben nichts.« »Und was ist die zweite schlechte Neuigkeit?« »Nichts von dem, was in den letzten Jahren als neue Organisationsansätze eingeführt wurde, scheint in der Praxis zu funktionieren.« »Die Veränderungsprojekte scheitern?« »Etwa sechzig bis siebzig Prozent davon, wird berichtet. Aber die Dunkelziffer ist sicher höher. Es lässt sich doch keiner aus der Praxis gern in ein maues Blatt schauen.« »Die Gründe, dafür werden doch sicher auch Gründe genannt?« »Das, was wir bereits wissen: Mangelndes Projektmanagement, inkonsequente Führung, fehlende Einbindung der Mitarbeiter …« »Zumindest den Unternehmen scheint das ja nicht bekannt zu sein. Sonst wären sie bei der Umsetzung erfolgreicher.« »Tut mir leid, Chef, aber das ist genau der Punkt. Fragen Sie die Manager, und Sie werden exzellente Antworten erhalten!« »Und dennoch werden in der Praxis die erwarteten Ergebnisse nicht erreicht?« »Wie ich bereits sagte. Als würde der Wille des Unternehmens durch irgendetwas überlagert. Etwas, was die besten Pläne, die großzügigsten Vorhaben im Tagesgeschäft immer wieder scheitern lässt.« »Wieso kommen Sie mir jetzt mit Freud?« »Wegen dem ES? Dann sollte es aber ORGANISATIONSTHERAPIE, WIR und ÜBER-WIR heißen.«


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»Nun schweifen Sie nicht ab, Willengud. Bleiben wir mal bei dem ES und nehmen an, das ES gebe es tatsächlich auch in Organisationen. Verdeckte Triebe, Urinstinkte, ererbte Verhaltensmuster. Was auch immer. Und nehmen wir weiter an, es gelänge uns, dieses ES zu lokalisieren, zu analysieren und zu beschreiben.« »Dann fänden wir wohl den Schlüssel für erfolgreiche Veränderungen in Organisationen.« »Aber das ist doch eine Neuigkeit! Und ein Ansatz für den Forschungsplan dazu!« »Sag ich doch: Zwei Neuigkeiten.« »Willengud, Sie schmücken sich mit fremden Federn. Also gut, wie können wir das ES herausfinden?« »Träume von Organisationen zu deuten, das geht wohl schlecht.« »Sie sollen assoziieren, nicht pur übertragen. Sicher können Organisationen nicht träumen. Sehr wohl aber ihre Manager. Und wenn wir deren Träume mit der in den Unternehmen gelebten Wirklichkeit vergleichen, dann könnte das ein Schritt auf dem Weg sein, dieses ES zu identifizieren.« »Eine schwarze Ledercouch in Ihrem Arbeitszimmer, denke ich, wäre angemessen.« »Nein, nein, Willengud. Managerträume stehen im Spiegel, im Handelsblatt oder der FAZ. Was wir hingegen brauchen, ist eine ungefilterte Sicht auf die Unternehmenswirklichkeit … Sagen Sie mal, Sie legen doch viel Wert auf Ihr pragmatisches Image. Was halten Sie davon, wenn ich Sie für ein paar Monate zur Bewährung in die Praxis schicke?« »Dann gebe ich mich als Mitarbeiter des Instituts zu erkennen und erhalte sofort uneingeschränkte Einsicht.« »Deswegen dachte ich auch eher an eine Karriere als Unternehmensberater.« »Für mich?« »Meinen Sie etwa für mich? Sie sind jung, Sie sind dynamisch, Sie sind kreativ. Beste Voraussetzungen für einen Berater. Also ich stelle mir vor, dass Sie den Unternehmen ein wenig helfen und Ihre Erfahrungen in Fallstudien zusammenfassen. Was wir daraus dann machen, entscheide ich zu einem späteren Zeitpunkt.« »Aber …«


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»Jetzt bloß keine Einwände. Sie wissen, Bedenken sind die ersten Hemmnisse für Veränderungen. Sagen Sie einfach, Sie hätten Ihre Stelle im Institut gekündigt und sich selbständig gemacht. Solche Karrierebrüche sind doch heutzutage nichts Außergewöhnliches mehr. Also, viel Glück, Willengud! Oder besser: Gute Reise!«

alte Strukturen verlassen


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Auf der Suche nach Potenzial

»Aufwachen, wir sind angekommen!« Ich stupste an Krämers Schulter. Der schnappte nach Luft, drehte den Kopf zur Seite und verfiel wieder in sein gleichmäßiges Röcheln. »Herr Krämer, aufwachen! Endstation!« Keine Reaktion. Ich drehte am Lautstärkeregler des Radios. Die Fanfare des Verkehrsfunks kam mir zu Hilfe. Ein dumpfer Schnarcher, dann schlug er die Augen auf. »Was? … Was ist? … Schon wieder im Stau?« Er streckte den Oberkörper, dehnte Arme und Schultergelenke. Um seinem Ellbogen auszuweichen, presste ich meinen Kopf an die Seitenscheibe. Dabei gelang es mir, das Radio leiser zu stellen. Schließlich ließ er die Schultern vornüber sinken und atmete dreimal hörbar aus. »So eine Fahrt ist schon beschwerlich.« Er sah sich in meinem Auto um. »Sagen Sie mal, haben Sie schon mal an einen neuen Wagen gedacht?« In Gedanken streichelte ich meinen Diesel, der uns zuverlässig die knapp fünfhundert Kilometer zur Messe für Abfall-, Recycling- und Kommunaltechnik getragen hatte. Sicher, nicht mehr der Jüngste. Über sieben Jahre alt, und an manchen Stellen des Interieurs war die eine oder andere Abnutzungserscheinung zu erkennen. Andererseits … Ich sah zu Krämer, der mit wirrem Haar und zerknautschtem Anzug auf meinem Beifahrersitz hockte. Er winkte ab.


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»Ach, vergessen Sie es. … Also los, Willengud! Es war Ihre Idee, Sie wollten mit mir zu dieser Messe.« Ich verkniff mir die Bemerkung, dass er seit Wochen von mir forderte, ich solle ihm die großen Einsparpotenziale in seiner Verwaltung aufzeigen. Die Big Points, wie er sie zu bezeichnen pflegte. Auf dem Weg zum Pavillon 15, in dem laut Katalog die Hersteller für Kommunalwirtschaft ihre Produkte präsentierten, kamen wir an einem Bistro vorbei. Krämer verlangsamte seinen Schritt. Auch ich konnte nach der Fahrt eine Stärkung vertragen. »Vorweg vielleicht einen Kaffee?« Krämer setzte sich an einen der Tische, über die bereits Sonnenschirme aufgespannt waren, und nickte. Anschließend bestellte er. Bei mir. Zwei Schinken-Käse-Croissants, Kaffee, Orangensaft. Während er aß, verzog sich sein Mund zu einem wohligen Lächeln. »Wissen Sie, Willengud, wie gut es Ihnen eigentlich geht? Sie als Selbstständiger! Da sind Sie Ihr eigener Herr. Haben alle Freiheiten der Welt und können sich Ihren Tag einteilen, wie Sie möchten. Reisen dahin, reisen dorthin. Und können die Kosten gar noch steuerlich geltend machen. … Weshalb sind Sie eigentlich von Ihrem Institut weg?« Ich murmelte etwas von Enge und endlich die Praxis erleben. Was ja auch gar nicht so falsch war. Er schob sich den Rest des ersten Croissants in den Mund und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Lecker, sehr lecker! … Wo waren wir stehen geblieben? Ach so, Reisespesen. Glauben Sie ja nicht, Willengud, wir von der Behörde, wir könnten einfach mit einem Bewirtungsbeleg kommen.« »Herr Krämer, Sie als Leiter der Finanzbehörde?« »Nein, nein, Willengud, machen Sie sich da keine Illusionen. Unsere Richtlinien gelten ohne Ansehen der Person. Und das Prinzip der Sparsamkeit hat oberste Priorität.« Er nahm sich das zweite Croissant vor, ließ sich davon aber beim Reden nicht stören. »Klare, eindeutige Regeln, das ist für eine Verwaltung lebensnotwendig. Sie haben es ja in den letzten Wochen bei der Erarbeitung der Antikorruptions-Verordnung miterlebt. Vorgestern wurde sie endlich durch den Stadtrat bestätigt. Ich sage Ihnen, das war ein wichtiger Erfolg! Vorher wussten wir ja nicht einmal, wann Korruption eigentlich beginnt! Jetzt ist


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das klar und eindeutig geregelt. Keine Grauzonen mehr, kein Raum für irgendwelche Interpretationen. Erlaubt – nicht erlaubt. Und dazwischen eine klare Trennung.« Krämer unterbrach sich, um mit Orangensaft nachzuspülen. Ich zündete mir eine Zigarette an und drehte mein Gesicht in die Morgensonne. Die Antikorruptions-Verordnung. Unter anderem aus diesem Grund war ich mit ihm hierher gefahren. Bereits vor zwei Jahren gab es darüber erste Diskussionen. Worauf Monate der Konzepte, Entwürfe und Vorlagen folgten. Immer unterbrochen durch Wochen der Korrektur. Nun, nachdem der Stadtrat die Verordnung angenommen hatte, würden weitere Monate für die Formulierung der Durchführungsbestimmungen vergehen. Sicher wäre eine Rechnung ganz interessant: Aufwand zur Entwicklung der Verordnung im Vergleich zum Schaden, den die Stadt durch Korruption erlitt. Bestenfalls glich sich beides wohl aus. Nur ließ sich der Aufwand eben nicht vernünftig rechnen, da er sich jeder detaillierten Erfassung entzog. Und damit fehlten mir gegenüber Krämer die Argumente. Der wischte sich die letzten Krümel vom Pappteller in den Mund und bat mich um eine Zigarette. Ich schob ihm die Packung über den Tisch. Unbeholfen paffte er den Qualm über das Messegelände. »Doch jetzt zum Eigentlichen. Willengud, Sie sind also der Meinung, dass wir hier Ansätze finden, wie kommunale Arbeitsprozesse zu optimieren und zu vereinfachen wären?« Ich überlegte, ob ich ihn jetzt an seine »Big Points« erinnern sollte, entschied mich aber dann für eine Geste, die vieldeutig interpretiert werden konnte. Meine These war, dass der Großteil der Blindleistung in seinen Verwaltungsprozessen entstand. Er hingegen war der Meinung, dass überall dort Einsparungen erzielt werden konnten, wo sich etwas zählen und anschließend addieren oder subtrahieren ließ. Aus den Augenwinkeln sah ich Krämer mit fahrigen Fingern die Zigarette auf den Rand des Aschenbechers stupsen. Sein schwarzes Haar stand noch immer wirr. Besonders am Hinterkopf. Aber auch über dem Ohr. Dabei waren wir uns im Prinzip einig. Nämlich dann, wenn es um Einsparungen im Allgemeinen ging. Einnahmen minus Ausgaben, daraus entstand das Haushaltsdefizit, das er als Leiter der Finanzbehörde abzubauen hatte. Und dazu wollte er von mir als Berater Lösungen.


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Nur eben beim Wie, da hatten wir sehr unterschiedliche Sichtweisen. Ich wollte vor allem die Prozesse vereinfachen, was von ihm Großzügigkeit und Vertrauen in seine Mitarbeiter verlangte. Was bedeutete, dass er sich mit einer gröberen Analyse zufrieden gab, nicht mehr jeden Schritt kontrollierte, Verantwortung delegierte. Er dagegen wollte seine »Big Points«. Optimierungen, die sich eindeutig rechnen ließen. Vorher – Nachher, Aufwand – Nutzen. Was bisher immer dazu geführt hatte, dass Sparmaßnahmen dort eingeführt wurden, wo die Wirkleistung erbracht wurde. Bei der Abfallentsorgung, in den Beratungsstellen und Sporthallen. Aus diesem Grund hatte ich ihm den Besuch der Messe vorgeschlagen. Er sollte erkennen, dass die ausgestellten Produkte weder zu schnelleren Entscheidungen noch zu einem höheren Nutzen für die Bürger führen würden. Ja, dass sogar fraglich war, ob damit die Ausgaben wesentlich gesenkt werden konnten, da Automatisierung häufig die Eigenart hat, direkte Kosten nicht zu senken, sondern sie in indirekte zu verwandeln. Besonders bei solch zentralistischen Prozessen, wie sie in seinem Rathaus abliefen. »Hallo, Willengud, ich hatte Sie etwas gefragt!« Er riss mich aus meinen Überlegungen. Auf seiner geblümten Krawatte prangte ein frischer Kaffeefleck. Vielleicht half der Messebesuch ja tatsächlich. Die Bedienung brachte die Rechnung. 18,30 Euro. Ich bat die Kellnerin, den Betrag zu splitten. In zwei Belege zu je 9,15 Euro. So, wie in der Antikorruptions-Verordnung vorgegeben. Dann lächelte ich Krämer zu. »Ich denke, wir schauen uns einfach ein wenig um.« In Pavillon 15 tobte das Leben. Menschen schoben sich durch die Gänge und verursachten einen Sog, der den wenigen Zaudernden keine andere Chance ließ, als sich anzuschließen. Wendige Verkäufer in schwarzen Anzügen pickten sich Einzelne aus der Menge heraus, luden sie zu Kaffee oder anderen Getränken ein und entließen sie anschließend, mit Plastiktüten beladen, wieder in den Strom. Krämer war dafür ein geeignetes Objekt. Den Abschluss eines Zeitschriftenabonnements konnte ich noch rechtzeitig verhindern, das Angebot für elektronische Zugangskontrollen verlangte mehr Aufwand. »Hier, Willengud, schauen Sie doch. Wäre das nichts für unsere Schwimmbäder?«


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Er wies auf ein Drehkreuz, das über einen Chip freigegeben wurde und dabei die Anzahl der Passierenden zählte. Seine Lippen wurden schmal, mit den Augen fixierte er einen der Lichtfluter an der Hallendecke. »Zwei Planstellen? Oder vielleicht gar drei? Was meinen Sie, Willengud?« »Wer verkauft die Chips?« Die Lippen verloren ihre Spannung. Doch nur für einen Moment, dann zogen sie sich wieder zu einem Strich. »Willengud – etwas Kreativität. Da stellen wir einen Automaten hin. Die gibt es inzwischen auch für Scheine – das ist doch kein Problem mehr.« »Und wer garantiert Ihnen, dass der richtige Tarif gezahlt wird?« »Natürlich muss es dafür einen Kontrolleur geben!« Ich schüttelte den Kopf. Er brauchte etwas länger, um sich der Unsinnigkeit seines Vorschlags bewusst zu werden. Natürlich hätte er auch die Tarifstaffelung in Frage stellen können. Diese unsinnige Trennung in Rentner, Bundeswehrangehörige, Studenten und Behinderte. Aber so weit war er eben noch nicht. Bevor er sich jedoch wieder in den Menschenstrom reihte, griff er sich eine der bereitstehenden Tüten und drückte sie mir in die Arme. »Wir nehmen wenigstens die Firmenunterlagen mit.« Ich sah in die Tüte. Sie enthielt einen fünf Zentimeter dicken Katalog, ein Base-Cap und einen Kugelschreiber. Alles unter 9,15 Euro. Einige Schritte später schwenkte Krämer nach links und verharrte vor einem Monitor. Zutrittskontrolle über Videosysteme, las ich unter dem Namen der ausstellenden Firma. »Willengud, Willengud, gehen Sie doch mal ein Stück zurück!« Ich zwängte mich durch die Menschenmenge zum gegenüberliegenden Stand, doch er bedeutete mir mit ausladenden Gesten, ich solle mich in Richtung des Eingangs bewegen. Dann wies er mit dem Zeigefinger auf mich und winkte mich heran. Als wäre er die bucklige Hexe und ich der zum Mästen vorgesehene Hänsel. Gebannt starrte er dabei in den Monitor. »Tatsächlich, haarscharf. Ein perfektes System!« Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie ein Verkäufer die Krawatte gerade rückte und sich uns bedächtigen Schrittes näherte. Krämer war so fasziniert von dem System, dass er nicht bemerkte, wie ich dem Verkäufer


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mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass wir noch etwas Zeit benötigten. »Ich könnte sofort sehen, wer sich meinem Büro nähert. Entscheiden, für wen ich zu sprechen bin und für wen nicht.« Ich runzelte die Stirn. Der Weg zu ihm führte über sein Sekretariat. Und dort saßen bereits zwei Damen als Torwache. »Na ja, Willengud, vielleicht haben Sie recht. Sekretärinnen sind für einen Behördenleiter wie mich nun wirklich notwendig. … Aber vielleicht in Verbindung mit dem Wechselautomaten für das Schwimmbad?« Ich sah ihn lange an. »Ich dachte nur, dass es für den Kontrolleur sicher unangenehm wäre, die ganze Zeit neben dem Wechselautomaten zu stehen. Willengud, Sie müssen auch mal an die Arbeitsbedingungen meiner Mitarbeiter denken!« Ich nickte, und er reichte mir eine der bereitstehenden Plastiktüten. Der darin befindliche Katalog war etwas dünner, dazu fand ich einen Schlüsselanhänger. Weiter ging es. Zeiterfassungssysteme, Archivierung von Unterlagen, Software in allen Varianten, Büromaterial. Tatsächlich gelang es mir, alle ernsthafteren Verkaufsverhandlungen abzuwenden. Einmal erwähnte ich, dass ein Leiter der Finanzbehörde natürlich ausgezeichnete Kontakte zum Finanzamt habe, das andere Mal ließ ich anklingen, dass wir beim Abschluss eines Vertrags Sponsoringleistungen erwarteten. Den besten Coup landete ich jedoch bei einem Büromöbelhersteller, dem ich zu verstehen gab, dass wir lediglich zwei, drei teure Scheinangebote für einen bereits ausgeschriebenen Auftrag benötigten. Wir waren nicht wegen Kontakten auf der Messe. Ich wollte Krämer lediglich zeigen, dass all die Exponate keines seiner Probleme beheben würde. Kein Brief verließ dadurch schneller das Rathaus, kein Antrag wurde dadurch zügiger bearbeitet. Allerdings nahm die Anzahl der Tüten in meinen Händen von Stand zu Stand zu. Schließlich blieb Krämer stehen. »Meinen Sie nicht, dass es Zeit für einen Kaffee wäre?« Ich schaute auf die Uhr. Wir waren gerade mal eine Stunde unterwegs. Andererseits, die Tüten wurden langsam schwer. Warum also nicht? Hinten, am Ende des Gangs, befand sich ein kleines Café. Doch er sah mich mitleidig an. »Willengud, Willengud, so wird nie ein vernünftiger Berater aus Ihnen. Sie müssen ökonomisch denken. Wir werden doch nicht unser hart erarbei-


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tetes Geld ausgeben, wenn es hier so viele Möglichkeiten gibt, sich einladen zu lassen.« Er deutete auf den großen Stand in der Mitte der Halle, wo ein Unternehmen Geräte für die kommunale Reinigung offerierte. Ich folgte ihm. Wir stellten uns vor ein Podest, auf dem sich ein Gerät befand, dessen Zweck sich mir nicht erschließen wollte. Und tatsächlich, es klappte. Nur wenige Minuten später wurden wir angesprochen. (…)


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