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NEUCHÂTEL
ODILE CORNUZ Neuchâtel
Zärtlich will ich dich behandeln, krauses Gras. Walt Whitman
Am besten gefällt mir die Stadt da, wo sie spriesst. Zum Beispiel in den Ritzen der alten Mauer, die sich meine Strasse entlangzieht, bevor sie einen Bogen schlägt und dann steil abfällt. Quer durch die städtische Landschaft klammern sich Streifenfarn, Steinpfeffer, Zimbelkraut und rote Spornblumen an den Stein. Diese Pflanzen brauchen keine Pflege. Sie starren auf den Asphalt und spiegeln sich in den weiter oben gelegenen Gärten. Sie entwickeln Strategien, um mit wenig auszukommen. Im Vorbeigehen betrachte ich sie. Ich habe ihre Namen gelernt und füge sie meinem geistigen Herbarium hinzu. Damit kann ich die Welt um mich herum besser in Besitz nehmen. Ein Stück weiter, im Englischen Garten, erstreckt sich nördlich der Lindenallee ein üppiges Band, dem akkurat gemähter Rasen und hübsch arrangierte Blumen erspart geblieben sind. Ein sich verjüngender Streifen Unterholz (von zehn zu zwei Schritten Breite und hun146 dertdreissig Schritten Länge), in dem sich Farn, Waldmeister und Geissbart ausbreiten. Frische, Ruf des Waldes – den man viel zu oft ignoriert. Und wenn wir ihn heute für einmal nicht ignorieren würden?
Der Vorteil der Zeit, der vergehenden Zeit innerhalb eines Raums, irgendeines Raums, sind die vielen Variationen. Die Verwandlung der Stadt (durch Baustellen, Bauten, Grabungen), aber auch der Natur, die sich in ihr entfaltet: Verfärben des Laubs, Aufblühen der Blumen, Reifen der Früchte, Wachsen der Stämme, Fallen der Blätter. Nur eine Jahreszeit, einen einzigen Zeitraum eines Ortes zu kennen, heisst, ihn nicht zu kennen. Man muss denselben Weg mehr als tausendmal gehen, jedes Mal etwas Neues entdecken (sich selbst, verändert durch eine kleine Begebenheit, eine Lektüre, ein Ereignis, ein Gefühl, eine Erinnerung; ein Vogel, der sich hinsetzt oder über den Himmel gleitet, eine Katze auf 146 der Strasse, Abfall, der unter einem Baum gestrandet ist). Es kommt auf die Aufmerksam-
keit für das Detail an – und auf die stetige Erneuerung dieser Aufmerksamkeit.
Was monumental ist und bereits benannt, finden Sie auf einer Karte im Verkehrsverein. Die Kollegiatkirche und das Schloss, der Gefängnisturm und die Museen (sehr gut, die Museen), der Hafen und seine grossen Ausflugsschiffe, die gepflasterten Gassen. Das alles ist keineswegs belanglos, hüpft aber auch nicht vor Freude. Die Freude entspringt den Zwischenräumen, den Rissen, einem plötzlichen Aufblühen, einem jähen Lichteinfall. Die Freude, das ist ein Löwenmaul in einer Asphaltspalte, Stockrosen auf ihren hohen Stielen, die Rückkehr der pfeifenden Mauersegler. Es ist das spontane Entstehen, die Natur, allem zum Trotz, ihr hartnäckiges Überleben, ihre nachverfolgbaren Kreisläufe. Dies zumindest macht meine tägliche Freude in der Stadt aus. Das Unerwartete, die Überraschungsgäste, die unverhofften Geschenke, das Aufwachen aus einem langen Keimschlaf. Wenn Sie sich an einem Tag ohne viel Sonne und grosse Menschenmassen an den See setzen, werden Sie mit ein wenig Glück draussen einen Biber vorbeischwimmen sehen oder einen Flusskrebs auf den Kieselsteinen am Strand. Und natürlich Schwäne und Stockenten, vielleicht aber auch das kurze Aufblitzen eines Eisvogels oder das schwungvolle Versinken eines Haubentauchers im Wasser.
Sind Sie genug zwischen See, Strassen und Parks flaniert auf der Suche nach Spuren des Lebens und möchten tiefer in die Natur eindringen, gehen Sie selbstverständlich zum Botanischen Garten hinauf, der sich im bezaubernden Vallon de l’Ermitage befindet. Sie beugen sich über die winzigen Schilder, auf denen lateinische Namen und Herkunftsorte stehen: eine Musik von hier und anderswo und gleichzeitig eine Reise durch die Zeit. Ein fossiles Palmblatt erinnert Sie, falls nötig, an die relative Bedeutung unserer Spezies, bevor es weitergeht: alpine Steingärten, Bienen, Kräuter, Sie können Atem schöpfen im hohen Gras und nicht mehr an die Stadt denken, den ständigen Bass der Motoren nicht mehr hören (aber noch immer den Ruf der Schiffssirene in der Ferne). Für einen Moment befinden Sie sich in der Abstraktion der postindustriellen Zivilisation. Vergessen sind Bildschirme und künstliche Intelligenz, genauso wie die Blockchain oder die Besiedlung des Mars. Sie beobachten, wie sich ein Schmetterling auf einer Blume niederlässt, und für den Augenblick ist das genug. Sind Puste und Neugier noch nicht erschöpft, gehen Sie weiter hinauf in den Wald von Chaumont bis zum Combacervey-Teich. Im Frühjahr findet man hier Eier, aus denen Kaulquappen schlüpfen, heiss begehrt von den Molchen, die wiederum gerne von Strumpfbandnattern gefressen werden. Über alldem fliegen Libellen, deren abgelegte Haut noch an den Schachtelhalmen haftet und damit die Erinnerung an ihr früheres Leben. Kommen Sie, beflügeln wir uns selbst, behalten wir unsere Haut, aber nehmen all diese Schönheit, diese Klarheit, diese Metamorphosen in uns auf.
Um zurückzukehren, muss man nur den Hügel wieder hinuntergehen – es gibt viele Wege. Geben Sie acht, nicht die Schnecken zu zertreten (sich bücken, diejenigen, die sich in der Mitte der Treppe befinden, an ihren Häuschen fassen und ein Stück weiter weg ins Gras legen). Andere Blätter warten auf Sie, diejenigen der Bücher. Vielleicht finden Sie in der Bibliothek oder in der Boutique du livre Walt Whitmans Grashalme. Lassen Sie sich, mit diesem Buch unter dem Arm, ein wenig durch die Altstadt treiben, die in ihrem gelben Stein leuchtet. Vergessen Sie nicht, jeden Ansturm des Lebens auf alles Erstarrte zu begrüssen. Verschmähen Sie keinen geheimen Garten und kehren Sie, zu anderen Zeiten des Jahres, an dieselben Orte zurück.
Aus dem Französischen von Lis Künzli.