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ZÜRICH
JUDITH KELLER
Zürich
Jede Stadt hat ihre Tiere. Die Katzen Istanbuls, die Hunde Bogotás, die Hühner Kinshasas. Ich sitze am Bellevue auf einer Bank an der Promenade. Es ist neun Uhr abends, der See schimmert in einem silbrigen Blau. Leute essen am Wasser Oliven und Sushi, trinken aus Plastikbechern Aperol Spritz, viele Sprachen sind zu hören. Der See schwappt über das Ufer. Die Schwäne schwimmen höher als sonst. Die Katzen Istanbuls, die Hunde Bogotás, die Hühner Kinshasas. Die Schwäne Zürichs. Zürich und seine Schwäne. Zürich und die tausend Schwäne. Die eigenartigen Schwanschaften zu Z. In den Schwänen findet die Stadt ihren Widerhall. Alles, was es in Zürich gibt, spiegelt sich wider in ihrer Gestalt. Verkleidet in ihre weissen Federn, tritt aus dem dunklen Wasser die Stadt selbst hervor. Während ich das denke, geht ein merkwürdiges Flattern durch einen der Schwäne. Die Teile seines Gefieders bewegen sich, als gehörten sie nicht zum selben Leib. Es sieht seltsam mechanisch aus, als wollte er auf die 148 geheimnisvollen Scharniere aufmerksam machen, die die Stadt zusammenhalten. Die Schwäne kommen und gehen so plötzlich und doch ähnlich langsam wie die Streifenwagen, die auf der Seepromenade in Zeitlupentempo auf und ab fahren. In aufreizender Trägheit steuern sie jeden an, der ihren Verdacht erregt. Süchtig nach Bestätigung, wie die Stadtpolizei, fühlen sie sich von jeder Bewegung gemeint, glauben, alles, was da ins Wasser falle – auch ein E-Bike –, sei für sie bestimmt. Hochnäsig werfen sie ihre Hälse zurück, während sie ihre Bewunderer mustern. Keiner der da Sitzenden ist es wert, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie brauchen keine neuen Freunde, bewegen sich in alten Kreisen. Nichts kann sie überraschen. Unberührt bieten sie Hunderten von Handykameras die Stirn. «Bro, there is no food», ruft ein junger Mann, der ein Date mit einer freundlichen GothicFrau hat, einem Schwan zu. Dieser hat mit 148 dunkel-gierigem Blick nach seiner Zigarette geschnappt. Die Zürcher Schwäne sind süch-
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tige Schwäne. Abends sieht man sie nervös am Ufer des Bürkliplatzes herumlungern, sich mit ihren Schnäbeln kratzen und plötzlich aus dem Schlaf auffahren. Sie leben prekär, doch geniessen sie einen gewissen Schutz. Dass kürzlich einer von ihnen mit einem Messer geköpft wurde, blieb nicht ungestraft. Fischige Luft hängt über ihrem Schlafplatz, und das sonst so makellose Gefieder wirkt gelblich und eingefallen. «Du Model!», sagt die Gothic-Frau zu einem jungen Schwan, der noch braune Stellen trägt und eine feine Punkfrisur. Und dann, während er faucht: «Oh, der ist wütend.» Er: «Aber so entstehen Bilder!» Stolz zeigt er ihr seine Aufnahmen. Sie sprechen über die Stadt. «Ich habe mir so lange richtige Freunde gewünscht, bis ich gemerkt habe, dass sie vor meiner Nase herumlaufen.» Der junge Mann stammt nicht aus Zürich, fühlt sich aber nun wohl hier und tunkt seine Füsse ins Wasser. Alles, was er sagt, klingt weise. Geläutert? Sie, die Gothic-Frau, lächelt. Es ist eine gnädige Geste der Stadt, dass sie einen Bescheidenheit und Resignation nur schlecht voneinander unterscheiden lässt. Die Lebensqualität in der Stadt Zürich, heisst es in den oft zitierten Statistiken, sei hoch. Man kann sich nicht beschweren. Und er ist ja auch wirklich schön, der See. Die Bäume sind grün. Die Luft ist gut! Wer hier länger lebt, kann sich schlecht dagegen wehren: Eines Tages wird sie oder er erschrocken feststellen, auf eine realistische Weise zufrieden geworden zu sein. Es geschah schleichend. Wut und Auflehnung haben ihren Weg in die dafür bestehenden Einrichtungen gefunden und einem Realitätssinn Platz gemacht, der anerkennt, dass die Leute Verschiedenes wollen, Ungerechtigkeiten von Mehrheiten gewollt sind. Ein blaues Tram gleitet über die Quaibrücke. Feine, klebrige Mücken schwirren fast unmerklich in der Luft. Aber Zürich, denke ich, du blaue, graue, schimmernde, leuchtende, geblendete, matte Stadt der latenten Sattheit und des Hungers danach, warum machst du mich so ungeduldig? Was ist nur mit dir los? Abendröte ist aufgezogen. Ein dunkles Schiff gleitet über den See, und der Mond ist aufgegangen. Unparteiisch hängt er am blaugrauen Himmel. Die Federn haben sich mit einem samtenen Dunkelblau vollgesaugt und überqueren die von feinen Wellen zerfurchten Lichtsäulen. «Ich würde dich voll gern streicheln», seufzt die Gothic-Frau sehnsüchtig. Sie sagt es zu einem Schwan, aber es klingt, als spräche sie zu der Stadt selbst. Doch das Tier entzieht sich ihr und schwimmt weg. «Hast du Stress, Mann?», ruft sie ihm verletzt hinterher. Die Schwäne machen jetzt Geräusche, die ich von Fröschen kenne. Ach, Z.! Kannst du denn nicht lieben? Täglich beobachte ich dich, umwerbe dich, schmeichle dir. Das kleinste Zeichen deiner Liebe stimmt mich versöhnlich, erfüllt mich mit Glück und Hunger nach mehr. Und du? Was willst du? Wo bist du? Wann kommst du, Z.? Das Wasser liegt nun schwarz in der Bucht, die Trams leuchten. In der Zwischenzeit haben die Schwäne begonnen, mit dem Schnabel das Wasser abzuklappern, als suchten sie etwas, was auch ich suche. Sie sind auf der Spur. Eines Tages werden sie den richtigen Stoff finden, ihn mit ihren Schnäbeln aus dem Wasser klopfen und schnatternd beginnen mit dem, was fehlt. Und bis dahin … Warum nicht eine neue Brille kaufen, einer seriösen Arbeit nachgehen, ein Tinder-Profil erstellen, den Laptop zum Apple Store bringen? Es gibt auch Museen, manche sind sogar gratis! Und Partys. Den Zoo, die Stadtgärtnerei, das Freibad Letzigraben. Die Schwäne, wie gesagt. Das Literaturhaus. Und gute Freunde. Sogar Liebe. Also gut!
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