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EFFRETIKON
DORIS WIRTH Effretikon
Meine Rückkehr fällt auf einen Nieseltag im Juli. Ich friere an den Füssen, auf dem Bahnsteig finde ich keine einzige Sitzbank. Willkommen in Effretikon! Am Ende der Treppe nimmt ein junger Mann mich strahlend in Empfang. Nein, danke, bremse ich seine Euphorie, ich möchte nichts spenden. Genau an dieser Stelle balancierte einst Ivo auf den Pollern. Der Künstler kam von ausserhalb, sein Haar trug er lang. Ich, siebzehn, hing an seinen Lippen und stand ihm auf dem Dreimeter-Sprungbrett Modell. Für mich war er eine Verheissung: Wenn er sogar das Betongrau des hiesigen Schwimmbads in eine bunte Welt verwandeln konnte, war nichts mehr unmöglich! Bahnhofsunterführung. Fahles Kunstlicht, kaum Leute. Was mich anspringt wie ein garstiges Tier, ist nicht die Unheimlichkeit dieser Zwischenwelt – es sind die Schaukästen. An die zehn Stück sind in den Beton eingelassen, rund 30 Zentimeter tief. Man kann die Rückwand für Plakate nutzen, die Simsfläche für allerlei Figürchen. Wie konnte ich sie nur vergessen? Der lokale Ableger der Sozialdemokraten wirbt mit roten Plakaten auf schwarz gestrichenem Hintergrund – klar, aber trist. Im Fenster daneben aber wuchert die Ausdruckswut: Fotos von Hütten bauenden Kindern auf holzverkleideter Wand! «Nehemia kommt nach Effretikon», in blauer Schrift, «Sei auch du dabei!», in Rot. Kamele schleppen winzige Holzbündel über einen Juteteppich, Krippenfiguren in Samtmänteln halten ein «Mitarbeiter gesucht!»-Schild hoch. Immerhin hat sich jemand Mühe gegeben, jedenfalls keine Mühe gescheut. Das beweist auch das Fenster des Samaritervereins. Ohne erkennbaren Zusammenhang tummelt sich im Vordergrund eine Meereslandschaft aus Holzfischen, Glasperlen, Muscheln, Netzen, einem Boot und sogar einem Leuchtturm. Beleuchtet wird die Szenerie von einer Partylichterkette in grellem Türkis. Ich schwanke zwischen Anerkennung und Abscheu. 102 In diesen Kästen spiegelt sich die Fratze meiner Provinzkindheit. All die Samstagnach-
mittage in der Kirche mit Wollknäuel und Handklatschspielen. Auch ich wollte einst – Nehemia kommt nach Effretikon – Hütten bauen und Seilbrücken. Die Mädchen und Frauen, die bei Regen lieber in der Kirche bleiben und Pompons basteln wollten, empfanden mich als Exotin, weil ich barfuss ging und Die toten Hosen hörte, statt in der Jugendmusik zu spielen. All diese Nadjas und Nicoles, die in einem Häuschen mit Vorgarten aufwuchsen und deren Eltern zu uns in den Schulunterricht kamen, um einen selbstzufriedenen Vortrag über das Leben in ihrem Biotop zu halten. Und später, bereits Gymnasiastin in der benachbarten Grossstadt und damit noch weniger zugehörig: die vielen Abende, an denen ich ziellos durch dieses farblose Kaff schlenderte und mich entscheiden musste zwischen den Jungs im Jugendhaus (mit Tischfussball und kiffen) oder den Jungs im Vereinshaus vom CVJM (ebenfalls Tischfussball, aber ohne kiffen). Das Effretikon meiner Kindheit war eine Kleinstadt, deren Horizont vom Kirchturm zum Schwimmbad reichte. Und die alles, was zu sehr über die Hecken hinauswuchs, beschnitt. Nach der Unterführung atme ich auf. Wieder Tageslicht! Und ein ordentliches, immerhin üppig bepflanztes Beet. Oberhalb der Bagger, die die Brücke über die Gleise wieder instand setzen, erspähe ich den brutalistischen Glockenturm. Anfang der sechziger Jahre sorgte der abstrakte Betonbau neben der Kirche für Kontroversen. Inzwischen ist er aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken und eines der Wahrzeichen Effretikons. (Mit ihm und vier anderen Postkartenmotiven gingen wir im Winter hausieren, um die Kasse des Jugendbundes zu füllen.) Ich drehe der Kirche abermals den Rücken zu. Wohnblöcke, so weit das Auge reicht. Dass sie geschindelt wurden, macht sie nicht lieblicher, nur schuppiger. Noch immer frierend folge ich dem schmalen Weg am Friedhof vorbei. Bis ich vor mir die wohlbekannte immergrüne Hecke erblicke, kein bisschen gealtert. Und dahinter die vertrauten Wiesen, die Schaukeln, die Wippe, das Klettergerüst. Rappenstrasse 30. Ich trete durch das Tor und setze mich auf die Bank. Von drei Seiten blicken Balkone auf mich herab. Hier sass meine junge Mutter und strickte Socken und Schals, während ich im Kinderwagen schlief. Im Winter fuhr ich mit dem Schlitten jenes Hügelchen hinunter, bis die Finger glühten. Türkei, Tibet, Tschechoslowakei, Bolivien, das waren die anderen Nationen in unseren vier Stockwerken. Als wären seit jenen Tagen nicht fast vier Jahrzehnte vergangen, scheppern die Metalldeckel der Betonzylinder vor dem Haus immer noch, als ich wie früher von einem zum anderen hüpfe. Gut einen halben Meter hoch der erste, etwas niedriger der zweite, kann niemand so genau sagen, wozu sie da sind. Irgendwas mit Wasser? Die Teppichstange ist leer. Frau Stach war damals die Einzige, die ihre Teppiche hier ausklopfte. Ich blicke aufs Klingelschild. Frau Stach, sie ist noch da! Ich gehe weiter. In der Biegung der Strasse springt mich ein verwittertes Schild an: «Achtung, Kinder!». Darauf spielt ein gemalter Junge Fussball vor einer dunkelblauen Wolke. Dieses Schild! Plötzlich klopft mein Herz schneller. Ich sehe mir die Zeichnung genauer an. Die Art, die schwarzen Flecken auf den Fussball zu setzen, die Schrift – habe ich etwa ...? Ja! Ein Vierteljahrhundert ist das her! Damals musste ich mich für das Dilettantische meiner Malerei geschämt haben. Jetzt aber macht sie mich unfassbar glücklich. Beschwingt tragen mich meine Füsse zurück zum Bahnhof. Die Entgegenkommenden mustern mich neugierig. Bestimmt halten sie mich für eine Fremde. Ich bin von hier!, will ich ihnen hinterherrufen. Vielleicht bin ich es mehr, als mir lieb ist.
Stuttgart tanzt eng Hallelujah und Eternal Flame. In der Autostadt blüht ein Weihnachtsritual.
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Ihre Wange kommt mir näher. Ich spüre ihre Wärme. Sie berührt mich. Da ist Scham in ihrem Blick, und sie klappt ihre Lider über die erwartungsvoll funkelnden Augen, legt ihren Kopf auf meine Schulter, hält sich an mir. Ich lasse meine Hände an ihren roten Haaren hinab den Rücken hinunterfahren. Eine Orgel jubelt in Zeitlupe. Ein paar Fetzen der BachKantate 140 «Wachet auf, ruft uns die Stimme». Gespielt auf einer rauchigen Hammond, als wäre es Percy Sledge «When a Man Loves a Woman». Ist es aber nicht. Der Klang der offenen Becken sirrt wie ein Silberstreifen durch das Halbdunkel. Es ist Procol Harum nie wieder gelungen, dieses Lied exakt so klingen zu lassen. Es war ein einzigartiger Moment: Die Dokumentation der Aufnahmen ging verloren. Es gibt kein zweites Mal. Aber die Aufnahme und die Schallplatte, sie dreht sich, vorne auf der erhöhten Bühne, wo das Mischpult steht und die beiden DJs bewaffnet mit Kisten voll Soul und Softrock gespannt die Menge analysieren. Wie zwei Kapitäne, die auf Sicht fahren. Hinter Andreas und André glitzern ein paar dieser Lamettastreifen, die sie aufgehängt haben, um die Hässlichkeit der Rückwand zu verdecken. Der schleppende Beat beginnt die Menge zu bewegen. Wie hypnotisiert in diese ganz langsame Drehung zu versetzen. Auch uns. Sie liegt in meinen Händen, ich spüre ihren Frühling, ihre Furcht. Der Gesang hebt an.
We skipped the light fandango turned cartwheels 'cross the floor
Der Bass sinkt mir in den Bauch. Langsam komme ich an. Diesmal könnte es klappen. Dieses Jahr. Vielleicht haben wir beide ja ein Leben lang auf diesen Moment gewartet. Vielleicht geht alles schief. Es ist jedes Mal riskant.
I was feeling kinda seasick
Als die Royal Airforce im letzten Kriegsjahr 180000 Brandbomben, 4300 Sprengbomben und 75 schwere Luftminen auf meine Heimatstadt abwarf, um die Naziseuche zu beenden, entfachte sie einen Feuersturm, bei dem die Luft so heiss wird, dass die Strassen zu brennen beginnen. Ein Phänomen, das man auch in Hiroshima beobachten konnte. Wie im Film «Terminator», als das Kind in der Schaukel sitzt, dann kommt ein Wind, und plötzlich ist es nur noch ein Skelett. Insgesamt wurde Stuttgart 53 Mal bombardiert. Übrig blieb am Ende des Krieges jedes dritte Wohnhaus. Nachdem so vieles bereits flachgebombt worden war,
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hatten die Übriggebliebenen entweder jedes Feingefühl verloren – oder, was bei Schwaben auch möglich ist, ihren Geschäftssinn zurückgewonnen. Man sah das Scheitern als Chance und sprengte, was verblieben war, um Neubauten Platz zu machen. So wie das Herz der Stadt, den alten Marktplatz mit seiner Rathausfassade, die früher so prachtvoll erstrahlte wie das weltberühmte Münchner Rathaus. Boom. Alles ausradieren. So geht das seither.
but the crowd called out for more
«A Whiter Shade of Pale» ist der perfekte Slowsong. Perfekt für diesen
Tanz, der darin besteht, dass zwei Umarmende sich langsam um sich selber drehen. Diesen einfachsten aller Tänze lernt man mit 12 Jahren bei
Geburtstagspartys hinter heruntergelassenen Rolläden. Wenn man zu
Kuschelrock-Songs im Dauerloop mit einer aufgeregten Handbreit Abstand zu den viel grösseren und reiferen Mädchen dem Teenager-Dasein entgegenwankt wie eine Jolle aufs offene Meer der Liebe. Auf dem Cover der Platte mit «A Whiter Shade of Pale» sieht man einen Kapitän und einen Rettungsring. Das Lied ist ein Zuhause, jeder Winkel, jede Note ist vertraut, so oft hat man es irgendwo gehört. Es bringt alles unter ein Dach: ein bisschen Bach im Orgellauf, Soul im Gesang, Soft-Rock in der Rhythmusgruppe. Schon in den muffigen Sechzigern muss dieses Lied eine Chance gewesen sein, die Damen zum Tanz aufzufordern, die gesellschaftlichen Abstandsregeln zu unterwandern und ihnen nahe zu kommen, sie zu berühren, ganz legal. Nur ein Tanz. Die Geschwindigkeit ist perfekt. Kein Lied an diesem Abend wird zu schnell sein, zu impulsiv. Andreas Vogel und André Herzer, beide 44, navigieren seit über 20 Jahren durch Stuttgarter Nächte. Jedes Jahr am 25.Dezember ist ihre Kür. Das Kap der guten Hoffnung. Hier müssen sie all ihr Wissen einsetzen, denn jeden Moment können in dieser Stadt
Partys zu dumpfen Orgien werden, mit grölenden Männern Arm in Arm,
Frauen mit Weissweinschorle-Gläsern auf Bassboxen. So was will jetzt keiner. Es würde alles zerstören, vielleicht für immer. Wir sind zusammen auf dem Weg zu einem ganz anderen, viel sanfteren Moment an diesem Abend. Vogel und Herzer führen uns dahin. Ich spüre ihren Atem an meinem Hals. Wir drehen uns weiter im Uhrzeigersinn. Durch den im Talkessel verbliebenen Dorfkern mit den Fachwerkhäusern wurden nach dem Krieg breite Schneisen geschlagen. Im 150. Todesjahr Friedrich Schillers wurde seine Alma Mater gesprengt, um einer Innenstadt-Autobahn Platz zu machen. Fortan zerteilten fünf
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breite Flüsse aus Stahl und Asphalt das einstmalige Weinstädtchen. Zurück blieben zwei Quadrate Innenstadt voller grauer Kästen. Als ob man für immer klarmachen wollte, dass hier niemals wieder eine Kultur erblühen, sondern Maschinen produziert werden sollten. Daimler, Porsche, Bosch, fertig. Seither gibt es da ein Tal mit 600000 gutverdienenden Einwohnern, in der Mitte zwei Kilometer Shoppingmeile, genannt Königsstrasse. Karstadt&Co, Kette an Kette, wie in Hannover, Düsseldorf, Dortmund oder Essen. Wie in all den anderen Städten Deutschlands, deren
Einwohner sich so sehr ihrer Herkunft schämen, dass sie das Gefühl haben, nichts von dem was sie dort schüfen, könnte je Wert haben. Das beliebteste kulturelle Zentrum Stuttgarts ist tatsächlich das Daimler-
Museum. Statistisch gesehen besucht es fast jeder Einwohner Stuttgarts einmal im Jahr. Als man 1993 die Stadt im Zuge des unaufhörlichen Umbaus mit einer hochmodernen U-Bahn – dem «gelben Blitz» – versah, wurde eine der Innenstadtverkehrsachsen unnötig. Jene, die die Shoppingmeile mittig unterbrochen hatte. Plötzlich gab es einen Platz mitten in der Stadt. Weil die Stadtverwaltung nicht wusste, was tun mit dem neuen Schlossplatz, stapelte man auf das Loch ein paar riesige Klötze zu einer Art provisorischen Treppe. Städter begannen sich an der Freitreppe zu verabreden. Ein Sammelpunkt für die Jugend entstand. Es war der öffentlichste Ort, den man sich nur vorstellen kann. Wer etwas in der Stadt zu tun hatte, musste hier vorbeikommen. Alle Arten von Menschen trafen zusammen. Gleichzeitig wurde das Stadtleben zu einem Theater, das man von den Stufen der Treppe aus beobachten konnte. Aus Versehen hatte die Stadt ein Herz bekommen, und unvorhergesehenerweise entwickelte sich ein Kulturleben, und Stuttgart brachte plötzlich sogar Popstars wie Max Herre, Freundeskreis und die Massiven Töne hervor. Zufällig genau, als ich ein Teenager war. 2002 wurde die Freitreppe abgerissen. Kurz davor hatte ich die Stadt verlassen.
The room was humming harder
Ich ziehe sie etwas näher an mich. Sie lässt es zu. Sie kennt mich ja seit 15 Jahren, mindestens. Ich weiss, an welcher Schule ihr Vater unterrichtet hat. Ich kenne sicher die Hälfte ihrer alten Freunde. Meine erste Freundin war eine Klasse über ihr. Wir wissen so viel übereinander. Ich fand sie schon mit 18 sehr anziehend. Die lustigen Mandelaugen. Sommersprossen und helle Haut.
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as the ceiling flew away
Um uns herum nur Tanzpaare. Zwei- oder dreihundert Menschen sind in diesem niedrigen Saal mit den schwarzen Wänden. Die Hälfte davon dreht sich langsam umeinander, ineinander versunken. Der Beat schleppt weiter. Der Bass, der heisere Orgelsound. Am langen schwarzen Tresen neben dem Eingang am anderen Ende ist keine Lücke frei. Ich sehe Martin, er ist jetzt ein Doktor mit einer kleinen Beraterfirma. Er schmeisst rundenweise Shots. Am Ende sind 200 Euro verfeiert. Am zweiten Weihnachtsfeiertag hat jeder hier die Taschen voll mit Geld. Und wenn es nur der Fünfziger von Oma ist. Die Leute sind gut angezogen, selbst wenn sie aus Stuttgart sind. Wobei, das sind sie eigentlich gar nicht. Die, die hier heute Abend sind, die kommen aus allen Teilen der Welt eingeflogen. Nur einmal im Jahr kommen sie zusammen. Seit fünfzehn Jahren. An der Engtanzfeier.
When we called out for another drink the waiter brought a tray
Die Trümmer Stuttgarts bilden den höchsten Berg der Stadt. Am Gipfelkreuz des Monte Scherbelino, offiziell «Birkenkopf», schaute ich nachts nochmal auf die Lichter im Tal. Wie so viele, die dann nach Berlin, München oder London ziehen, um dort zu suchen, was man in Stuttgart nie zu finden glaubt: echtes Leben. Oft allerdings finden sie dort entweder gar nichts oder Düsseldorfer, Essener oder Hannoveraner, die das Gleiche suchen. Das wiederum treibt die Stuttgarter so weit, dass man davon ausgehen muss, dass, wenn man am Südpol einem Menschen begegnet, er aus Stuttgart kommt. Stuttgart leidet an einem quasi-afrikanischen Brain-Drain. Mein erweiterter Freundeskreis umfasste vielleicht zweihundert
Menschen in meinem Alter. Ich kann keine zwanzig von ihnen aufzählen, die noch in der Stadt sind. Die Gesellschaft hat sich in ihre Einzelteile aufgelöst. Heimat besteht aus Menschen und Orten. Und wie brutal meine Heimat ständig umgebaut wird, zeigt sich am mehrjährigen Wutausbruch der Bevölkerung anlässlich Stuttgart 21, der kompletten Umpflügung der zentral gelegenen Bahnhofsgegend. Es ist ein bisschen wie nach dem Krieg, wenn ich manchmal nach Hause komme. 90 Prozent meiner Generation sind wie ausgelöscht.
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And so it was that later as the miller told his tale that her face, at first just ghostly, turned a whiter shade of pale
Ihr Kopf löst sich von meiner Schulter, richtet sich auf, sie lehnt sich etwas nach hinten. Sie hebt ihre Lider und blickt mich von unten herauf direkt an. Sie lächelt ein bisschen. Die Lippen öffnen sich. Ihre grünen Augen glänzen. Ihr ganzes Gesicht leuchtet. Ich spüre, dass die anderen um uns rum bemerken, was hier läuft. Erst vor ein paar Tagen ist sie mir wieder in den Sinn gekommen.
Plötzlich. Dieser weiche, lange Tanz letztes Jahr. Kurz vor Ende der Feier, irgendwann morgens um drei oder vier, bevor Grant Green mit «Idle
Moments» jedes Jahr den Abend abschliesst und das Licht angeht. Ein kurzer Kuss. Ich war im Rausch des Abends gewesen, es war einer dieser Momente, in denen das erlaubt ist wie an einer Silvesterparty mit 15.
Ich hatte gar nicht darüber nachgedacht. Einfach ganz freundlich geküsst.
Sie war ja sowieso weit weg. Grade zurück aus den USA, dabei, sich zu installieren in Berlin oder so. Ich hatte danach mein Jahr 2012 allerdings komplett in den Sand gesetzt, liebesmässig. Ich war um die halbe Welt gereist, aber nirgendwo hatte es gefunkt. Sowieso, ich hatte zu viel gearbeitet. Vielleicht lag es daran. Vielleicht war ich mit 32 Jahren auch auf Abwege gekommen, und die Frauen spürten das, dass ich keine Zukunft hatte, mit meiner Schreiberei. Ich hatte existentielle Zweifel. Keine gute Grundlage. Als ich dann dabei war, mich auf die Heimkehr zur Familie an Weihnachten vorzubereiten, hatte ich plötzlich ihr Gesicht vor meinen Augen. Wie ein Licht am Ende des Tunnels. Ein bisschen ist Heimat ja auch der Ort, wo die Früchte tief hängen. Ich wollte sie.
Mir war das schon einmal passiert. Zwei Jahre davor, 2009, mit 29, verwirrt vom fehlgeschlagenen Berufsanfang, war ich auf der Engtanzfeier gestanden. Zwischen all meinen Freunden, die immer noch am Warten waren, dass aus mir mal wirklich was wird. Überall Drinks, Gin Tonic, in Strömen, wie immer. Die Fragen, wie es denn laufe, wo ich grade lebe.
Ich hatte nichts Gutes zu erzählen. Trennung. Kündigung. Ich hielt also lieber die Klappe. Es war eng. Ich bekam das Gefühl, zwischen all den glücklich tanzenden Paaren zermahlen zu werden. Diese Lieder, meine
Güte. Emotionen ohne Ende. André Herzer liess Jeff Buckley laufen. Spiritualisierte diese selige Stuttgarter Meute. Liess sie Hallelujah singen und damit inbrünstig diesen Abend preisen. Ich jedenfalls war ganz alleine.
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Da sah ich einen Engel. Was eigentlich an diesen Feiern nicht passieren kann, weil ich ungefähr die Hälfte aller Anwesenden kenne. Und schöne Frauen sind eigentlich alle bekannt und vergeben. Eine schlanke Kurzhaarige, die durch die Menge schwebte. An mir vorbei. Sie duftete. Zwei, drei alte Bekannte flüchtig begrüssend, hatte ich mich in einen Seitengang verdrückt. An eine Wand gelehnt, lauwarmes Getränk genippt. Die Schöne kam in den Gang. Ich folgte ihr schüchtern mit den
Augen, sie blickte kurz zu mir, blieb plötzlich stehen. «Hannes!» Ich hatte keine Ahnung, wer da vor mir stand. «Ich bin’s, Sophie!» «Wow!» brachte ich hervor. «Schön, dich zu sehen.» «Ja genau! Wir haben uns sicher seit 10 Jahren nicht gesehen. Was machst du so?» Sie strahlte, sichtlich erfreut. Einfach jetzt keinen Fehler machen. Behalt deine Sorgen für dich. Sie hat ein leichtes Seidenkleid und dazu Stiefelchen an diesen zwei tollen Beinen. Sieht super aus. Sie kennt dich tatsächlich. Los jetzt. «Hey! Alles klasse! Ich lebe grade in Zürich. Ich hab Wirtschaft studiert und bin Journalist geworden.» «Oh, das ist toll.» Sie sah mich interessiert an. Blaue, grosse Augen, blonder, modischer Topfschnitt. «Ich wollte immer Journalistin werden.
Deswegen war ich auch so fleissig in der Schule. Viel zu fleissig. Kannst du dich erinnern, wie ich immer gelernt habe und nicht bei dir und deinen Freunden bleiben konnte abends?» Plötzlich wird mir klar, wer da vor mir steht. Das Mädchen, das ich mit 14 Jahren in meinem Viertel kennengelernt hatte. Sophie, dieses hübsche Wesen, wegen dessen ich zu der Party gegangen war, an der sie dann zu früh nach Hause ging, und ich dann mit ihrer Klassenkameradin zusammenkam, die meine allererste Freundin wurde. Ich hatte Sophie immer anziehend gefunden. Aber sie war anscheinend immer auf dem Weg zum Geigenunterricht. Unerreichbar. «Wollen wir tanzen?», fragte ich. Sie nickte. Es ist, als ob wir durch einen Zeittunnel fahren würden. Stundenlang. Links «Junimond» von
Ton Steine Scherben. Rechts Al Greens zart vibrierendes Soul-Falsetto wenn er seufzt «How can you Mend a broken heart». Dann «Purple Rain».
Bei «Eternal Flame» von den Bangles dreht Herzer die Regler runter, und der Saal singt. Damit das nicht ausartet, kontert Vogel mit dem eleganten «Funny How Time Slips Away» von Joe Hinton. Alles verschwimmt.
Meine Freunde verabschieden sich flüchtig. Kein Problem, wir kennen
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uns ja gut genug. Sophie und ich tanzen, drehen uns. «Sollen wir zur Aussichtsplatte?», frage ich sie und bin sehr zufrieden, dass meine Mutter sich aus unerfindlichen Gründen diesen BMW Sportcoupé gekauft und ihn mir heute geliehen hat. Nachts, wenn man die Bebauung nicht sieht, ist das Lichtermeer im Tal wunderschön. Wie ein unlogisches Universum. Die Aussichtsplatte an der Alten Weinsteige ist autotauglich. Die Heizung läuft, rötliche Innenbeleuchtung, unten glitzert die Stadt. Ringsherum ein bürgerliches Wohngebiet im seligen Weihnachtsschlaf.
«Weisst du, ich war immer verknallt in dich als Teenager», sagt sie und schaut auf die Lichter. «Du warst bloss zu wild für mich.» In mir springt etwas auf. Ich atme durch. Ich fasse sie am Kinn, wir kommen uns näher, und ich hatte in diesem Moment das Gefühl, als habe alles in meinem
Leben plötzlich Sinn gehabt. Sogar meine Trennung, weil erst dadurch war ja nun Platz für uns. Wir küssen uns, und mir wird klar, das ist die
Geschichte unseres Lebens, ich werde einst in einem sonnigen Garten mit Apfelbäumen unseren Enkelkindern erzählen, wie sich die Jugendliebe fünfzehn Jahre später erfüllt hatte. Sie lag halbnackt auf dem Beifahrersitz. «Kommst du zu mir?», fragte sie. «Ich habe ein Zimmer bei meinen Eltern im Keller.» Wir fuhren am Fernsehturm vorbei, oben am Rand des Talkessels. Vor meinem geistigen Auge sah ich unser Glück beginnen. Ich erkannte, dass wir fortan so viel Zeit hatten. Wieso jetzt etwas überstürzen? «Ich hol dich morgen ab», sagte ich. Ich weiss noch, dass sie erstaunt schaute. Als wir uns im Licht des nächsten Tages sahen, war plötzlich alles anders. Wir tranken einen Kaffee. Gingen in den Zoo. Nichts mehr. Aus. Ich brauchte ein halbes Jahr, um das zu verdauen. Es war mir eine Lehre. Dieses Jahr, 2012, bin ich der Erste auf der Engtanzfeier. Gut angezogen. Bargeld abgehoben. Ankunft kurz vor 22 Uhr. Mein Plan steht.
Hoffentlich ist sie da. Veranstaltungsort ist das ehemalige Amerikahaus. Einer dieser Klötze in der Innenstadt, gleich an der sechsspurigen
Theodor-Heuss-Strasse, einer dieser Innenstadtschneisen. Es ist eiskalt,
Autos rauschen vorbei, niemand auf der Strasse. Die Tür ist noch zu.
Diese Party findet man nicht auf Facebook, sie steht in keinem Veranstaltungskalender. Jedes Jahr gibt es angeblich zweihundert Foto-Flyer, die
André und Andreas an Bekannte verteilen. Ich kann mich nicht erinnern, je einen gesehen zu haben. Diese Feier entsteht aus Telefonaten zwischen Freunden. Ein paar Monate vor Weihnachten tauchen in Stuttgart jeweils Gerüchte auf, wo die Engtanzfeier diesmal stattfinden wird. Denn seit
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der ersten Engtanzfete mit romantischer Musik am 25.Dezember 1997 im zimmergrossen Falafel-Imbiss «Vegi Voodoo King» kämpfen die beiden Veranstalter mit Platzproblemen. Die ersten Gäste tanzten draussen auf der Strasse im Schnee. Als Andreas Vogel und André Herzer 1999 in einem wohnzimmergrossen ehemaligen Stripclub den Club Hi eröffneten, reihte der Platz bei weitem nicht für alle. Man beschloss, zwei Tage durchgehend Engtanzfeiern zu veranstalten. Ich erinnere mich an Jackenberge vor der Tür. Die weinroten Teppichwände, die kleinen Separées, bei denen man die Vorhänge zuziehen konnte, um ungestört zu sein. Es war so eng, dass man gar nicht mehr von tanzenden Paaren sprechen konnte. Die Menge wurde eine bebende, sich aneinander reibende Masse, so wie diese einzelligen wuchernden Pilze. Jedes Jahr wurde die Feier ein bisschen grösser. Ich habe Freunde, die die Engtanzparty meiden wie die Pest. Die das ekelhaft finden. Dass alle sich weichgeklopft von Weihnachten einfach in die Arme fallen würden. Ringelpiez mit Anfassen. Ein inzestuöses
Loveshag, bei dem lauter Leute miteinander tanzten, die sich seit Geburt kennen würden. Ausgehen, das sei doch Suchen, hier aber würde man nur finden, was man kenne. Genau darum geht es, finde ich. Die Tür geht auf, und wie jedes Jahr beginnt um Punkt 22 Uhr die Party mit dem Song, mit dem die letzte aufhörte. Grant Green, «Idle Moments». Nach und nach kommen die Gäste. Zuerst die Paare. Dann ein paar Freunde. Noch mehr Freunde. Tina kommt mit ihrem Freund rein. Sie wohnt eigentlich in München. Die beiden haben einen Babysitter gefunden. Das ist ziemlich hart an diesem Abend. Da sucht eine ganze Generation Babysitter. Stück für Stück setzt sich unsere alte Gemeinschaft wieder zusammen. «Woher kennen wir uns noch mal? Aus dem ‹Hi›? Oder von der ‹Freitreppe›?». Oder «Ach, das ist deine grosse Schwester? Ja wir waren mal zusammen im Urlaub.» Ich achte darauf, nicht zu viel zu trinken. Hoffentlich kommt sie. Für ein, zwei Stunden ist der ganze Saal nur aufgeregt am Schnattern. Erstmal müssen alle sich begrüssen. Die DJs haben keine Chance.
Dann kommt die rituelle Ansage. Andreas Vogel, der aussieht wie ein
Studienrat im Jahr 1982, hebt das Mikrofon: «Willkommen zur Engtanzfeier 2012. Es darf getanzt werden.» Langsam geht es los. Mein erster Tanz ist mit Jelena, Klassenkameradin meiner ersten Freundin. Wir waren nie so eng, aber wenn man sich so lange kennt, spielt das irgendwann überhaupt keine Rolle mehr, ob man vor zehn Jahren Freund oder Feind war. Ich erfahre, dass sie in Brasilien als Krankenschwester gearbeitet hat und dort zwei Kin-
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der bekam. Erstaunlich. Ich hatte sie völlig unterschätzt. Mein nächster Tanz ist mit der schönen Camille. Die ist seit etwa 12 Jahren mit meinem Schulfreund Noah zusammen. Ihr erster und einziger Mann. Die Engtanzparty ist für sie eine einzigartige Gelegenheit. «So viel Körperkontakt kann man doch sonst nie mit anderen Männern haben, ohne dass die gleich mehr wollen», flüstert sie mir ins Ohr. Es gibt einen Anteil Erotik in den meisten Freundschaften, den man sonst nie ausleben kann, denke ich. Das ist allerdings nicht ungefährlich. Jedes Jahr gibt es an dieser Feier Eifersuchtsdramen und Trennungen. Einmal verlor ich beinahe einen meiner engsten Freunde, weil ich eine Runde zu viel mit seiner Angebeteten eingelegt hatte. Mittlerweile hat sich das Engtanzen ein bisschen ausgebreitet. In
Hamburg und Hannover gibt es weihnachtliche Engtanzfeiern. Und in
Berlin ist es ein grosses Ding geworden in den letzten zwei Jahren.
Ein paar meiner Stuttgarter Freunde haben mir von den Praktikantinnen und Studentinnen erzählt, die im Hinterhof des «Picknick Club» nach amourösen Abenteuern suchen würden. Ein Freund von mir hat sich darauf spezialisiert. Das Prinzip funktioniere so gut, weil es so klare
Regeln gäbe. Statt sich wie in einer Disco jedes Mal neu zu erfinden und ungeheuer innovativ sein zu müssen, um anderen näherzukommen, fragt der Mann bei Engtanz die Frau. Man trete über die Schwelle solch einer Veranstaltung, und schon gälten eben ganz andere, ganz klare ungeschriebene Regeln. Das sei ein erfolgversprechendes Prinzip für unsere verwirrte Multioptionengeneration. In Stuttgart geht es um viel mehr als amouröse Abenteuer. Beispielsweise tanze ich mit Thomas. Ein Tanz für ein ungestörtes Gespräch unter vier Augen, völlig normal an diesem
Abend. Thomas macht grade eine schwierige Phase durch, weil er seit zwei Jahren keine Stelle findet und immer noch an der Uni vor sich hindümpelt. 1000 Euro im Monat. Und sein Vater ist krank. Nie kann man so offen sprechen wie unter alten Freunden. Man kann kaum mehr auseinander, so viel hat man schon geteilt. Sie ist gekommen. Sie hat ein grünes Wollkleid. Sie tanzt die ganze Zeit mit einem dürren Typ, den ich nicht kenne. Ich beginne mich diskret umzuhören. Hier kennt jeder jeden. Der Typ ist ihr Exfreund. Ich gebe ihnen noch ein paar Minuten. «Ah! Die Degerlocher sind da», grüsst mich Noah. Ich muss lachen.
Degerloch ist ein Stadtviertel, aus dem viele von meinen Freunden kommen. Keiner von ihnen wohnt mehr dort. Seit mindestens zehn Jahren.
Dennoch: Für ihn bin ich ja derjenige, den er zuletzt sah. Und er ist es für mich, auch wenn wir beide nicht mehr sind, was wir voneinander
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denken. So ist das in diesem ganzen Saal, fällt mir auf. Hier steht ein
Stuttgart wieder auf, das längst nicht mehr existiert. Die Gespräche setzen sich dort fort, wo sie letztes Jahr endeten. Es ist wie ein Daumenkino im Jahrestempo. Und während sich diese Gemeinschaft, die sich für das wahre Stuttgart hält, Jahr für Jahr langsam fortentwickelt, bewegt sich das wirkliche Stuttgart in eine ganz andere Richtung, wird es von ganz anderen Menschen gestaltet, als jenen, die hier sind. Es ist wie ein
Raumschiff, das sich immer weiter vom Heimatplaneten entfernt. Astrid ist mein Trick. Höflich bitte ich sie um einen Tanz und schiebe sie in die Nähe des grünen Wollkleides mit dem Ex-Freund. Astrid und ich sind ein bisschen formal miteinander. Obwohl sie mir gerade erzählt, dass sie ihren allerersten Stehblues anscheinend mit mir getanzt habe. Mit elf, auf einer Freizeit. Ich schiele nach meiner Partie. Sie schaut herüber. Ich zwinkere ihr zu. Sie zwinkert zurück. «Ist eigentlich irgendeiner in den letzten Jahren gestorben?», frage ich Astrid. «Nein, alle gesund. Komische Frage. Wobei.» Wir drehen uns.
Astrid ist hier geblieben. Es tobt ein stiller Streit zwischen jenen, die gingen, und jenen, die blieben. Es geht um zwei Lebensentwürfe, um einen
Statuswettbewerb. Am niedrigsten angesehen sind die Heimkehrer. Viel zu schnell kommt bei ihnen der Verdacht auf, sie hätten es anderswo nicht hingekriegt, seien in der Ferne beruflich gescheitert. Links tanzen Noah und Ali miteinander, und vielleicht erzählt Noah ihm grade von seinen Absichten mit Camille. Und jetzt kann er ihr dabei zusehen, wie sie mit Tim tanzt. Übrigens schon zum zweiten Mal. Tim war immer der Beau aus unserem Freundeskreis. Unser Lied endet. Ich lass Astrid los, bahne mir meinen Weg durch die Menge und bitte sie um einen Tanz. Endlich. Sie sagt Ja. Als ich die ersten Orgeltöne höre, ihre Wangen spüre, schlägt mein Herz ein bisschen mehr. Neben uns tanzen Noah und Camille. In ihren Gesichtern liegt pure Zufriedenheit. Zwölf gemeinsame Jahre. In sechs Monaten werde ich auf ihrer Hochzeit stehen, Blumen werfen. Wir drehen uns. Ich sehe Leanne und Thomas. In zwei Monaten wird er mir von der Schwangerschaft erzählen.
She said, «There is no reason and the truth is plain to see»
Ich halte sie, schaue sie an, und um uns herum scheinen die Menschen zu leuchten. Die Tänzer versinken immer mehr ineinander, es ist, als wäre es still, und es ist, als ob die Lichter der Diskokugel in der Luft anhalten würden, und die Musik ist einfach nur noch Wärme und Licht,
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und die Zeit bleibt stehen. Ich gehe nach Stuttgart zurück, flüstert sie. Sag es niemandem. Sie lächelt.
But I wandered through my playing cards and would not let her be one of sixteen vestal virgins who were leaving for the coast
Um uns herum ist mein halbes Leben versammelt. Unser halbes Leben. Meine Freunde, mit denen ich aufwuchs. Ihre Freunde, mit denen sie aufwuchs. Gibt es ein Zurück, frage ich mich inmitten dieses sich immer wiederholenden Abschlussballes. Ist das überhaupt möglich? Oder kann man nur immer weiterziehen? Ich will nicht noch mal denselben Fehler machen wie damals.
and although my eyes were open they might have just as well've been closed
Ihre Lippen kommen näher. «Lass uns gehen», sage ich. «Ganz unauffällig. Erst ich, dann du, okay?»
And so it was that later as the miller told his tale
Als sie zu mir kommt, in die Kälte, draussen vor der Tür, da wird mir plötzlich klar, dass sie und ich hier keinen Platz mehr haben, an den wir jetzt gehen könnten.
that her face, at first just ghostly, turned a whiter shade of pale
And so it was that later as the miller told his tale
that her face, at first just ghostly, turned a whiter shade of pale
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Wassernot Was wir fürchten, ist in Kapstadt längst Realität.
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Als ich vor neun Jahren nach Südafrika zog, hörte ich als einen der ersten Ratschläge von den Einheimischen, ich solle mich beim Autofahren nicht zu sehr auf das Navi verlassen. Das Land habe zwar Regeln für die Navigation, sagte man mir, aber manche seien zu kompliziert für einen Computer und nur intuitiv zu befolgen: Durch dieses Viertel könne man zwar fahren, jedoch nicht in der Nacht. Durch jenes ebenfalls, aber nur mit geschlossenen Fenstern, vor allem als weisse Person. Es waren oft weisse Südafrikaner, die vom Navi redeten, aber viele Schwarze stimmten ihnen zu. Es sei traurig, sagten alle; traurig, dass das einst geteilte Land anscheinend die Vergangenheit noch nicht vollständig hinter sich gelassen habe. Aber so war es. Das waren die Regeln. Einige akzeptierten sie schmerzvoll als Tatsache der Natur und der menschlichen Rasse. Ich dachte an diese Regeln, als ich im März nach Kapstadt flog, der zweitgrössten Stadt Südafrikas. In den letzten drei Jahren hat Kapstadt besonders unter einer ausserordentlichen Dürre gelitten, die nur etwa einmal in 300 Jahren vorkommt. Und die durch den Klimawandel begünstigt worden ist, wie die meisten Analysten bestätigten. Die Veränderung, die die Stadt in ihrer physischen Erscheinung als Konsequenz der Dürre durchläuft, ist frappierend. Das Kap ist vom Rest des Landes abgetrennt durch eine 1500 Meter hohe Bergkette. Im Nordosten sieht die Landschaft aus wie in den Safari-Broschüren: trocken, heiss und dschungelartig. Aber im Becken zwischen der Bergkette und dem südwestlichen Ende des afrikanischen Kontinents ist das Klima aussergewöhnlich, wissenschaftlich als «mediterran» bezeichnet. Wenn man von den Bergspitzen nach Kapstadt hinunterschaut, auf eine Viermillionenstadt, die sich durch elegante Architektur und schroffe Hänge hervortut, dachte man bis dato vielleicht an Griechenland, wenn Griechenland noch träumerischer wäre: elfenbeinfarbene Häuser, kobaltblaues Meer, Olivenhaine, die opulente Landschaft durchwoben mit den goldenen Bändern und glänzenden Früchten der Weinberge. Gespeist von fünfmal mehr Regengüssen als Südafrikas dürre Zentralregion, ist das Kap eines der vielfältigsten Blumenreiche der Erde, voller riesiger rötlicher Blüten. Dazu Wolkenformationen von aufgeblähten weissen Gewitterwolken bis zu Nebel, der fliesst wie ein Fluss, und Dunst, der wie ein Wasserfall vom Tafelberg hinunterströmt, jener Felswand, die über der Stadt aufragt; das Paradies scheint hier fast Realität geworden zu sein. Oder schien es bis dato zumindest. Viele Teile des Paradieses gibt es nun nicht mehr. Kapstadt setzt sich jetzt aus Beige und Kalkfarben zusammen, der Farbpalette
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der Dürre. Die Rasenflächen und Gärten sind tot. Die riesigen Townships der Stadt – Orte, reserviert für people of color unter dem Apartheid-Regime – unterschieden sich früher von den reichen Quartieren, die sich auf der Atlantikseite des Tafelbergs hinunterrollen, nicht nur geografisch, bequem versteckt hinter dem Berg, wo sie kaum zu sehen sind. Sondern auch durch ihr eigenes, weniger wünschenswertes Mikroklima, sumpfig und dem Wind ausgesetzt, anfällig für Überschwemmungen bei nassem Wetter und in den trockenen, windigen Sommern in einer Smogwolke versteckt. Am Staub, angehäuft in kleinen Verwehungen in den Rinnsteinen, konnte man früher erkennen, wenn man in eine «schlechte» Gegend kam. Heute liegt der Staub überall. Touristen lieben Kapstadt. Der Ort hat nach den Hamptons die zweithöchste «saisonbedingte Fluktuationsrate von Multimillionären» (will heissen: Sommertourismus in Superjachten). Die Stadt ist chic: Technologie-Startups und hippe Restaurants mit Namen wie «The Bombay Bicycle Club» gibt es überall. Sie ist wohlhabend: Neun von zehn der reichsten Viertel Südafrikas befinden sich hier. Ich vermute manchmal, dass Touristen herkommen, weil Kapstadt in Afrika liegt und daher exotisch ist, sie aber gleichzeitig den Kontakt zur schwarzen Bevölkerung grösstenteils vermeiden können. Bantusprachige waren noch nicht hier, als die Europäer ankamen. Sie migrieren nun als Arbeitslose aus ländlichen Gegenden gen Osten in die Stadt, aber Kapstadt hat mit 39 Prozent noch immer einen unüblich kleinen schwarzen Bevölkerungsanteil. 42 Prozent der Einwohner sind coloreds, gemischtrassige Südafrikaner einer multikulturellen, nicht verortbaren Herkunft. Der internationale Flughafen begrüsst seine Besucher mit wandhohen Fotos von Weinbergen, Paraden, Jazzmusikern, staunenerregenden Stränden und Zebras – aber es gibt auffällig wenige Bilder von schwarzen Dörfern und den Stadtlandschaften, die den Rest des Kontinents ausmachen. Innerhalb Südafrikas verhalf dieses Bild Kapstadt zu einem zweifelhaften Ruf: bekannt als Ort für Südafrikaner – und Ausländer –, die nicht offen rassistische Dinge sagen wollen, aber gedenken, an ihren Privilegien festzuhalten. Obwohl der Anteil der weissen Bevölkerung nur 16 Prozent ausmacht im Vergleich zu acht Prozent landesweit, ist diese doch viel sichtbarer hier; die Bars an vornehmen Avenues und die wie Diamanten glitzernden Strandanlagen werden fast ausschliesslich von weissen Gästen frequentiert. Geschichten unverhohlener Diskriminierung von schwarzen Menschen in Restaurants gibt es in Hülle und Fülle: Letztes Jahr wurde ein Parkplatz in einer Hochpreisgegend
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namens Clifton für 83 000 Dollar verkauft. Ich kenne Clifton. Es ist überfüllt, aber es gibt Parkmöglichkeiten. Irgendein Investor zahlte womöglich den Betrag, den zu erarbeiten eine normale südafrikanische Familie über 23 Jahre braucht, um das Privileg zu haben, sich nicht mit car guards – Parkwächtern – auseinandersetzen zu müssen, denjenigen schwarzen oder farbigen Kapstädtern, die sich anstellen, um dein Auto für ein paar Cents zu bewachen. Als ich einmal durch Johannesburg fuhr, sah ich eine Werbetafel einer Kapstädter Immobilienfirma, die Südafrikaner zum «Semigrieren» aufforderte. Es war ein Wortspiel mit «emigrieren», jenem Verb, mit dem viele weisse Südafrikaner seit dem Ende der weissen Herrschaft nach 1994 drohen: dem Auswandern in ein weisseres Land. Für Kapstadt ergab sich daraus eine seltsame Schlussfolgerung: Hierher zu ziehen, war fast genauso gut, wie Afrika ganz zu verlassen.
Ich liess mich von der Spar-Euphorie anstecken –es machte auch Spass
Dies alles hilft zu erklären, warum es im Rest des Landes um die Dürre seltsam ruhig bleibt. Meine Freunde in Johannesburg reden kaum darüber, und es scheint sie nicht zu kümmern. «Geschieht ihnen recht, weil sie ihre Swimmingpools auffüllen!», war ein ätzender Kommentar, den ich hörte. Als der «Tag null» näherkam, an dem die Verwaltung die Hähne zudrehte, schrieb das Magazin National Geographic warnend: «Vier Millionen Menschen müssen Schlange stehen, überwacht von bewaffnetem Sicherheitspersonal.» Die Südafrikaner ausserhalb von Kapstadt gingen davon aus, dass dies die ausgleichende, gerechte Strafe sei. Der Gedanke an eine Person, die 83 000 Dollar bezahlt, nur um einem farbigen Parkwächter aus dem Weg zu gehen, und dann für einen Eimer Wasser schwitzend vor einem Verteilwagen anstehen muss, war schon fast angenehm.
Ich schrieb meinem Freund Paul in Kapstadt, der in einem Apartment in einem Viertel der gehobenen Mittelklasse wohnt, um herauszufinden, ob ich bei ihm unterkommen könne. Er willigte ein – aber nur, wenn ich verstehen wollte, was in seiner Stadt eigentlich vor sich ging.
Was los war, erklärte er, sei nicht nur eine Dürreperiode, sondern eine Art riesiges, ungeplantes, durchgeknalltes und phantastisches gesellschaftliches Experiment. «Ich hoffe, du bist bereit dazu, deine Wasserspar-Grenzen zu testen!», schrieb er mir. «Kein Tropfen verlässt die Wohnung, ausser durch die Toilette. Waschbecken und Badewanne
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sind versiegelt. Die Waschmaschine verwende ich auf kleinster Stufe, und was herauskommt, fliesst in einen 25-Liter-Behälter für zusätzliche
Spülung. Es ist vielleicht alles ein bisschen extrem», räumte er ein. Er und sein momentaner Gast würden nur ungefähr ein Fünftel der 50 Liter pro Tag und Person verbrauchen, die die Stadtverwaltung verfügt habe, sagte er. «Es ist mehr eine Herausforderung als eine
Notwendigkeit», erklärte er. «Aber es macht auch irgendwie Spass!» Im vergangenen Jahr hat der Wasserverbrauch in der Stadt unerwartet um 40 Prozent abgenommen. «Eimerduschen» – oder das Wasser in einem Plastikbecken auffangen, um es wiederzuverwenden – ist nun die Norm. Geschirrspülen mit sauberem Wasser ist ein Luxus; Küchen riechen nach tagealtem Abwaschwasser. Leute stellen übergrosse Behälter in den Hof, um Regenwasser zu sammeln, und ersticken dabei das wenige Gras, das noch wächst. Reiche Südafrikaner haben traditionellerweise penible Sauberkeitsanforderungen, um sich abzugrenzen.
Nun sind sie bereit dazu, einem Besucher tagealten Urin in der Toilettenschüssel zuzumuten, um zu beweisen, dass sie nicht spülen, und es macht sie stolz. Körpergeruch ist kein Tabu mehr. Viele Frauen haben ihre Haarpflegeroutine radikal angepasst: Sie geben natürlichen Locken den Vorzug, um weniger waschen und stylen zu müssen, oder, wie mir eine Frau in einer Diskussion auf einer lokalen Facebook-Seite zur
Dürrebekämpfung schrieb: «Ich experimentiere damit, meine Haare mit einem Pflanzenbestäuber leicht einzusprühen.» Auf der Facebook-Seite über die Dürre, die nun 160 000 Mitglieder zählt, gehört es zum guten Ton, sich gegenseitig anzustacheln. Die Gruppenmitglieder, die aus verschiedenen Gesellschaftsschichten kommen, nennen sich gegenseitig «Wassermitstreiter». Für ihren niedrigen Wasserverbrauch, ihre «Brauchwassersysteme», «Tauchpumpen» und die seltsamen Vorrichtungen, die sie erfunden haben, um den Wasserverbrauch in ihren Häusern sinnvoller zu machen, geben sie sich gegenseitig digitale high fives, also Likes. Je verrückter und selbstgebastelter, desto besser. Monique und Clint Tarling, ein Paar, das mit seinen Kindern am Rand der Innenstadt lebt, zeigten mir eine «nachhaltige Dusche», die sie aus einem 500-Liter-Tank und Holzpaletten gebaut hatten. Die neue Dusche steht auf der Eingangsveranda, aber daran stören die Tarlings sich nicht. Clint baute eine alte Wurmfarm zum Filter um. Monique, die als Hausfrau ausgesetzte Kleinkinder aufnimmt – zwanzig in den letzten sechs Jahren –, entdeckte für sich, dass das Projekt von einer Notwendigkeit zur kreativen Neigung wurde, einer Sehnsucht nach Schönheit,
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von der sie selbst nichts geahnt hatte. Sie dekorierte die neue Dusche mit Farnen und wasserdichten Lichterketten. Magisch. Ihre Kinder duschen extra lange – das Wasser läuft in einem geschlossenen Kreislauf –, nur um in der Dusche stehen zu können. In einem Land voller Empfindlichkeiten, in dem ein Witz der einen Person die andere unakzeptabel verletzt, ist auf dieser FacebookSeite eine relativ seltene Art von öffentlichem Humor vorherrschend. Man macht sich ein wenig lustig über die Anstrengungen seiner Mitbürger. Eine Frau lud stolz ein Bild von ihrer Waschmaschine hoch, die sie an die Wand hochgeschraubt hatte, damit ein Schlauch das gebrauchte Wasser direkt in die Zisterne leiten kann. «Sieht aus wie eine Gaskammer!», kommentierte jemand. «Die Chancen stehen gut, dass man beim Kacken von einer Waschmaschine erschlagen wird», sagte ein anderer. Ich liess mich von der «Wasserspar-Euphorie» Kapstadts anstecken. In der ersten Nacht musste ich glattweg würgen, als mein Freund Paul seine Hände in mein schmutziges Duschwasser steckte, um es für die Toilette herauszuschöpfen. Doch schon ein bis zwei Tage später, als ich bei einem Freund auf der Gäste-Toilette den Deckel öffnete und einen Scheisshaufen erblickte, quietschte ich fast vor Vergnügen. Noch nie war ich so erfreut, ein zuvor hinterlegtes Stück Kot in einer Toilette vorzufinden, die ich selbst gerade benutzen wollte. Wir glauben oft, dass es lange braucht, bis «Normen» sich durchsetzen oder verschieben. Der Kothaufen eines Fremden an einem gutsituierten Ort fühlt sich wie ein Tabu an, wie ein grundsätzliches Zeichen, das dessen Entdecker nicht nur anwidert, sondern auch unsicher macht, als wäre die Umgebung vernachlässigt und beunruhigend unkontrolliert. Doch in Kapstadt wurde der Kothaufen zu einem Symbol von etwas ganz anderem: ein Bedeutungsträger für Verantwortung und Gemeinschaftssinn. Es war mir anfangs unbegreiflich, wie die Regeln sich so plötzlich ändern konnten. Deon Smit half mir, eine Erklärung zu finden. Smit, ein stämmiger 60-jähriger Vorstadtbewohner mit einem TomSelleck-Schnurrbart, war einer der vier freiwilligen Administratoren der Dürre-Facebook-Seite. Beinahe ein Vollzeitjob. «Ich könnte meinen Swimmingpool von meinem Wasserhahn aus auffüllen und wäre noch immer unter der Obergrenze, die die Stadt gesetzt hat», sagte er mir. «Aber das ist falsch! Das Wasser, das ich nehmen würde, gehört jemand anderem.» Smit war als Weisser in Zeiten der Apartheid aufgewachsen. 33 Jahre lang hatte er als Feuerwehrmann gearbeitet, bevor er in Rente
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ging. Ich fragte ihn, warum er sich den ganzen Tag der Facebook-Wasserspar-Seite und anderen erschöpfenden Missionen rund um die Wasserproblematik in Kapstadt widme, obwohl ihm das alles schreckliche Kopfschmerzen bereite. Als Kind habe er «zwei Wünsche im Leben gehabt», erklärte er mir in seinem Büro, während auf seinem ComputerBildschirm private Facebook-Nachrichten von Wassermitstreitern aufpoppten. «Der erste war, Feuerwehrmann zu werden. Und der andere, mich in einem Projekt zu engagieren, bei dem ich etwas für die Gemeinschaft tun kann.»
«Die Dürre hat manche von uns gleicher gemacht»
Bloss war in der Vergangenheit nicht klar gewesen, wer oder was «die Gemeinschaft» eigentlich war. Um die weisse Herrschaft aufrechtzuerhalten, hatte die Apartheid-Regierung behauptet, die schwarzen Territorien von Südafrika seien «souveräne Staaten», obwohl kein anderes Land sie anerkannt hatte. Manchmal sagen die Weissen in Südafrika heute noch «sie» und meinen damit schwarze und «schlechte» Menschen wie korrupte Politiker oder Kriminelle. Es ist in Ordnung, zu jammern: «Sie haben mein Auto gestohlen», bevor überhaupt klar ist, wer es gestohlen hat. Menschen aller Rassen haben immer auch Beziehungen miteinander geführt. Und sie teilten eine gemeinsame Erfahrung, wenn auch von verschiedenen Blickwinkeln aus. Es gab Smit eine gewisse Befriedigung, von der Dürre angespornt, etwas Positives für eine grössere Gruppe Menschen zu tun. Dieses Gefühl beschlich mich bei manchen in der Stadt. Auf der Facebook-Seite reflektierte eine Frau namens Valerie darüber, dass die Dürre sie «aufmerksamer gemacht hat auf diejenigen, die sie umgeben … Es hat manche von uns gleicher gemacht.» Sie nannte es «demütigend und erhebend zugleich». Als ich anfing, zeitgenössische weisse Literatur aus Südafrika zu lesen, fiel mir auf, dass die Zerstörung der Infrastruktur von Privilegierten ein wichtiges Thema war: der Untergang von Häusern, Farmen, Gärten und Swimmingpools bis hin zu der Zerstörung von Toren und Mauern durch Vernachlässigung oder Rache der historisch Benachteiligten. Dies wurde grösstenteils als furchteinflössendes Szenario dargestellt. Doch in mir wuchs langsam das Gefühl, dass dies nicht nur eine Angst, sondern auch eine Phantasie war. In den Büchern bereiteten die Grenzüberschreitungen den privilegierten Figuren ein seltsames Gefühl der Erleichterung. In Mein Verräterherz, das vier Jahre
Illustration: Dario Forlin
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vor Ende der weissen Herrschaft publiziert wurde, sagt die Frau eines weissen Farmers, während sie über die Aussöhnung mit den Verwandten seines Mörders nachdenkt: «Vertrauen kann nie eine Festung sein, ein sicheres Gehäuse gegen das Leben … Ohne Vertrauen gibt es keine Hoffnung auf Liebe.» Nach der Einführung der Demokratie jedoch bauten sich sowohl reiche wie auch Mittelklasse-Südafrikaner Festungen: Hohe, mit Eisenspitzen bewehrte Mauern umgaben die Häuser. Viele dieser Häuser haben nicht einmal eine Klingel, um unbekannte Besucher abzuschrecken. Stattdessen tragen sie ominöse Schilder mit einem Totenschädel oder dem Namen der Sicherheitsfirmen darauf. Verbringt man ein bisschen mehr Zeit mit den Reichen oder Weissen, merkt man, dass sie sehr wohl ein Bewusstsein von der Vergänglichkeit ihrer «Festungen» haben. Dass diese nicht überleben können – oder sogar sollen. Ein Freund aus der Nähe von Johannesburg sinnierte jüngst darüber, dass er und seine Frau «im tiefsten Innersten» wüssten, dass die Weissen in Südafrika mit Hunderten Jahren der Ungerechtigkeit «davongekommen» seien. Seine Frau würde das bloss niemals zugeben oder ambivalente Gefühle ausdrücken gegenüber ihrem FünfZimmer-Haus oder ihrer abgeschotteten Lebensweise, aus Angst, sie würde sich zum «Ziel von Vergeltung» machen: Persönlich vermutet mein Freund «das Gegenteil». Nämlich, dass die Wut der Schwarzen sich genau deshalb entfacht, weil die Weissen sich weiterhin absondern. Und still bleiben. Die Ansicht seiner Frau gewinnt meist, da sie als vorsichtiger gilt. Doch was, wenn es eine naturgemachte Entschuldigung gäbe, die Mauern des Absonderns und der Stille einzureissen und ein anderes Leben auszuprobieren? Wäre das wirklich so schlecht? Der Historiker Jacob Remes von der New York University, der menschliches Verhalten während Katastrophen untersucht, erklärte mir, dass während «plötzlicher» Katastrophen – wie etwa Hurrikanen oder Erdbeben – das Gefühl von Gemeinschaftssinn anschwillt, dies aber nicht unbedingt für langsamer geschehende Katastrophen gilt. Es könne vorhergesagt werden, dass die Reichen versuchen würden, sich aus «allen Unannehmlichkeiten herauszukaufen». Doch was ich über Kapstadt geschrieben hatte, brachte ihn dazu, sich zu fragen, ob nicht vielleicht die höheren Klassen auf eine Gelegenheit warteten, um ihren Nachbarn und sich selbst zu beweisen, dass es «wirklich so etwas wie eine Gesellschaft gibt».
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Gegen Ende meines Besuches sagte Smit, er wolle mir seinen Rasen zeigen, eine erbärmliche Staublandschaft. «Du kannst dir nicht vorstellen, wie smaragdgrün er war», sagte er mir und schüttelte den Kopf. Viele der reicheren Kapstädter wertschätzen ihre Gärten. Sie fungieren als mikroskopische Länder, sorgsam gepflegte, vermeintlich unantastbare Eden hinter ihren Mauern, gegenüber der Unbeständigkeit des nun integrativen Gemeinschaftsraumes. «Diese kleine Rasenfläche», sagte Smit, «war mein kleines Königreich.» Als ich ihn fragte, ob er traurig sei, dass der Rasen gestorben ist, lachte er nur. «Ich muss mich anpassen», sagte er. «Er ist weg. Na und?» In einer ehemals «weissen» Nachbarschaft namens Newlands stehen täglich Tausende Bewohner von Kapstadt an, um an einer natürlichen Quelle Wasser zu bekommen. Abgesehen von einem kleinen
Polizeihäuschen, das die Autos überwacht, wird die Quelle von keiner
Autorität verwaltet. Ein 42-Jähriger Inder namens Riyaz Rawoot arbeitete 14 Monate an der Infrastruktur der Quelle – eine lange Vorrichtung aus Beton, Ziegelsteinen, Metallständern, PVC und Schläuchen, die das
Wasser in 26 Ausläufe verteilt –, vor denen eine ausserordentliche Vielfalt von Menschen mit Krügen wie auf einer Kommunionbank kniet.
Rawoot erklärte, er habe die Infrastruktur gebaut, weil er einen ethnischen Hintergrund habe, bei dem es normal sei, «alles mit allen zu teilen». Anwar Omar, den ich über die Facebook-Seite kennengelernt und dem ich gesagt hatte, wie sehr mir seine Dusche, bestehend aus einem
Insektizid-Spray, gefiel, insistierte, dass ich mir die Quelle anschauen müsse. Er sagte, ich würde etwas sehen, das meine Meinung darüber, was in der Welt möglich sei, verändern würde. Das Interessante an der Quelle ist, dass sie einem ehemals gemischten Viertel entspringt (heute ist es weiss) – die Art Viertel, die in
Südafrika Spannungen hervorrufen, weil sogar Langzeitbesitzer von
Häusern sich immer noch Sorgen machen, jemand könne rechtlichen
Anspruch auf ihr Land geltend machen. Tatsächlich hatten Rawoots
Vorfahren zwei Strassen weiter weg von der Quelle gewohnt. «Menschen von überall in den ‹Cape Flats› gehen hin», flüsterte Omar mir zu.
Einige kamen von so weit her wie Mitchell’s Plain, einer Township, die mehr als zehn Meilen entfernt liegt. «Sie wollen zu ihren Gewässern zurück», sagte Omar. Noch interessanter allerdings war eine andere Tatsache: Trotz allen
Spannungen, trotz ihren Ängsten schienen viele weisse Bewohner die
Stimmung an der Quelle zu geniessen. Und sie war tatsächlich unglaublich: Eine Massenszene, etwa 60 Menschen in Flip-Flops, Bademänteln,
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Kopftüchern, schicken Privatschuluniformen und hautengen Kleidern, wirbelten um Harleys und halb defekte Fahrräder, schoben Wasserkannen in Kinder- und Einkaufswagen, selbstgebastelten Laufkatzen und auf Skateboards hin und her. Rucksäcke und leere Wasserflaschen lagen überall verstreut wie in einem Schulhauskorridor zur Mittagszeit. Ein 16-Jähriger machte einen Handstand nach dem nächsten für ein paar Leute. Rawoot verteilte derweil Eis am Stiel mit Traubengeschmack.
Die Stimmung war irgendwie ehrerbietig: Menschen glitten anmutig umeinander herum, deuteten leise an, welcher Ausfluss am meisten Wasser hergebe, lenkten die Wagen von anderen, gaben gefüllte Kannen in organisch entstandenen Schlangen weiter. Heutzutage existiert der Traum von einer nicht hierarchischen Gesellschaft kaum noch; Anarchismus ist höchstens noch ein Sound für trashige Schülerbands. Doch an der Quelle kam das Gefühl auf, als wäre der Traum wiederbelebt. Alles funktionierte auf einfache Weise, wie selbstverständlich.
Abdulrahman, ein älterer Muslim, erzählte mir, er habe in den Townships 48 Jahre lang als Getränkehändler geschuftet und Erfrischungsgetränke verkauft. Er war es leid, zu verkaufen. Er wollte geben. Vor ein paar Wochen kam er zu der Quelle, um ein paar Kübel zu füllen, und ertappte sich dabei, wie er eine Stunde lang den Schlauch hielt. Zwei Tage später machte er die 10-Meilen-Wanderung noch einmal – nur, um den Schlauch zu halten. Er trage absichtlich Schuhe mit Löchern, «damit das Wasser abfliessen kann», sagte er mir und lachte laut dabei. Er war nass von Kopf bis Fuss. Als ich ihn fragte, warum er diese unbezahlte Arbeit mache, schaute er mich an und lachte noch einmal, so, als wäre es offensichtlich. «Alle sind gestresst», sagte er. «Alle hetzen.» Aber weil er den Schlauch halte, «können sich die Leute entspannen»!
«Geht’s schnell genug?», fragte er eine fremde Blonde erwartungsvoll. Von ihrem Hals hing ein Kreuz. «Es ist grossartig!», sagte sie. Er strahlte voller Stolz.
Rawoot, der die Rohre für die Quelle gebaut und sie auch bezahlt hatte, arbeitet normalerweise als Physiotherapeut. Er führte mich in sein «Büro» an der Quelle – ein Fleck ausgetrocknetes, mit Zigaretten übersätes Gras – und sagt mir, er liebe es, Menschen «vom Schmerz zur Freude» zu führen und sie dabei intimer zu berühren als ein normaler Arzt. Schmerz, sinnierte er, «ist wie ein ausgetretener Pfad»: Es gibt vielleicht eine ursächliche Verletzung, aber nach und nach gewöhnen sich Körper und Seele an den Schmerz und spüren ihn auch dann noch, wenn die Verletzung offiziell verheilt ist. Rawoots Arbeit als Physiotherapeut besteht darin, seine Hände auf die Körper der Patienten
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zu legen, sie zu mobilisieren und einzelne Körperteile subtil neu zu arrangieren, so erklärte er es mir. Nicht, um sie zu «reparieren», sondern um ihnen zu helfen, sich bewusst zu werden, dass in ihnen bereits die Fähigkeit schlummert, sich anders zu fühlen.
«Es gibt eine neue Denkweise. Eine Verlagerung.»
Als Kind, sagte er, sei er bestürzt und betrübt gewesen über Südafrikas «Nur für Weisse»-Schilder. Offiziell als «indisch» klassifiziert, hatte Rawoots Grossmutter weisse Vorfahren. Er ging immer wieder mit seiner Tante zum Hauptbahnhof, wo sich Weisse, Coloreds, Inder, Chinesen und Schwarze in der Haupthalle mischten – jedoch alle in andere Richtungen gingen. Das Bild dieses brodelnden Kosmopolitismus ist ihm geblieben. Das hatte er sich erhofft, als Nelson Mandela 1994 zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas gewählt wurde. «Aber es geschah nicht wirklich», sagte er, zur Quelle hinblickend. Stattdessen leiden, 15 Meilen von Newlands entfernt, in Khayelitsha, der riesigen, in den achtziger Jahren erbauten und von Millionen Schwarzen bewohnten Township, die meisten Familien an Versorgungsunsicherheit und leben in Hütten. Cindy Mkaza, eine Pädagogin, die dort arbeitet und aufgewachsen ist, sagte mir, das Vergnügen an der Dürre habe ihre Schüler nicht wirklich erreicht. Die meisten von ihnen hätten sowieso weder einen Garten noch eine Dusche, und während Jahren war das unterversorgte Wassersystem immer wieder ohne Vorwarnung abgeschaltet worden. «Es ist, als würden sie sowieso schon dieses Dürre-Leben führen», sagte sie. Die städtische Wasserbegrenzung kümmert sich nicht um die Grösse der Haushalte, ausser ein Bewohner unternimmt ein beschwerliches Berufungsverfahren. Und so leiden die Ärmeren verstärkt unter der Wasserknappheit. Weil sie häufig mit viel zu vielen Menschen in einem Haus leben, das eigentlich nur für eine Person gedacht ist. Shaheed Mohammed, der in einer anderen verarmten Township namens Athlone lebt, erzählte mir, dass sein Nachbar jeden Morgen um vier aufstehe, um für seine stattliche Grossfamilie Wasser in Eimern zu besorgen – bevor ein Gerät, das die Stadt an ihren Sanitärinstallationen angebracht hat und das das Wasser limitieren soll, sich einschaltet und den Hahn zudreht. Als ich Cindy Mkaza, der Pädagogin, von der Frau aus der Facebook-Gruppe erzählte, die gesagt hatte, sie sei «von Demut erfüllt», da sie sich um das Wasser sorgen müsse, lachte sie nur. Sie sagte, die
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Nachbarn ihrer Mutter, die sich selten die drei Dollar leisten könnten, um mit dem Minibus-Taxi in die Stadt zu fahren, seien sich der Bemühungen der reicheren Kapstädter nicht bewusst. Und sie war besorgt, dass die Mittel- und Oberschicht immer noch mehr Optionen hätte als die Armen, falls die Situation wirklich ausser Kontrolle gerate. Die Reicheren könnten immer noch nach Wasser bohren – oder wegziehen. Mohammed hingegen fühlte eine neue Art Neugier von Weissen oder Nachbarn aus höheren Klassen, von denen er nicht viel Liebe gewohnt war. «Es gibt eine neue Denkweise. Eine Verlagerung», sagte er. Bei Treffen einer Gruppe namens Water Crisis Coalition – Wasserkrisenvereinigung –, deren Mitglieder in erster Linie People of Color sind, fielen ihm Kapstädter auf, die normalerweise nicht in die Townships kommen. Weisse, Reiche, sogar ein Zionist war dabei. Historisch gesehen, reflektierte Mohammed, seien sie auf so viele Arten «an den Rändern. Aber wir haben immer von dieser Art der Einheit geträumt. Wir waren nicht sicher, ob die Rhetorik, die behauptet, dass die Weissen die ‹Kolonialisten› sind, wirklich immer stimmt oder stimmen muss.» Mohammed war erfreut, zu sehen, dass seine neuen Verbündeten bereit dazu waren, Fähigkeiten und Mittel zur Verfügung zu stellen, die er und seine Gefährten nicht hatten. «Diese Leute haben oft einfacher Zugang zum Internet. Sie können bei der Regierung Beschwerde einlegen und Vorschläge machen, wie grössere Haushalte behandelt werden sollen.» Und mehr noch als das: Mohammed war berührt davon, wie die Weissen und Reicheren seinen Nutzen anerkannten. Bei einem Treffen der Water Crisis Coalition lobten weisse Teilnehmer eine gigantische Demonstration, die People of Color in den 1960er Jahren abgehalten hatten, um gegen Rassenungerechtigkeit zu protestieren, als Inspirationsquelle, wie Leute sich für Veränderung verbünden können. Eine weisse Frau sagte zu ihm: «Wir brauchen die Unterstützung der Cape Flats. Ohne die Unterstützung der Cape Flats sind wir nichts.» Die Dürre hat viel grössere Veränderungen gebracht als nur bezüglich der Einstellung zum eigenen Wasserverbrauch. Einer, der in einer reichen Gegend Autos bewacht, sagte mir, er sehe nun mehr Anwohner, die zu Fuss gingen – etwas, was die Wohlhabenden in gewissen südafrikanischen Vierteln praktisch nie tun. An seiner Quelle machte mich Rawoot auf eine Gruppe von Trägern aufmerksam, die Kleingeld verdienen, indem sie für andere Kannen herumschieben. In Südafrika kommen sich ungelernte Arbeiter, wie zum Beispiel Autobewacher, oft wegen Revierstreitereien ins Gehege. Doch hier sassen
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die Träger, die gerade erst angekommen waren, geduldig auf dem Randstein und überliessen die Arbeit den Erfahreneren. «Sie behandeln sich spontan mit einer neuen Art von Respekt», sagte Rawoot. «Eine neue Kultur der Höflichkeit.» Es gibt eine menschliche Grundangst vor den Chancenlosen. Davor, dass sie eines Tages ihre Wut in Brutalität umsetzen, wenn es keine von oben auferlegte Ordnung gibt. Getreu dem Motto «Jeder kämpft für sich allein.» Diese Angst mag heute noch stärker sein als früher, in einer Zeit, in der Phänomene wie der Brexit oder Donald Trump einigen das Gefühl geben, der Volkswille sei gleichzusetzen mit selbstzerstörerischem Stammesdenken, und in der Eliten wie die Manager von Cambridge Analytica uns darüber informieren, dass Menschen nichts anderes sind als Bündel, die man nach Lust und Laune manipulieren kann, indem man ihre Ängste anzapft. Wir nennen es heute weise, anzunehmen, Menschen seien nur durch Eigennutz, Status und Angst zu motivieren. Es gilt als unklug, zu glauben, dass wir massenhaft motiviert werden könnten durch den Wunsch, Respekt zu zeigen – oder durch Liebe. Ich traf mich mit Lance Greyling, dem Direktor für Wirtschaft und Investition in Kapstadt, weil er versprochen hatte, mir etwas über die Dürre zu verraten, was die wenigsten begreifen würden. Greyling gab zu, praktisch nichts vom Wort «Wasser» gehört zu haben, als er 2015 der Regierung beitrat. Die Niederschlagsmuster hatten während Jahrzehnten zwar langsam und stetig abgenommen, aber die Stromversorgungsengpässe schienen viel dringlicher. Dann wuchs plötzlich das Bewusstsein für eine Dürrekrise. Im Mai 2017 sprach die Bürgermeisterin ein Gebet am Fusse des Tafelbergs, um den Himmel um Wasser anzuflehen. Anthony Turton, ein führender Experte für Wassermanagement, verkündete, Kapstadt brauche «höhere Gewalt». Gott oder irgendeine unglaublich riesige, fette, phantastische Maschine. Greyling, ein fröhlicher 44-Jähriger, lacht heute über die verzweifelten Ideen, für die die Regierung warb, damit sie sich nicht nur darauf verlassen musste, dass die Bewohner von Kapstadt ihr Verhalten änderten: eine Entsalzungsanlage aus Saudiarabien, einen Eisberg aus der Antarktik herschleppen. Im November stellte die Stadt strategische Kommunikationsspezialisten ein, die sich einig waren, die beste Lösung sei, den Menschen höllische Angst einzujagen. Die Stadtbeamten gaben ihr sanftes und nettes Bitten auf, es solle doch Wasser gespart werden, und setzten auf Schwarzmalerei, Blossstellung und Gewalt. Sie setzten die Wasserbegrenzungsgeräte ein, von denen mir Mohammed später
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erzählen sollte, landläufig bekannt unter dem Namen «Aqua-Loc». Sie wirkten sich auf Wassernutzer in etwa so aus wie ein Magenband bei Adipositas-Patienten: Wenn du den Versuch wagst, mehr als das tägliche Kontingent zu beziehen, dreht es dir einfach den Hahn zu.
2025 wird die Hälfte der Menschheit in Gebieten mit Wasserknappheit leben
Techniker installieren nun jede Woche 2500 solche Geräte. Und im Januar verkündete die Bürgermeisterin, dass der ominöse «Tag null» nicht länger nur eine Möglichkeit, sondern eine schiere Gewissheit darstelle. Der Provinzgouverneur warnte vor drohender Anarchie. «Bis jetzt», fügte er traurig hinzu, «haben über 50 Prozent der Bewohner von Kapstadt die Bitten, Wasser zu sparen, ignoriert.»
Doch die Magenband-Wasserspargeräte funktionierten. Die Stadtbehörden konnten erkennen, wie der Wasserverbrauch rapide sank. Aber Greyling sagte mir, die dystopischsten Behauptungen der Regierung seien «nicht wirklich wahr». Der grösste Teil der Bevölkerung von Kapstadt hatte den Wasserverbrauch gesenkt, obwohl einige es nicht schafften, unter die Limitierung zu kommen. Die Folgerung, dass der «Tag null» eine Art gottgegebene rote Linie sei, nach der das Wasser in der Stadt «versiegen» würde, war auch nicht ganz präzise; der Tag stand nur für jene Höhe des Wasserspiegels im Stausee, unterhalb deren die Stadt beschlossen hatte, das Wasser noch aggressiver zu rationieren.
In gewissem Sinne waren diese Massnahmen äusserst mutig. Greyling sagte, die Botschaft, die die Regierung an die Öffentlichkeit habe senden wollen, sei auch gewesen: «Schaut, Leute, wir haben es nicht komplett im Griff. Es liegt genaugenommen in euren Händen.» Eine Regierung, die mit Gewalt führt und gleichzeitig ihre Beschränktheit zugibt, statt das Blaue vom Himmel zu versprechen, ist eine erstaunliche Abkehr von der Art, wie normalerweise heutzutage Politik gemacht wird.
Doch erfuhr die Regierung dafür nicht viel Anerkennung. Und wird es wahrscheinlich auch nie. Daniel Aldrich, der an der Northeastern University die Widerstandsfähigkeit nach Katastrophen untersucht, erklärte mir, dass der Verlust an Vertrauen einer Bevölkerung in ihre Regierung nach einer Katastrophe quasi typisch sei, ja sogar unvermeidlich. Aldrich hatte umfangreiche Feldstudien in Japan nach dem Tsunami von 2011 durchgeführt, der mitverantwortlich gewesen war dafür, dass sich Japan von einem der «vertrauensseligsten Länder ins
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Gegenteil verwandelte». Menschen schmiedeten neue Allianzen gegen einen gemeinsamen Feind, vor allem einen natürlichen, erklärte er. Doch verschwinde dieser Feind, suchten sich die Menschen, unglücklich beim Gedanken, den neuen Glauben in die anderen wieder aufgeben zu müssen, ein neues Ziel.
Als der Vorsitzende der führenden Partei in Kapstadt Anfang März verkündete, die Bewohner sollten die drastische Reduktion des Wasserverbrauchs feiern und der Tag null könne nun wohl abgewendet werden, kochten die Kapstädter vor Wut. Einige nannten die Regierung dämlich, weil sie die aktualisierte Wahrheit verkündete, die es den Bürgern unter Umständen erlauben würde, wieder zu ihren trägen Gewohnheiten zurückzukehren. Andere fragten sich, ob die Krise eine reine Erfindung gewesen sei, um die Bevölkerung dazu zu bringen, höhere Steuern zu bezahlen. Einige liessen gar Drohnen über Kapstadts grösstem Stausee kreisen, um herauszufinden, ob er insgeheim voller Wasser war. (Er war es nicht.)
Im Jahr 2025 wird die Hälfte der Weltbevölkerung in Gebieten mit Wasserknappheit leben. Das macht Kapstadt zu einem speziellen Fall: Auf der einen Seite lässt sich beobachten, wie wagemutig und effektiv mit einer beängstigenden Ressourcenkrise umgegangen werden kann; auf der anderen Seite ist die Situation Kapstadts ein abschreckendes Beispiel dafür, wie energische Führung darin endet, dass sich die Allgemeinheit gegen die Regierung stellt und zukünftige Problemlösungen unmöglich macht. In meiner Zeit in der Stadt schien sich ein Kreislauf von immer stärker werdendem Misstrauen und einer wachsenden Feindseligkeit zwischen Regierung und Bürgern zu etablieren. Es ist nicht unser Fehler, es ist alles euer Fehler, so fasste Greyling die Rückmeldungen zusammen, die er bekam. Es schien ihn zu verletzen. Er seufzte, als wir über Mohammeds Aktivistengruppe redeten. «Leider sind viele ihrer Ansichten unsinnig», sagte er. Und als ich Rawoots Quelle erwähnte, stöhnte er auf.
Laut Rawoot und einem Zeugen bezeichnete ihn ein Bezirksrat an einer öff entlichen Versammlung im März als «verrückt». Ein Professor, der eine soziologische Abhandlung über die Quelle verfasst hatte, sagte mir, viele Beamte «wollten und konnten nicht glauben», dass Rawoot seine Arbeit an der Quelle nur machte, um zu helfen. Sie waren überzeugt davon, dass er von jemandem Geld erhielt, um das Image der Regierung zu untergraben. Stadtbeamte nannten die Quelle ein öffentliches Ärgernis, ein Gesundheitsrisiko, chaotisch konstruiert von Menschen, die keine Ahnung von zentraler Planung hätten. Sie wollen das Wasser in
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einen von der Stadt verwalteten Swimmingpool umleiten, was zweifellos ihren Charakter zerstören würde. «Es gab Streit an der Quelle», sagte Greyling, und die Stadt stationierte dort Polizei. Doch sagten mir Cindy Mkaza, die an der Quelle nach wie vor Wasser holt, wie auch der Professor, dass Streit ausserordentlich selten sei. Als ich jemandem, der für die Regierung arbeitet, die wunderschöne Szenerie beschrieb, die ich selbst an der Quelle erlebt hatte, antwortete er mir warnend: «Ich habe keine Gegenbeweise. Aber nimm an, dass es viel mehr darüber herauszufinden gäbe, wenn du wirklich die ganze Geschichte willst.»
«Alhamdulilah», schrieb Bahia. «Danke, Regenfee!», schrieb Wayne
Als ich nach Hause zurückkehrte, nach Johannesburg, betätigte ich die Toilettenspülung. Aber zuvor hielt ich inne, um nachzudenken. Eine Therapeutin empfahl mir einst, mit einem Freund, mit dem ich Probleme hatte, in die Ferien zu fahren. Sie sagte, der Ortswechsel könnte helfen, dass wir uns in einem anderen Licht sähen. «Aber wir kommen ja dann wieder an denselben Ort nach Hause», wandte ich ein. «Eine Erinnerung», sagte sie, «ist auch eine Möglichkeit.» Eigentlich existiert längst ein Konsens darüber, dass uns das Unvorstellbare erwartet: Wettlauf um Ressourcen, anhaltende Globalisierung und die dazugehörigen Kulturkämpfe, das mögliche Zusammenbrechen des Wirtschaftssystems, auf dem die moderne Zivilisation beruht. Und je länger wir warten, desto schwieriger wird es, etwas gegen diese Veränderungen zu tun. So fühlt es sich an. James Workman, Autor und Wasser-Analyst, fing die herrschende Angst in seinem 2009 erschienenen Buch Das Herz der Trockenheit ein. «Wir regieren nicht über das Wasser», schrieb er. «Das Wasser regiert über uns.» Ohne Sicherheit über die Versorgung mit dieser wesentlichen Ressource – mit ihrer Allgegenwärtigkeit, in industrialisierten Gesellschaften zu grossen Teilen versteckt, unvorhersehbarer geworden durch den Klimawandel – könnte die Gesellschaft auseinanderbrechen. Workman sorgte sich, «dass das unverblümte anthropologische Zeugnis der menschlichen Natur zeigt, dass jeder und jede von uns immer im Eigeninteresse handelt». Kapstadt suggeriert das Gegenteil. Es könnte sein, dass Menschen nur auf etwas warten, das sie herausfordert, eine Gelegenheit, über ihren politikmüden Zynismus hinauszuwachsen und zu beweisen, dass sie gute Nachbarn sein können, auf mehr als nur Geld und Erfolg
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aus sind und zusammen raffinierte Kniffe erfinden, um ihre neuen Peiniger zu überlisten. Es könnte sein, dass gewisse Arten von Katastrophen – vor allem natürliche, die einem neutraler und akzeptabler erscheinen als politisch gesteuerte – vielleicht Räume für Veränderung aufmachen in Bereichen, in denen wir bislang glaubten, festzustecken. «Es gibt einen Riss in allem Gottgemachten», sagte Ralph Waldo Emerson, ein amerikanischer Philosoph und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, «nachtragende Umstände schleichen sich unversehens ein, sogar in die wilde Poesie, in der die menschliche Phantasie versucht, wagemutig Urlaub zu machen.» «Die Wunde ist dort, wo Licht eindringt», sagt Rumi. Vielleicht wissen wir, dass die langanhaltende Zeit der Entwicklung und Selbstbereicherung bald ein Ende haben wird. Vielleicht wissen wir, im tiefsten Inneren, dass wir zurückmüssen zum Menschenwerk, das in der Natur verankert ist und sich nicht darüber hinaus erhebt. Vielleicht wird es einigen sogar Erleichterung bringen, vielleicht Freude. Vielleicht stellt sich heraus, dass wir offener sind als erwartet, etwas mühevoller zu leben. Es ist schwierig, vorherzusagen, welche der Veränderungen in Kapstadt bleiben werden. Aber wenigstens werden sie zu einer Erinnerung. Ich erinnere mich, wie ich vom Haus der Tarlings, weg von der Rückseite des Bergs, Richtung Kapstadt fuhr, als es plötzlich in Strömen zu regnen begann. Aus einem neuen Instinkt heraus oder einem schlafenden, der nun geweckt wurde, fuhr ich an den Strassenrand und schaute ruhig zu, wie sich die Tropfen auf der Windschutzscheibe sammelten und das Licht der Strassenlampen einfingen, ähnlich jener Lichtkreise, die im Kino einen Film ankünden oder die Geburt eines winzigen Universums. Ich loggte mich in die Facebook-Gruppe ein. 400 Leute hatten bereits etwas gepostet. «Habe eben bei einer Sitzung einem Raum voller Menschen mitgeteilt, dass es regnet, und alle haben gejubelt!», schrieb Lesley. «Nimm einen Schirm, aber wir werden den Regen nicht aufhalten», schrieb Moegsien. «Jetzt regnet es in Mitchell’s Plain», schrieb Carmelita. «Regen in Sea Point», schrieb Gillian. «Danke, Gott! Unser edler Erlöser!», schrieb Cobie. «Alhamdulilah», schrieb Bahia. «Danke, Regenfee!», schrieb Wayne. «Gepriesen sei seine Nudeligkeit. R’amen», sagte Roxanne.
Aus dem Englischen von Raphael Urweider.
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KNAPP Es gibt ein Wort für akuten Wassermangel: Wasserstress. Er stellt sich ein, wenn zu grosse Mengen aus Süsswasserreserven entnommen werden. Dann können sich diese nicht ausreichend genug wieder auffüllen. Um Wasserstress zu vermeiden, will die Uno, dass nicht mehr als 25 Prozent der erneuerbaren Wasserreserven, die sich aus Flüssen und Niederschlagsmengen ergeben, angetastet werden. Mehr als zwei Milliarden Menschen weltweit leiden laut der Uno bereits unter dem Phänomen. Und es werden in Zukunft mehr sein, denn seit den 1980er Jahren steigt der Wasserverbrauch weltweit um etwa ein Prozent pro Jahr. Laut den Prognosen wird dieser Trend anhalten – was bis 2050 einem Anstieg von 20 bis 30 Prozent des jetzigen Verbrauchs entspräche. Verschlimmert wird die Situation noch durch den Klimawandel, der zu mehr Dürren und häufigeren Hitzewellen führt.
KOMPLEX Eins steht fest: Es gibt am Klimawandel nichts zu beschönigen. Er ist bereits jetzt spürbar. Aber: Auch wenn die negativen Auswirkungen deutlich überwiegen, gibt es positive Nebenwirkungen. So schreibt etwa das Deutsche Umweltbundesamt auf seiner Website: «Mildere Winter können zum Beispiel die gesundheitlichen Auswirkungen von Kälteperioden verringern, die Ausfallzeiten in der Bauwirtschaft reduzieren oder unseren Bedarf an Heizenergie senken. Auch in anderen Bereichen sind positive Effekte möglich.» Und durch Greta Thunberg und die «Fridays for Future»Bewegung erlebt die Jugend derzeit eine Politisierung, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat, nicht nur in Deutschland.
ZUR AUTORIN Eve Fairbanks, 36, lebt seit zehn Jahren in Südafrika. Sie wurde von ihrem Huffington Post-Redaktor nach Kapstadt geschickt, um von dort über die Wasserkrise zu berichten. «Sobald ich ankam, realisierte ich, wie faszinierend die Situation vor Ort war», sagt sie. «In Kapstadt vollzieht sich der demografische und soziale Wandel sehr schnell.» Fairbanks glaubt nach wie vor, dass aus ökologischen Krisen wie der Dürre in Kapstadt Raum entstehen kann für konstruktive soziale Entwicklungen. «Die Bewohner erlebten ihre Stadt in der Krise in einer positiveren Art und Weise – obwohl sie nicht so perfekt funktionierte wie sonst.» Diese Veränderung halte immer noch an, sagt sie. Und ein bisschen hat sich auch ihr eigenes Verhalten verändert nach der Recherche: Fairbanks spült jetzt die Toilette nicht mehr nach jedem Gang. Ihren Rasen sprengt sie aber immer noch.
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#38 — Wein aus Nordeaux — von Fabian Federl
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