VICE Germany - The Whyte Tyger Izzue

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FREE VICE MAGAZINE VOLUME 6 NUMBER 2

VOLUME 6 NUMBER 2

THE WHYTE TYGER IZZUE

MÄRZ 2010


COCKNBULLKID BUGATI FORCE METRONOMY AFRIKAN BOY WHOMADEWHO THESE NEW PURITANS SHITROBOT BOY 8-BIT RENAISSANCE MAN TELONIUS ZOMBIE DISCO SQUAD LES GILLETTES SHIR KHAN THE C90S BIFFY N HEADMAN

Photo by Jonnie Craig

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INHALT

Bild von Jim Krewson

VOLUME 6 NUMBER 2 Cover-Foto von Jason Henry

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TRANCE TILL ETERNITY Mayhem wollen niemals aufhören . . . . . . . . . . . . . . . 20

THC & A Fotos von Richard Kern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

MIAU MIAU Ich trinke meinen Tee in Japan gerne mit Katzen, weil ich schüchtern bin . . . . . . . . . . . . . 22

IN DER TIEFE DES WALDES Eine alte Geschichte aus dem Nirgendwo . . . . . . . . . 78

UBERMORGEN.COM Ein Interview mit der neuen Welle von Techno-Troublemakern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

WAS FÜR EIN ZIRKUS Die Rosaires lieben ihre Tiere, als wären sie Teil der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

JACOB HOLDT IST KEIN HIPPIE Ein paar neue Fotos vom größten Dänen Amerikas . . 30

EINE URLAUBSREISE ENDET IN KAMBODSCHA Den Roten Khmer wird der Prozess gemacht . . . . . . . 96

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INHALT

Bild von Jim Krewson

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 VICE Mail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Dos & Don’ts: Guest-Written by the Fat Jew . . . . . . . 44 Fashion: Fragt mal Alice (Kurzfassung) . . . . . . . . . . . . 52 Fashion: Sinnlicher französischer Film aus den 70ern . . 62 12

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VICE

Skinema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Games . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Reviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Stockists . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Johnny Ryans Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114


Born & Raised in England.

MENS & WOMENS APPAREL : WWW.SUPREMEBEING.COM : DISTRIBUTED BY ICCDISTRIBUTION : T0032 485 05 09 11 : INFO@ICCDISTRIBUTION.EU


GRÜNDER Suroosh Alvi, Shane Smith CHEFREDAKTEUR Tom Littlewood (tom@viceland.de) STELLVERTR. CHEFREDAKTEURIN Barbara Dabrowska (barbara@viceland.de) MUSIK Andreas Richter (andreas@viceland.de) FASHION Nina Byttebier (nina@viceland.de) ONLINEREDAKTEUR Felix Nicklas (felix@viceland.de) ÜBERSETZUNG Benjamin Seibel, Elske Rosenfeld, Barbara Dabrowska LEKTORAT Juliane Liebert (juliane@viceland.de) KORREKTUR Sönke Hallmann LAYOUT inkubator.ca WEB DESIGN Solid Sender TEXTE Andreas Richter, Tomokazu Kosuga, Sara Golda Rafsky, Henrik Saltzstein, Robin Barber, Rocco Castoro, Juliane Liebert, Chris Nieratko, Felix Nicklas FOTOS Christoph Voy, Tomokazu Kosuga, Camilla Stephan, Blossom Berkofsky, Daniel Gebhart de Koekkoek, Isabel Asha Penzlien, Richard Kern, Lois Carbone Barber, Robin Barber, Lois Carbone Barber, Robin Barber, Charles Sprague, Jason Henry, Sara Golda Rafsky

HERAUSGEBER Benjamin Ruth (benjamin@viceland.de) HEAD OF ADVERTISING Benny Eichelmann (benny@viceland.de) ADVERTISING Carsten Kritscher (carsten@viceland.de) Susanne Bürgers (suzi@viceland.de) ONLINE MARKETING Gabriel Platt (gabriel@viceland.de) EVENTS Nicolas Mönch (nicolas@viceland.de) PRODUCTION MANAGER Benni Pollach (benni@viceland.de) PRODUCTION ASSISTANT Anna Sprang (anna@viceland.de), Romy Geßner (romy@viceland.de) PRAKTIKANTEN Arne Hübner, Stefan Lauer, Lize Van Schoor, Fabian Maier, Emily Beckmann, Julia Frese DISTRIBUTION Miriam von Toffl (distribution@viceland.de)

ILLUSTRATIONEN Johnny Ryan, UBERMORGEN.COM US CHEFREDAKTEUR Jesse Pearson (jessep@viceland.com) US STELLVERTR. CHEFREDAKTEUR Chris Cechin (chrisc@viceland.com) EU REDAKTEUR Andy Capper (andy@viceuk.com) EU FASHION Marcus Ross (fashion@viceuk.com) US FOTOS Patrick O’Dell (patrick@viceland.com) VICE GERMANY Schickt uns Briefe, DOs & DON’Ts, CDs, Tidbits, Magazine, Bücher, Filme usw. Brunnenstr. 196, 10119 Berlin, Germany Phone +49 30 4005449-10 Fax +49 30 4005449-20 VICE NEW YORK 97 North 10th Street, Suite 204, Brooklyn, NY 11211 Phone 718 599 3101 Fax 718 599 1769 VICE LOS ANGELES 722 North Figueroa Street, Los Angeles, CA 90012 VICE MONTREAL 127 B King Street, Montreal, QC, Canada H3C 2P2 Phone 514 286 5224 Fax 514 286 8220 VICE TORONTO 1349 Queen Street West, Toronto, ON, Canada, M6K 1M1 Phone 416 596 6638 Fax 416 408 1149 VICE UK 77 Leonard Street, London, England, EC2A 4QS Phone +44 (0) 20 7749 7810 Fax +44 (0) 20 7729 6884 VICE AUSTRALIA PO Box 2041, Fitzroy, Victoria, Australia 3065 Phone +613 8415 0979 Fax +613 8415 0734 VICE NEW ZEALAND PO Box 68-962, Newton, Auckland, New Zealand Phone +64 9 378 1111 Fax +64 9 378 1113 VICE SCANDINAVIA Rosenlundsgatan 36, SE-118 53 Stockholm Phone +46 (0) 8 692 6260 Fax +46 (0) 8 692 6274 VICE ITALY Via Watt 32, 20143, Milano Phone +39 (0) 2 45479185 Fax +39 (0) 2 99986071 VICE JAPAN Phone +81-3-5766-0697 Fax +81-3-5766-0698 VICE NETHERLANDS Postbus 15897 1001 EA Amsterdam, The Netherlands Phone +31 (0) 20 6732530 Fax +31 (0) 20 6738751

BUCHHALTUNG Karin Helfer (karin@viceland.de) VERANTWORTLICH Tom Littlewood CEO, VICE MEDIA GROUP EUROPE Andrew Creighton (andrew@viceuk.com) VICE BELGIUM Carnotstraat 39, 2060 Antwerpen, Belgium Phone +32 (0) 3 232 18 87 Fax +32 (0) 3 232 43 02 VICE FRANCE 21, Place de la République, 75003 Paris, France Phone +33 (0) 9 53 26 78 02 Fax +33 (0) 9 58 26 78 02 VICE SPAIN C / Palma de Sant Just 9 ab, 08002 Barcelona, Spain Phone +34 93 3101066 Fax +34 93 664573414 VICE AUSTRIA Favoritenstraße 4-6 / III, 1040 Vienna, Austria Phone + 43 (1) 90 76766 Fax +43 (1) 90 76766 99 VICE MEXICO Presidente Masaryk 101-1001, C.P. 11570, México DF Phone (+52) 55 5255 1909 Fax (+52) 55 5203 4061 VICE BRAZIL Rua Periquito 264, São Paulo, SP, CEP 04514-050 Phone +55 11 24762428 Fax +55 11 50491314 VICE ARGENTINA Esteban Echeverría 1744, Florida, Buenos Aires, B1602ABR Phone +5411 4730 0222 Fax +5411 4760 1121 VICE BULGARIA 12 Anton P. Chehov Str. bl. 87 Iztok, 1113 Sofia, Bulgaria Phone +359 2 870 46 37 Fax: +359 2 873 42 81 VICE SOUTH AFRICA Studio 401, 66 Albert Road, Woodstock, Cape Town, South Africa Phone +27 72 128 0015 VICE CZECH REPUBLIC Hasˇ talska´ 1, 11000 Praha 1, The Czech Republic Phone +420 222 317 230 Fax Phone +420 222 317 230 VICE PORTUGAL Rua Santo António de Contumil, 651 — 4350-291 Porto, Portugal Phone: +351 228 308 442 VICE GREECE Voulis 22,10563, Syntagma, Athens Greece Phone: +30 210 3254290 Fax: +30 210 3249785

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MITARBEITER DES MONATS

JASON HENRY

Henrik hat an der angesehenen Danish School of Media and Journalism Fernseh- und Medienproduktion studiert und hätte wahrscheinlich mittlerweile einen gut bezahlten Job, wenn er vor einem Jahr nicht die fragwürdige Entscheidung getroffen hätte, ein Praktikum bei Vice Scandinavia zu machen. Aber zumindest hat er dort viel zu tun. Als Däne vom Dienst schicken wir ihn immer los, um die intelligentesten, faszinierendsten Menschen aus Dänemark zu interviewen — eine Liste, die bis zu dieser Ausgabe lediglich aus Lars von Trier bestand. Neulich haben wir ihn zu Dokumentarfotograf Jacob Holdt geschickt, dem neugierigen dänischen Vagabunden, dessen Buch American Pictures das Genre der Fotografie wiedergeboren hat. Und wer hätte das gedacht, unser kleiner Robert-Plant-Verschnitt hier ist ein ziemlich gesprächiger Typ.

Siehe WAS FÜR EIN ZIRKUS, Seite 86.

Siehe JACOB HOLDT IST KEIN HIPPIE, Seite 30.

SARA GOLDA RAFSKY

NANCY VON DER BÄCKEREI UNTEN

Siehe EINE URLAUBSREISE ENDET IN KAMBODSCHA, Seite 96.

Siehe ALLES IN DIESEM HEFT.

Sara ist Journalistin und recherchiert meistens gerade an irgendeinem verrückten Ort der Welt irgendeine Geschichte. Nach ihrer Doku des Konflikts in Bogotá, ist sie letzten Herbst nach Südost-Asien aufgebrochen, wo sie einem Freund dabei zusah, wie er eine Schlange aufschlitzt und das noch immer schlagende Herz aufisst. Aufgrund eines Währungsdilemmas wäre sie beinahe für immer in Myanmar gestrandet. Es fiel ihr nicht gerade leicht, sich von den stillen Stränden und Tikibars Kambodschas wegzureißen, aber irgendwann schaffte sie es doch noch, sich an den so gut wie nicht zu fassenden Künstler und Roten-Khmer-Überlebenden Vann Nath zu heften. Sie suchte sich in den kambodschanischen Gelben Seiten einen Übersetzer, tauchte unangemeldet in Vann Naths Galerie auf und fing an, die Geschichte um das besondere Gericht zu entwirren, das Pol Pots mörderisches Regime anklagen soll.

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HENRIK SALTZSTEIN

Jason ist ein junger Fotograf und hat gerade die University of Florida abgeschlossen. Die letzten Monate hat er sich im Bundesstaat seiner Alma Mater herumgetrieben, auf den Sofas der unterschiedlichsten Leute gepennt und alles, was ihn interessierte, dokumentiert—zwischen seinen mies bezahlten Jobs für die New York Times, SLAP Skateboard Magazine und das Wall Street Journal. Lustiger Fakt: Er hat vier Vornamen (Richard Jason Edward Henry) und er hat noch nie einen Hamburger gegessen, obwohl er kein Vegetarier ist und auch nie einer war. Jason hat noch nie für Vice Fotos gemacht, aber wir haben ihn neulich gebeten, für uns eine Zirkusfamilie in neunter Generation zu fotografieren, die in ihrem Reservat in Sarasota Tiere trainiert. Und Junge, hat er das gut gemacht! Er hat diesen Monat sogar das verdammte Cover bekommen.

VICE

Wir wollen nicht übertreiben, aber diese Frau hat Chancen, unsere Mitarbeiterin des Jahres zu werden — Nancy ist unser Rockabilly-Koffeinmedium, das uns jede beliebige Anzahl von Kaffeebechern am Gesichtsausdruck ablesen kann. Ohne sie gäbe es nicht nur dieses Heft nicht, sondern auch keins davor und keins danach. Im Gegensatz zur ständig wechselnden Redaktionsbesetzung war Nancy schon immer da und sie versteht uns. Sie konstatierte enttäuscht, dass der „Kleine mit dem Bart“ und der „Große mit den langen Haaren“ nicht mehr so oft kommen — die, die immer „so verpeilt aussahen“. Wir haben tagelang gegrübelt, wen sie meinen könnte. Es gibt bei uns keine verpeilten Bärtigen. Offenbar war das vor unserer Zeit. Nichtsdestotrotz freut sie sich, dass die „große, schräge Frisurentante“ und die eine, die „irgendwie am normalsten von allen ist“, immer noch täglich vorbeikommen.


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VICE MAIL

DIE RACHE DES MÄNNERBOB-TRAGENDEN POETRYSLAMMERS

Hallo Vice, fand ich erst gut, dass ihr neulich Geschichten von mir abgedruckt habt. Erst. Meine Tante hat mir dann das fertige Heft nach Hause gebracht und da hab ich dann schon dumm gekuckt. Nicht so mittelmäßig dumm, sondern so richtig dumm, so Steinmeier-dumm. Habt ihr euch das Cover mal angeschaut? Ich meine ernsthaft angeschaut?! Wahrscheinlich nicht, sonst wüsstet ihr, worauf ich hinaus will. Ein paar Sachen kannte ich gar nicht und hab sie dann mal ausprobiert. Zum Beispiel Hannah und ihre Schwestern. Eigentlich ein ganz interessanter Titel, aber dann die Enttäuschung: kein einziges Bild. Wie soll ich irgendwas für die Mädchen in dem Buch empfinden, wenn ich nicht sehen kann, wie sie es frivol miteinander machen? Ich glaube, dass so kein wirkliches Bücherregal aussehen kann. Um das Bild von einem echten Bücherregal wieder gerade zu rücken, hab ich euch ein Bild von meinem Regal gemacht. Ja. Ich bewahre meine Bücher im Eisfach auf, weil es zu groß für mich und meinen Geldbeutel ist. Wenn man es mit Büchern füllt, dann muss nicht dauernd Luft gekühlt werden und man verbraucht weniger Strom. So. Von links unten nach rechts oben: 1. Max, das Schwein — Es ist ein Wackelfingerbuch. Du sodomierst ein Stoffschwein von hinten, während du durch die Kartonseiten blätterst und das Tier drollige Abenteuer erlebt. Der Vorteil ist, dass die Seiten beschichtet sind und niemals verkleben. 2. Das Buch vom Wohnen — Ich habe es auf dem Flohmarkt gefunden und mitgenommen, weil jedes erdenkliche Setting eines 70erJahre-Pornos dort abgelichtet ist. Manchmal stehen da auch noch bärtige Herren in Holzfällerhemden rum und rauchen Pfeife. Sechs verklebte Seiten.

10. Vom verständnisvollen Trinken — Auch wieder ein Buch aus den 70ern. Damals durfte man noch viel trinken und trotzdem Autofahren. „Früher war alles besser!“, sagt Oma. Hier hat sie tatsächlich recht. Ich trinke nur noch nach diesem Manifest. 11. Ein Cocktail-Guide — Ich trinke Bier und Schnaps. Wenn nichts anderes da ist auch wohl Wein oder einfache Longdrinks. Damit ich aber diese fancy Freaks mit ihren ach so stilvollen Designergläsern vernünftig beleidigen kann, habe ich dieses Buch auswendig gelernt. Man muss sich auskennen, bevor man sagen kann: „Ey, das Ei in deinem Port Wine Flip sieht aus wie deine Mudder ihre Regel!“ 12. Kleinstadtschlampe von Mirjam Dreer — Meine Art, eine Schlampe im Gefrierfach zu haben, ohne sie vorher zersägen zu müssen. In den unteren Gefrierfächern war es nicht so einfach.

3. Roy Stuart — Ein Fotobuch. Die meisten Bilder sind nicht so prickelnd, aber es gibt vier Fotos mit Aufnahmen eines Glory-Holes und eine Frau, die schon vor dem Film Avatar komplett blaue Haut hatte und sexy war.

13. Ostfriesisches Wörterbuch—Wenn meine Großeltern anrufen, dann schlage ich es auf und sage intelligente Sätze auf Plattdeutsch. Wenn ich ihnen gut genug imponiere, dann sind die kleinen Zuwendungen größer. Essenzielles Buch, um als Mensch, der nicht arbeiten will, zu überleben.

4. Doc Martens — Ich hab die Texte nicht gelesen, aber die Bilder zeigen viele Leute ohne Haare und mit Hosenträgern. Es sind auch Stiefel in orange zu sehen. Ich habe es in einem Schuhgeschäft mitgenommen, weil sie es mir nicht geben wollten. Eddie hat es sich einmal geliehen und ist dann gestorben, es gibt einen Zusammenhang.

14. Taschenkalender 2005 — Damals hatte ich noch Zeit, einen Kalender zu führen. Ich habe seinerzeit noch protokolliert, welche öffentlichen Toiletten ich besucht und was genau ich dort gemacht habe. Manchmal wundere ich mich selbst darüber. In einigen Prozessen würde es bestimmt als Beweismittel durchgehen.

5. Krishna — Viele Hippies sitzen in einem Kreis und reiben die Brust der Person, die links von ihnen sitzt, dabei haben sie offene Münder und wallendes, blondes Haar. In der Mitte ein Centerfold mit einer tanzenden Blondine, Blumen im Haar. Das Cover hat die gleiche Farbe, wie eine unauffällige Papiertüte aus einem Sexshop. Man muss dieses Buch lieben.

15. Rotes Sofa inklusive Taxigeschichten von Andreas Weber — Herr Weber ist mein Nachbar. Er wohnt im ersten Stock, ich im Erdgeschoss. Er kann immer in mein Wohnzimmer schauen und weiß sehr viel über mich. Als ich sein Buch las, dachte ich, ich könnte etwas über ihn erfahren. Jetzt wünschte ich, ich hätte es nicht gelesen. Die Taxigeschichten allerdings haben mich auf meine Zukunft vorbereitet.

6. Donnie hat ein neues Auto und fährt etwas zu schnell von Arne Nielsen — Wenn ich es nicht schon hätte, würde ich es mir sofort kaufen. Es hat einen lebendigen Dalmatiner auf dem Cover, aber in der Geschichte, in der es um einen Dalmatiner geht, ist der Dalmatiner tot. Wenn du dich fragst, wie du dreimal das Wort „Dalmatiner“ in einem Satz unterbringen kannst, dann musst du dieses Buch auch haben. Wenn du gute Geschichten magst, dann auch.

16. Halbneu von Christian Ritter—Es sind ein paar Sachen drin, die mir gefallen. Eigentlich habe ich es aber wegen dem Cover. Es zeigt eine halbierte Erdbeere, die aussieht, wie eine geöffnete, rote Vagina. Es ist das einzige Buch, das nur von außen und gar nicht von innen verklebt ist.

7. Die kleine Garbo von Bodo Kirchhoff— ist noch eingeschweißt. Wird es wohl auch bleiben. Wenn du willst, schenk ich es dir. Ich glaube, ich habe es in Lemgo bekommen, in einer Bar. Ich glaube, die mochten mich da nicht. Aber wenn du mir sagst, dass ich so viele Freigetränke bekomme, wie ich will, wenn ich hier was vorlese, dann nehme ich das eben sehr ernst. Und ich will viele Freigetränke. 8. Zwei Lachsfilets von ja!—Eigentlich liegen sie vor den Büchern, ich habe sie für das Foto da hoch gelegt. Es muss nicht unbedingt Lachs sein, manchmal sind es auch Erbsen oder dieser Mozzarellaspinat. 9. Der Anti-Struwwelpeter von F. K. Waechter — Eine Streitschrift zum normalen Struwwelpeter. Hier gewinnen immer die Kinder. Der Suppenkasper, der im Original verhungert, macht hier zum Beispiel ein feines Ragout aus seinen Eltern. Oder so ähnlich. Die Zeichnungen sind niedlich, ein paar Seiten verklebt. 18

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17. Das Buch Mormon — Ich habe es vor vielen Jahren von einem Mann im blauen Anzug geschenkt bekommen. Er hatte ein Namensschild und wollte mit mir Basketball spielen. Als wir dann gespielt haben, hat er, während er mich besiegte, drei Frauen geheiratet. Außerdem sprach er Englisch. In Ostfriesland. Freak. 18. (Ganz hinten, sieht man nicht) SNES-Spieleberater — Alle Klassiker drin. Sogar das mit den drei Piraten, von denen jeder eine besondere Fähigkeit hat. Ich verstecke es, weil es das Verklebteste ist und alle meine Freunde neidisch wären. So sieht ein Realregal aus, versteht ihr? Grüße, ANDY STRAUSS Schreibt an VICE, Brunnenstr. 196, 10119 Berlin oder an briefe@viceland.de Briefe können aus Platzgründen gekürzt werden.



Trance Till Eternity

Mayhem wollen niemals aufhören

VON ANDREAS RICHTER, FOTOS: CHRISTOPH VOY

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or Kurzem spielten Mayhem eine Show in der traditionsreichen Berliner Volksbühne. Die Band, die in der öffentlichen Meinung lange Zeit als dieser Haufen von Vandalen und als Ausgangspunkt für Kirchenbrände und Mord und Totschlag im Black Metal galten. Ihr Weg von den Proto-Akteuren hin zu den ideologischen und formalästhetischen Grenzüberschreitern des Genres dauert mittlerweile über 25 Jahre. Einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hat Sänger Attila Csihar, der neben Mayhem auch noch in Feuilleton angrenzenden Projekten wie Sunn O))), Burial Chamber Trio oder VoV aktiv ist. Wir trafen uns nach der Show mit ihm, um sehr ausführlich über Esoterik und seine Faszination für das Altertum, aber hin und wieder auch über den Status quo von Mayhem zu sprechen. Vice: Die Geschichte Mayhems, ist sie für die Gegenwart und Zukunft der Band eher förderlich oder hinderlich? Attila Csihar: Zunächst mal: Wir müssen es einfach akzeptieren, das ist nun mal so. Davon abgesehen, hat die Medaille immer zwei Seiten. Viele Leute sagen, alles, was passierte, löste einen enormen Promotioneffekt aus. Was die Leute nicht begreifen: Die Tragödien, die dort vorgefallen sind, der Selbstmord von Dead und der Tod von Euronymous, das hat unsere Band ruiniert! Wir verloren unsere Freunde, das ist einfach kein Spaß! Im Gegenteil, es waren harte Zeiten. Das wird jetzt im Nachhinein verklärt und als die gute alte Zeit gefeiert. Aber warum? Natürlich wurde dadurch eine Bewegung ausgelöst. Mayhem war durch die Geschehnisse mehr oder weniger am Ende. Aber die Szene explodierte förmlich. Viele Bands, die nicht viel mehr als ein Demo hatten, begannen zu touren, Platten herauszubringen. Das war eine gute Sache, aber natürlich nicht für uns. Die Szene hat davon profitiert. In wessen Köpfen ist das Geschehene präsenter, euren oder denen der Fans? Wir sind uns der Dinge natürlich sehr bewusst. Aber es gab Zeiten nach der Reunion, in denen viele Leute Mayhem mit den Mayhem von früher verglichen. Ich war damals nicht dabei, ich habe in Ungarn meine Schule beendet, aber sie haben ja mit Maniac weitergemacht. Und sie mussten dem Druck standhalten und sich beweisen, weil jeder sie mit dem alten Line-up verglich. Natürlich ist es immer einfach, jemanden als Vergleich heranzuziehen, den es nicht mehr gibt, und ihn zu glorifizieren. Es ist nicht leicht für eine Band, sich die ganze Zeit mit so einer Scheiße beschäftigen zu müssen. Und viele von diesen engstirnigen Kids redeten Bullshit wie: Die frühen Mayhem, das waren die echten Mayhem. Und ich frage mich: Was ist echt? Zu sterben? What the fuck?! Ihr solltet sterben! Es ist nun mal passiert. Und natürlich sind immer wieder persönliche Dinge in der Band vorgefallen. Aber die Todesfälle waren ein Suizid und ein Konflikt zwischen zwei Menschen. Es waren in beiden Fällen persönliche Angelegenheiten, nichts, das die Band betreffen sollte. Es passierte nicht, um Mayhem zu schaden oder nach vorn zu bringen, es geschah aus anderen Gründen. 20

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Attila in kompletter untoter Kardinalsmontur während seines Auftritts in der Berliner Volksbühne

Hätte man einigen dieser Begleiterscheinungen nicht mit einem neuen Bandnamen vorgreifen können? Ja, vielleicht. Auf der anderen Seite stimmt es natürlich, dass sich der Name Mayhem etabliert hatte, aber das haben wir auch verdammt noch mal verdient (lacht). Ich bin stolz darauf, Teil der Band zu sein. Es gab harte Zeiten und ich bin nicht mit allem einverstanden, was passiert ist. Ich war nicht immer Teil der Band, aber ich war zumindest mehr oder weniger von Anfang an involviert. Drei von uns waren das. Und weißt du, was ich denke? Ich denke, wir werden niemals aufhören. Wir können uns Zeit lassen, es mit dem nächsten Album ruhig angehen, aber ich sehe keinen Sinn darin, jemals aufzuhören. Wir können uns immer in andere Richtungen bewegen. Unsere grundlegende Philosophie ist die einer gewissen Freiheit. Natürlich gibt es keine absolute Freiheit, wir bewegen uns in Zwängen, aber der Geist ist frei. Wir müssen uns also auf nichts festlegen und ich finde es außerdem bemerkenswert, dass extremer Metal immer noch so lebendig ist. Es ist ja auch unglaublich, dass die ganzen alten Bands immer noch spielen. Iron Maiden oder sogar Black Sabbath. Die Typen spielen einfach, bis sie sterben. Sie sind ja quasi die erste Generation. Rockmusik ist ja insgesamt noch sehr jung, gerade mal 50 Jahre alt. Und selbst die Rolling Stones spielen noch. Genau! Keine Ahnung, wie weit wir kommen. Vielleicht spielen wir, bis wir umfallen. Und vielleicht spielen wir in 30 Jahren auch anders als heute, wer weiß? Stell dir vor, wie Hellhammer mit 70 Doublebassdrum spielt. Haha, stimmt. Ich vergleiche diese Angelegenheit immer mit Martial Arts oder mit Yoga. Du kannst es dein gesamtes Leben lang machen. Diese alten Gelehrten bewegen sich vielleicht nicht mehr blitzschnell, aber sie wissen genau, wie sie jemanden berühren müssen. Wenn du


Die Todesmaske (damit ist nicht der Schädel gemeint) wurde von dem ägyptischen Künstler Nader Sadek angefertigt.

Backstage ohne Talar und Maske, aber immer noch relativ untot

das mit der westlichen Welt vergleichst: Leistungssportler können sich mit 50 kaum noch bewegen, weil sie einfach den falschen Spirit haben. Sie machen Sport, um Erfolge zu erzielen und Rekorde zu brechen. Die Athleten anderer Kulturen begreifen es eher als einen Teil ihres Lebens, der sie bis ans Ende begleiten wird. Es ist also einfach eine Frage des Geistes und der Einstellung. So lange bei uns also die Einstellung stimmt, wird es Mayhem weiter geben.

stellt sich eigentlich nicht. Wir spielen Musik und das bedeutet: Wir spielen. Wenn ein Kind spielt, macht es das mit einer Ernsthaftigkeit? Man kann das eigentlich nicht beantworten. Es spielt einfach. Du öffnest auf der Bühne einen Raum und lässt das Publikum hinein. Sie öffnen wiederum einen anderen Raum und es entsteht ein wechselseitiger Prozess. Und dieser Energieaustausch ist es, worum es mir geht. Deswegen geht es bei uns auch nicht um alltägliche Themen. Es ist total cool, wenn andere Bands das machen, aber Musik ist bei uns immer mehrdimensional angelegt, es ist nicht nur Musik. Wir versuchen, diese Kanäle zu öffnen und es gelingt, aber man spürt, sie lassen sich noch weiter öffnen und das ist der Antrieb für die Band, die Erfahrungsräume größer zu machen. Was genau da passiert, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht (lacht). Es passiert einfach. Wir sind fünf Leute, wir haben eine eigene Frequenz, unseren besonderen Vibe und das ist großartig. Für mich ist das der Sinn dieser Band und ich hoffe, dass das die Leute auch spüren. Es unterscheidet sich vom Schauspielern in einem Theater, wenn du in die Rolle einer fiktiven Person schlüpfst.

Begreift ihr euch prinzipiell noch als Black-Metal-Band? Nein, das würde ich so nicht sagen. Black Metal ist lediglich ein Teil von Mayhem. Mayhem ist nur Mayhem und nichts anderes. Es ist eine Form extremer Kunst und Musik. Es ist eine Form eines möglichst grenzenlosen und direkten Ausdrucks. Das in einem Genre zusammenzufassen, grenzt zu sehr ein. Deswegen stört mich der Begriff eher. Natürlich hat Black Metal diese Geschichte und die Leute begreifen uns als einen der Akteure, aber ich denke nicht, dass wir eine typische Black-Metal-Band sind oder waren. Das erste Album vielleicht, aber alles, was danach kam, hat ganz andere Einflüsse. Ich mag es nicht, wenn Dinge vereinfacht werden. Ich mag aus diesem Grund auch Religionen nicht. Und ich mag auch Black-Metal-Bands nicht, wenn sie an genau diesem Punkt selber wie eine religiöse Band agieren und alles nach einer bestimmten Sache ausrichten. Wie absolut kann die Ernsthaftigkeit eines Sängers in einer Band wie Mayhem eigentlich sein, wenn es keine übergeordnete Idee wie den Satanismus gibt, die diese Ernsthaftigkeit vorschreibt oder wenigstens anregt? Ich sehe meine Rolle in der Band eher so, dass ich mich in eine Trance begebe. Natürlich gehört Schauspielerei dazu. Aber ich genieße es, mich in diese Rolle zu begeben, diesen Raum der Performance zu betreten und das Publikum zu spüren. Es ist ein trance-ähnlicher Zustand, der auch nicht immer gleich ist. Aber die Frage nach Ernsthaftigkeit

Du bist Autor und Schauspieler gleichzeitig. Genau, es ist unsere Musik. Aber keine Ahnung, was wir da eigentlich machen. Keine Ahnung, was Musik eigentlich ist. Wir hören so viele Laute den ganzen Tag. Wie kommt es, dass bestimmte Harmonien unser Gehirn so zielgerichtet ansprechen? Warum kriege ich bei bestimmter Musik Gänsehaut und bei anderer nicht? Warum ist es möglich, dass sich jemand mit einem Instrument hinsetzt, einen ganz einfachen Ton spielt und es eine Intensität und Schönheit entwickelt und du am liebsten stundenlang zuhören möchtest, und jemand anders, der gerade vom Konservatorium kommt und jahrelang Musik studiert hat, wird es in seinem ganzen Leben nicht schaffen, dich mit seiner Musik zu bewegen, und du bist schon nach fünf Minuten gelangweilt? Ein Mysterium, keine Ahnung, was da los ist. VICE

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Miau Miau

Ich trinke meinen Tee in Japan gerne mit Katzen, weil ich schüchtern bin WORTE UND FOTOS VON TOMOKAZU KOSUGA, ÜBERSETZT VON LENA OISHI

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atzencafés sind in Japan momentan der Renner. Wie der Name schon sagt, sind das Cafés, wo Katzenliebhaber hingehen, um überteuerte Caffè Latte zu trinken und sich die Zeit mit einem fluffigen Haufen zuckersüßer Kätzchen zu vertreiben. In den letzen fünf Jahren haben in Japan quer durchs Land genau 79 solcher Cafés aufgemacht. Was daran besonders komisch ist, ist, dass es noch nicht mal teure Züchtungen sind, wie Perserkatzen oder diese anderen mit den merkwürdig geknickten Ohren, sondern ganz normale gemischtrassige Hauskatzen, wie man sie auch zwischen den Tonnen hinterm Supermarkt findet; solche Katzen, denen der StrayCats-Gründer Brian Setzer mit seinem unvergesslichen Song „Stray Cat Strut“ ein Denkmal gesetzt hat. Parallel dazu ist in den letzten Jahren auch eine ganze Flut an Fotobüchern und DVDs erschienen, in denen ganz normale Katzen abgebildet sind. Wenn die Leute diese Tiere, die im Prinzip nichts anderes als domestizierte Straßenkatzen sind, so faszinierend finden, warum schnappen sie sich nicht einfach eine der Hunderten streunenden Katzen, die es überall in Japan gibt, und nehmen sie mit nach Hause? Ich sag euch warum: Weil japanische Vermieter Arschlöcher sind. Die 38 Jahre alte Norimasa Hanada, die Besitzerin des Neko no mise (Katzenladen), Japans erstem Katzencafé, erklärt das Problem so: „In den meisten japanischen Mietwohnungen sind Haustiere verboten. Die einzigen, in denen Tierhaltung erlaubt ist, sind Eigentumswohnungen für Familien. Das bedeutet, dass junge, alleinwohnende Berufstätige, die zwischen 20 und 30 sind, gar nicht erst darüber nachdenken brauchen, sich ein Haustier zuzulegen, obwohl sie vielleicht gestresst sind und nach irgendeiner Form von Trost und Gesellschaft suchen.“ Es macht demzufolge Sinn, dass der Großteil der Katzencaféfans relativ junge Leute sind. Während der vier Stunden, die ich vor Kurzem im Neko no mise verbrachte, kamen und gingen über 30 Besucher und außer einer Dame um die 50 waren alle zwischen 20 und 30. Die meisten waren Frauen—ich sah während der ganzen Zeit nur drei Typen. Ein anderer Faktor, der zur Beliebtheit der Katzencafés beiträgt, ist die Tatsache, dass die Leute in Japan chronisch schüchtern sind, was bei manchen so extreme Ausmaße annimmt, dass sie sich mit einem Fremden noch nicht mal halbwegs normal über das Wetter unterhalten können. Die wortlose, taktile Kommunikation der Miezekatzen ist für diese neurotischen, antisozialen Großstädter ein enormer Trost. Im Neko no mise sind ein paar Sofas, Stühle und Tische im Raum verteilt, und es herrscht eine entspannte, feminine Atmosphäre, die von sanfter Musik untermalt wird. Eine der Wände war mit Regalen voller Manga bedeckt. Angeblich gibt es im Neko no mise insgesamt 14 Katzen und, weil in Tokio momentan Winter ist, hockten die meisten von ihnen unter dem kotatsu (einem japanischen niedrigen Tisch, an dessen Unterseite eine Heizung angebracht ist). Da die Katzen im Café ganz klar die Kings sind (und das auch wissen), waren sie arroganter, als ich es gewöhnt bin. Manche von ihnen waren schreckhaft und sprangen jedes Mal auf, wenn jemand hereinkam oder das Café verließ. Ich bekam das Gefühl, dass es ein langwieriger Prozess ist, sich mit einer Cafékatze anzufreunden—jedenfalls wenn man nicht vor hat, hier dauerhaft die Zelte aufzuschlagen—und das in einem Establishment, das sein Geld mit der Illusion verdient, dass man hier eine garantierte Portion Katzenliebe bekommt. Es gibt verschiedene Typen Katzencafé-Besucher. Neulinge sind von der besonderen Atmosphäre zunächst so überwältigt, dass sie einfach nur wie gelähmt herumsitzen. Es sah so aus, als hätte kein einziger von ihnen je zuvor eine Katze besessen oder auch nur berührt, und es wirkte so, als täten sie sich schwer damit, sich an das unvorhersehbare Verhalten echter Katzen zu gewöhnen, während sich ihre Fantasievorstellungen von handzahmen, schnurrenden Bällchen in Luft auflösten. Im Verlauf einer ganzen Stunde gelang es

den meisten von ihnen höchstens ein einziges Mal, eine vorbeilaufende Katze kurz zu berühren. Viele Gäste schienen von der schüchternen, zurückhaltenden, stillen Sorte zu sein, und sahen so aus, als ob sie dringend eine Dosis Liebe brauchen könnten. Da das nicht die Art Leute sind, die den Mut haben, zu einer Katze hinzugehen und von sich aus mit ihr zu spielen, lasen sie meist ein Buch und schlürften Kaffee, während sie geduldig hofften, dass eine Katze sich näherte. Es brach mir das Herz. Die, die in Gruppen kamen, waren im Allgemeinen fröhlich und zum Plaudern aufgelegt und benutzten das Café als einen Ort, um sich mit ihren Freunden zu treffen. Die Katzen waren für sie ein zusätzlicher Bonus und sie schnappten sich die Katzenspielsachen, die herumlagen, und waren recht erfolgreich darin, die Katzen zum Spielen zu bewegen. Die Pärchen, die ich sah, waren entweder noch nicht lange zusammen oder in der rein freundschaftlichen Phase und benutzten die Katzen, um die verschämte Distanz zwischen ihnen zu überbrücken. Während ich also in diesem Raum voller Katzen und Katzengroupies saß und meinen Kaffee schlürfte, spürte ich, wie mich langsam die beruhigende Wirkung des Katzencafés überkam. Bald begann ich grundlos zu lächeln und irgendwann war ich so entspannt, dass mir die Lider schwer wurden und ich in eine Art glücklichen Dusel verfiel. Auf die anderen schien das Ganze eine ähnlich benebelnde Wirkung zu haben, denn manchmal verstummte der ganze Raum und alle folgten nur noch gebannt den Bewegungen der Katzen. Viele Besucher blieben mehr als eine Stunde, aber angeblich gibt es auch fanatische Fans, die bis zu sechs Stunden ausharren. Norimasa erzählte mir, dass es, „obwohl die meisten Leute im Durchschnitt anderthalb Stunden bleiben, unter den regelmäßigen Kunden auch solche gibt, die sich gelegentlich krankschreiben lassen und dann den ganzen Tag hier bleiben. Sie sagen dann, dass sie kurz davor sind, unter der Last ihrer Arbeit zusammenzubrechen und eine Auszeit brauchen. Manche der regelmäßigen Kunden kommen vier- oder fünfmal die Woche, es gibt aber auch welche, die von ihrer Arbeit so ausgelaugt sind, dass sie sich von ihren Jobs beurlauben lassen müssen und dann jeden Tag herkommen, um Trost und Heilung zu suchen.“ Katzencafés verlangen in der Regel eine Aufenthaltsgebühr, die zeitlich gestaffelt ist. Neko no mise nimmt 1 Euro für zehn Minuten oder 6 Euro die Stunde, bzw. 15 Euro für einen speziellen Dreistundenrabatt. Das mag überteuert klingen, aber ein verträumtes Katzenparadies sauber und am Laufen zu halten, ist eine kostspielige Angelegenheit. Die einzige Chance, die ein Katzencafé hat, zu überleben, ist hohe Umsätze zu erzielen und die Geizhälse fernzuhalten, die sonst zweifellos stundenlang bei einer einzigen Tasse Kaffee hier rumsitzen würden. Leider bedeutet das auch, dass die regelmäßigen Kunden, die sechs Stunden hier bleiben, über 30 Euro zahlen, nur um ein paar Mal über ein Stück Pelz zu streichen. Es gibt eine japanische Legende, laut der Katzen hier immer dann populär werden, wenn sich das Land in einer Rezession befindet, und es ist tatsächlich so, dass es in den letzten Jahren einen Boom im Verkauf von Katzen und Produkten, die etwas mit Katzen zu tun haben, gegeben hat. Irgendwas haben diese spitzen Öhrchen und winzigen Pfötchen, das sich beruhigend auf die menschliche Seele auswirkt. Vielleicht ist es aber auch die traditionelle japanische Kultur, die die Leute zwingt, sich wie Herdentiere zu verhalten und sich permanent an die Gruppe anzupassen, indem sie in jeder Situation vorsichtig prüfen, welches Verhalten gerade angemessen ist („die Luft lesen“ wie es die Japaner wörtlich übersetzt nennen), die die unabhängige, freiheitsliebende Katze zu einem so faszinierenden Objekt der Begierde macht. Ich weiß, dass ich das alles jetzt ganz schön traurig darstelle, aber wie bei allen niedlichen Dingen ist es besser, nicht zu viel darüber nachzudenken. Schau lieber einfach in die hypnotisierenden Augen der süßen Kätzchen und spür, wie deine Sorgen verschwinden. Schnurrrr. VICE

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WHO IS WHO IM KATZENCAFÉ?

Links: Emiko, 22, arbeitet in der Modebranche Rechts: Yoko, 23, Hausfrau

Vice: Kommst du oft hier her? Emiko: Das ist mein erstes Mal. Yoko: Ich bin zum zweiten Mal hier. Das erste Mal war vor sechs Monaten.

freundlich sind. Masataka: Wenn sie mit mir spielen. Oder noch besser, wenn sie mir auf den Schoß springen.

Warum habt ihr heute beschlossen, hier vorbei zu kommen? Yoko: Ich liebe Katzen, kann mir aber keine eigene anschaffen, deshalb hab ich mir gedacht, ich komm halt hier her, um ein wenig Zeit mit ihnen zu verbringen. Wie habt ihr dieses Café gefunden? Emiko: Man kann es vom Bahnsteig des Bahnhofs da drüben sehen. Was macht ihr im Katzencafé? Yoko: Ich starre einfach die ganze Zeit die Katzen an. Ich finde es entspannend, ihnen zuzusehen. Wenn sie dann zufällig in meine Nähe kommen, ist das noch toller. Kayoko, 32, Kindergärtnerin

Vice: Bist du regelmäßig hier? Kayoko: Ich war vor drei Wochen zum ersten Mal hier und seitdem komme ich jede Woche hier her. Ich bin völlig süchtig danach. Du klingst wie ein echter Fan. Wie hast du den Laden gefunden? Ich fahre oft mit den Zügen der Yokohama-Linie und da sah ich eines Tages beim Vorbeilaufen in das Café hinein. Wenn du dich auf die Zehenspitzen stellst, kannst du sogar vom Zug aus sehen, wie die Leute hier mit den Katzen spielen. Ich habe mir ihren Blog angesehen und es klang nett, also lud ich eine Freundin ein und wir kamen gemeinsam her und stellten fest, dass es ein sehr netter Ort ist. Jetzt komme ich alleine, wie viele der Kunden hier. Sich mit anderen Katze Shiratama. Normalerweise ruhig. Mag es, gestreichelt zu werden, und rennt nicht weg. Leuten zu unterhalten macht auch Spaß. Vorhin sah es so aus, als hätte eine der Katzen, mit der du gespielt hast, Ärger mit einer der Angestellten bekommen. Was hatte sie gemacht? Ich sah, wie sie mit dem Mund ein Stück Zucker vom Tisch stibitzte, also sagte ich einer der Angestellten Bescheid. Ich habe gehört, dass sie das nicht dürfen. Also hat sie Ärger gekriegt... Angeblich hat sie das heute schon zum dritten Mal gemacht. Andere versuchen die Milch aus dem Töpfchen zu schlecken, das man mit seinem Kaffee kriegt. Vielleicht ist das nur ihre Art, einem zu sagen, dass sie mit einem spielen wollen.

Links: Masataka, 32, Verkäufer Rechts: Satoko, 36, Verkäuferin

Ist das dein erster Besuch in einem Katzencafé? Satoko: Ja, mein Freund hat beschlossen, mit mir heute hier her zu gehen. Masataka: Ich war schon ein paar Mal hier. Wie gefällt es euch hier? Satoko: Es ist toll, es gibt viel mehr unterschiedliche Katzenarten, als ich erwartet hatte. Wie lange plant ihr heute hier zu bleiben? Satoko: Wahrscheinlich so drei Stunden. Habt ihr selber Katzen? Masataka: Nein. Satoko: In meiner Nachbarschaft gibt es ein paar streunende Katzen, aber es ist schwierig, sie zu streicheln, weil sie so scheu sind. Würdet ihr euch als Katzentypen beschreiben? Masataka: Ja, auf jeden Fall. Satoko: Meine Eltern haben einen Hund, also bin ich da offen. Ich mag alle Tiere. Was für ein Verhalten gefällt euch an Katzen? Satoko: Wenn sie sich einem an die Beine schmiegen und überhaupt

Besucher können die Katzen mit Snacks für 300 Yen (ca. 2,50 Euro) füttern.

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Kater Nishin werden die Klauen gestutzt.


Megumi, 33, Büroangestellte

Nakatsuka, 39, Büroangestellter

Vice: Ist das dein erster Besuch in so einem Café? Megumi: Nein, mein zweiter.

Vice: Was machst du, wenn du in einem Katzencafé bist? Nakatsuka: Ich mache hauptsächlich Fotos von den Katzen. Das ist die einzige Gelegenheit, wo ich fotografiere, wenn ich ehrlich bin. Ich komme her und mache einen Haufen Fotos von den Katzen und das war’s. Ich lese noch nicht mal.

Wo wohnst du? Ich komme aus Hokkaido, was schrecklich weit weg klingt, aber ich hatte eh in Tokio zu tun, also dachte ich, ich schaue mal vorbei. Ich versuche immer hierherzukommen, wenn ich in Tokio bin. Wow, Hokkaido? Da musst du mit dem Flugzeug fliegen, um nach Tokio zu kommen. Gibt es in Hokkaido auch ein Katzencafé? Ja, da bin ich schon gewesen. Es ist wahrscheinlich das einzige, das es dort momentan gibt. Findest du, dass jedes Café eine eigene Atmosphäre hat? Ja. Ich bin auch in Tokio schon in einem anderen gewesen, aber ich habe den Eindruck, dass die Katzen hier weniger Angst vor Fremden haben und mehr mit einem spielen. Vielleicht sind sie weniger gestresst, weil sie hier ein bisschen mehr Platz haben. Hast du selbst auch Katzen? Ich hatte zwei Katzen, aber sie sind beide gestorben. Die zweite ist gerade erst letzte Woche gestorben. Er war 18. Das tut mir leid … Was magst du an diesem Café hier besonders? Ich lese mir oft den Blog des Cafés durch, weil der Besitzer so viel darüber schreibt, was hier passiert. Das gehört zu den Sachen, die es speziell machen.

Du meinst, du hast diese teuer aussehende Kamera nur, um damit Fotos von Katzen zu machen? Ja, ich habe mir diese Kamera angeschafft, nachdem ich anfing, regelmäßig hierherzukommen. Bis zu dem Zeitpunkt war es mir egal, wie die Fotos wurden und was für eine Kamera ich benutzte. Aber nach einer Weile hatte ich dann das Bedürfnis, mit einer besseren Kamera zu fotografieren. Wie oft kommst du hierher? Einmal die Woche. Und wo wohnst du? In der Präfektur Saitama. Ich brauche eine Stunde und zwanzig Minuten, um hierherzukommen. Wie lange bleibst du normalerweise? An die sechs Stunden, also verbring ich wohl den ganzen Tag hier. Manchmal nehme ich mir sogar einen Tag Urlaub, um herzukommen.

Wie lange hast du heute vor, hier zu bleiben? Wahrscheinlich zwei oder drei Stunden. Ich bin allerdings überrascht, wie voll es hier heute ist. Das hatte ich nicht erwartet.

Das heißt, wenn man die Fahrtzeit hinzurechnet, sind das bei jedem Besuch neun Stunden! Mochtest du Katzen schon immer so gern? Ja, ich habe Tiere schon immer gern. Als ich klein war, hatten wir zuhause eine Katze, aber jetzt lebe ich alleine und kann also nicht wirklich eine eigene halten, und das ist der Grund, warum ich hierherkomme. Allein ihnen zuzusehen, entspannt mich schon.

Was machst du denn mit der ganzen Zeit? Ich schau den Katzen zu und spiele mit ihnen. Ich liebe es, wenn sie auf meinen Schoß springen. Das letzte Mal saß eine der Katzen auf meinem Schoß, aber diesmal habe ich kein Glück.

Gibt es irgendetwas, was die Katzen tun, das dich besonders glücklich macht? Ich mag es, wenn ich mit einem Spielzeug mit einer Katze spiele und sie mir dabei die Pfoten aufs Knie legt.

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Ein Interview mit der neuen Welle von Techno-Troublemakern VON JULIANE LIEBERT, PORTRÄT: DANIEL GEBHART DE KOEKKOEK BILDMATERIAL COPYLEFT 2000-2010 UBERMORGEN.COM

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as Internet hat bewiesen, dass wir uns die letzten 2.000 Jahre geirrt haben, als wir hofften, der Mensch sei gut. Wenn sie nur die Möglichkeit bekäme, würde die Menschheit sich entfalten und in die Welt der reinen Ideen schreiten. Dank des Internets gibt es nun endlich eine Spielwiese, um all das zu verwirklichen — und was haben wir? Homepornos, Werbung und Kätzchenwebsites. Wogegen an sich nichts spricht — denn glücklicherweise gibt es auch Leute wie lizvlx und Hans Bernhard von UBERMORGEN.COM. Die beiden sind Technokünstler, Media Hacker und Koryphäen des digitalen Aktionismus. Ohne den ekligen Beigeschmack, den solche Titulierungen sonst auslösen — denn ihre Aktionen sind gelassen, clever und durchweg relevant. Neben Plattformen, bei denen man seine Wahlstimmen verkaufen kann und einem ziemlich ausgefuchsten Versuch, Google aufzukaufen, ohne großartig was dafür zu tun, beweisen sie Sinn für Selbstironie und einen angemessen finsteren Humor. Zurzeit arbeiten sie an einer Software, die Wärtern in amerikanischen Gefängnissen die eklige Verantwortung abnimmt, ihre Verhöre selbst zu führen. Als wir sie interviewen wollten, waren sie gerade in Israel und erklärten, sie bevorzugten Interviews via Mail, also führten wir das folgende Gespräch per Skype — was uns ganz recht war, denn wir hatten keine Ahnung, wie wir „Lisffks“ aussprechen sollten.

Es gab also eine Schwachstelle, die euch keine Wahl gelassen hat? Bei „Amazon Noir“ war das schlecht gecodete Software, die erlaubte, dass man die „Search inside the book“-Funktion, nun, nicht missbrauchen, aber großzügig erweitern konnte, um damit die ganzen Bücher runterzusaugen.

Vice: Ich wurde auf euch durch „Amazon Noir - the Big Book Crime“ aufmerksam, eine Website, wo ihr komplette Inhalte von Amazon gezogen und kostenlos zur Verfügung gestellt habt. War dies eine Aktion gegen Amazon? lizvlx: Wir machen eigentlich nie etwas gegen irgendwas, denn damit würde man sich ja selbst in eine Position rücken, die schwach und minderwertig ist. Interessant war bei Amazon, dass wir es machen konnten. Die Frage ist nicht, wieso machst du’s, sondern wieso machst du’s nicht.

Wo du es erwähnst — wie genau lief „[V]oteAuction“ ab? „[V]ote-Auction“ ist ein relativ altes Projekt aus 2000 vor der ersten Bush-Wahl — eine Plattform für den Kauf und Verkauf von Stimmen im amerikanischen Wahlkauf … ich meine, -kampf. Als User konnte man auf die Seite gehen und seine Stimme, immer abhängig vom jeweiligen Bundesland, zum Verkauf registrieren, und wiederum andere Leute konnten alle Stimmen aus einem Bundesland kaufen. Das war die Basic Routine der Plattform.

Wie lange war „Amazon Noir“ online? Amazon-noir.com ist nach wie vor online, in Funktionalität war es so ein halbes Jahr, schätze ich. Sie haben wirklich ein halbes Jahr gebraucht, um euch aufzuhalten? Wie hat sich Amazon dann endlich gewehrt? Na, gewehrt … Es haben sich Leute drüber gefreut, vor allem Journalisten, die Amazon zu den Großmächten des Bösen zählen, was natürlich total lächerlich ist. Firmen sind ja nicht gut oder böse. Und wir haben das Projekt dann so beendet, dass wir die Software an Amazon verkauft haben. Statt in den Knast zu wandern, habt ihr sie im Prinzip gleich zweimal hintereinander abgezockt. Versteht ihr das unter Media Hacking? Ja und nein. Media Hacking ist eher so was wie „NAZI~LINE“ oder „[V]ote-Auction“. Natürlich wird da auch Software verwendet, ohne die geht es nicht. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, massenmediale Kanäle zu verwenden, um Themen reinzuhacken, die dort so nicht vorkommen—und das möglichst erfolgreich.

Und, hat’s funktioniert? Es hat in dem Sinn funktioniert, dass es eine sehr große Medienaufmerksamkeit bekommen hat. Wir haben in allen großen Zeitungen auf der ganzen Welt große Features auf den Titelseiten gehabt. Zudem ist es einer der wichtigsten juristischen Fälle im Bereich Internetrecht, weil wir diverse Male abgedreht worden sind, aber das war zumindest taktisch auch von uns geplant — wir hatten unter anderem ein dreiviertelstündiges Special auf CNN, das zur Primetime gelaufen ist. Wir haben drei Monate lang jeden Tag 20 Interviews gemacht—von sehr realistisch bis total absurd. Die Leute interessieren sich also doch mehr für Politik, als man denkt. Und wie funktionierte euer anderes Projekt, GWEI oder „Google Will Eat Itself“? Das funktioniert eigentlich sehr einfach — es basiert darauf, dass Google eine Aktiengesellschaft ist und auf der anderen Seite sein Geld hauptsächlich dadurch verdient, dass es Werbung vertickt. Die Methode, mit der Google Werbung macht, das „Google Ad Sells Program“, funktioniert so, dass auf irgendeiner Seite Werbung von Google ist, aber nicht für Google, sondern via Google. Wenn ich der Besitzer einer Kätzchenwebsite bin, verdiene ich Geld, wenn die User auf die Google-Werbung für Dosenfutter klicken, das zahlt Google mir, weil Google ist dann Medienpartner, und die Kätzchenfutter-Firma zahlt wiederum Geld an Google. Aber wie frisst sich Google dadurch selbst auf? Wir haben nichts anderes gemacht, als auf diversen Seiten von uns solche Ads zu schalten. Wenn unsere User darauf geklickt haben, haben wir das Geld wiederum nicht irgendwo deponiert, sondern es auf ein Schweizer Bankkonto überwiesen und damit GoogleAktien gekauft. Wir haben also von Google das Geld gekriegt, um Google zu kaufen. Das heißt „Google frisst sich selber auf“, eine Art von Auto-Kannibalismus.

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Stimmt, aus deren Sicht ist das völlig überflüssig. Beispielsweise funktioniert seit drei Wochen in Wien Google Maps nicht bezüglich der öffentlichen Verkehrsmittel, was ziemlich problematisch ist. Da gab es nur eine Pressemitteilung von ihnen, dass es ihnen bekannt ist und sie daran arbeiten. Weil, was sollen sie sagen? Und was soll man machen? Zur Konkurrenz wechseln? Es gibt keine Konkurrenz. Es wird ja viel darüber gelabert, dass Google das neue große Böse oder das neue große Gute oder beides zugleich ist und die Menschheit verdummen wird. Na ja, wenn man dran glaubt. Ich kann das so nicht sehen. Durch Google Maps lernt man den Weg zum Beispiel besser kennen. Ich meine, wenn man immer mit einem Navigationsgerät fährt, kann ich mir vorstellen, dass man irgendwann keine Ahnung mehr hat, wo man lang fährt. Trotzdem denken viele, dass da eine Hilflosigkeit antrainiert wird. Na ja, das tut die neue Studienordnung, wo es nicht darauf ankommt, was man lernt, sondern nur noch darauf, dass man physisch an einer Universität anwesend ist und hinterher für die Wirtschaft benutzbar ist. Natürlich birgt die Nutzung von Google Gefahren, aber wenn ich so bescheuert bin, dass ich alles mit Google mache, ist mir eh nicht mehr zu helfen. Stimmt. Kannst du mir noch mehr über das Schlingensief-Projekt erzählen? „NAZI~LINE“ haben wir aus einer reichlichen Naivität gemacht. Nicht inhaltsbezogen, aber das war das Projekt nach „[V]ote-Auction“. Wir wollten irgendwas machen, um nicht in ein schwarzes Loch zu fallen, um etwas zu tun zu haben, etwas, das ein bisschen intellektueller ist und nicht so ein Mega-Medien-Zauber, denn das ist echt anstrengend. Wir Vollidioten haben uns dann dafür entschieden, ein Projekt mit Schlingensief und mit Neonazis zu machen — 28

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unglaublich entspannend, wie man sich vorstellen kann. Haha. Aber es war sehr lustig. Es wurde vom Zentrum für politische Bildung gesponsert — wir haben eine Homepage gemacht, wo es darum ging, Neonazis den Weg aus der Neonaziszene raus zu ermöglichen. Wir dachten, machen wir „Nazi~Line“ mit den Farben, in denen die Zielgruppe zu Hause ist—also schwarz, rot, weiß, ein bisschen Leni Riefenstahl drüber, passende Sprache, damit sich halt der Neonazi zu Hause fühlt. Auf die Idee käme doch keiner. Wir haben in Berlin Neonazi-Castings gemacht, weil Christoph [Schlingensief] ja dann in Zürich mit ihnen „Hamlet“ gemacht hat — als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Weil, wenn man so aufhört, Neonazi zu sein, da hat man ja erst mal nichts zu tun, da ist da ein schwarzes Loch, da muss man auch erst mal aufgefangen werden, arbeitstechnisch und so weiter. Ihr habt die Neonazis aufgefangen und sie euch. Na ja, nicht ganz. In Berlin haben sich Leute in unserem Gemeinschaftsbüro aufgeregt, dass da Ex-Neonazis rein- und rausrennen, und das verstand ich nicht — denn, wenn der Neonazi böse ist, dann ist doch der Ex-Neonazi wieder gut? Wenn man die Politiker sieht, die auf ihren Podesten stehen und sagen, mit wie vielen Millionen sie das Problem lösen wollen — man kann das Problem mit Geld nicht lösen, sondern nur beschleunigen. Da geht’s um ganz was anderes. Geld ist einfach wertlos, vor allem für einen Neonazi. Aber insgesamt hat das Projekt gut funktioniert und die Leute angesprochen, die angesprochen werden sollten. Das Zentrum für politische Bildung war dann da nicht mehr so glücklich drüber. Die haben dann noch ein paar komische Angebote gemacht, in Sachen Zusammenarbeit, wie wir Geld verdienen könnten, wenn wir ein paar Neonazis an sie ausliefern. Waren wir nicht so dran interessiert. Weniger aus moralischen als aus selbstschützerischen Gründen. Habt ihr gerade aktuell irgendwelche Projekte? Wir haben eines, das schon relativ lange dauert. Es heißt „Superenhanced“— der Name setzt sich zusammen aus „Supermax“ (Supermax Prisons) und „Enhanced Interrogation“ (neuamerikanisch für Folter). Das Kernstück ist eine Softwareengine, ein Generator, eine Befragungssoftware. Also, ich als Verhörer wäre nicht mehr in der blöden Situation, dass ich selbst eine Befragung durchführen muss, sondern das tut der Computer, ich bin also nicht verantwortlich, sondern nur Handlanger, Teil des Systems, wie der Befragte Teil des Systems ist. Wir haben da viel Research betrieben, mit Leuten gesprochen, die in Kandeha im Gefängnis waren oder in Bakham, haben mit denen zusammengelebt und so.

Linke Spalte von oben nach unten: www.superenhanced.com, www.GWEI.org, www.vote-auction.net, www.UBERMORGEN.COM/NAZI~LINE/, www.amazon-noir.com. Mehr Infos über das Schaffen der zwei findet ihr auf www.lizvlx.com, www.hansbernhard.com und www.UBERMORGEN.COM

Habt ihr die Software dann auch an Google verkauft? Nein. Die User haben zu viel auf die Google Ads geklickt, und wenn auf Google Ads zu viel geklickt wird, wird man gesperrt, weil sonst wäre das ja kein Geschäft mehr für Google. Offiziell heißt es dann bei Google, dass „betrügerisch agiert“ wird. An Google zu verkaufen, ist auch schwieriger als bei Amazon, denn — Journalisten kennen das meistens — wenn man versucht, bei Amazon anzurufen, geht das relativ gut — wenn man versucht, Google anzurufen, wird man irgendwann verzweifeln. Wir haben von Google ein paar böse Briefe und Androhungen bekommen, aber auf die sind wir nicht weiter eingegangen. Google ist halt ein extremer Monopolist, der tut, was er will. Ich kritisiere das jetzt nicht, ich beschreibe das nur. Die sind nicht interessiert an irgendwelchem Austausch. Weil, wofür? Wozu sollten sie für Fragen zur Verfügung stehen?


Meinst du Leute, die dort gearbeitet haben oder die dort einsaßen? Was waren das für Typen, mit denen ihr zusammengelebt habt? Wir haben Chris, einen Wärter aus Guantánamo, zu uns eingeladen, und der hat so zwei Monate bei uns gewohnt. So ’ne Standardsituation. Auf der einen Seite hat er Einiges erzählt, was ihm so passiert ist, andererseits musste man wirklich nachhaken, um die Sachen herauszubekommen, die jetzt wirklich unschön sind — also so richtig unschön sind. Was meinst du mit „Standardsituation“? Das Verhalten, dass sich der Täter als Opfer inszeniert. Was irgendwo auch stimmt, wenn sich ein 17-Jähriger für die Armee registriert und dann mit 19 nach Guantánamo kommt, als Wärter, dann ist das schwierig mit der Verantwortung für seine Taten, das ist klar. Trotzdem ist er nicht das Opfer. Das sind andere. Mit 19? Mir war nicht klar, dass die Wärter so jung sind. Was waren die „wirklich unschönen Sachen“? Es gibt in Guantánamo ja diese EmergencyResponse-Teams. Die kommen ins Spiel, wenn irgendein Gefangener sich nicht an die Regeln hält. „Sich nicht an die Regeln halten“, heißt nicht nur, wenn er um sich schlägt, sondern auch „er lehnt sich an die Gitterstäbe“, obwohl man das nicht darf. Oder „schläft nicht auf dem Rücken“. Dann kommt so ein Emergency-Response-Team und sprüht mal ordentlich Pfefferspray in die Zelle. Dann wird der Typ rausgezerrt und mordsmäßig verprügelt. Und was hat Chris dabei für eine Rolle gespielt? Chris hatte den Job, das ganze videotechnisch zu dokumentieren. Das hat er als ziemlich psycho empfunden. Teilzunehmen ist weniger hart, als es zu filmen. Klar. Beim Filmen hat man die Distanz, die einem beim Teilnehmen fehlt. Nein, die Distanz ist da, auch wenn man direkt beteiligt ist. Das ist eine wohlüberlegte Handlung. Die meisten Typen in Emergency-Response-Teams sind schon Leute, die das gerne machen. Die halt mal so richtig den Terroristen zeigen wollen, wo sie herkommen … … und wo’s langgeht. Und die Opfer? Na, man kennt die Geschichten, dass die Leute an den Händen aufgehängt und tagelang hängen gelassen wurden, und wer stirbt, stirbt halt, und wer daneben hängt, hängt halt neben der Leiche. Aber was das Ganze nicht schlimmer macht, aber in eine andere Kategorie setzt — kalkulierter, systematischer, geplanter — sind nämlich nicht die kleinen Grenzüberschreitungen, sondern so Sachen, wie dass Ärzte dort mitarbeiten, deren Job es ist, zu schauen, dass der Puls der Befragten hoch genug ist. Der Arzt sitzt nicht da, um zu schauen, ob’s dem Befragten noch gut genug geht, sondern, ob’s dem schlecht genug geht.

Die scheißen also auf alle Prinzipien des hippokratischen Eids und der Genfer Deklaration. Was haben die noch für Sachen gemacht? Die eine Sache, die sie gebaut haben, ist die „sauerstoffarme Zelle“. Da kommst du rein, und dir geht tatsächlich die Luft drinnen aus. Du liegst am Boden wie ein japsender Fisch, und ab und zu kommt der Arzt rein, und schaut, wie’s dir geht, und dadurch kommt ein bisschen Luft rein, und du kannst eine Weile weiterleben. Aber das haben die nicht nur für einen halben Tag oder so gemacht, sondern wochenlang … Na ja, da soll sich jeder seinen Teil dazu denken. Ja. Aber Guantánamo ist ja kein Einzelfall. Guantánamo hat uns nicht groß interessiert. Es ist eher ein Popding. Da macht man gerne Fotos und da ist die Presse, aber Guantánamo ist ein kleiner Fisch, der zwar böse ist, aber ist halt ein kleiner Piranha. Die vielen Supermax Prisons in Amerika arbeiten schon lange mit ähnlichen Methoden.

„OGAs wie CIA, FBI und die NSA haben unsere Server gehackt und unsere Telefone belauscht.“ Gibt es noch sonstige Projekte, die ihr gerade plant? Ihr hattet jetzt Folter, Politik und Monopolismus, was interessiert euch überhaupt noch? Wir machen gerade ein Projekt, das sich mit Medizin auseinandersetzt. Also mit Medikamenten. Sprich, wir schauen, dass wir auch ein paar neue Krankheiten erfinden können (UGI — User Generated Illnesses). Außerdem müssen wir endlich unsere Website neu machen. Es ist irgendwie lächerlich, wenn Netzkünstler ihre Website nicht fertig haben. Aber das ist einfach nicht das Ding, das einen so interessiert. Ist immer etwas langweilig. Wir schauen, dass wir mal wieder kleinere Sachen machen. Ihr habt auch geschrieben, dass eure „Projekte nicht gelesen werden können, vielleicht nie, vielleicht in tausend Jahren“— war das nur dick aufgetragen? Es ist nicht unser Ansinnen, dass es eine Interpretation vom Projekt gibt. Jeder soll darin sehen, was er darin sehen will. Wir arbeiten auch nicht so, dass wir uns immer absprechen. Eigentlich sprechen wir uns überhaupt nicht ab, außer hier und da zeitlich. Aber das geht uns auch schon auf die Nerven. Ihr habt schon 1999 angefangen? Ja, aber wir sind schon seit 95 zusammen. Arbeiten schon seit damals im Netz. Web gab’s ja noch nicht richtig. Es hat sich viel geändert, aber die Pixel sind immer noch Pixel geblieben. Wir freuen uns über neue

Techniken, die einem zur Verfügung gestellt werden. Ich genieße es nach wie vor, dass man im Netz machen kann, was man will, dass man eine breite Öffentlichkeit erreicht und das relativ gut steuern kann — wenn man will. Ihr habt auch behauptet, ihr würdet „keine moralischen oder ethischen Grenzen achten“. Wie äußert sich das und hat dieser Grundsatz Grenzen? Na ja, moralische Grenzen sicher wirklich nicht, denn Moral bringt im Privatbereich wenig und in der Kunst schon gar nichts. Ethik, das ist was anderes. Es ist ja nicht lustig, immer nur Sachen zu machen, die nur ganz böse sind oder provokativ. Das wär ja nur Stress. Das sind eher Situationen wie mit Chris aus Guantánamo, wo viele Leute sagen, das geht mir jetzt zu weit, mit so jemandem möchte ich nichts zu tun haben. Morgen haben wir einen Vortrag in Jerusalem, und das wird wieder lustig, denn gestern war der Jahrestag des Beginns des Gazakriegs, wozu ich auch ein paar Arbeiten gemacht habe—Bilder von Kriegsopfern — im Rahmen der „Pixelpaintings“. Die Bilder heißen „Enemy Combatants“. Ihr habt „[V]ote-Auction“ später auch in der Schweiz umgesetzt? Das hieß dann „WAHLGELD.COM“. Das andere war eine Fakewebsite über einen Bauernhof, der Hundefleisch zum Verzehr produziert. In Wirklichkeit ging es um Hunde einer Kampfhundrasse, die da nicht gezüchtet, sondern aus Tierheimen aufgekauft wurden und so weiter, und so einem guten Zweck zugeführt wurden. Und wir haben bei den beiden Projekten am Schluss beides vertauscht — also wir haben den Leuten, die bei „Wahlgeld“ ihre Stimme verkauft haben, kein Geld zugeschickt, sondern eine Hundewurst. Und die Leute, die eine Hundewurst bestellt hatten, haben das Geld bekommen. Haha. Guter Tausch. Komischerweise fanden die Leute das gar nicht lustig. Wir haben auch bei „[V]oteAuction“ am Schluss keine Stimmen verkauft. Nicht, weil wir es nicht wollten, sondern weil in Florida ein reallife Wahlbetrug im großen Stil durchgezogen wurde … Verstehe. Gab es für euch dann auch Konsequenzen? OGAs wie CIA, FBI und die NSA haben unsere Server gehackt und unsere Telefone belauscht. Sie hätten es niemals zulassen können, weil es die Integrität der Wahl gefährdet hätte. Aber weil es in einem Medium gelaufen ist, wo es nicht stoppbar war — unseren Provider kann man nicht abschalten und es ist am Ende nur noch auf einer IP-Adresse gelaufen — hätten sie es eventuell real physikalisch abgeschaltet, und da dachten wir, sind wir noch mal mit ’nem blauen Auge davongekommen. UBERMORGEN.COM haben gerade eine Monografie rausgebracht. Um genau zu sein, sind es zwei Bücher—eines heißt „UM.BOOK: MEDIA HACKING VS. CONCEPTUAL ART“ und das zweite ist „UBERMORGEN.COM“.

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Jacob Holdt ist kein Hippie

Ein paar neue Fotos vom größten Dänen Amerikas VON HENRIK SALTZSTEIN PORTRÄT VON CAMILLA STEPHAN

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acob Holdt ist einer der wichtigsten amerikanischen Fotografen und das, obwohl er noch nicht einmal Amerikaner ist. Sein Buch American Pictures trug ebenso viel dazu bei, die Dokumentarfotografie zu revolutionieren, wie es half, in den 70er-Jahren ein komplett neues Bild des Landes zu zeichnen. Also ist es nicht ganz abwegig, dass die Amis ihre Fahne in ihn gespickt haben. In Wirklichkeit ist er aber Däne. Die Geschichte hinter American Pictures wird in etwa so erzählt, dass Holdt, dem wegen seiner illegalen politischen Aktivitäten in den späten 60ern mehrere Klagen drohten, Dänemark verließ, um sich einer der zahlreichen lateinamerikanischen Guerillas anzuschließen. Stattdessen blieb er unterwegs in den Staaten hängen, wo er insgesamt 130.000 Kilometer kreuz und quer durchs Land trampte und mit Gangstern, Junkies, Prostituierten und Mitgliedern des Ku-Klux-Klans abhing. Seine Eltern schickten ihm, aufgeschreckt von den haarsträubenden Briefen, die er ihnen von unterwegs schickte, eine Canon-Halbformatkamera für 30 Dollar, um seine Reisen zu dokumentieren. Fünf Jahre später hatte er bereits an die 15.000 der unvergesslichsten Fotos des Landes geschossen. Holdt reist auch heute noch durch die Staaten, um die Subjekte seiner Fotos zu besuchen. Er hat sogar seinen zweijährigen Sohn schon mit auf seine Reisen durch die urbanen Ghettos und ländlichen Slums genommen, nur um sicher zu sein, dass aus ihm später kein rassistisches Arschloch wird. Das hätte man von einem Typen, der das gesamte Geld, das er mit seinem Buch verdient hat, für den Anti-Apartheid-Kampf in Südafrika gespendet hat, und der sagt, dass die beste Art, mit der gelegentlichen schwulen Vergewaltigung umzugehen, ist, seinen Angreifer danach zu umarmen, auch nicht anders erwartet. Neben dem erhellenden kleinen Plausch, der hier folgt, war Holdt freundlich genug, ein paar neue Fotos mit uns zu teilen, die er von einem Massenmörder namens Dave gemacht hat, der mit seiner Familie herumhängt. Vice: Kannst du uns etwas über diese neuen Bilder erzählen? Jacob Holdt: Ich habe Dave 1996 über seinen Bruder, Snoopy, kennengelernt, den ich 1991 einmal im Auto mitgenommen hatte. Ich selber hatte zu diesem Zeitpunkt aufgehört zu trampen, weil keiner mehr anhielt. Snoopy hatte also, als ich vorbeikam, schon drei Tage gewartet, dass ihn jemand mitnimmt. Als wir schließlich ins Gespräch kamen, erzählte er mir, dass sein Bruder und er mehr Leute getötet hätten, als er

zählen könnte. Ich war natürlich skeptisch und setzte ihn einfach da ab, wo er hin wollte. Und hatte er wirklich jemanden umgebracht? Das wusste ich damals nicht, aber fünf Jahre später stöberte ich ihn zusammen mit einem Journalisten wieder auf, der fasziniert von dieser seltsamen Massenmördergeschichte war. Snoopy war im Knast. Anscheinend war er zwei Tage, nachdem ich ihn mitgenommen hatte, in ein Haus eingebrochen und hatte versucht, die Familie, die dort lebte, abzuschlachten, und der Frau den Bauch aufgeschlitzt. Sie überlebte es nur knapp. Nun gab es keinen Zweifel mehr, dass er und sein Bruder diese ganzen Morde wirklich begangen hatten. Und das hat dich dann motiviert, seinen Bruder Dave ausfindig zu machen? Ich war neugierig, wo dieser ganze Hass herkam und was die Leute dazu bringt, derart verzweifelte Taten zu vollbringen. Dave und seine Familie lebten inmitten eines menschenleeren Sumpfgebiets und alle hatten Angst vor ihnen. Waren sie denn zu dir nett? Zunächst richteten sie zur Begrüßung ihre Flinten auf uns, aber man muss verstehen, dass man sich mit dieser Art Leute eigentlich besonders leicht anfreunden kann, weil sie so hungrig nach Liebe und Akzeptanz sind. Und natürlich machte die Tatsache, dass ich Snoopy kannte, das Ganze leichter. Ich sah zu, wie Dave und seine Frau Connie sich gegenseitig und auch ihre Kinder verprügelten. Sich zwischen sie zu stellen, hätte nichts bewirkt. Ich meine, wenn ich Leute in ihrem eigenen Zuhause permanent kritisieren würde, wäre ich nicht sehr weit gekommen. Ich hänge also einfach da rum und mache meine Beobachtungen und helfe, wo ich kann. Auf die Weise kriegt man es hin, dass die Leute an sich selber glauben. Dave und Snoopy haben diese ganzen Leute wahrscheinlich nicht umgebracht, weil sie sie hassten, sondern weil sie sich selber hassten. Und letztes Jahr im Mai hast du sie dann noch einmal besucht. Ja. Ich brachte eine Freundin von mir mit und als ich ihr sagte, dass wir einen Massenmörder besuchen würden, dachte sie, ich würde Witze machen. Als wir bei Dave ankamen, war der ganze Rasen vor seinem Haus voller Blut. Ich dachte: „Oh nein, oh nein.“ Aber, wie sich herausstellte, war das Blut nur von seiner Kuh. Er hatte sie selbst geschlachtet? Ja. Er sagte mir, dass er am Abend vorher zu viel getrunken und seine Kuh für Zielübungen benutzt

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Snoopy, Daves Bruder, nachdem Holdt ihn 1991 beim Trampen mitgenommen hatte.

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Daves Frau Connie, die in ihrem Haus ihre Tochter Mel diszipliniert, 1996.

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„Ich bin kein Fotograf — jedenfalls nicht mehr als jeder andere, der eine Kamera in der Hand hält. Mein Talent lag darin, Zugang zu den Häusern und Leben der Menschen zu finden. Wenn ich einmal dort war, brauchte ich nur noch die Kamera draufhalten und abdrücken.“ hatte. Als sie versuchte davonzurennen, holte er seine Schrotflinte, setzte sich in seinen alten Pick-up, fuhr ihr hinterher und erschoss sie schließlich. Du musst beim Erzählen fast lachen! Was soll man sonst tun? Die Spirale der Gewalt, des Hasses und der Verzweiflung ist so tief in dieser Familie verankert. Siehst du dieses Foto von Daves Tochter Mel? Sie schaut sich ein Foto an, das ich 1991 von ihrem Onkel Snoopy gemacht habe. Als er 2003 aus dem Gefängnis kam, hat er sie vergewaltigt — seine eigene Nichte. Inzwischen sitzt sie selber im Knast. Eine ziemlich grauenhafte Situation. Nun, ich bin sehr dogmatisch in der Auswahl meiner Motive—wenn ich das nicht wäre, würde ich immer das Schöne statt des Hässlichen wählen, das, was Spaß macht, statt des Schmerzes. Weißt du, wie es bei den Hippies immer heißt: „Lasst uns Spaß haben“? Ich finde das egoistisch und ich glaube, dass ich es mit dieser Einstellung nicht weit gebracht hätte. Ich hätte American Pictures nie machen können, ohne mich benutzen zu lassen — und es auszuhalten, auch missbraucht zu werden. Wie kam American Pictures zustande? Eigentlich wolltest du ja ein revolutionärer Freiheitskämpfer werden. Ich fing stattdessen an, in Amerika von einer AntiVietnam-Kundgebung zur nächsten zu reisen. In Chicago traf ich ein schwarzes 18-jähriges Mädchen, das mich bei ihrer Familie in einem komplett schwarzen Stadtviertel übernachten ließ. Aus erster Hand zu erleben, wie ausgegrenzt die schwarze Community ist, war für mich ein echter Augenöffner. Aber zu dem Zeitpunkt hast du noch nicht fotografiert. Nein. Meine Eltern schickten mir die Kamera 1972 und am Anfang war es einfach nur eine schnellere Art für mich, Tagebuch zu führen. Ich hatte keinerlei fotografische Erfahrung, und wenn ich meine Bilder echten Fotografen zeigte, schüttelten sie nur mit dem Kopf. Sie gaben mir aber auch Tipps, wie rosa Toilettenpapier um den Blitz zu wickeln oder ihn hinter Lampen aufzustellen … solche Sachen. Wann wurde dir klar, dass du dich inmitten eines riesigen fotografischen Projekts befandest? Die meiste Zeit dachte ich nur darüber nach, wie ich mich weiter durchschlagen und einen Platz für die nächste Nacht finden konnte. 1973 sah ich aber in Florida eine Ausstellung, in der Dias einander gegenüber gestellt wurden, und dachte dann, dass das für

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mich eine Möglichkeit sein könnte, meine Fotos zu präsentieren und die Geschichten dahinter zu erklären. Ich glaube immer noch nicht, dass meine Fotos wirklich gut genug sind, um für sich selber zu sprechen. Es gibt dennoch viele Leute, die deine Arbeit verteidigen und dich für einen begabten Fotografen halten. Ich bin aber kein Fotograf — jedenfalls nicht mehr als jeder andere, der eine Kamera in der Hand hält. Nach American Pictures machte ich zwölf Jahre lang fast kein einziges Bild. Mein Talent lag darin, Zugang zu den Häusern und Leben der Menschen zu finden. Wenn ich einmal dort war, brauchte ich nur noch die Kamera draufhalten und abdrücken. Mir schicken oft Leute Fotos von Obdachlosen auf der Straße, aber um ehrlich zu sein, langweilen die mich. Diese Bilder könnte jeder machen. Warum, denkst du, fällt es dir so leicht, diese Art Zugang zu Leuten zu finden? Zunächst tat es das nicht. Ich wurde zwei Jahre lang jedes Mal ausgeraubt, wenn ich in ein schwarzes Viertel kam. Also hielt ich mich eine Weile vor allem in College-Städten auf. Dort traf ich auch schwarze Studenten und so veränderte sich meine Einstellung langsam, weil ich dann auch ihre Freunde und Verwandten traf und manchmal waren da auch Schlägertypen aus den Ghettos dabei. Was änderte sich dadurch genau? Ganz einfach: Ich hörte auf, ein Rassist zu sein. Ich hatte Angst vor ihnen gehabt, weil man mir gesagt hatte: „Geh da nicht hin.“ Oder: „Sei in der Gegend vorsichtig.“ Wenn man sich auf solche Ängste einlässt, setzt man die negativen Vorurteile dadurch fort. Du sagst den Leuten, dass sie schlecht sind, dass du einen Grund hast, Angst vor ihnen zu haben. Das ist die Psychologie des Rassismus, und das ist es, was ich hinterfragen will, wenn ich heute über American Pictures rede. Das kann nicht so leicht sein, wie es jetzt klingt. Es passiert nicht über Nacht, aber wenn du Akzeptanz ausstrahlst, wird sie dir auch entgegengebracht. Nach diesen zwei Jahren wurde ich nie wieder überfallen, egal wo ich hinging. Aber man muss sich trotzdem immer erst mal beweisen. Jedes Mal, wenn ich in einer neuen Stadt oder einem neuen Ghetto ankam, nannten sie mich automatisch „Boss Man“, weil sie dachten, dass ich ein Zivilbulle wäre. Aber dann ließ ich mir den Bart flechten und das öffnete mir dann wirklich die Türen.


Dave 1996, w채hrend er seiner 채ltesten Tochter Mary zeigt, wie man ein Gewehr benutzt.

Mel mit einem Bild von ihrem Onkel Snoopy, 1996.

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Daves Mutter 1996 mit einem Foto von ihrem dritten Sohn, der momentan eine lebenslange Haftstrafe absitzt.

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Dave mit seiner Kuh, die er am Abend vorher abgeschlachtet hatte, 2009.

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Dave mit dem jüngeren der beiden Babys, die ihm seine Tochter Mary hinterlassen hat, 2009.

„In Kanada hatte ich ein paar Freunde, die mir ihren Cadillac liehen. Ich packte ihn mit Bibeln voll und tat so, als wäre ich ein Bibelverkäufer.“ Das war alles, was es brauchte? Es hat auch andere Türen verschlossen. Wenn ich zum Beispiel mein Visum erneuern musste, fuhr ich immer nach Mexiko oder Kanada, weil es dort kostenlos war und ich es mir nicht leisten konnte, die Knete zu bezahlen, die sie in den Staaten dafür wollten. Das Problem war, dann wieder rein zu kommen, wenn man während der Nixon-Zeit wie ein Hippie aussah. Ich musste also improvisieren. In Kanada hatte ich ein paar Freunde, die mir ihren Cadillac liehen. Ich packte ihn mit Bibeln voll und tat so, als wäre ich ein Bibelverkäufer. Für Notfälle hatte ich auch eine kurzhaarige Perücke. Echt clever. Aber wie konntest du es dir leisten, Filme zu kaufen und entwickeln zu lassen? Ich spendete einmal in der Woche Blut—davon konnte ich zwei Filmrollen kaufen. Wenn ich sie voll hatte, schickte ich sie meiner Freundin in Washington, die sie für mich lagerte. Ich fuhr einmal im Monat da hin, um sie zu entwickeln und drüberzuschauen, aber sie war mit diesem Arrangement unzufrieden und wollte, dass ich sie heirate. Schließlich kriegte ich Schiss, dass sie die Filme zerstören würde, wenn ich sie weiter zu ihr schickte, also brachte ich die ganzen Sachen zu einer etwas entspannteren Exfreundin in New York. Du hattest damals also viele Freundinnen? Wenn man so viel in der Gegend rumfährt wie ich, hat

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man keine andere Wahl. Deshalb nannte ich mich einen Vagabund. Es ist eine andere Philosophie. Das heißt …? Nun, ein Tramper reist von A nach B, wogegen ein Vagabund sich in einer dritten Dimension bewegt—er lässt sich treiben. Mir wurde früh klar, dass ich, wenn ich mir erlauben würde, die Dinge selber zu entscheiden, nie an die Stellen kommen würde, an die ich wollte, nämlich hinter die Kulissen. Also ging es nicht einfach darum, quer durchs Land Frauen aufzureißen. Es war nicht so gefühllos. Ich bekam von ihnen haufenweise Liebe und sie von mir auch. Es gab mir die Kraft weiterzumachen. Aber natürlich konnte ich es mir nicht immer aussuchen und ich mochte nicht jede einzelne Frau, die ich traf. Aber ich konnte einfach nicht Nein sagen, auch bei Männern nicht. Ah ja? Ja. Es kam immer mal vor, dass ich von „schmutzigen alten Männern“, wie ich sie nannte, mitgenommen wurde. Ich war nicht schwul, aber sie taten mir irgendwie leid und ich war gleichzeitig fasziniert von dem Ausmaß an Selbsthass, das sie ausströmten, die ganzen Mechanismen, die sie da hatten. Aber insgesamt waren die Dinge, die ich sah und erlebte einfach nur toll. Ich hatte die Zeit meines Lebens und das sollten die Leute verstehen, wenn sie sich meine Bilder ansehen.


DANIEL RICHTER

BONGOÛT

ANDREAS GOLDER

ÖKOS TROM HABEN IST KE INE KU NST – STRAS SERAU F. D E

ALL DAS UND MEHR AUF

www.vbs.tv/ar ttalk

PRÄSENTIERT VON






This month’s DOs & DON’Ts are written by me, the Fat Jew.

DOs

If a black roller-skating genie who fights crime in his urban neighborhood by use of roller-skate dance-fighting wasn’t a failed sitcom pilot at some point in the 1970s, I would honestly be shocked.

I’ve always wondered what the vagina of a British gal who loves drum and bass and has dreads that look like weathered ship ropes would look like. Initially I would have guessed it looks hostile, like it has teeth and would eat your masculinity raw, but I’m gonna think outside the box and go with very pleasant and well maintained. 44

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I’ve been there, brother—the deep pit of shame. Like the time I found out I had a UTI, then got upsettingly drunk and slept with a girl who looked like Drew Carey, then woke up and realized I’d missed my dentist appointment. This is one of those moments. Congratulations, sir, you are now a grown man.

It’s one thing to parade around in a beehive wig and stilettos looking like a character in a Broadway show about transvestites—those guys are abominable. But a man in Barnes & Noble scouting for his next great read in a pair of sensible heels? Now that’s awesome.

This is what I imagine everyone in Europe between the ages of 18 and 28 looks like on any random afternoon: slightly androgynous, zany but in a manageable way, extremely positive attitude, and on their way to hang a futuristic-looking lamp somewhere. I don’t know how someone was able to take a picture inside my brain, but whatever, I’m into it.


DENZEL

WASHINGTON

GARY

OLDMAN EIN FILMVONDENHUGHESBROTHERS

D ie Z U KU n FT der welt liegt in seinen HänDen

ALCONENTERTAINMENT PRASENTIERT EINESILVERPICTURESPRODUKTION EIN HUGHESBROTHERS FILM DENZELWASHINGTON GARYOLDMAN “THEBOOKOFELI“ MILAKUNIS RAYSTEVENSON JENNI FERBEALS FRANCESDELATOUR UND MICHAELGAMBON MUSIK ATTICUSROSS GESAMTLEITUNG MUSIKALISCHE GESAMTLEITUNG DEVAANDERSON VISUALEFFECTS JONFARHAT KOSTUME SHARENDAVIS SCHNITT CINDYMOLLO,A.C.E. AUSSTATTUNG GAEBUCKLEY KAMERA DONBURGESS,ASC COPRODUZENTEN STEVEN P.WEGNER YOLANDAT.COCHRAN JOHNDAVID WASHINGTON AUSFUHRENDE PRODUZENTEN STEVERICHARDS SUSANDOWNEY ERIK OLSEN PRODUZENTEN JOELSILVER DENZELWASHINGTON BRODERICKJOHNSON ANDREWA.KOSOVE DAVID VALDES DREHBUCH GARYWHITTA REGIE THEHUGHESBROTHERS >w.theb=kofeli.de ..

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DON’Ts

This month’s DOs & DON’Ts are written by me, the Fat Jew.

The only time it’s ever acceptable to chase a chicken around is at a Dominican wedding where you’re the groom and you’re oiled up from head to toe—because that’s tradition. What is this jerk gonna do with it once he catches it? That thing will peck your eyes the fuck out.

This bohemian nonsense has got to stop. I know you think this is fashion-forward, but Karl Lagerfeld wouldn’t even wipe his life partner’s fluids off his penis with that outfit. She looks like Mary-Kate LOLsen.

Whether he’s an Icelandic deep-house enthusiast who thinks it’s still 1995 or a Fijian mash-up DJ from the year 2021 who’s so on the cutting edge of every emerging trend that it’s actually intimidating, this guy is the worst.

Question: Of the guy who looks like a lesbian, the nonthreatening black guy with a post-irony ironic trucker hat, and the guy in a bicycle helmet who’s not on a bike, who is least likely to get invited to my birthday party?

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This is a good look for a woman in her early 20s, if by “good look” you mean “destitute middle-aged Ukrainian prostitute who’s been walking directly into the wind.”



This month’s DOs & DON’Ts are written by me, the Fat Jew.

DOs

It’s one thing to be the coked-up party animal at 6 AM who puts on a strapless gold dress and lets his uncircumcised dick flop around just to be hilarious, but then to also start releasing awful farts that burn the nostrils? Now that’s gangster.

Yes, this is funny. Don’t be a nerd.

This is how things used to be in the olden days, when a man would get disgustingly drunk and pass out in a pile of trash butt-naked but still have the decency to hang his hat over his genitals. It’s nice to see the next generation carrying on the timeless traditions that make America great.

This girl looks like a mystical creature who would rise from the water during spring break, try to seduce you with a goblet of banana daiquiri and attempt to 69 with you against your will, and then scamper away on all fours. Think Lord of the Rings: Daytona Beach.

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This kind of thing starts with neck kissing, progresses to the reach-around tit grab, then builds up to her getting fingered over her jeans for 20 to 25 minutes to the point where the denim is chafing her vagina, and then her giving me a handjob in my bathroom while the Fugees’ first album was playing. Her hands were so rough but I was into it and... Wait, what were we just talking about again?


Agency for concerts and music consulting.

Photo: Fotos

BREAKBOT

Ed Banger / www.myspace.com/dothefunkybot 03.04.10 Rocker33 - Stuttgart

BUSY P.

Ed Banger / www.myspace.com/busyp 03.04.10 Rocker33 - Stuttgart 04.04.10 Liquid Sunday Festival - Altenburg

CHRIS DE LUCA

Shitkatapult / www.myspace.com/chrisdeluca 24.04.10 D! Club - Lausanne (CH)

CYBERPUNKERS

www.myspace.com/cyberpunkers Promo Tour “I needed to go” EP on “Freakz me Out” 13.03.10 Looneyland - Köln (+ The Bloody Beetroots) 20.03.10 5th Club - Jena 26.03.10 Prinzen Halle - Hamburg 27.03.10 Kaputtraven @ Keller Klub - Stuttgart 24.04.10 Wasserwerk - Bern (CH)

DON RIMINI

Mental Groove / www.myspace.com/donrimini 12.03.10 Blau Club - Saarbrücken

EIGHT LEGS

Snow White Rec. / www.myspace.com/eightlegs 07.04.10 Schocken - Stuttgart 08.04.10 Zum Teufel - Heidelberg 10.04.10 Gebaeude 9 - Köln 12.04.10 Ponyhof - Frankfurt / Main 14.04.10 Dresden - Ostpol 15.04.10 BangBang Club - Berlin 16.04.10 Beim Weissen Lamm - Augsburg 17.04.10 Amp - Münster 21.04.10 Chelsea - Wien (A) 22.04.10 59to1 - München 23.04.10 Dachstock - Bern (CH) 24.04.10 Albani - Winterthur (CH)

JAMES PANTS

Stones Throw / www.myspace.com/jamespants 02.04.10 Scheune - Dresden 04.04.10 Bonsoir - Bern (CH)

MALENTE

Exploited / myspace.com/malente 17.04.10 Parkhaus - Lübeck

MR. OIZO

Ed Banger / www.myspace.com/oizo3000 04.04.10 Liquid Sunday Festival - Altenburg

INFO@SSC-GROUP.NET

Düsseldorf Office: Birkenstrasse 71 40233 Düsseldorf Fon:+49(0)211 544 713 0 Fax:+49(0)211 544 713 29

Berlin Office: Sonnenburger Strasse 54 10437 Berlin Fon:+49(0)30 780 809 31 Fax:+49(0)30 780 809 33

MIXHELL

New Judas / www.myspace.com/mixhell 20.03.10 Erste Liga - München 03.04.10 Flex - Wien (A)

HEADMAN

Relish / www.myspace.com/headmanmanhead 16.03.10 Erste Liga - München 01.04.10 Cookies - Berlin 02.04.10 Dachstock - Bern (CH)

FOTOS

EMI / www.myspace.com/fotosmusik 06.04.10 Objekt 5 - Halle 07.04.10 Pretty Vacant - Düsseldorf 08.04.10 Brotfabrik - Frankfurt 09.04.10 Halle 2 - Heidelberg 10.04.10 Albani - Winterthur 11.04.10 Kranhalle - München 12.04.10 B72 - Wien (A) 14.04.10 Heimat - Regensburg

PUNKS JUMP UP

Kitsune / www.myspace.com/punksjumpup 27.03.10 Neidklub - Hamburg 06.03.10 Kiff - Aarau (CH)

SHY CHILD

Wall Of Sound / www.myspace.com/shychildmusic 09.03.10 Magnet - Berlin

STEINSKI

www.myspace.com/steinski 02.04.10 Stall 6 - Zürich (CH) 03.04.10 Bonsoir - Bern (CH) 07.04.10 Altes Wettbüro - Dresden

STEREO MC’S DJ SET

PIAS / www.myspace.com/stereomcsofficial 20.03.10 Bonsoir Club - Bern (CH) 27.03.10 YumYum - Amstetten (A)

THE BLOODY BEETROOTS Dim Mak / www.myspace.com/thebloodybeetroots 10.03.10 Stereo - Bielefeld 11.03.10 Rocker33 - Stuttgart 12.03.10 Maria - Berlin 13.03.10 Bootshaus - Köln

VICARIOUS BLISS

Ed Banger / www.myspace.com/myvicariousbliss 10.04.10 603qm - Darmstadt

WWW.SSC-GROUP.NET


DON’Ts

This month’s DOs & DON’Ts are written by me, the Fat Jew.

Isn’t it weird that anytime a meathead /frat-boy-type character who wears football jerseys and Jägermeister keychain necklaces tries to be funny or zany, he always ends up looking like a cartoon rapist from outer space?

This is the type of guy I have nightmares about: a college jerk-off who has never met a black person, wears “funny” boxer shorts, thinks he’s the only one who understands the nonsequential humor of Family Guy, and is not afraid to freestyle rap in any situation at any time regardless of how much secondhand embarrassment it’s causing the people around him. 50

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Take an ex-REO Speedwagon roadie, an Australian club promoter, and a bisexual creep from LA who works at a head shop, put them in a large pot, beat rapidly with a wire whisk, and you’ll get this wart on the penis of humanity.

Look guy, I don’t care what the ecstasy is telling you. Right now the only people you’re about to make “friends for the rest of life” with are eight bouncers, two EMTs, and whatever poor sap they get to clean up all the vomit.

This is the type of house that is filled with trash, smells like soup, has a black-and-white TV, and everyone dresses like they won a $15 shopping spree at a secondhand shop, but then there’s a wall of desks lined with brand-new MacBook Airs. I’d like to dick-punch these guys repeatedly.


Foto von Christoph Voy

FUCK BLOGS. SUBSCRIBE TO VICE. 12 AUSGABEN FÜR 50 EURO WWW.VICELAND.DE


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Fragt mal Alice (Kurzfassung) FOTOS VON BLOSSOM BERKOFSKY STYLING: JACLYN HODES

Kleid von Samantha Pleet, Vintage-Bluse von Cacharel, Socken von Adidas

Model: Ruby Aldridge bei Next Make-up: Samantha Trinh f端r Dior bei Atelier Management Haare: Anthony Campbell f端r Cutler/Redken bei Atelier Management Fotoassistenz: Willie Davis

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Weste von MINKPINK, Vintage-Kleid von et dĂŠrive, Vintage-Stiefel von Atomic Passion


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Vintage-Jacke,Vintage-Sweatshirt von Search & Destroy, Vintage-Shorts von Anne Klein, Strumpfhose von Fogal, G端rtel von Urban Outfitters, Vintage-Stiefel von Edith Machinist, Vintage-Handtasche von Narnia


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Jacke von Tommy Hilfiger, Vintage-Top von Laundry, Strumpfhose von Fogal, Vintage-Schuhe, Vintage-Jacke von et dĂŠrive (als Kissen), Laken von Laura Ashley


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VICE Vintage-Top von DulcinĂŠe, Shorts von Silence & Noise, Vintage-Jacke von Narnia, Strumpfhose von Wolford, Hut von Betsy Giberson


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Vintage-Jacke von et dĂŠrive, Vintage-Appletree-Pullover von Edith Machinist, Jeans von Current/Elliott, Strumpfhose von Wolford, Vintage-Stiefel von Ferragamo


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Weste von et dĂŠrive, Lederweste von Champlain Leather, Rock von Lo, Socken von LRG


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T-Shirt von St端ssy


Sinnlicher französischer Film aus den 70ern FOTOS VON ISABEL ASHA PENZLIEN, STYLING: JACLYN HODES

Kleid von Built by Wendy, Unterwäsche von Only Hearts, Strümpfe von Agent Provocateur; Hemd von Uniqlo

Make-up: Samantha Trinh für Dior bei Atelier Management. Haare: Anthony Campbell für Cutler / Redken bei Atelier Management Models: Sarah Cooligan, Julia Burlingham, Dennis Nazarov, Charlie Damga. Besonderen Dank an Otto Gillen

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Hemd von Guess, Str端mpfe von Hue


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Vintage-Jacke, Bodysuit von Only Hearts, Strümpfe von Victoria’s Secret, Schuhe von Costume National, Armreif von Delphine-Charlotte Parmentier


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Jacke von Marc Jacobs, BH von Timpa, Str端mpfe von Agent Provocateur, Schuhe von Costume National


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Hemd von Nice Collective, Unterw채sche von Calvin Klein, Str체mpfe von Wolford


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BH von Agent Provocateur


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Jacke von Raf Simons f체r Fred Perry, Unterw채sche von Ungaro


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Hemd von Uniqlo; Jacke von Marc Jacobs



THC & A FOTOS VON RICHARD KERN

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Unterw채sche von American Apparel


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Unterwäsche von Victoria’s Secret


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Halskette von Oak


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Unterwäsche von Björn Borg


In der Tiefe des Waldes

Eine alte Geschichte aus dem Nirgendwo VON ROBIN BARBER

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ir verlegten den Sonntag auf den Montag, weil Sonntag sich als der Tag herausstellte, an dem gerne ungebetene Gäste auftauchten. Als wir zunächst versuchten, den Sonntag als einen Tag der Ruhe zu nutzen, und uns entspannenden Dingen wie dem Lesen, dem Briefeschreiben, dem Herumstromern oder den komplexen Routinen des Badens hinzugeben, stellten wir fest, dass wir von ständigen Hallos aufgestört wurden, die vom Pfad herüberhallten. Die Leute fuhren mit den gelben Pick-ups des Holzfällerunternehmens von ihrem Camp herüber und liefen dann die zwei Meilen bis zu uns durch den Wald. Es gab nur den einen Pfad, sodass sie den Weg nicht verfehlen und nirgendwo anders herauskommen konnten als bei uns — an der alten Trapperhütte, die wir am Ende des Pfades für uns wiederherrichteten. Das war 1971, in der Wildnis British Columbias, fast in Alaska, in einem großen, verlassenen Tal, und anscheinend war unsere kleine Kommune eins der wenigen interessanten Dinge, die es hier zu sehen gab. Die Holzfäller machten aus ihren Besuchen oft einen kleinen Familienausflug, sie schienen aus irgendeinem Grund froh zu sein, dem klaustrophobischen Lager eine Weile zu entkommen — einem Ort mit militärisch geraden Reihen von Wohnwagen und vorgefertigten Schlafbaracken, Arbeitsschuppen, haufenweise großen gelben Maschinen und auf Stahlstelzen stehenden Benzintanks. Sie kamen aus unverhohlener Neugier hierher, in der Erwartung, die Hippies in ihrer Kommune zu sehen, aber auch mit einem großen Maß aufrichtiger nachbarschaftlicher

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Freundlichkeit — bereit uns als normale Menschen zu akzeptieren, unsere Bemühungen, uns hier ein Heim zu schaffen, zu bewundern und uns Ratschläge zu geben. Manchmal brachten sie uns als Geschenke Essen oder Werkzeuge mit, einmal ein tragbares Funkgerät — für den Fall eines Brandes, wie sie uns erklärten, als wir höflich ablehnten. Der Weg zu uns war lang, schwierig und steil, und wenn sie hier ankamen, waren ihre Kinder in der Regel erschöpft, ausgehungert und quengelig. Wir fühlten uns verpflichtet, jedem eintreffenden Grüppchen Tee zu machen und etwas zu essen anzubieten. Unser Essen wurde genau unter die Lupe genommen, dann aber immer restlos weggeputzt. Und wenn die letzte Gruppe wieder den Pfad hinunter verschwunden war, wollten wir unseren Sonntag dann immer noch einmal von vorn beginnen. Also legten wir unseren Sabbat auf den Montag. Die Holzarbeiter waren nun damit beschäftigt, sich mit ihren gelben Maschinen und ihren Dieselabgasen durchs Dickicht zu graben. Der Sonntag wurde ein normaler Arbeitstag für uns und die Besucher hatten nun die Wahl, uns entweder bei der Arbeit zuzusehen oder uns zur Hand zu gehen: Holz zu sägen, Dinge zu schleppen, zu hämmern, umzugraben. Das stellte sich als eine sehr gute Idee heraus, aber das ist eine andere Geschichte. In dieser Geschichte heute soll es um unser allmontägliches Baderitual gehen. Sauber zu werden war eine der schwierigsten Herausforderungen der Zeit nach unserer Ankunft am Tseax. Wir hatten kein fließend Wasser, keinen Strom, keine Badewanne und die nächste Stadt, in der es

Fotos von Lois Carbone Barber

Tim Barber — der Fotograf, Kurator, Eigentümer von tinyvices.com und ehemaliger Fotoredakteur von Vice — brachte uns vor Kurzem diese Schatztruhe mit Fotos vorbei, die seine Eltern zusammen mit ihren Hippiefreunden während ihrer friedvollen Zurückzur-Natur-Phase in den 70er-Jahren aufgenommen haben. Unsere erste Reaktion war: „Wow, deine Alten hatten’s echt drauf!“ Und dann sagten wir: „Wow, diese Bilder sind echt schön! Warum zum Teufel hängen wir in dieser urbanen Todesfalle rum, wenn wir stattdessen da draußen bei den Ziegen und Adlern sein könnten, im reinen, kühlen Schnee?“ Dann setzte Tim noch eins drauf und reichte uns ein paar Blätter mit den Memoiren über diese längst vergangenen Tage rüber, an denen sein Vater gerade arbeitet. Hier habt ihr es also: einen Einblick in das Leben in der Natur, geschrieben von einem wirklich coolen Dad.


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Fotos von (im Uhrzeigersinn von oben links): Robin Barber; Lois Carbone Barber; Robin Barber; Charles Sprague

Riesige Schwaden reiner Luft durchzogen das Tal bis zu der dünnen Wolkenlinie, die über dem in der Ferne gelegenen Fluss schwebte. Die einzigen Geräusche waren der Wind, das Wasser und die Rufe der Vögel. all diese Dinge gab, war 60 Meilen entfernt. Wir waren den ganzen Tag lang auf dem Berghang unterwegs, von April in den Mai hinein im Schnee, dann im Schlamm, umgeben vom Rauch der Buschfeuer, im Bücken schwere Arbeit verrichtend. Unsere Körper waren schmutzig, vom Rauchgeruch durchtränkt und vom Schweiß der Arbeit, manchmal auch dem der Angst, die die Enge und die Streitereien mit sich brachten, während wir unsere Territorien absteckten. Es regnete häufig; wir waren nur selten wirklich trocken. Mit der Wärme kamen die Moskito-, Kriebelmückenund Gnitzenschwärme und wir strichen uns dick mit unserem hausgemachten Insektenmittel ein, das aus Olivenöl, Zitronengras, Fichtenharz und Eukalyptus bestand. Wir verbreiteten also eine ziemliche Duftwolke um uns. Aber in der Dämmerung, nach dem Abendessen, spazierten wir zu einem Auskuck, wo wir die Dunkelheit hinter den kilometerhohen Bergrücken emporsteigen sehen konnten. Riesige Schwaden reiner Luft durchzogen das Tal bis zu der dünnen Wolkenlinie, die über dem in der Ferne gelegenen Fluss schwebte. Die einzigen Geräusche waren der Wind, das Wasser und die Rufe der Vögel. Außer dem Abendstern war kein Licht zu sehen. Wenn man die Zeit um 200 Jahre zurückgedreht hätte, wären die vereinzelten Holzfällerlichtungen, die sich an manchen Stellen den Hügel hinauffraßen, der einzige Unterschied gewesen. Alles war hier so rein, dass unser natürlicher Schweiß in keiner Weise zu stören schien. Um das Wasser zu erhitzen, hatten wir lediglich einen Campinggrill aus Blech, der klein und leicht genug war, um ihn im Rucksack dabei zu haben. Die Vorbereitungen unseres Bades begannen also damit, dass wir den Kocher zum Glühen brachten, bis das Metall sich zu biegen und knallende Geräusche auszustoßen begann. Während der Grill sich erhitzte, schleppten wir vom Fluss in zwei weißen Plastikeimern, die wir in der Küche des Holzfällercamps abgestaubt hatten, Wasser heran. Das Wasser aus dem Bach — den wir den Biberbach nannten, weil es ein Stück flussaufwärts sieben verschiedene Biberdämme gab — war schmutzig, brackig, von einer gelblichen Farbe, die an schwachen Tee erinnerte, und fühlte sich auf der Haut etwas seifig an. Wie erhitzten das Wasser in einem aus dem Müll geretteten Waschkessel, einer ovalen Wanne aus schwarzer Emaille mit blauen Flecken und rostigen Dellen, um die herum sich Ringe feiner Risse ausbreiteten.

Als Charles ihn fand, hatte er ein Loch. Aber es gelang Charles recht gut, das zu reparieren, indem er es mit einer kleinen Schraube und Dichtungsringen verschloss. Wir gossen das schäumende Wasser in den Kessel und stopften den Boden des Grills mit wertvollem Feuerholz voll. Dann warteten wir. Als wir nach einer kleinen Ewigkeit schließlich einige Liter heißen Wassers hatten, begannen wir abwechselnd um den Grill herum zu tänzeln und unsere Lappen in den Wasserbehälter zu tunken, um unsere juckenden, weißen Häute zu schrubben, und das uns zugeteilte Wasser bis auf den letzten Tropfen aufzubrauchen, vorne dampfend, während unsere Hinterseite einfror. Wir redeten viel von einer Sauna und einer Schwitzhütte, vor allem, weil das verhieß, endlich einmal richtig warm zu werden. Aber erst waren andere, essenziellere Dinge dran: das kaputte Dach, ein neuer Küchenboden, die permanente Suche nach Feuerholz, das Anlegen von Pfaden, das Freilegen und Umgraben des Gartens, um schließlich Kartoffeln, Kürbisse, Erbsen und Bohnen anzubauen. Dann bekamen wir von Little Joe Jackson eine Badewanne geschenkt. Weil alle im Tal wussten, dass wir das Ding so dringend brauchten, konnten wir uns gut vorstellen, welche Heiterkeitsanfälle es bei Peter Hughan zu Hause gegeben haben musste, als er vorschlug, uns dieses Geschenk zu machen. Peter war Little Joes Stiefvater, der Wohltäter, der uns dieses Land überließ— für 1 Dollar pro Hektar — und unser Mentor, da er der älteste Siedler der kleinen Gemeinde außerhalb des Holzfällercamps und des Indianerreservats war. Weil wir weder Holzfäller noch Indianer waren und von Peter Hughan akzeptiert wurden, sah man uns als eine Art vorläufige Siedler an. Also erklärte Little Joe uns eines Tages während eines Besuchs bei Peter zum Frühstück: „Hab ein paar nützliche Sachen für euch zusammengesammelt. Ich brauche Platz im Schuppen. Hoffe, ihr nehmt es alles mit.“ Er riss also die Türen seines Schuppens auf, aus dessen dunklem Inneren uns Hühner entgegengeflogen kamen. Auf der Ladefläche eines alten Pick-up-Trucks hatte er Dinge aufgestapelt, die er uns nun eins nach dem anderen vorführte: einen Einkochtopf, dem eine Dichtung fehlte, eine breite Axt, ein Haken, wie er von den Holzfällern benutzt wird, um die Stämme zu wenden, eine leere 200Liter-Tonne — von der guten, schweren Sorte — und, obenauf, eine kleine Wanne aus verzinktem Blech, die verkehrt herum lag und wie ein Trog für Tiere aussah. Der Truck und sein Inhalt waren mit einer

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dicken Schicht aus Hühnerkacke überzogen und im Führerhaus hatten die Hühner ihre Nester gebaut. „Dieser Wagen fährt“, versicherte er uns, „aber ich habe ihn seit Jahren nicht benutzt — nehmt ihn also auch mit. Ich brauche den Platz.“ Von einer Bezahlung wollte er nichts hören. „Ihr tut dem alten Kerl doch einen Gefallen damit.“ Es war der 10. Mai, der Tag, an dem „der alte Kerl“, Peter Hughan, immer begann, seine robustesten Stecklinge und frühen Kartoffeln zu setzen. Wir arbeiteten den ganzen Tag mit Peter und versuchten uns so viel wie möglich abzukucken, um uns auf unsere ersten Versuche in unserem eigenen Garten vorzubereiten. Seine Farm befand sich auf dem besten Grundstück des ganzen Tals, mit breiten Feldern aus reichem Boden, einem Haufen von der Witterung gezeichneter Blockhütten, holzgetäfelten Dächern und einem weiten Blick auf die Berge im Westen. Am Abend nahm uns Peter mit zu seinem laut rauschenden, kristallklaren Bach, wo er auf Pfeilern ein kleines Waschhaus errichtet hatte, um es vor Überflutung zu schützen. Er zeigte uns, wie er das Wasser erhitzte. Er hatte eine Öltonne auf der Seite geöffnet wie ein Buch, so als hätte er auf jeder Seite ein Blatt aufgeblättert. Die offene Trommel lag seitlich auf einer groben Feuerstelle aus Holzscheiten. Wasser wurde mittels Schwerkraft durch ein fünf Zentimeter dickes schwarzes Rohr, das von der Veranda des Waschhauses hing, in die Tonne geleitet. Das Wasser floss ständig durchs Rohr und in den Bach zurück, also musste Peter, um das Fass zu füllen, das Rohr nur mit dem Seil ein Stück zur Seite lenken, sodass der kräftige und kontinuierliche Wasserstrahl nun in die Tonne traf und sie binnen weniger Momente füllte. Ein munteres Feuer darunter erhitzte das eiskalte Wasser rasch zu einem brodelnden Kochen. Im Waschhaus gab es eine etwas deplatziert wirkende pinkfarbene Badewanne mit Milchglastüren. Wir füllten sie mit Eimern voll heißem Wasser, das wir aus der Tonne holten und in die Wanne schütteten, und mischten solange kaltes Wasser darunter, bis die Temperatur genau richtig war. Neben der Wanne stand eine benzinbetriebene Waschmaschine der Marke Maytag. Während wir also in reichlich heißem Wasser versanken, rumpelten und schmatzten sich unsere vor Dreck schon ganz steifen Sachen wieder der Sauberkeit entgegen. Neben der Waschmaschine war ein geschlossener Ofen aus Blech — wie eine große Tomatendose — der

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eine glühende Hitze verbreitete. Als wir den Stöpsel zogen, strömte das Wasser direkt zurück in das schwarze, flache Flussbett unter dem Haus. Als wir später beim Abendessen im Lampenlicht um Hughans Tisch herum saßen, strahlend sauber und in geborgten Kleidern, fielen uns einem nach dem anderen die Augen zu. Zurück auf unserem Berg benutzten wir Little Joes Wanne und die 200-Liter-Tonne dazu, uns am Biberbach unter freiem Himmel ein eigenes Bad einzurichten. Charles und ich schleppten die Tonne auf einer Stange wie eine Beutetrophäe den Pfad hinauf und verbrachten dann den Nachmittag damit, mit einem zwei Pfund schweren Vorschlaghammer und einem Flachmeißel, die Ohren mit Baumwolle verstopft, die Tonne aufzumeißeln und ihre Wände zurückzubiegen. Das Ergebnis war im Vergleich zu Peters Tonne sehr grob und unförmig und hatte üble scharfe Ecken, die die Schnittkanten säumten. Wir stellten uns vor, wie sich die Leute beim Baden an den scharfen Kanten schneiden würden und sahen ein, dass wir noch eine weitere Stunde in der feuchten, kühlen Dämmerung damit verbringen müssen würden, die Spitzen platt zu hämmern. Lois kam herunter, um uns zuzusehen, und hielt sich mit den Händen die Ohren zu. Ich konnte sehen, wie sich ihre Lippen bewegten, also hielt ich einen Moment inne, um zu hören, was sie sagte: „Schlag zu! Schlag zu! Schlag zu!“, rief sie. „Schlag zu! Schlag zu! Schlag zu!“ Während wir das Ganze also zu Ende brachten, hörte ich mit jedem Hammerschlag diese Worte: „Schlag zu!“ Charles war ständig am Schnorren, um bei den Leuten interessante Dinge abzugreifen, die sie nicht mehr brauchten, und über die der Rest von uns sich in der Regel lustig machte. Er hatte ein paar Bohrstangen — zwei Meter lange, sechskantige Stangen, die in der Mitte hohl waren wie riesige antike Gewehrläufe, und die entlang der Holzfällerstraßen zum Bohren der Sprenglöcher benutzt wurden. Wir schoben die Rohre unter die Klappen der Tonne, die nun wie eine Schläfe aus Stahl aussah. So befestigten wir sie dann mit Draht an den Stämmen zweier krüppeliger Zedernbäume. Die unteren Zweige dieser Bäume reichten bis nah an den Boden und formten so um die Tonne herum eine Art Badelaube. „Lasst es uns das Biberbad nennen.“ „Lasst es uns einfach das Badezimmer nennen.“

Fotos von Robin Barber

Neben der Wanne stand eine benzinbetriebene Waschmaschine der Marke Maytag. Während wir also in reichlich heißem Wasser versanken, rumpelten und schmatzten sich unsere vor Dreck schon ganz steifen Sachen wieder der Sauberkeit entgegen.


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Fotos von (im Uhrzeigersinn von oben links): Robin Barber; Robin Barber; Lois Carbone Barber; Robin Barber

Man konnte in der dampfenden Wanne liegen und nach oben in die haushohen Kronen der Zedern und Tannen schauen, während einem der kalte Regen ins Gesicht und auf die aus dem Wasser ragenden Knie fiel. Mit Stücken fünf Zentimeter dicken Rohrs schufen wir auch unsere eigene Version von Peters Schwerkraft betriebener Wasserleitung. Wir schnitten ein Loch in den Boden eines Gurkeneimers, befestigten das Ende unseres Rohrs daran, indem wir es mit Lumpen umwickelten, die von einer Rohrklammer gehalten wurden, und hängten den Eimer dann unter einen kleinen Wasserfall ein Stück flussaufwärts. Einen Moment später schoss ein befriedigender Schwall des Biberwassers aus dem Rohr hervor—eine regelrechte Sturzflut unter den Zederbäumen, ein beweglicher Zufluss. Wir konnten das Ende des mit Tau benetzten schweren Rohrs, das von der Wucht des Wassers ein wenig zitterte, anheben und die Tonne damit rasch füllen. Als sie voll war, begannen die Bohrrohre sich unter dem Druck zu biegen. Wir versuchten, das Gewicht zu berechnen: „Ein Liter wiegt ein Kilo, egal wo man ist; wenn wir also 170 Liter heißes Wasser haben, wiegt die Tonne über drei Zentner plus ihr eigenes Gewicht …“ Feuerholz zu besorgen, hätte zu viel harte Arbeit bedeutet, also machten wir aus den feuchten, vermoosten Holzstücken, die wir auf unserer Lichtung zusammensuchten, ein rauchiges großflächiges Feuer, das aber nur langsam in Gang kam. Als es unter der rußgeschwärzten Tonne aber einmal brannte, verbreitete es eine intensive Hitze, die zwischen den Bäumen einen großzügigen Kegel der Wärme und Trockenheit schuf. Sogar der neblige Regen schien auszutrocknen, bevor er den Boden erreichte. Aus selbst zurechtgehackten Zedernschindeln bauten wir einen Holzweg zwischen der Tonne und dem Bad. Die Wanne hüllten wir in ein Zelt aus auf einem Stock aufgehängten Moskitonetz. Das kochende Wasser in der Hitze des Buschfeuers aus der Tonne zu holen, war nicht ungefährlich, aber Lois hatte die Idee, dass man die Wanne mithilfe eines Siphons füllen konnte, den wir aus einem Rohr und einem riesigen Messinghahn improvisierten, der eigentlich für Diesel gedacht und mit Little Joes Truck zu uns gekommen war. So konnten wir die Wanne schließlich binnen Minuten füllen. Wir holten unser langes Fotothermometer, um die Wassertemperatur in der Tonne zu messen. Aber die Quecksilbersäule des Thermometers endete bei 120° Fahrenheit. „Nun, das Wasser ist kurz vorm Kochen, also müssen es an die 212° Fahrenheit sein, stimmt’s?“ „Ja, 100° Celsius, und das hier oben in Kanada.“

Dann steckten wir das Thermometer in den kalten Strahl, der aus dem Rohr kam. Die Säule zog sich binnen Sekunden zusammen. „Mein Gott, 38° Fahrenheit.“ „Was ist das in Celsius?“ „Keine Ahnung. Der Gefrierpunkt liegt bei null oder? Also ein oder zwei Grad über null …“ „Ist ja auch egal.“ „Das Biberbachwasser ist auf jeden Fall sehr, sehr kalt. Und das heiße Wasser ist sehr, sehr warm.“ Unser erster Badetag war ein kalter, nebeliger Montag. Wir badeten alle nacheinander, die Älteste zuerst, wie Julia beschlossen hatte. Sie badete also als Erste und ich als Letzter. Die Regeln lauteten, dass man den Kessel neu auffüllen und Holz nachlegen musste, bevor man ins Wasser stieg. Wenn man fertig war, hob man das Moskitonetz an und drehte die Wanne auf die Seite, sodass sich ein Schwall heißen Wassers ergoss und jede Menge Nadeln und Zapfen zum Bach hinunterschwemmte, sodass der Boden bald blitzblank war und ein dichtes Gewirr aus rubinroten Zedernwurzeln zum Vorschein kam. Die Wanne musste für den Nächsten dann noch mit kaltem Wasser aus dem Rohr ausgespült werden. Nachdem Julia sich auf dem Weg gemacht hatte, setzten wir in der Hütte unsere Arbeit fort, wobei wir durch das Gewirr aus neuen Blättern gelegentlich kurze Blicke auf ihre nackte Figur in der Ferne erhaschten, die mit den Rohren und Wasserhähnen im Frühlingsregen tanzte, während sie fluchend die Mücken verscheuchte, dann unter das Netz tauchte und mit lauten Freudenschreien in die Wanne stieg. Einer nach dem anderen probierten wir es aus. Man konnte in der dampfenden Wanne liegen und nach oben in die haushohen Kronen der Zedern und Tannen schauen, während einem der kalte Regen ins Gesicht und auf die aus dem Wasser ragenden Knie fiel und jeder einzelne Muskel im Körper sich aufzulösen und neu zusammenzufügen schien. Das kalte Wasser plätscherte aus dem Rohr, der Bach gurgelte und rauschte, das Feuer knisterte und knackte und ringsherum hörte man den rieselnden Regen. Im Bad wurde man von einer tiefen Ermattung und Wohlsein ergriffen — man kam als ein neuer Mensch wieder heraus, überrascht sich wiederzufinden, wo man war. Mit sauberen Kleidern wurde beim anschließenden Mittagessen aus der Wohligkeit grenzenlose Toleranz, Freundlichkeit und Liebe — die fast die ganze folgende Woche reichte.

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Was für ein Zirkus

Die Rosaires lieben ihre Tiere, als wären sie Teil der Familie VON ROCCO CASTORO FOTOS VON JASON HENRY

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ur einen Kilometer von der Interstate 75 entfernt gibt es in Sarasota, Florida, ein zwölf Hektar großes Stück Land, auf dem eine Menagerie aus Löwen, Tigern, ein paar Pumas, Schimpansen, Kodiakbären, Lemuren und allen möglichen anderen exotischen Kreaturen aus der ganzen Welt beheimatet ist. Das sind die adoptierten Kinder der Rosaires, einer Zirkusfamilie, deren Sachkunde auf dem Gebiet der Tierdressur Beastmaster ungefähr so talentiert aussehen lässt wie Steve Irwins Leiche. Alle Rosaires haben ein außergewöhnliches Talent, mit den unterschiedlichsten Tierarten zu kommunizieren, aber im Laufe der Jahre hat jedes Familienmitglied eine besondere Bindung zu einer ausgewählten Art oder Gattung entwickelt. Da ist Pam, die Schimpansen dressiert; „Bear Man“ Derrick jr. und seine zwei Söhne, Derrick III und Frederick; die Pferdedompteurin par excellence Ellian; Pams Zwillingsschwester Linda, die pensioniert ist, aber es immer noch drauf hat, ein Rudel Hunde oder anderer Kreaturen dazu zu bringen, ein eindrucksvolles Repertoire an Tricks vorzuführen; Clayton, der mit nur 17 Jahren der jüngste Löwen- und Tigerdompteur der Welt ist; und Claytons Mutter, Kay, die ihm von der Pike auf beibrachte, wie man mit riesenhaften Raubtieren umgeht, denen es ein Leichtes wäre, einem mit einem einzigen verspielten Prankenschlag die Haut von der Brust zu fetzen. Ich hatte die Ehre, von den Rosaires auf ihr Grundstück eingeladen zu werden, um mit ihnen über den Niedergang des Zirkusgewerbes zu sprechen—einer Form der Unterhaltung, die ihren Ursprung im alten Rom hat und einmal so tief in der amerikanischen Kultur verwurzelt war, dass sie über Generationen hinweg zu einem nicht wegzudenkenden Erlebnis im Leben eines jeden Kindes, Mannes und einer jeden Frau in den Vereinigten Staaten wurde. Verständlicherweise stehen die Rosaires der Medienberichterstattung über ihr Gewerbe skeptisch gegenüber, besonders wenn es um ihren Umgang mit den Tieren geht. Nachdem es mir gelungen war, sie zu überzeugen, dass ich kein als Journalist verkleideter PETA-Aktivist war, berichteten sie mir ausführlich darüber, wie und warum der amerikanische Zirkus seit Jahrzehnten den Weg des Dodos eingeschlagen hat. Sie machten mich darauf aufmerksam, dass sein Aussterben Folgen hat, die weit gravierender sind, als man sie sich gemeinhin vorstellt. Die Rosaires erzählten mir, dass ihre familiäre Artistentradition bis zu den Hofnarren des mittelalterlichen Großbritanniens zurückreicht und neun Generationen von Dompteuren und anderen Artisten umfasst. Irgendwann (obwohl keiner den genauen Zeitpunkt weiß) fand die Familie in der Dressur einer breiten Palette von Tieren und im Vorführen von Dompteurtricks ihre Nische. Der verstorbene Patriarch der momentanen Rosaire-Crew, Derrick Rosaire sen., bewahrte die Familientradition die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hindurch. Er ist vielleicht am bekanntesten für seine berühmte Pferdenummer „Rosaire and Tony the Wonder Horse“, mit der er in der Tonight Show Starring Johnny Carson auftrat, und die ihm zu einem Job als Tierdresseur für die 60er-Jahre-Kinderfernsehshow Daktari verhalf. In South Wingfield in England geboren und aufgewachsen, verbrachte Derrick den Großteil seiner Jugend damit, mit verschiedenen Zirkussen durch Europa zu reisen. Nebenbei machte er seiner Frau 86

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Betty, die aus einer anderen europäischen Zirkusfamilie—den Kayes—stammte, die auf die Tierdressur spezialisiert war, ein Kind nach dem anderen. Derrick und Betty begannen, ihren Kindern das Familiengeschäft beizubringen, sobald die Lümmel groß genug waren, einen Besen in der Hand zu halten, um den Mist auszukehren. Natürlich ging das nicht immer glatt. „Als wir klein waren, bekamen Mom und Dad einen großen Auftrag in Algerien, also stiegen wir in ein Boot und fuhren los“, erinnert sich Linda. „Als wir dort ankamen, wurden wir von vier französischen Legionären begrüßt, die uns zu dem Zirkusplatz brachten. Mein Vater sagte: ‚Was ist hier los, Freunde? Was soll das Ganze?‘ Und sie sagten uns: ‚Nun, hier herrscht Krieg.‘ Meine Eltern hatten keine Ahnung, weil sie die Nachrichten nicht verstanden; sie sprachen die Sprache ja nicht. In der ersten Nacht buchte mein Vater ein Zimmer im obersten Stockwerk des größten Hotels von Algier und dann schauten wir zu, wie sich unten auf der Straße die Leute erschossen.“ Im August 1961 siedelte die Familie aus England nach Waterford, Pennsylvania, über—in der Hoffnung, dort von der blühenden Zirkuskultur zu profitieren. Ein paar Monate später merkten sie, dass sie ein Problem hatten: Es war einfach viel zu kalt für die Tiere. „Wir hatten keine Vorstellung von der Geografie Amerikas und mein Vater hatte einen Freund, der in Waterford lebte, also kaufte er dort ein Grundstück“, erzählte mir Kay. „Es war August, also war es wunderschön. Dann kam der Winter. Wir erfroren in meterhohem Schnee und telefonierten mit Freunden in Florida, die Tennis spielten und das Strandleben genossen. Wir dachten nur: ‚Moment mal, wie kann das sein?‘ Schließlich zogen wir irgendwann nach Sarasota.“ Heute ist Sarasota eine verschlafene Gemeinde am Meer mit einer Einwohnerzahl von knapp über 50.000. Die Bevölkerung besteht aus reichen Säufern, hart arbeitenden Familien und Rentnern, die versuchen, ihre letzten Tage schwitzend auf den schneeweißen Stränden von Siesta Key rumzukriegen. In den letzten 20 Jahren geriet es auch dafür in die Schlagzeilen, dass Pee-Wee Herman sich hier in einem Pornotheater einen runterholte und dass George W. Bush am 9. September hier erfuhr, dass ein zweites Flugzeug ins World Trade Center geflogen war, während er ausdruckslos auf die Kinder einer zweiten Klasse starrte und ihnen Rechtschreibübungen vorlas. Es ist außerdem meine Heimatstadt. Aber zu den Zeiten, als jede amerikanische Stadt noch mit einem bestimmten Industriezweig assoziiert wurde, war Sarasota bekannt als „Circus City“. „Wenn man durch die Stadt fuhr, sah man, wie Zelte aufgestellt und Tiere dressiert wurden und Leute in ihren Höfen auf dem Trapez oder dem Hochseil turnten“, erzählte mir Pam. „Es machte den Zirkus bekannt. Die Touristen fuhren in der Stadt herum und sahen einfach zu, wie die Leute in ihren Höfen Vorführungen gaben. Es war toll.“ Sarasotas besonderes Verhältnis zum Zirkus begann in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, als ein Mitglied der Ringling-Familie (die als die Ringling Bros. und mit dem Barnum & Bailey Circus bekannt wurden) die Stadt als ihr Winterquartier auserkor. John Ringling und seine Frau Mable gaben 1924 den Bau der 1,5 Millionen teuren (was heute, wenn man die Inflation dazurechnet, 16 Millionen wären), venezianisch anmutenden Cà d’Zan Mansion in


Dieses aufgerissene Maul gehört Indian, einem von Derrick jr.s vielen dressierten Bären. Keine Sorge, er war nicht böse. Es ist alles nur Teil der Show.

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Ricky ist der jüngste von Pams fünf Schimpansen. Wenn sie sagt, dass er ihr „Sohn“ ist, meint sie das völlig ernst. Pams menschliche Kinder behaupten halb scherzend, dass sie ihren Schimpansen mehr Aufmerksamkeit schenkt als ihnen. Wenn euch das noch nicht überzeugt—sie hat sogar einmal einen adoptierten Schimpansen selbst gesäugt, weil seine Mutter kurz nach der Geburt gestorben war. Und nein, sie hat Ricky nicht extra für dieses Foto so angezogen. Er trägt auch sonst gerne Menschenklamotten.

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Die erweiterte Rosaire-Familie: (obere Reihe von links nach rechts) Derrick III; Frederick; Clayton mit Snoopy dem Hund; (mittlere Reihe von links nach rechts) Derrick jr.; Derricks Frau Kay (die zufälligerweise denselben Namen hat, wie Derricks Raubkatzen dressierende Schwester); Derrick sen.s Witwe Lisa Lisette; Claytons Frau Danielle; Clayton und Danielles Tochter Ella; Pams Ehemann und Dressurreitwunder Roger Zoppe; Ellian; Ellians Sohn Kaziu Rosaire Dymek; Ellians Mann und ehemaliger Weltklasseakrobat Kazimierz Dymek; (untere Reihe von links nach rechts) Linda; Kay; Pam und Ellians Sohn Jerek Rosaire Dymek

Auftrag. Bald darauf begannen Artisten und Angestellte des RinglingZirkus sich in der Gegend niederzulassen, bis Sarasotas Verbindung mit dem Zirkus 1951 schließlich von Cecil B. DeMille für die Ewigkeit zementiert wurde, indem er die Stadt als Drehort für seinen Oscar-gekrönten Film Die größte Schau der Welt auswählte. Bauunternehmer und Makler erkannten bald das Potenzial von Sarasotas Immobilienmarkt und die Grundstückspreise schossen in die Höhe. Die Zirkusleute wurden so schließlich aus der Stadt vertrieben, die sie zu dem gemacht hatten, was sie war. Ringling ist immer noch der wichtigste Name im Zirkusgeschäft (und sie sind wahrscheinlich die Einzigen, die damit noch wirklich Geld verdienen), aber der Zirkus war für viele talentierte Amerikaner einmal ein extrem vielfältiger und einträglicher Broterwerb. Clayton, Pam, Derrick jr. und seine zwei Söhne sind die einzigen Rosaires, die im Moment regelmäßig mit ihren Tieren arbeiten und auf Tournee gehen, aber sie haben sehr viel weniger Auftritte als in der Vergangenheit. Für die schwindende Popularität der Zirkuskultur gibt es alle möglichen Gründe, aber die Rosaires behaupten, dass es vor allem ein einziges wichtiges historisches Ereignis war—eins, das sonst als eine der hoffnungsvollsten Entwicklungen des 20. Jahrhunderts gilt—das ihren Lebensstil mehr oder weniger vernichtet hat. „Der größte Rückschlag kam, als die Berliner Mauer fiel“, erklärte mir Kay. „Nun durften plötzlich all die Zirkuskünstler des Ostens reisen und begannen den Markt mit billigen bulgarischen, russischen und polnischen Zirkusvorführungen zu überfluten. Und viele von ihnen sind zu diesen halbseidenen Zirkusschulen gegangen, sie sind also noch nicht mal richtige Akrobaten oder Dompteure—es wurde ihnen nicht in die Wiege gelegt. Zur selben Zeit begannen auch die Tierschützer aktiver zu werden, sodass die meisten Zirkusproduzenten das hierzulande leider als Ausrede benutzten, keine Dompteure mehr unter Vertrag zu nehmen. Sie konnten stattdessen fünf billigere Nummern anheuern und das Geld, das sie sonst für eine Tigernummer verwendet hätten, in die eigene Tasche stecken.“ 90

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Wie ihre Schwester Linda hat Kay sich größtenteils aus dem Familiengeschäft zurückgezogen. Anders als Linda, die den Zirkus verließ, um die täglichen Anstrengungen hinter sich zu lassen, die damit verbunden sind, sich unterwegs um die Tiere zu kümmern, hat Kay genau diese seit ihrem Ausstieg zu einem noch wichtigeren Teil ihres Lebens gemacht. Vor sechs Jahren gründete Kay, nachdem sie sich drei Jahrzehnte lang um die Rettung ausgesetzter Tiere gekümmert hatte, das Big Cat Habitat und den Gulf Coast Sanctuary. Das ist auch der Ort, wo ein Großteil der Tiere der Rosaires ihr glückliches Dasein fristet. Als nicht profitorientiertes Unternehmen erhalten die Einrichtungen einen großen Teil ihrer Gelder aus Spenden und kleineren Summen an Fördermitteln. Es ist natürlich nicht einfach, eine solche Unternehmung am Laufen zu halten und die Rosaires müssen sich immer wieder neue Dinge einfallen lassen, um das Ganze am Leben zu halten. An den meisten Wochenenden des Jahres kriegt man für 10 Dollar eine Führung über das Gelände und eine Vorführung in einer improvisierten Zirkusarena. Einmal im Jahr holen die Rosaires aber ihr Zirkuszelt und ihre pailettenbestickten Kostüme heraus und laden ihre Zirkuskollegen ein, bei einer Benefizveranstaltung für das Habitat teilzunehmen, die eben so nah an eine wirklichen Zirkusvorführung herankommt, wie es im Rahmen der Grenzen dessen möglich ist, was technisch gesehen, nichts anderes als ein Hinterhof ist. Kay mag vielleicht die Gründerin dieser Einrichtungen sein, aber die ganze Familie hilft mit, um dafür zu sorgen, dass die Tiere die Pflege und Aufmerksamkeit bekommen, die sie brauchen. Kays Schwester Pam, die sich um fünf Schimpansen kümmert und behauptet, die einzige Frau zu sein, die mutig genug ist, diese berüchtigtermaßen niederträchtigen Biester mittleren Alters im Zaum zu halten, hofft, bald auch eine eigene Einrichtung dieser Art eröffnen zu können. Sie betont, dass Leute sich unter keinen Umständen Schimpansen als Haustiere zulegen sollten. Nur schade, dass diese


Nachricht nicht rechtzeitig bei Sandra Herold, der Besitzerin eines 200 Pfund schweren Schimpansen, ankam, der ihrer Freundin Charla Nasch letzten Februar in Stamford, Connecticut, die Lippen, Kiefer, Nase und Hände abriss und ihr die Augen ausstach. Dennoch sagt Pam, dass sie ihre Affen mehr liebt als die meisten Menschen. „Ich arbeite mit Schimpansen, weil sie mir die lieberen Menschen sind“, sagt Pam. „Sie lieben mich. Sie behandeln mich wie ein Baby, aber es hat zehn Jahre gedauert, bis mein Mann mir vor den Augen der Schimpansen die Hand auf die Schulter legen und sich mit mir unterhalten durfte.“ Egal mit welchem Mitglied der Familie Rosaire man spricht, es ist sofort klar, dass sie mit den Tieren arbeiten, weil sie sie wie Blutsverwandte lieben. Es ist ihre Bestimmung. Sie sind keine wohlhabende Familie und ihr Unternehmen ist immer in Gefahr, bankrottzugehen. Linda ist die Einzige in der Familie, der ein eigenes Haus gehört; alle anderen wohnen in Trailern, die auf ihrem Gelände verstreut sind, sind aber durchaus zufrieden mit ihrem Leben. Sie haben einen Job, der ihnen keine Zeit für Urlaub oder andere Beschäftigungen lässt, denn die Tiere müssen 365 Tage im Jahr versorgt werden. Der Großteil der Einnahmen, die sie mühsam von den Touristen und mit den Vorführungen und Veranstaltungen zusammenstoppeln, verschwindet buchstäblich sofort wieder in den Mäulern der Tiere. „Das Problem sind die Kosten für das Tierfutter“, sagt Clayton. „Die Leute vergessen, dass exotische Tiere exotisches Futter fressen.“ Der Großteil ihrer adoptierten Zöglinge wurde in der Gefangenschaft geboren—Zoowaisen oder exotische Haustiere, die von ihren reichen Besitzern ausgesetzt wurden, als diese merkten, dass ihre einjährigen Rotluchse sich weigerten, Katzenklos zu benutzen. Wenn man dazu bedenkt, dass Florida der wichtigste Einfuhrpunkt vieler exotischer Tiere in die USA ist, kann man sich unschwer vorstellen, wie viele von ihnen hier ausgesetzt und vernachlässigt werden. „Den wichtigsten Anteil der Leute, die illegal Tiere besaßen, bevor die Bestimmungen verschärft wurden, machten die Drogendealer in Florida aus“, erzählte mir Kay, als ich sie zu dem besonderen Dilemma befragte, dem dieser Staat mit den exotischen Tieren gegenübersteht. „Sie waren berüchtigt dafür, große Raubkatzen zu halten. Sie benutzten sie, um Leichenteile zu entsorgen.“ Vor Kurzem hat die staatliche Kommission für den Schutz von Fischen und Wildtieren in Florida große Anstrengungen unternommen, um besser kontrollieren zu können, welche Tiere es über die Grenzen lässt. Sie ist außerdem die Organisation, die dafür zuständig ist, sicherzustellen, dass Leute wie die Rosaires ihre Biester artgerecht unterbringen und sich an die Liste stringenter Regeln halten (deren Anforderungen die Familie bei Weitem übertrifft). Das reicht der PETA, der Animal Liberation Front und anderen kleineren Tierschutzgruppen aber längst nicht aus. Viele Mitglieder dieser

„Den wichtigsten Anteil der Leute, die illegal Tiere besaßen, bevor die Bestimmungen verschärft wurden, machten die Drogendealer in Florida aus“, erzählte mir Kay. „Sie waren berüchtigt dafür, große Raubkatzen zu halten. Sie benutzten sie, um Leichenteile zu entsorgen.“

Fluffy, das Emu, fand bei den Rosaires ein neues Zuhause, nachdem ein in der Nähe gelegener Zoo schloss und seine Tiere obdachlos wurden.

Vor ungefähr fünf Jahren kümmerte sich Derrick III gerade um seine Bären, als plötzlich ein Kampf ausbrach. Bären zeigen keine Gefühlsregungen, sodass es selbst für die erfahrensten Dompteure schwierig sein kann, es mitzubekommen, wenn ein Bär wütend wird. Er geriet zwischen die Fronten und das war das Ergebnis davon. Derrick sagt, er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und trägt es seinen Bären nicht nach, aber, wie scheiße muss das wehgetan haben!

Gruppen sind der Meinung, dass Tiere, besonders exotische, nie dressiert oder in Gefangenheit gehalten werden sollten, egal unter welchen Umständen sie zu ihren Besitzern gekommen sind. „Keine dieser Organisationen betreibt eine riesige, nicht profitorientierte Anlage, in der diese Tiere Zuflucht finden, wenn diese anderen Einrichtungen geschlossen werden“, erwiderte Clayton, als ich ihn auf die Tierschutzgruppen ansprach, die die Rosaires und andere Zirkuskünstler beschuldigen, Tiere zu vernachlässigen oder zu misshandeln. Ich kontaktierte die PETA, um sie nach ihrer offiziellen Haltung gegenüber Zirkustieren zu befragen. Sie antworteten auf die zu erwartende pauschalisierende und verdammende Weise. „PETA ist gegen die Verwendung exotischer Tiere in Zirkussen und anderen Dressurshows und gegen das Konzept der ‚Dressur’ wilder Tiere allgemein“, sagte mir Lisa Wathne, die PETA-Spezialistin für gefangene exotische Tiere. „Tieren, die für solche Vorführungen gehalten und dressiert werden, wird alles verweigert, was ihren natürlichen Bedürfnissen entspricht. Sie verbringen ihr Leben in extrem beengten Verhältnissen, können solchen natürlichen Aktivitäten, wie sich frei zu bewegen, zu jagen und sich einen Partner zu suchen oder ihre Jungen aufzuziehen, nicht nachgehen und werden durch Misshandlungen, Nahrungsentzug und Angst dressiert.“ Daraus sollte jeder, der nicht komplett geistesverwirrt oder bescheuert ist, schlussfolgern, dass in Gefangenschaft geborene Tiere und ihre Jungen nicht ohne Weiteres in die freie Wildbahn entlassen

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Wie ihr hier seht, liebt Derrick jr. seinen europäischen Braunbär Peter über alles, was in der Familie zu allen möglichen Scherzen über „Derricks Big Peter“ geführt hat. Derrick will, dass ich euch sage, dass er seinen Bären nur dann einen Maulkorb anlegt, wenn unbekannte Leute in der Nähe sind, wie zum Beispiel Fotografen, die die beiden für eine Zeitschrift fotografieren.

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Ellian hat den fünf Jahre alten Navarro so dressiert, dass fast jeder mit halbwegs akzeptablen Reitkenntnissen Tricks mit ihm vorführen kann. Sie behauptet, dass sein Wiehern manchmal so klingt, als würde er „Mom“ sagen.

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Es gibt nicht viele Dinge, die Ricky und Geraldine glücklicher machen, als mit Pam Scooter zu fahren. Pam hat aber auch ziemlichen Spaß dabei.

Gremlin, der Lemur, darf auch mal Scooter fahren.

werden können. Also bedenkt bitte, egal, was für eine Haltung ihr zu dem Thema habt, dass es für ausgesetzte Tier nur zwei Optionen gibt: in einem Zoo oder einem Tierheim zu landen, wo man (zugegebenerweise) mal mehr, mal weniger gut in der Lage ist, sie zu versorgen, oder getötet zu werden. Wenn du meinst, das letztere Option die bessere ist, dann fordere ich dich hiermit offiziell heraus, dich mal in das Big Cat Habitat oder eine auf ähnlichem Niveau betriebene Einrichtung zu begeben, dich mit den Tierpflegern zu unterhalten und es dann zu schaffen, dich nach deinem Besuch nicht wie ein selbstgerechtes Arschloch zu fühlen. Ich fragte Lisa, was mit diesen Tieren in einer idealen Welt passieren würde, und ob PETA der Meinung sei, dass man diese Tiere euthanasieren sollte, falls sich keine geeignete Einrichtung findet, die sie aufnehmen kann (wie es die Rosaires behaupten). Sie ignorierte den zweiten Teil meiner Frage, sagte mir aber, dass PETA die Suche nach einer geeigneten Unterbringung für heimatlose exotische Tiere befürworten. „In solchen Fällen unterstützt die PETA die Unterbringung der Tiere ausschließlich in anerkannten und qualifizierten Heimen und Zoos, die von der Vereinigung der Zoos und Aquarien zugelassen worden sind“, sagte Lisa. Außer gelegentlichen spontanen Protesten und anderen verbalen Angriffen, sind die Rosaires auch schon persönlich attackiert worden. Meist versuchen sie, die Vorfälle einfach zu vergessen, und ziehen in die nächste Stadt, aber manchmal gehen ihre Gegner soweit, die Veranstalter anzurufen, die ihre Auftritte buchen, und den Organisatoren zu erzählen, die Rosaires würden ihre Tiere misshandeln. „Wir sind gesetzlich gezwungen, unsere Reiserouten beim Landwirtschaftsministerium zu melden, wenn wir zu Auftritten unterwegs sind“, sagt Kay. „Wir faxen ihnen die Route, damit sie uns und unsere Tiere jederzeit finden und überprüfen können. Es gibt ein paar Tierschützer, die es irgendwie schaffen, sich unseren Tourneeplan zu besorgen und die die Leute anrufen, für die wir arbeiten, um ihnen zu sagen, dass sie uns nicht anheuern sollen—dass sie in ihrem Zirkus keine dressierten Tiere zeigen sollten, weil es unmoralisch ist. Wer weiß, wie viele Leute sie schon angerufen haben, bei denen wir deswegen nicht mehr auftreten können.“ Wenn es im Big Cat Habitat zu irgendwelchen Misshandlungen kommt, habe ich es jedenfalls nicht gesehen. Wegen der schwierigen Wirtschaftslage der letzten Jahre wollen immer mehr Leute ihre exotischen und großen Tiere loswerden und die Rosaires gehören zu den wenigen großherzigen Menschen, die willig sind, sich liebevoll um sie zu kümmern. Ob die Tiere dann auch dressiert werden und auf Tourneen geschickt werden sollten, ist eine andere Frage, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen will. Was ich aber sagen kann, ist, dass viele der herrenlosen Kreaturen, die im Big Cat Habitat leben, nicht dressiert werden, um bei den Vorführungen der Rosaires aufzutreten. Die meisten sind Waisen—und wurden von Menschenhand dazu (indem sie ausgesetzt wurden oder durch Umweltkatastrophen)—und nur

Wenn man wüsste, was diese Phrase bedeutet, könnte man sagen, dass die Rosaires ihr Unternehmen wie einen „dreimanegigen Zirkus“ führen. wenige Menschen haben die nötigen Kenntnisse, um ihr Leben ihrer Aufzucht zu widmen. Allem nach zu urteilen, was ich während meines kurzen Aufenthalts bei den Rosaires beobachten konnte, sind die Tiere in einer unter diesen Umständen idealen Situation gelandet. Die Rosaires führen ihren Laden auf vorbildliche Weise und sind sowohl den Tieren als auch ihrem Gewerbe tief verbunden. Wenn man wüsste, was diese Phrase bedeutet, könnte man sagen, dass die Rosaires ihr Unternehmen wie einen „dreimanegigen Zirkus“ führen. Laut der Familie—und entgegen der sonst im Amerikanischen üblichen Interpretation dieses Ausdrucks als „Affenzirkus“—soll das soviel heißen, dass sie ihre Arbeit genau, gründlich und kompromisslos verrichten. „Etwas, das Zirkusleute auf der ganzen Welt wirklich aufregt, ist, wenn die Leute Dinge sagen wie: ‚Oh es spielten sich schaurige Szenen ab. Der Gerichtssaal verwandelte sich in einen Affenzirkus.‘ Also, wenn die Gerichtssäle so gut organisiert wären, wie ein Zirkus, hätten wir nicht die Probleme, die wir jetzt haben.“ Ich kann nicht überprüfen, ob das, was die Rosaires über die Effizienz des Zirkusbetriebs sagen, stimmt, aber es gibt zumindest Gerüchte, laut denen die US-Armee während des Ersten Weltkriegs Soldaten zu den Ringling Bros. in den Zirkus schickten, damit sie sahen, wie eine straffe Organisation aussieht. Ich bin bereit, es zu glauben. Obwohl ihr Tagesbetrieb notwendigerweise sehr routiniert ist, verstehen sie ihre Arbeit als eine Form der Wohltätigkeit. So lange ihre Tiere gut schlafen und sie einigermaßen regelmäßig die Gelegenheit haben, Leute zu unterhalten. Sie sind schließlich, trotz allem, Zirkusleute. „Wir wollen, dass die Leute, wenn sie hier weggehen, denken: ‚Wow, das war unglaublich. Diese Leute sind toll. Diese Tiere sind wunderschön. Das hat Spaß gemacht‘“, sagte mir Kay. „Und das passiert auch: Man sieht Kinder weinen, weil sie nicht nach Hause gehen wollen. Sie wollen im Zirkus bleiben. So sollen die Leute sich fühlen, wenn sie eine Show von uns gesehen haben.“ Wir legen euch dringend ans Herz, euch den preisgekrönten Dokumentarfilm Circus Rosaire anzusehen, in dem ihr mehr über ihre Geschichte und ihre Zirkuszelteskapaden erfahrt. Ihr findet ihn auf circusrosairemovie.com. Die Rosaires haben uns auch gebeten, euch darauf hinzuweisen, dass große und kleine Spenden für das Big Cat Habitat und den Gulf Coast Sanctuary immer willkommen sind und auf bigcathabitat.org überwiesen werden können.

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Eine Urlaubsreise endet in Kambodscha

Den Roten Khmer wird der Prozess gemacht VON SARA GOLDA RAFSKY

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ie kambodschanische Regierung war in der Geschichte nicht gerade bekannt dafür, sich besonders um internationales Recht und die Verfolgung von Straftaten zu scheren. Jetzt aber haben die außerordentlichen Kammern an den Gerichten von Kambodscha, auch bekannt als das Khmer-Rouge-Tribunal, weit ab von Den Haag, in einer ehemaligen Militärbasis auf einem staubigen 96

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Stück Land in einem einzigartigen Experiment begonnen, die blutrünstigsten Masochisten des Landes auf die Anklagebank zu befördern. Mehr als 30 Jahre nach ihrer Machtübernahme wird den Roten Khmer der Prozess gemacht. Und erstmalig kooperiert das Gastland hier in einem Verfahren, bei dem es um Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eine ganze Reihe anderer Gräueltaten geht, mit den Vereinten Nationen. Es ist gut möglich, dass ihr noch nie etwas von dem Khmer-RougeTribunal gehört habt. Obwohl die Roten-Khmer-Anführer, denen hier der Prozess gemacht wird, Teil eines der schrecklichsten Regimes des 20. Jahrhunderts und eine der wichtigsten Mächte in den geopolitischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges nach dem Vietnamkrieg waren, schaffen es diese Prozesse außerhalb Kambodschas nur selten in die Schlagzeilen. Und obwohl das KhmerRouge-Tribunal gute Chancen hat, als neues Modell die weit entfernten, langsam arbeitenden Gerichte wie den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu ersetzen, hat man Berichte über das Verfahren unfairer Weise in winzige Spalten der hinteren Seiten selten gelesener Sektionen der Zeitungen verbannt. Wie die Öffentlichkeitsbeauftragte des Tribunals, Yuko Maeda, mir erklärte, liegt das daran, „dass es 30 Jahre her ist und in einer entlegenen Ecke der Welt passierte. [Die Leute] interessieren sich für Afghanistan, für den Irak. Ihre Aufmerksamkeit ist auf andere Dinge gerichtet. Das hier ist für sie eine alte Geschichte.“ Das mag so sein, aber wenn man bedenkt, mit welcher Regelmäßigkeit sowohl gewalttätige legitimierte Regierungen als auch aggressive illegitime Regimes zu gewaltsamen Mitteln und Massenmord greifen, kommt einem die Entwicklung einer raschen und effektiven Methode, solche Fälle zur Anklage zu

Foto mit freundlicher Genehmigung der ECCC

Mitglieder der außerordentlichen Kammern an den Gerichten von Kambodscha — ein einzigartiges nationales Experiment der Strafverfolgung von Kriegsverbrechern


Links: Foto von Sara Golda Rafsky: Rechts: Foto mit freundlicher Genehmigung der außerordentlichen Kammern an den Gerichten von Kambodscha

Vann Nath, ein Hauptzeuge der Anklage gegen Duch (rechts) und einer der wenigen Überlebenden des Rote-Khmer-Gefängnisses S-21

Duch, der frühere Rote-Khmer-Anführer, der das S-21 leitete, auf der Anklagebank des Khmer-Rouge-Tribunals

bringen, doch recht sinnvoll vor—man fragt sich vielmehr, warum es sie nicht schon lange gibt. Vor ein paar Jahren brachte Vice eine Story heraus, in der die Illustrationen eines Künstlers namens Vann Nath zu sehen waren, einem der wenigen Überlebenden des berüchtigten Rote-Khmer-Gefängnisses Tuol Sleng, das auch unter dem Namen S-21 bekannt war. In seinen Bildern stellt Nath die Brutalität der Folter dar, der er und andere unter dem gefürchteten Direktor des S-21, Duch, ausgesetzt waren. Nath ist heute einer der prominentesten Zeugen im Fall 001 des Tribunals, der Ende letzten Jahres abgeschlossen wurde und dessen Urteil irgendwann Anfang diesen Jahres fallen soll. Der Angeklagte war Duch. Nath überlebte seinen Aufenthalt im S-21 einzig und allein aus dem Grund, dass er gut darin war, Porträts von Pol Pot—oder „Bruder Nummer Eins“, dem durchgeknallten und menschenmordenden Anführer der Partei—zu zeichnen und eine bunte Mischung anderer Propagandawerke zu fabrizieren. Er ist groß und schlank und hat schneeweißes Haar und buschige, ebenfalls von weißen Haaren durchzogene Augenbrauen. Als ich ihn in seiner Galerie in Phnom Penh traf, sprach er mit ruhiger und sanfter Stimme. „All das Blut klebt an ihren Händen“, sagte er über die wenigen noch Lebenden unter seinen ehemaligen Folterern. „Ich kann mich nicht mit denjenigen versöhnen, die nicht zugeben, was sie falsch gemacht haben.“ Es ist auch schon eine Weile her: Es war vor 31 Jahren, am 7. Januar 1979, nach genau einem Jahr im Gefängnis, als es ihm gelang, zusammen mit anderen Gefangenen, in dem Chaos, das der Einmarsch der Vietnamesen in Kambodscha nach sich gezogen hatte, aus dem Gefängnis zu entkommen.

Obwohl ein Urteil in Kürze erwartet wird, schien Nath keine großen Hoffnungen damit zu verbinden. „Es dauert so lange“, sagte er. „Es gibt andere Formen der Aussöhnung.“ Er meinte damit die privaten Treffen, die er mit anderen Überlebenden und solchen Roten Khmer organisierte, die bereit waren, ihre Schuld einzugestehen. Obwohl die Kambodschaner sich wegen der langsamen Arbeit und der schwierigen Struktur des Gerichts quälen, gibt es wenige, die den Sinn seiner Existenz an sich bezweifeln. Letztendlich, sagte Nath, „ist das Gericht die einzige Form der Gerechtigkeit.“ Das Khmer-Rouge-Tribunal wurde geschaffen, um die während der Regierungszeit der Roten Khmer begangenen Verbrechen zu verfolgen, als die übereifrigen maoistischen Gruppen, nachdem sie einen langjährigen Bürgerkrieg gewonnen hatten, Geld, Religion und Schulen verboten, um so kompromisslos auf ihr erklärtes Ziel einer klassenlosen agrarischen Gesellschaft hinzuarbeiten. In diesem Zeitraum forderte das Regime, sei es durch Krankheit, Hunger, körperliche Erschöpfung, Einkerkerung oder Hinrichtung, geschätzte zwei Millionen Menschenleben, was bei einer Bevölkerungszahl von acht Millionen ein Viertel der Bevölkerung ausmacht—und das in weniger als vier Jahren. Die Kambodschaner haben für diese Periode die treffende Bezeichnung „Auto-Genozid“ erfunden. Aber obgleich die Anklagen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schon früh erfolgten, tat man sich mit der Frage danach, ob die Ära der Roten Khmer unter die rechtliche Definition des Genozids fällt, etwas schwerer. Man stritt darüber, ob der Begriff des Völkermords angesichts der Tatsache, dass die Roten Khmer ihre Verbrechen größtenteils an Mitgliedern der gleichen nationalen und ethnischen Gruppe verübten, statthaft VICE

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war. Die rechtliche Definition von Völkermord besagt, dass die Verbrechen „mit dem Ziel, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe teilweise oder komplett auszulöschen“, verübt werden müssen. Die Anklage im Fall 002 argumentierte, dass der Begriff des Völkermords zutraf, weil die ethnisch vietnamesische Minderheit und die der muslimischen Cham in besonderer Weise von den Gräueltaten des Regimes betroffen waren. Völkermord wurde also in die Liste der Anklagepunkte gegen eine Reihe der ranghohen Angehörigen der Roten Khmer im Fall 002 aufgenommen, wovon Duch allerdings ausgenommen blieb. Duch, dessen eigentlicher Name Kaing Guek Eav lautet, ist ein ehemaliger Mathematiklehrer, der zum begeisterten Revolutionär wurde. In Naths Beschreibungen seines Leidenswegs, A Cambodian Prison Portrait: One Year in the Khmer Rouge’s S-21, taucht Duch immer wieder auf. Er spielt zudem auch in einem anderen bekannten Buch über die Roten Khmer, The Gate, eine Rolle, das von dem französischen Ethnografen François Bizot geschrieben wurde, der selbst ebenfalls von den Roten Khmer verhaftet und 1971 während des Bürgerkriegs mehrere Monate lang von Duch verhört wurde. Bizot beschreibt Duch als „kein Monster aus dem Abgrund, sondern ein menschliches Wesen, das von der Natur genommen und zum Morden konditioniert wurde. Seine Intelligenz hat sich abgeschliffen wie der Zahn eines Wolfs, aber seine menschliche Psychologie war noch völlig intakt.“ Nath kannte ihn als den Typen, den er bei Laune halten musste. „Mein Schicksal hing von diesem letzten Bild ab, das ich malte!“, schrieb Nath. 1979 befreiten die Vietnamesen Kambodscha von den Roten Khmer. Die regierenden Parteien beider Länder teilten zwar eine gemeinsame kommunistische Ideologie, aber diese Tatsache verblasste 98

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Foto: Sara Golda Rafsky

Eine Liste mit Verhaltensregeln, die am Ort des S-21 gefunden wurde, an dem heute das Tuol Sleng Genocide Museum steht.

angesichts des im Laufe eines ganzen Jahrhunderts entstandenen glühenden gegenseitigen Hasses. Nachdem die Vietnamesen zum wiederholten Mal mit grenzübergreifenden Attacken provoziert worden waren, verloren sie schließlich die Geduld, starteten eine Invasion und gewannen den Krieg. Sie entmachteten die RoteKhmer-Regierung des sogenannten Demokratischen Kampuchea (DK) und hielten Kambodscha bis 1989 besetzt. Mit dem Tod Pol Pots 1998 wurde die Ära der Roten Khmer schließlich zu den Akten gelegt. Zumindest für alle außer den Millionen kambodschanischer Opfer und Waisen. Viele Bewohner des Landes hatten die Hoffnung aufgegeben, ihre Peiniger aus der DK-Zeit irgendwann auf der Anklagebank zu sehen, und mitzuerleben, wie sie sich für ihre Verbrechen rechtfertigen und erklären müssten, was während des fast vierjährigen Albtraums wirklich geschehen war. Und mit jedem Jahr, das verging, verlor auch Nath ein Stück seiner Hoffnung. 1997 wendete sich die kambodschanische Regierung mit einer inständigen Bitte um Unterstützung bei der strafrechtlichen Verfolgung der Kriegsverbrechen ehemaliger DK-Vertreter an die Vereinten Nationen. Nach jahrelangen Verhandlungen und einem Haufen interner Streitereien brachten beide Seiten schließlich einen Vertrag zustande. Heute sind die Gerichtsbeamten sehr darauf bedacht, zu betonen, dass dies „ein nationales Gericht innerhalb des Rahmens des kambodschanischen Rechtssystems, aber mit internationaler Unterstützung und Beteiligung“ ist. Dennoch wird es fast ausschließlich von der UNO und über Spenden aus dem Ausland finanziert. Das Khmer-Rouge-Tribunal war im Prinzip ab 2007 voll funktionsfähig, nahm die Arbeit an seinem ersten Fall, 001, aber erst im Februar letzten Jahres auf. Der Grund für diese Verzögerung war ohne Zweifel die unglaublich komplexe Struktur des Gerichts. Die Teams der Anklage und der Verteidigung bestehen aus je einem ausländischen und einem lokalen Rechtsanwalt, aber alle Berufungen müssen von der kambodschanischen Regierung abgesegnet werden (in der selbst viele ehemalige Rote Khmer sitzen). Eine Prozessgerichtskammer bestehend aus drei kambodschanischen und zwei internationalen Richtern fällt die Urteile, Berufung dagegen kann bei einer Kammer des Obersten Gerichtshofs eingelegt werden, die aus vier kambodschanischen und drei internationalen Richtern besteht. Für eine Verurteilung bedarf es einer mehrheitlichen Entscheidung und zwar von vier der fünf Richter der Prozessgerichtskammer oder fünf der sieben Richter des Obersten Gerichtshofs. Wenn sich die kambodschanischen und internationalen Richter nicht einigen können, gehen die Angeklagten straffrei aus. Die Architekten des Tribunals haben zusätzlich noch die Komponente einer „zivilen Partei“ hinzugefügt, die all denjenigen, die ihren Opferstatus (oder Verwandtschaft mit einem Hinrichtungsopfer) nachweisen können, eine Beteiligung auf Seiten der Anklage zusichert. Diese zivilen Parteien haben das Recht auf freien Zugang zu allen rechtlichen Dokumenten und können Zeugen im Verfahren durch ihre Vertreter verhören lassen. Sie können allerdings maximal auf moralische und kollektive (also nicht finanzielle) Wiedergutmachung hoffen. Die Anzahl an Menschen, die sich um einen Status als zivile Partei bemühen, ist überwältigend: Für den Fall 001 wurden 94 Anträge gestellt, für den Fall 002 waren es bereits über 2000. Das Gericht bemüht sich nun um einen Weg, die Anzahl der Leute, die an zukünftigen Verfahren teilnehmen dürfen, zu beschränken. Die bisherigen Ergebnisse dieses seltsamen Systems sind soweit ermutigend. Wie Maeda sagt, könnte das Tribunal „ein Modell für Länder sein, die einen Konflikt hinter sich haben, um innerhalb ihrer Landesgrenzen mit internationaler Hilfe Tribunale abzuhalten. Auf diese Weise kann man bis zu einem gewissen Maß die Einhaltung internationaler Standards sicherstellen, gleichzeitig aber dafür sorgen, dass die Leute, die gelitten haben, Zugang zu dem Verfahren haben und an dem Prozess teilhaben können.“ Das soll ihnen helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Im Verlauf des über neunmonatigen Verfahrens im Fall 001 füllten insgesamt an die 28.000 Beobachter die 500 Sitze der Besuchertribüne, darunter viele kambodschanische Dorfbewohner aus ländlichen Gegenden, die von dem vom Tribunal bereitgestellten kostenlosen Busservice Gebrauch machten. Maeda ist überzeugt, dass


Foto: Sara Golda Rafsky

Eine Sammlung von Fotos ehemaliger S-21-Häftlinge, die jetzt in einer Zelle des ehemaligen Gefängnisses aufgehängt worden sind.

dies einer der wirkungsvollsten Aspekte davon ist, das Verfahren in dem Land, wo die Taten verbracht worden sind, statt in Den Haag abzuhalten. „Die Leute wollten einfach nur wissen, wie es dazu kommen konnte“, sagte sie mir. „Das wichtigste Ziel ist es, Gerechtigkeit nach Kambodscha zu bringen. Das zweite Ziel ist aber, Geschichte zu schreiben und die jüngeren Generationen zu informieren, die nichts von dem Ganzen wissen.“ Dass die jüngere Generation über diesen Teil der Geschichte des Landes meist im Dunkeln bleibt, ist kein Zufall. Das, was während der DK-Periode passierte, ist kaum dokumentiert und das Regime der Roten Khmer ist noch nicht mal Bestandteil des Lehrplans der Schulen. Im Mai letzten Jahres wurde schließlich—wie viele meinen, nicht zuletzt wegen der Arbeit des Tribunals—ein neues Lehrbuch an Sekundarschulen und Universitäten verteilt. Dort sind die Roten Khmer mit drin. Auch Duch wird in dem Buch erwähnt. Nachdem er 20 Jahre unerkannt überlebte, wurde er 1999 von einem Journalist aufgespürt und daraufhin von den kambodschanischen Militärbehörden verhaftet. Seitdem ist er inhaftiert und wartet auf seinen Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schweren Verstößen gegen die Genfer Konventionen, Folter und Mord in bis zu 14.000 Fällen. Nath und ich setzten uns zusammen, um uns darüber zu unterhalten, was der Prozess für ihn bedeutet. Er erklärte mir ruhig: „Ich kann meine Wut loslassen. Es zeigt, dass ich keinen Wunsch nach Rache habe.“ Als ich ihn fragte, ob er Duch seit seiner Befreiung aus dem Gefängnis noch einmal gesehen habe, hielt er einen Moment inne und studierte seine Hände. Er antwortete rasch: „Ich kann dir nicht sagen, was ich im Herzen gefühlt habe. Das steckt zu tief in meiner Psyche und ich weiß nicht, wie ich da rankommen könnte, um es dir zu erzählen.“ „Aber“, sagte er, „ich habe gesehen, dass Duch immer noch sehr viel Macht hat.“

Nath überlebte seinen Aufenthalt im S-21 einzig und allein aus dem Grund, dass er gut darin war, Porträts von Pol Pot zu zeichnen und eine bunte Mischung anderer Propagandawerke zu fabrizieren. Nath hat sich entschieden, keine Anklage als zivile Partei zu erheben, aber er war als Zeuge sowieso sehr viel wichtiger. Der Prozess wurde insgesamt als Erfolg gewertet. Aber in der letzten Woche des Verfahrens traten auch die Schwachstellen dieses komplexen legalen Konstrukts zutage. Als Angeklagter verhielt sich Duch bemerkenswert kooperativ, er gab seine Schuld zu, beantwortete die Fragen nach den Funktionsmechanismen des S-21 sehr detailliert und bat mehrfach um Vergebung. Sein französischer Verteidiger, François Roux, ging sogar soweit, zu behaupten, dass der alte Duch tot sei, dass die revolutionäre Persönlichkeit nicht mehr existiere und dass der ältliche Mann auf der Anklagebank Kaing Guek Eav sei. Der Anwalt plädierte aufgrund dieser Argumentation für ein geringeres Strafmaß von 40 Jahren statt dem Maximum einer lebenslänglichen Verurteilung. VICE

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„Ich denke, das ist ein erster Schritt für das kambodschanische Volk, über das zu sprechen, was ihm widerfahren ist.“ Dann aber behauptete Duchs kambodschanischer Verteidiger, Kar Savuth, wenige Tage später in einer empörenden Wendung plötzlich, dass Duch unschuldig sei. Das Mandat des Gerichts bestünde darin, ranghohe Vertreter der DK zu verfolgen. Duch, lautete Savuths Argumentation, sei lediglich ein Befehlsempfänger gewesen, der Anordnungen gefolgt sei, denen er sich nicht habe widersetzen können. Vor einer völlig schockierten Zuschauerschaft verlangte Savuth, dass Duch in die Freiheit entlassen werden solle. Durch die Schlagzeilen der wichtigsten kambodschanischen Zeitungen ging ein tagelanger Aufschrei. In den internationalen Medien fand die Entwicklung hingegen kaum Beachtung. In Kambodscha aber galt die Empörung nicht nur der plötzlichen vermeintlichen Unschuld von Duch, sondern auch der Tatsache, dass dieses sorgfältig aufgebaute System von den Anwälten der Verteidigung scheinbar mit einem Handstreich zerstört worden war. In jedem anderen Kontext wäre dergleichen unvorstellbar. Das Verfahren im Fall 002, in dem die vier ranghöchsten noch lebenden Roten-Khmer-Vertreter angeklagt werden sollen, die allesamt rigoros jegliche Schuld abstreiten, ist rechtlich gesehen noch komplexer. Das Land bereitet sich auf ein nationales Kopfzerbrechen größeren Ausmaßes vor. Wenn der Prozess—der momentan noch in der Voruntersuchungsphase festhängt—überhaupt begonnen werden kann, bevor die Verjährungsfrist (drei Jahre, nachdem der erste Angeklagte Ende 2007 verhaftet wurde) abläuft oder einer der in fortgeschrittenem Alter befindlichen Angeklagten stirbt. Keiner weiß, ob es nach dem Fall 002 zu einer weiteren Anklage kommen wird. Das Gericht hat lediglich das Mandat, hochrangige Führer der DK-Ära anzuklagen, und von denen gibt es nicht mehr allzu viele. Wenn alle Fälle abgeschlossen sind, wird das Gericht geschlossen und seine Archive der kambodschanischen Regierung überstellt. Für viele Kambodschaner genügt das nicht und sie haben ihrem Ärger wiederholt Ausdruck verliehen, dass die Kader der unteren Ränge—darunter die, die Folterungen im S-21 ausführten—nicht vor Gericht gestellt werden, sondern ihr Leben, oft Seite an Seite mit den Dorfbewohnern, die ihre Opfer waren, weiterleben. Einer, der sich—sehr zum Ärger und der Blamage des Tribunals— in der Debatte zu Wort gemeldet hat, ist der kambodschanische Premierminister Hun Sen. Kurz nachdem das Verfahren im Fall 001 abgeschlossen war, zitierten die führenden Zeitungen in Phnom Pen Sen mit den Worten: „Tut mir leid, das war’s [an Prozessen]. Mir ist es immer noch lieber, das Gericht versagt, als das Land im Krieg untergehen zu sehen.“ Und das ist nicht das erste Mal, dass er dieser Position Ausdruck verleiht. Das Tribunal war bereits mehrmals in den Verdacht der Einmischung der Regierung und der geheimen Absprache mit Vertretern des DK-Regimes geraten. Sen ist, um nur ein Beispiel zu nennen, ein ehemaliges Mitglied der Roten Khmer. Im Moment weigern sich Regierungsbeamte, Vorladungen ihrer Parteimitglieder als Zeugen in den Verfahren Folge zu leisten. Gleichzeitig hat die Verteidigung im Verfahren 002 mehrfach Anträge auf Befangenheit des Gerichts gegenüber ihren Mandanten gestellt. Eine Zeit lang setzten die Geldgeber ihre Zahlungen an das unter chronischer Geldnot leidende Gericht wegen der permanenten Korruptionsvorwürfe gegen die kambodschanische Seite aus. Maeda insistierte aber, dass „die Außerordentlichen Kammern sich ihre Unabhängigkeit gegenüber einer Einflussnahme von Seiten der Regierung bewahren und ihre gesetzliche Tätigkeit unabhängig verrichten“. 100

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Wie es der Zufall so will, begann in derselben Woche, in der das Verfahren im Fall 001 zu Ende ging, im Tausende Meilen entfernten Europa das „letzte große Naziverfahren“. Die Parallelen sind offensichtlich, wenn man sich anschaut, auf welch ähnliche Weise sowohl die Anklage als auch die Verteidigung bezüglich der Frage argumentiert, ob der angeklagte Nazi lediglich Befehlen folgte oder ob er die Möglichkeit gehabt hätte, sie zu verweigern oder wegzulaufen. Der Angeklagte war Wärter in einem Konzentrationslager gewesen, wenn auch in einer sehr viel niedereren Position als der, die Duch innehatte. Diese Probleme tauchen in internationalen Kriegsverbrecherprozessen immer wieder auf. Einige dieser Fragen, die bei den Nürnberger Prozessen zum ersten Mal gestellt wurden, sind nie wirklich beantwortet worden. Bei den internationalen Kriegsverbrechertribunalen hat sich über die Jahre eine verflachte und sich ständig wiederholende Vorgehensweise eingeschliffen, deren Ergebnisse oft unbefriedigend bleiben. Die Vertreter des Khmer-Rouge-Tribunals betonen daher den beachtenswertesten Aspekt dieses neuen hybriden Gerichts, das als eine spezielle Partnerschaft zwischen der kambodschanischen Regierung und der UNO konzipiert ist: Es ist der erste Versuch, ein internationales Tribunal mittels des Zivilrechts einer einzelnen Nation durchzuführen. Anders als die Tribunale, die eingerichtet wurden, um die Kriegsverbrechen in Ruanda oder im ehemaligen Jugoslawien zu verfolgen, basiert die Rechtssprechung des KhmerRouge-Tribunals auf kambodschanischem Recht. Anders als bei den Tribunalen, die in Sierra Leone und Osttimor eingesetzt wurden, kommen die Richter hier mehrheitlich aus dem Land selbst. Der für die rechtliche Kommunikation zuständige Mitarbeiter des KhmerRouge-Tribunals, Lars Olsen, erklärte mir, dass der Vorteil dieses Modells darin läge, dass es „billiger sei als die Einrichtung eines kompletten internationalen Tribunals und zudem den Vorteil habe, dass der Prozess unter nationaler Leitung stattfindet, während gleichzeitig aber internationale Standards einer gerechten Prozessführung angewendet werden.“ Er beeilte sich hinzuzufügen, dass „das Gericht keine von außen auferlegte Gerechtigkeit durchsetzt“. Er merkte auch an, wie hilfreich es zudem sei, in einem Land, das bekannt für seine korrupten Rechtsorgane ist, die Wichtigkeit eines freien Rechtssystems zu demonstrieren. Es ist allerdings oft schwierig einzuschätzen, wie effektiv das Khmer-Rouge-Tribunal oder jedes andere internationale Kriegsverbrechertribunal je wirklich sein kann. Eine Untersuchung des in Berlin beheimateten Behandlungszentrums für Folteropfer vom letzten Jahr ergab, dass fast zwei Drittel der direkten Opfer der Roten Khmer noch nicht zu einer Aussöhnung bereit sind. Nationale Aussöhnung ist aber das vorrangige Ziel aller Kriegsverbrechertribunale. Es ist schwer zu sagen, ob dieses Gericht ohne eine Aussöhnung wirklich erfolgreich sein kann. Maeda schien diese Vorbehalte gegenüber den Chancen einer Heilung 30 Jahre alter Wunden zu teilen: „Es ist schwer zu sagen, ob wir den Menschen wirklich helfen, sich auszusöhnen, oder ob wir die Leute nicht eher entzweien. Aber ich denke, es ist ein erster Schritt für das kambodschanische Volk, über das zu sprechen, was ihm widerfahren ist. Es ist eine wirkliche Chance, in der internationalen Gemeinschaft um Anerkennung dessen zu werben, was in diesem Land stattgefunden hat.“ Vorausgesetzt natürlich, Duch bekommt die Strafe, von der jeder ausgeht. Nath ist offensichtlich derselben Meinung wie Maeda. Er weist aber auch vorsorglich darauf hin, dass er die Entscheidung des Gerichts in jedem Fall respektieren wird. Er ist eigentlich überhaupt in allem, was er tut, sehr vorsorglich und bedacht—als eins der prominentesten Opfer wird jedes seiner Worte von der örtlichen Presse aufs Genauste seziert. Letztendlich hatte ich aber am Ende meiner Zeit mit ihm vor allem den Eindruck, als sei er einfach erleichtert, seine Geschichte endlich in einem Zimmer voller Leute erzählt zu haben, die die Macht haben, Konsequenzen daraus zu ziehen.



SKINEMA

BELLADONNA’S ASS WIDE OPEN

Regie: Aiden Riley und Belladonna Enterbelladonna.com/Evilangel.com Bewertung: 10

Wenn das jetzt ein Remake von diesem Kubrick-Film sein soll, dann kann ich die Ähnlichkeit zwischen dem Covermodel Bobbi Starr und Nicole Kidman nicht sehen. Wenn es das nicht sein soll … Dann kann ich das absolut. (In einer Demonstration von Klasse werde ich jetzt nicht auf das Gerichtsverfahren und die Ausweisung aus der Schweiz zu sprechen kommen, womit Kubrick sich neulich herumschlagen musste, weil er 1977 eine 13-Jährige unter Drogen gesetzt und missbraucht hat.) Ich hoffe, ich vermassele niemandem den Film, wenn ich euch jetzt verrate, dass es bei Ass Wide Open um eine Menge Analsex geht. Besonders gefällt mir die Stelle, wo Ashley Blue ihre komplette Hand reinsteckt (bis auf den Daumen! Das ist die Regel in den USA: Fiste, wie viel du willst, aber lass den Daumen draußen. Das läuft als Hitchhiker’s Sex Law in den Gesetzesbüchern von Harvard.) Es ist so, als würde sie die Person, die in ihrem Arsch lebt, zum ersten Mal treffen und sich mit einem freundschaftlichen Händeschütteln vorstellen. Ich musste mir neulich für Colt 45 (das Bier, das wir alle so gerne trinken) ein paar Valentinstag-Kartenmotive ausdenken. Eins der Motive, das sie abgelehnt haben, war Lando Calrissian, der aus einem linkisch gezeichneten Frauenarsch kuckt, der ein Dach und auf jeder Arschbacke ein Andersen-Fenster hat (das mit den Andersen102

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Fenstern konntest du in der beschissenen Zeichnung nicht sehen, aber ich sage dir, es waren Andersen-Fenster). Der Text sagte: „If I Lived in Your Butt, I’d Be Home Already.“ Ich dachte, das bringt eine echt persönliche Botschaft rüber, so als ob Lando versuchen würde, näher am Kunden zu sein und auf diese Weise uns alle einander näher zu bringen. Meine Inspirationsquelle war der Spruch: „Keep Jesus in your heart this Christmas.“ Ich glaube, die Botschaft, um die es mir ging, war „WORLD PEACE NOW“. Vielleicht ist das in meiner Zeichnung nicht so ganz rübergekommen (ich dachte, dass es das tut, aber Kunst ist ja subjektiv), aber zumindest ist es das, was ich wollte. Und wer könnte besser geeignet sein, um diese Botschaft zu verbreiten, als Lando Calrissian? Ich will nicht rassistisch klingen, aber jetzt, wo wir einen schwarzen Präsidenten haben und Schwarze endlich BasketballProfis werden dürfen, sollten alle unsere kraftvollen Botschaften von schwarzen Männern und Frauen gesprochen werden. Es ist ganz offensichtlich, dass sie die Ersten sind, auf die wir hören. Ich traue keinem Meteorologen im Fernsehen, außer Al Roker. Ich glaube an Gleichberechtigung, aber ich glaube nicht, dass weiße Leute in der Medienbranche arbeiten sollten (ich bin eine Ausnahme, schließlich bin ich halbschwarz). Ich höre auf nichts von dem, was weiße Leute zu sagen haben. Ich habe vor Jahren damit aufgehört. Es ist höchste Zeit, dass wir die weißen Nachrichtensprecher loswerden und sie durch Schwarze ersetzen. Und wenn wir schon dabei sind aufzuräumen, dann denke ich, dass wir in Zukunft auch Karateunterricht vom Kindergarten bis zum College für alle zur Pflicht machen sollten. Ich bin mir sicher, die USA wären in weniger Kriege verwickelt, wenn alle wüssten, dass jeder einzelne von uns Karate kann. WORLD PEACE NOW. CHRIS NIERATKO Mehr von Chris findet ihr auf chrisnieratko.com oder njskateshop.com.



VIDEO GAMES KILLED THE RADIO STAR

BAYONETTA

Publisher: Sega Plattform: Xbox 360, PS3 Hideki Kamiya, der auch schon für die phänomenale Devil-May-CrySerie verantwortlich war, hat ein Spiel designt, das aussieht wie ein Acidtrip. Ein Trip, der einen näher an Gott bringt, einem das wahre Gesicht des Universums zeigt, auf dem einen Engel aus anderen Sphären begleiten. Und während du durch die surrealen Welten fliegst, ziehst du dir zum Spaß noch etwas Crystal Meth rein und ballerst das Cherubinen-Geschmeiß mit großkalibrigen Waffen in heilige Fetzen. Die Story, die diese Blasphemie rechtfertigt, lautet wie folgt: Vor etwa 500 Jahren haben Hexen und andere Sagengestalten ihren Verstand verloren und einen Dämonengenozid veranstaltet, der alle Hexen vom Angesicht der Erde, des Himmels und der Hölle fegte. Nur Bayonetta blieb übrig und verfiel in ein magisches Koma, aus dem sie mit vollkommener Amnesie erwacht. Hier könnte die Geschichte enden, denn wenn du Bayonetta zum ersten Mal siehst, ist es vollkommen klar, dass ihre Vorgeschichte absolut gleichgültig ist. Das Ziel, ihre Erinnerung wiederherzustellen, dient nur als Vorwand dafür, eines der sexistischsten, gewalttätigsten, gotteslästerlichsten, megalomanischten und großartigsten Spiele das Licht dieser sehr säkularen Welt erblicken zu lassen. Schon der Anfang, bei dem du auf dem durch den Weltraum der Erde entgegenstürzenden Turm des Big Ben Dämonen abschlachtest, sucht in seiner Bildgewalt seinesgleichen. Das Gameplay ist hierbei unfassbar flüssig: Leichte Schläge, schwere Tritte, Sprünge und Angriffe mit allerlei Waffen gehen intuitiv von der Hand. Trotzdem stirbst du häufig, beinahe andauernd, in diesem Spiel, hast aber niemals das Gefühl, dass es an der Steuerung oder am Spiel an sich liegen würde. Stattdessen respawnst du einfach an einem der gut gesetzten Speicherpunkte. Ihre unstillbare Wut auf alles, was fliegt, kriecht oder auf einen zu rennt verwandelt Bayonetta in einen tobenden Wirbel aus Bazookas, Krallen und Schlägen. Hierbei ist das Konzept, dass Bayonetta an beiden Beinen und Armen Waffen trägt und diese ziemlich akrobatisch in den Horden der Gegner zum Einsatz bringt. Aber 104

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nicht nur simple Feuerwaffen könnt ihr gegen die Heerscharen des Himmels und der Hölle einsetzen, sondern auch magische Attacken. Neben der „Witch Time“, die Gegner für ein paar Sekunden einfrieren lässt, damit ihr eine der unzähligen Combos an ihnen auslassen könnt, sind das wahre Highlight des Spiels die dämonischen Eigenschaften von Bayonettas Haar. Je nachdem, welche Waffen ihr gewählt habt, ändern sich auch die Attacken der „Wicked Wave“. Nur ein Prinzip ist immer gleich: Bayonettas Haare sind gleichzeitig ihre Bekleidung. Wenn ihr also zu einer Attacke ansetzt und sich ihre Haare zum Beispiel zu einer riesenhaften Faust zusammenballen, um einen der ebenfalls riesigen Endgegner zu malträtieren, steht die Hexe recht nackt da. Im Grunde nutzt Bayonetta eh jede erdenkliche Möglichkeit, um euch ihren Arsch oder ihre Brüste entgegenzurecken. Da die Grafik durchgängig sehr schick anzusehen ist, macht es gar nichts, dass sie mit absoluter Sicherheit dem verqueren Schönheitsideal eines japanischen Zwangsonanisten entwachsen ist. Trotzdem schön anzusehen. Auch die Gegner und vor allem die Level-Bosse sind imposant zu betrachten. Besonders bei den finalen Kämpfen hat Kamiya wohl der Größenwahn gepackt. Anstatt sich mit nur einem riesenhaften Endgegner umherzuschlagen, bekommt man es mit Wellen an sich in Größe und Imposanz überbietenden Kolossen zu tun. Gerade wenn man also meint, man hätte den letzten dieser Bastarde zur Hölle geschickt, oder wo auch immer er herkam, wird man eines Besseren belehrt und bekommt es mit einem weiteren Giganten zu tun, um danach noch einen und noch einen auf den Hals gehetzt zu bekommen. Auch wenn sich das nun anstrengend anhört, so sind die Kämpfe auf Dauer jedoch keinesfalls langweilig oder ernüchternd, sondern eine visuelle Pracht und pumpen Unmengen Adrenalin durch eure Körper. Insgesamt kann man sagen, dass das Spiel ein Triumph des Action-Genres ist und in seiner Grafik und dem schieren Ideenreichtum kaum Konkurrenz hat. Das einzige Manko ist der penetrante Soundtrack, der zwischen J-Pop und Jazz dahinvegetiert und recht repetativ ist. Irgendwas von Ravi Shankar hätte diesem LSD-Trip aus Einsen und Nullen vielleicht etwas mehr Groove gegeben.


VIDEO GAMES KILLED THE RADIO STAR

DARK VOID

Publisher: Capcom Plattform: Xbox 360, PS3, PC

Das Bermudadreieck, Nikola Tesla, außerirdische Invasoren aus einer Paralleldimension und Jet-Packs. Alles zusammen hört sich das ja nach einer guten Nummer von Spiel an. Aber erinnert ihr euch noch an folgende Begriffe: Nazis, der Zweite Weltkrieg, Jet-Packs? Ja, klingt auch nach einer guten Kombination, aber leider sind das die Wörter, mit denen Rocketeer getaggt wurden. Ach, und ein Wort hatte ich vergessen: mittelmäßig. Genau das ist auch Dark Void. Trotz einiger netter Ideen. Die Story lässt sich schnell erklären: Euer Charakter William Augustus Grey stürzt im Bermudadreieck ab, landet auf einer Insel, rennt vor Robotern davon, trifft Nikola Tesla, der ebenfalls dort gestrandet ist, bekommt ein Jet-Pack und eine Plasmaknarre und beginnt Roboter zu erschießen. Im Grunde ist das Gameplay auf drei Kampfsysteme aufgeteilt. Das Erste ist das Standard „Durch die

NEW SUPER MARIO BROS. WII

Publisher: Nintendo Plattform: Wii

Ja, Shigeru Miyamoto hat sich die Ehre gegeben, uns mit dem ersten 2-D-Mario-Spiel für eine Heimkonsole seit dem Super Mario World für das SNES zu segnen. Es spielt sich wie ein klassisches Mario-Game, außer a) ein paar neuen Powerups und b) einem simultanen Mehrspielermodus. Letzterer ist für mich der absolute Jackpot — bis zu vier Personen können gleichzeitig auf dem Bildschirm Mario, Luigi, die Grüne und die Gelbe Kröte kontrollieren, sich gegenseitig hochheben und werfen, auf die Köpfe springen und einander die

Gegend rennen und um sich schießen“, das Zweite ist „Mit dem JetPack durch die Gegend fliegen und um sich schießen“, und das dritte ist etwas spezieller, sogar neu, das „Vertical Combat“-System. An Überhängen und Schluchten hängend, könnt ihr damit schnelle und effektive Attacken im vertikalen Raum ausführen. Kurz: „Irgendwo hochklettern und um sich schießen“. Daneben hat das Spiel aber nichts wirklich Neues zu bieten. Die Kombination aus all diesen Möglichkeiten hätte definitiv Potenzial gehabt ein revolutionäres Spielgefühl aufkommen zu lassen, doch leider krankt das Spiel an seinem zu linearen Gameplay und der engen Levelarchitektur. Es gibt zwar im Laufe des Spiels verschiedene Upgradestufen des Jet-Packs und der Waffen, doch nach ungefähr zwei Stunden habt ihr alles gesehen und nach endlosen sich wiederholenden Kämpfen gebt ihr es auf. Ihr nehmt das Spiel aus der Konsole, schließt einen Videorekorder an und schaut euch das grisselige Videotape von Rocketeer an, dass ihr damals aufgenommen hattet, als ihr noch glaubtet, das mit dem Jet-Pack wäre das Coolste auf der Welt—und denkt nostalgisch an diese Tage zurück.

Powerups klauen. Wenn du den Mehrspielermodus mit anderen langjährigen Mario-Spielern benutzen kannst, wirst du einen Haufen Spaß haben — als Kind spielte ich bis zum Umfallen Super Mario World und als ich es jetzt wieder einmal spielte, setzten die ganzen alten Reflexe wieder ein. Es war super. Mein einziger Kritikpunkt ist, dass die Levels erst ab der zweiten Hälfte des Spiels wirklich einfallsreich und kreativ werden. Die erste Hälfte fühlt sich so an, als würde man einfach ein paar Spiele, die man schon kennt, wiederholen. Aber die zweite Hälfte beginnt, mit seltsamen Levellayouts und neuen Feindtypen zu spielen. Das ist aber auch keine wirkliche Kritik — es ist immerhin klassischer 2-D-Mario. Es macht einen Höllenspaß. VICE

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JODI:SOMETHING WRONG IS NOTHING WRONG Viruses, 404s, spam, and other exquisite works of art...


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REVIEWS

BESTES ALBUM DES MONATS: HOT CHIP

RAKIM The Seventh Seal Ra Records

5

Wir alle wissen, hätte Rakim dieses Album damals wie geplant mit Dre auf Aftermath veröffentlicht, wäre es ein verdammter Meilenstein geworden. So ist es immerhin noch so eine Art unlösbares Rätsel. Niemand wird je eine einleuchtende Antwort darauf finden, wie er seine Skills auf dermaßen durchschnittlichen Beats verplempern konnte. Fakt ist: Rakim ist immer noch der God MC, aber ein ziemlicher Volltrottel, wenn es darum geht, die richtigen Moves zu machen. 50 PFENNIG

besoffen im Wohnzimmer hören sollte, macht Gucci seinen Job ganz gut. Zumindest hat er es geschafft, mir mit seinem ultramonotonen Style bisher noch nicht total auf die Nerven zu gehen. Was zugegeben daran liegen könnte, dass ich die Platte nur zweimal gehört habe. Aber dafür, dass der Typ im Gefängnis sitzt, klingt sie auf jeden Fall ziemlich positiv und witzig. Ich bin nicht sicher, ob der Knastaufenthalt seiner Karriere eher genützt oder doch eher geschadet hat, aber vielleicht werden seine Kinder dadurch ja bessere Rapper sein. Hoffen wir mal, dass ihm vorher niemand ein selbst gebasteltes AIDS-Messer in den Arsch rammt. CRISTO VON STROM

4

Die Produktion ist sauber und die Typen geben sich hörbar Mühe, aber ich kann mir nicht helfen, loungiger Jazz-Hop ist einfach die langweiligste Musikrichtung, die jemals erfunden wurde. Immerhin sollte ich erwähnen, dass ich mir vorhin beim Gähnen den Kiefer ausgerenkt habe und in die Notaufnahme musste. Das war dann wiederum das Aufregendste, was mir seit einer ganzen Weile passiert ist. Oh du wundersame Dialektik des Lebens, wie (un-) schön, dass es dich gibt! WHITE RABBIT

PSYCHONAUTS Songs for Creatures Gigolo

8

Es ist eben alles eine Frage des Timings. Vor sieben Jahren hielten die meisten „Spacedisco“ noch für irgendeine besondere MDMA-Auslese. Heutzutage wird dir bereits eine Best of Prog & Kraut-Compilation hinterhergeworfen, wenn du irgendwo einen Yogitee bestellst. Psychonauts veröffentlichen jetzt ihr Songs for Creatures-Album noch einmal in überarbeiteter Form, nachdem es im Jahr 2003 noch niemand verstanden hat. Es ist und bleibt ein Standardwerk des Genres und ihr Timing ist und bleibt beschissen. NHAO AND ZEN

LINDSTRØM & CHRISTABELLE Real Life is no cool

GUCCI MANE The State vs. Radric Davis Warner Bros.

6

Für einen Rapper, den man grundsätzlich nicht ernst nehmen und eigentlich nur

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KISSY SELL OUT Youth San City High

7

TETTORYBAD Unite

Sunshine Enterprises/Groove Attack

Italo Disco, Funk, Latin-Pop und Christabelles betörender Stimme veredelt (ja, du liest richtig: Betörend!), dass du denkst, dir würden davon auf dem Dancefloor Flügel wachsen, und du dich wie eine Elfe aus einem Harry PotterRoman fühlst. Für den Fall, dass es in der Welt von Harry Potter keine Elfen geben sollte, schreib eine Mail an: sowhat@istmiregal.de BILBO BEUTLIN

8

Smalltown Supersound

Lindstrøm hält sich immer noch am liebsten in den unteren bpm-Regionen auf, dafür hat er diese neuen Songs so raffiniert mit

Zugegeben, 2010 ist noch jung und vielleicht ist es etwas zu früh, um schon wieder von Platten des Jahres zu faseln, wenn man bedenkt, dass bisher überhaupt erst vier oder so erschienen sind. Aber wenn das hier in einigen Monaten, nachdem ein paar Dutzend mehr sinnloser Silberscheiben auf den Markt geworfen wurden, nicht immer noch zur engeren Auswahl gehören sollte, dann kann ich ja auch gleich wieder The Films hören. DENIS DENIS

V.A. Pop Ambient 2010 Kompakt

7

Ein besonders hübsches Stück auf der neuen Pop Ambient-Compilation trägt den Titel „Lest You Forget“. Vermutlich eine Anlehnung an ein Gedicht des Literaturnobelpreisträgers, Dschungelbuch-Schreibers und Kolonialismusverfechters Rudyard Kipling, aus dessen bekannter Zeile „Lest We Forget“ ja auch Bolt Thrower schon mal ein Lied gemacht haben. Damit hätten sie es allerdings nicht auf diesen Ambientsampler geschafft. Obwohl es auch hier ziemlich harte Ansagen gibt: z. B. das wunderliche ZitherGezupfe von Wolfgang Voigt, das weniger aufgefallen wäre, hieße die CD Schunkelspaß im Erzgebirge. JENS FLEISSWOG


REVIEWS

SCHLIMMSTES ALBUM DES MONATS: VIOLET VIOLET:

ROBOT KOCH Death Star Droid Project: Moon Circle

8

Robot Koch lädt in seine Berliner Variante des Millenium-Falken ein und schickt uns mit Warp-Geschwindigkeit Richtung Todesstern, wo Vader und seine Sturmtruppen ausgelassen auf dem Dancefloor zu diesem abgefuckten Elektronoise-Wirbelsturm abzappeln. Möge die Macht mit dir sein, Mr. Koch. Du wirst sie brauchen. FADE TO GREY

TOK TOK Bullet in the Head Tok Tok Records

5

Schon sechs Minuten geschafft und es liegen immer noch 17 Stücke vor mir. Frage: Wie viele davon muss ich wirklich noch hören, um reinen Gewissens behaupten zu können, dass Tok Tok immer noch diesen etwas angestaubten drolligen Elektrotechno zusammenschrauben, den man von ihnen gewohnt ist? Was ist das denn? Ein Marienkäfer ist gerade auf meinem Laptop gelandet. Wie süß! Ähm, wo war ich? SHORT ATTENTION SPAM

HOT CHIP One Life Stand Parlophone

9

Diese Platte wurde mir im Vorfeld als „Simply Red trifft Acid House“ beschrieben. Tatsächlich könnte man sagen, dass Alexis Taylors Stimme klingt, als ob Mick Hucknall seine Eier auf eine Streckbank gespannt hat, falls du dich traust, dir das vorzustellen. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass Simply Red jemals Piano-House, UK-Garage, und

hochgepitchte Vocals mit dem Beta-BandSound der Hot Shots II-Ära („Keep Quiet“) und ein wenig „I’m Not a Gun“-mäßigem elektronischem Postrock („Alley Cats“) kombiniert hätten. RONALD MCDONALD

Schwungtechniken beim Eisstockschießen vorstellen. Ja, ich weiß, tut mir leid. BINGO BONGO

ASTROSONIQ Quadrant

Exile on Mainstream/SRD

TODD Big Ripper Riot Season

7

Todd haben jetzt endlich die Platte gemacht, mit der sie schon immer gedroht haben. Sie klingt ein wenig so, als ob sich ein Serienkiller in dein Haus geschlichen, die Tür von innen verriegelt und den Schlüssel aufgegessen hat. Eine Mischung aus hysterischem Gebrüll und Gestammel, blutigen Kampfsequenzen, kurz aufblitzenden Momenten der Hoffnung und einer fiebrigen, psychedelischen Todessequenz zum Schluss. JOHN ASSFIELD

MELEEH To Live and Die Alone Black Star Foundation

6

Ich saß jetzt geschlagene drei Stunden vor dem Bildschirm, um mir Aufsehenerregende Bilder für das nihilistische Gekeife dieser Band zu überlegen. Irgendwann ist mir dann eingefallen, dass ich schon sämtliche passenden Bilder in den letzten fünf Cult-ofLuna-Reviews verbraten habe. Deswegen stell dir Meleehs Musik vor wie das Geräusch, dass Tausende von Stabheuschrecken machen, wenn sie als Pausensnack auf einem Kongress im Kaukasus gereicht werden, auf dem habilitierte Molekularbiologen und Langzeitarbeitslose die neuesten

7

Bei maskulinem Poser-Rock à la Monster Magnet muss ich immer an meine wilde Jugend denken, als man mich meistens mit einem Glas Whiskey und selbst gedrehter Kippe im Mundwinkel in unserem Keller antreffen konnte, wo ich damit beschäftigt war, sämtliche BlackSabbath-Riffs auswendig zu lernen. Ich war im Prinzip immer besoffen, und selbstverständlich überzeugter Chauvinist, denn Frauen waren für mich nicht viel mehr als ein Stück Fleisch, das man zum Bierholen schicken konnte. Dann fand ich schließlich meine erste Freundin und der Spaß war vorbei. Aber war ’ne geile Zeit. DAVE WEINFURT SOLEX VS. CRISTINA MARTINEZ + JOHN SPENCER Amsterdam Showdown, King Street Throwdown!

8

Bronzerat/Soulfood

Verehrte Kollegen und Kolleginnen aus der Promo- und PR-Branche, bitte nehmt mal für einen Moment die Hände aus der Hose und spitzt die Ohren: Könntet ihr ganz vielleicht dafür sorgen, dass zukünftig alle Begleitzettel zu euren Neuerscheinungen in Form eines Noir-Comics verfasst werden? Ungefähr so wie hier? Und könnt ihr bei der Gelegenheit gleich noch darauf achten, dass die Platten, die ihr mitschickt, nicht mehr ganz so scheiße klingen? Auch ungefähr so wie hier? Es würde mein Herz mit Freude erfüllen und meine Arbeit als Rezensent ungemein erleichtern. Danke für eure Aufmerksamkeit. ROCKIT BROTHA VICE

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REVIEWS

BESTES COVER DES MONATS: TODD

SETTING SUN Fantasurreal Young Love

VIOLET VIOLET The City is Full of Beasts Nr. One

2

Ach, die Jugend von heute: Sie verbringen zu viel Zeit mit Shopping, haben eine Schwäche für Katzen und hören gerne unpolitischen Mädchenpunk. Ich möchte jetzt wirklich nicht in ein kulturpessimistisches Lamento verfallen, die Zeiten ändern sich eben. Weil es mir in der Szene jedoch an jeglicher Autorität fehlt, habe ich unsere zuständige Kontaktperson um Rat gefragt, was ich nun von dieser neuen Vorzeigeband halten soll. Sie konnte mir, kurz bevor sie zur Schule musste, noch folgende Zeilen übermitteln: „violet^^ kewl, so heist meine beste freunind. die mag auch katzen und is foll süs! kA, gib ma 8 oda 9*knuffelknuff.“ Dem habe ich nichts hinzuzufügen. PENIZ HILTON

VAMPIRE WEEKEND Contra

XL Recordings/Beggars

9

Ein wer-weiß-wo aufgeschnapptes Verständnis für Sophistication und eine nicht mal verleugnete Rich-Kid-Schnöseligkeit trifft auf eine Abgründigkeit, bei der man nicht weiß, wo sie eigentlich anfängt, und einen Sinn fürs Schöne, so durchdringend, dass er schon wieder abstoßend wirkt. Ich schwanke, ob ich mir von dem Mädchen auf dem Cover lieber ein Geheimnis erzählen lassen möchte oder ihr einfach nur ins Gesicht spritzen will. Vampire Weekend haben sich auf jeden Fall mal wieder ein angemessenes Coverartwork für ihr neues Album ausgesucht. WALTER GROW PEE UZ 110

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VICE

4

Eine kurz Zwischenfrage: Darf jetzt eigentlich jeder Skandinavier, der ein bisschen wirres Geklimper in seine Popmusik mischt, in Selbstbeschreibungen das Adjektiv „psychedelisch“ verwenden? Also ich hab noch Zeiten gesehen, da musste man sich so ein Prädikat verdienen und zwar nicht mit einem billigen MC-Escher-Imitat auf dem Cover. Den obligatorischen LSD-Test hat die Platte bisher jedenfalls nicht bestanden. Ich werde gleich noch mal die Dosierung erhöhen, aber dann will ich langsam Farben sehn, sonst kann diese Prüfstelle leider kein Qualitätssiegel verleihen. KALLE BLOMQUIST

YAMON YAMON This Wilderlessness

A Tenderversion Recording

8

Schweden ist ja voll von guten Bands. Leider machen die meisten davon den Fehler, wie schwedische Bands zu klingen. Yamon Yamon sind eine Ausnahme. Sie klingen wie Whitest Boy Alive, nur ohne zu nerven; manchmal wie Pavement ohne Arroganz; im Großen und Ganzen wie die Band, die du einem Mädchen vorspielen kannst, um ihr vorzugaukeln, dass du gar kein so übler Kerl bist, während du trotzdem und wahrhaft Gefallen daran findest. Also an der Musik jetzt. SHANTY MENTAL

BUILT TO SPILL There is no Enemy ATP Recordings

7

Es gibt diese Art von Band, die man nicht sonderlich vermisst, wenn sie sich gerade

zurückgezogen hat, bei der man sich aber dann fragt, warum man sie eigentlich nicht die ganze Zeit vermisst hat, wenn sie mal wieder ein neues Album herausbringt. Eine Art, die absolute Unverwüstlichkeit und Solidität verkörpert. Ich wünschte, die Messer, die ich von Verwandten zu Weihnachten geschenkt bekommen habe, wären wie Built to Spill, dann müsste ich sie jetzt nämlich nicht angerostet und abgestumpft in den Müll schmeißen. OUT OF SOLINGEN

ADAM GREEN Minor Love Rough Trade

6

Künstlern, die besonders großzügig mit dem Stilmittel der Ironie umgehen, wird oft vorgeworfen, sie würden dies nur tun, um sich nicht verletzbar zu machen. Künstler, die mit ihren verletzten Gefühlen völlig ironiefrei umgehen, neigen dazu, einem mit ihrem Gejammer unglaublich auf die Nerven zu gehen. Green, der bislang mit seinem zugespitzten Ironieverständnis unglaublich zu nerven wusste, hat es jetzt tatsächlich geschafft, ein Liebeskummeralbum aufzunehmen, das einem an nur wenigen Stellen auf die Nerven geht. Wer hätte das gedacht? DOXON PARA

BAND OF SKULLS Baby Darling Doll Face Honey

5

You Are Here

Relativ unorigineller und pseudodreckiger Bluespop-Aufguss, der nach White Stripes schon unoriginell war, nach The Kills noch unorigineller und jetzt eben so. Alle Mädchen hier im Büro stehen auf diese Band. Es gibt also genug Gründe, Band Of Skulls einfach nur aus Prinzip scheiße zu finden. Leider gelingt mir das nur bei jedem zweiten oder dritten Lied. GERHARD GLITZER


REVIEWS

SCHLIMMSTES COVER DES MONATS: TOK TOK:

GET WELL SOON Vexations

LA STAMPA Pictures Never Stop

City Slang/Universal

7

Seit geraumer Zeit spielte unser German Wunderkind ja mit dem Gedanken, ein Konzeptalbum zu komponieren. Jetzt ist es fertig, und es geht darin um Stoizismus. So gesehen hat es sein Ziel offenkundig verfehlt, da ich spätestens beim zweiten Lied anfange, vor lauter Ergriffenheit unkontrolliert zu flennen. Ich hab es jetzt sieben Mal in Folge probiert. Könnte mich vielleicht mal jemand an einen Laternenmast fesseln, mir Wachs in die Ohren stopfen und dann nachher erzählen, wie es weitergeht? ODI ZEUS

7

Wenn Leute aus dem Kunstfeld sich an Popmusik versuchen, ist das immer so eine Sache. Künstler sind ja häufig bestrebt, alle bestehenden Verhältnisse umzustürzen, legen aber gleichzeitig großen Wert darauf, von niemandem verstanden zu werden, um nicht in Gefahr zu laufen, sich lächerlich zu machen. Das ist alles so ziemlich das genaue Gegenteil von Pop. So gesehen war es ein kluger Schachzug von La Stampa, den Ex-Tennisprofi Thomas Hug als Schlagzeuger zu verpflichten, weil der den beiden Konzeptualisten ihre zahlreichen Bücher über historische Formensprachen mit der stoischen Gelassenheit eines gestandenen Grand-SlamChampions aus dem Hirn drischt. Move your ass and your mind will follow. GRAF GANTZ

7

Da habe ich es mir gerade mit einer Tüte Chips und meinem Lieblingswitzebuch auf der Couch bequem gemacht, um mal einen sorgenfreien Sonntagnachmittag zu erleben. Und schon bricht mit dieser Platte von zwei ehemaligen Whisper-in-the-NoiseMitgliedern ein Sturm der Traurigkeit über mich herein. Reduziert, kunstvoll und bewegend, soll diese Platte nach Angaben der Band übrigens eine Kritik an der kapitalistischen Vereinnahmung von Kultur und Gedanken darstellen. Warum kostet die CD dann eigentlich trotzdem 13,95 Euro? Vermutlich ist es Teil des Konzepts, um mich noch trauriger und betroffener zu machen, dürfte ich die Platte als privilegierter ViceRezensent nicht ohnehin behalten. SCHORSCH HACKL

OWEN PALLETT Heartland

SCHOOL OF ZUVERSICHT Randnotizen from Idiot Town

Mute

Ist mal jemandem aufgefallen, dass zu jedem Liars-Album eine ergänzende Geschichte kursiert? Zuerst hieß es: „Hey, der Boyfriend von Karen O hat ein Album gemacht! Sogar die Typen, mit denen sie ins Bett geht sind kreativ!“ Dann gab es noch diese Hexenplatte und das letzte Album hieß dann einfach „Liars“, weshalb es automatisch diesen „Jetzt haben sie sich endlich gefunden und klingen nur noch wie sie selbst“-Touch erhielt. In Sisterworld geht es offenbar um den Umzug der Band nach L.A. und um die Möglichkeiten des Individualismus in einem schrecklich homogenisierten Umfeld. Vielleicht sollte aber eher mal jemand betonen, dass unabhängig von inhaltlichen Fragen alles, was diese Typen anfassen, zu Gold wird. WHIPPY MILKSHAKE

Exile on Mainstream/Soulfood

staatsakt./Rough Trade

LIARS Sisterworld

8

WIVE Pvll

9

Pingipung

Angesiedelt im bisher unerschlossenen Grenzbereich zwischen Ben Lee, 50 Cent, Minimal Techno und Samuel Beckett hat die berüchtigte First Lady der Hamburger Popmusik ein kleines eklektisches Meisterwerk erschaffen, bei dem einem vor lauter Referenzpunkten ganz schwindelig wird. Im Grunde hat sie einfach die besten Ideen der Kulturgeschichte zu einem modebewussten Golem geformt und diesen dann unter ekstatischem Gejohle auf die Tanzfläche des Golden Pudel Clubs gezerrt. Damit bringt sie die Postmoderne zugleich an ihr logisches Ende und wenn morgen schon überhaupt nichts mehr (oder womöglich alles) irgendeinen Sinn ergibt, dann ist vermutlich diese Platte daran schuld. BRUCE WAYNE

Domino

8

Eigentlich könnte einen die Nachricht, dass jemand ein orchestrales Konzeptalbum über einen jungen und ultra-brutalen Farmer namens Lewis geschrieben hat, dazu veranlassen, umgehend eine Rohrbombe vor dem nächsten Games-Workshop zu platzieren. Aber zum Glück handelt es sich bei diesem jungen Mann um Owen Pallett (aka Final Fantasy), der bekanntermaßen für jeden, von Fucked Up bis zu den Last Shadow Puppets, als erste Adresse in Sachen intelligente Streichersätze gilt. Pallett ist es völlig egal, was du über seine Musik denkst, denn seine Eier sind aus polierter Bronze und wir freuen uns, berichten zu können, dass Heartland tatsächlich genau so aufregend ist, wie die ersten sexuellen Gedankenspiele eines jungfräulichen Chorknabens. FRUITY MCGINTY VICE

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FREE VICE MAGAZINE VOLUME 6 NUMBER 2

VOLUME 6 NUMBER 2

THE WHYTE TYGER IZZUE

MÄRZ 2010


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