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LAUSANNE
AUDE SEIGNE Lausanne
Es ist nicht deine Geburtsstadt, es ist die Stadt nebenan. Das erste Mal muss ein Schulausflug ins Olympische Museum gewesen sein. Später gab es eine Lesung russischer Dichterinnen durch deine schauspielernde Schwester und eine Ausstellung ebenfalls russischer Impressionisten in der Hermitage. Und da waren zwei Freundinnen. Eine von ihnen verliess ihre Heimatstadt, um in der Lausanner Theaterschule Teintureries zu studieren, die andere nahm jeden Tag den Zug, um mit dir gemeinsam die Universitätsbank zu drücken. Russland, das Theater, die Freundschaft, sie alle haben mit deiner Entdeckung von Lausanne zu tun. Im Unterschied zu deiner Geburtsstadt Genf, von der du seit Jahren jedes Viertel durchstreifst, setzt sich dein Bild von Lausanne aus einzelnen Tupfern, unabhängigen Pixeln zusammen, die du nach und nach zusammenführst. Erst scheinen die Orte, die du besuchst, in keiner Verbindung zueinander zu stehen, das fällt dir jedes Mal wieder auf. Man sagt dir: Du brauchst nur den Aufzug zu nehmen, und schon bist du da, es ist unter der Passerelle, nein, ganz woanders, nicht da, wo du meinst, gleich darunter, aber du musst zuerst hinauf. Die Ortsbezeichnungen helfen dir auch nicht viel weiter. Du erfährst, dass es einen Platz namens Tunnel gibt, eine Kreuzung namens Chauderon, Kochkessel, ein französischsprachiges Boston und ein Viertel namens Flon, das viel protziger ist, als seine klangliche Nähe zu Flan nahelegt. Im Lauf der Zeit ziehst du Linien, setzt Oberflächen und Volumen ein. Nach deinen Reiseerfahrungen sollte man meinen, dein Orientierungssinn sei nicht allzu schlecht. Hier aber brauchst du mehr, um dich zurechtzufinden, mehr an allem, an Zeit, an Orientierung, an Erfahrung. Denn hier ist man kein Erdbewohner, man ist Fisch oder Vogel. Man arrangiert sich mit dieser zusätzlichen Dimension, mit Höhen, Tälern und mit Brücken, die über kein Wasser führen. Die ersten Entdeckungen finden nachts statt: 142 eine Aufführung, eine Wohnungseinweihung, eine Party, um einmal woanders zu tan-
zen als in der Disco. Unter Studierenden hält sich das Gerücht, Lausanne sei besser zum Tanzen, relaxter, es gebe mehr Auswahl für weniger Geld als in Genf. Dann beginnt die Stadt auch für dein Berufsleben immer wichtiger zu werden. Im Café de Grancy triffst du dich zum ersten Mal mit einem Verleger, er ist jünger als du, er sagt sofort, er werde dein Buch herausbringen, du kritzelst ein Gedicht auf die Rückseite der Rechnung und bewahrst es auf, obwohl es nicht gut ist. Ihr werdet Freunde. Nach dieser Begegnung änderst du dein Leben. Du wirst Schriftstellerin. Du bereist die Schweiz, dann Europa, und Lausanne bildet einen guten Mittelpunkt. Du wirst hier zu Lesungen eingeladen, zu Arbeiten im Kollektiv, zu Interviews. Beruf und Freundschaft verschmelzen schliesslich miteinander, inzwischen ist es hier, wo du Sofas belagerst, wo deine Augen leuchten, wo du Geheimnisse preisgibst und entgegennimmst. Du legst dich am Festival de la Cité in einen Park, unterhältst dich bis spät in die Nacht auf der Terrasse des Grenette, du läufst auf eine Pagode zu, schreibst im Garten eines Museums, erwachst in einer Wohnung unterhalb des Bahnhofs. Deine Freunde ziehen oft um; da sie verschiedene Höhenlinien bewohnen, kannst du auf sie zählen, um deine geografischen Lücken zu schliessen. Deine Kenntnis differenziert sich. Du erfährst, dass Mont und Belmont über Lausanne nicht wirklich zu Lausanne gehören, dass die Metro früher ficelle hiess, Schnur, dass du die Einzige bist, für die Ouchy sich anhört, als tue etwas weh – denn eigentlich ist es ein eher schickes Viertel. Eines Tages bricht die Covid-19-Pandemie deine Verbindung zur Stadt ab, in der du dich vorher jede Woche aufgehalten hast. Du gehorchst den Behörden, fährst nicht mehr Zug, siehst niemanden mehr, obwohl es dir sehr zu schaffen macht. Dir wird bewusst, dass im Falle eines Weltuntergangs, der viel abrupter und radikaler wäre als diese Pandemie – und unter Weltuntergang verstehst du vor allem das Ende der Telekommunikation – die einzige Möglichkeit, deine Freunde wiederzufinden, diese Orte wären, die du kennst, die Adressen, die du bei deinem Couchsurfing auswendig gelernt hast. Als du endlich wieder nach Lausanne kommst, ist die Stadt im wahrsten Sinn des Wortes exotisch geworden: fremd und tropisch. Am Bellerive-Strand erlebst du einen Moment der Ewigkeit. Niemand weiss, ob diese Krise vorbei ist oder ob sie noch immer über uns schwebt, dies jedoch hebt die Vergänglichkeit, das Einzigartige jedes Augenblicks hervor. Ihr seid vier befreundete Menschen am Strand, ihr schwimmt, lacht, trinkt Wein in der milden Nacht, dann fliegt am Himmel ein Flugzeug vorbei, und es hat, da seit Monaten niemand ein Flugzeug sah, etwas von einem Ufo. Danach liegt ihr alle schweigend im Sand unter den Sternen, und du bist dir sicher, dass ihr alle an dasselbe denkt, dass Unsterblichkeit die anderen sind, dass die Liebe, im weitesten Sinn, eine physische Energie ist, die die Wesen miteinander verbindet. Was du an Lausanne am wenigsten magst, ist der Abschied. Da er meist abends stattfindet, ist es oft ein Abstieg, geografisch wie emotional. Allein auf dem Bahnsteig, wartest du auf den Zug, und der Zug kommt nicht, weil er irgendwo von einem anderen abhängt, weil er der letzte ist. Du reisst dich von Lausanne los wie ein Schiffbrüchiger von seiner Insel, und du weisst, dass niemand von ausserhalb in der Lage wäre, die Stadt genauso zu sehen wie du, als eine Metropole winziger Erinnerungen. Sie schillert. In vier Dimensionen. Der Platz, den sie in deinem Leben eingenommen hat, ist impressionistisch.
Aus dem Französischen von Lis Künzli.
Von Hum bis Tokio RUBRIK — von Dmitrij Gawrisch Während Sie diesen Text lesen, wachsen die Städte. 510 100 000 Quadratkilometer beträgt die Oberfläche der Erde. Städte bedecken nicht einmal ein Prozent davon (0,87 Prozent). Über die Hälfte der Weltbevölkerung (57 Prozent) von sehr bald 8 Milliarden Menschen lebt in Städten. Im Jahr 2030 wird dieser Anteil bereits 60 Prozent betragen. Luc Bessons Science-Fiction-Streifen Das fünfte Element von 1997 spielt im Jahr 2263. Er zeigt die Erde als eine einzige, von Hochhäusern gespickte Stadt. Als kleinste Stadt der Welt gilt Hum auf der kroatischen Halbinsel Istrien. Das mittelalterliche Örtchen, das halb so gross ist wie ein Fussballfeld, zählt rund 20 Einwohner. An manchen Tagen übersteigt die Zahl der Touristen diejenige der Lokalbevölkerung um das 25-Fache. Die grösste Stadt der Welt ist der Ballungsraum Tokio, in dem heute 37 Millionen Menschen leben. Die Metropolregion erstreckt sich über eine Fläche von knapp 2 Millionen Fussballfeldern. In Dänemark gilt eine Ortschaft mit 200 Einwohnern bereits als Stadt. In Deutschland braucht es dafür schon 2000 Einwohner, in der Schweiz, in Italien und Spanien 10 000, in Japan 50 000. Die Uni Münster stellt deshalb fest: «Eine allgemeingültige epochen- und regionenübergreifende Definition für die Stadt existiert nicht.» Aufgrund der fehlenden Definition lässt sich nicht präzise feststellen, wie viele Städte es auf der Erde gibt. Mit über 150 000 Einwohnern soll es etwas über 4400 Städte geben, 470 Millionenstädte, 34 Megastädte mit jeweils mehr als 10 Millionen Einwohnern. 21 davon liegen in Asien, 6 in Nord- und Südamerika, 4 in Europa und 3 in Afrika. 37 Länder haben Hauptstädte, die nicht ihre grössten Städte sind. Darunter die USA, China, die Schweiz und Liechtenstein. Die tiefstgelegene Stadt der Welt – 250 Meter unterhalb des Meeresspiegels – ist zugleich nach aktuellem Kenntnisstand die älteste: die palästinensische «Palmenstadt» Jericho. Erste archäologische Funde, darunter Befestigungsmauern, datieren von 9000 v. Chr. Rund 20-mal wurde die Stadt im Laufe ihrer Geschichte zerstört und wiederaufgebaut. Goldfunde sind der Grund, weshalb in Peru mit La Rinconada die höchstgelegene Stadt der Welt gegründet wurde. Lange hält es aber keiner der rund 50 000 Menschen auf 5100 Meter über Meer aus. Besonders kalt ist es in Jakutsk. Im Winter fällt das Thermometer in der 300 000-Einwohner-Stadt in der russischen Region Jakutien (Sacha) regelmässig unter minus 40 Grad Celsius. Es wurden auch schon minus 63 Grad Celsius gemessen.
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Den Hitzerekord hält Mekka in Saudiarabien: In den Jahren 2010 und 2016 betrug die Jahresdurchschnittstemperatur 32,9 Grad. Venedig? St. Petersburg? Gar Pittsburgh, wie viele Amerikaner standhaft behaupten? Falsch! Die Stadt mit den meisten Brücken ist Hamburg, rund 2500 davon finden sich in der Hansestadt. Die Altstadt von Venedig hat «nur» 400 davon. Im kolumbianischen Quibdo regnet es fast jeden Tag (an durchschnittlich 304 Tagen im Jahr), oft mehrere Stunden lang. Dabei fallen im Jahresverlauf rund 9 Meter Regen. Noch mehr Regen erhält Mawsynram in Indien, fast 12 Meter. Dort regnet es seltener als in Quibdo, dafür heftiger. Als regenärmste Stadt der Welt gilt Assuan in Ägypten: Dort fällt weniger als ein Millimeter Niederschlag pro Jahr. Trotzdem haben die Bewohner mehr als genug Wasser: Assuan liegt direkt am Nil. Aus dem Weltraum betrachtet, ist die amerikanische Glücksspiel-Metropole Las Vegas die hellste Stadt der Erde, es folgt dicht dahinter Hongkong. Bei Nacht kaum zu sehen ist dagegen Pjongjang. Als Wiege der Wolkenkratzer gilt nicht New York, sondern Chicago. Dort entstand 1885 das erste Hochhaus, 42 Meter, nur 10 Stockwerke hoch. In London entstand um 1890 die erste U-Bahn. Das längste U-Bahn-Netz der Welt besitzt mittlerweile die chinesische Metropole Schanghai, es ist über 800 Kilometer lang. Die tiefste U-Bahn-Station ist Arsenalna in Kyjiw. 1960 eröffnet, liegt sie 105 Meter unter der Erde und sollte im Falle eines Angriffs auf die ukrainische Hauptstadt auch als Luftschutzbunker dienen. Erstmals als Schutzbunker benutzt wurde Arsenalna am 24. Februar 2022. Der Moskauer Kreml ist die einzige mittelalterliche Festung der Welt, die noch immer in Betrieb ist. Im 11. Jahrhundert begründet, umfasst der Kreml fünf Paläste und vier Kathedralen. Er ist Museum und Sitz des russischen Präsidenten in einem. New York ist die diverseste Stadt der Welt. Mindestens 800 verschiedene Sprachen werden in der amerikanischen Metropole gesprochen, nur 4 von 10 Familien sprechen zu Hause Englisch. Das älteste Restaurant der Welt ist das «Sobrino de Botín» in Madrid. Seit 1725 verköstigt es seine Gäste. Die Betreiber behaupten, dass die Herdflamme in der Küche seit der Eröffnung ununterbrochen brennt. Während Sie diesen Text gelesen haben, hat die Stadtbevölkerung weltweit um 510 Personen zugenommen. Während Sie dieses Heft lesen, wird sie um über 21 000 Menschen zunehmen.
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