Barrys erben

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Barrys Erben

u n d wie S 채 m i zu s e i n e m Ber n h a r di n er k a m May a De laqui s

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Barrys Erben

und w i e S 채m i zu seinem Bernhardiner kam Maya Delaquis

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...unter anderem, und wie dieses Buch entstand Mit meinem Bernhardiner besuchte ich 1976 das erste Mal als aktive Ausstellerin die In­ ternationale Hundeausstellung in Lausanne. Ich erhielt «Dino von der Zähringerstadt», geworfen am 1. Mai 1973 in Freiburg, als Geschenk. Er wurde zur Zucht angekört, hatte aber keine Nachkommen. Viel habe ich damals von diesem Rüden gelernt und erfahren. Dino war äusserst temperament­ voll und wachsam. Besonders im Schnee fühlte er sich ganz offensichtlich wohl und konnte kaum genug kriegen, darin herum­ zutollen. Spuren suchen war seine grosse Passion. Ich bot ihm Gelegenheit dazu. In­ teressiert an dieser Rasse, reiste ich damals auf den Grossen Sankt Bernhard ins Hospiz, um da Seinesgleichen anzutreffen. Einerseits beeindruckt, war es andererseits für mich absolut neu, Hunde hinter Glasscheiben zu erleben. Mir fehlte es da am direkten Bezug zu den Tieren. Ich machte mir darüber viele Gedanken. Durch die Veränderung meiner wohnlichen Verhältnisse konnte ich nach Dinos Tod keinen so grossen Hund mehr halten und widmete mich anderen Rassen. Mit einem Airedale Terrier arbeitete ich re­ gelmässig auf dem Hundeplatz, bildete ihn aus und absolvierte Prüfungen. An Hunde­ ausstellungen waren wir erfolgreich. Im Schweizer Club für Terrier begann meine Karriere als Internationale Exterieur-Spezial­ richterin für zehn verschiedene Terrierrassen. Seit 1984 züchtete ich unter dem Zuchtnamen

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«King Ransom» zuerst Lakeland Terrier und später japanische Shibas. Der erste Shibawurf der Schweiz, mit anerkannten Ahnentafeln, fiel in meiner Zuchtstätte, die mit dem Golde­ nen Gütezeichen der Schweizerischen Kyno­ logischen Gesellschaft ausgezeichnet wurde. Während Jahrzehnten zeigte ich meine Hunde an Ausstellungen und errang mehrere nationale und internationale Titel, darunter einen Titel an der Welthundeausstellung 1985 in Amsterdam mit «King Ransom’s Aladdin», einem Rüden aus eigener Zucht. Jahrelang arbeitete ich in der Organisation für Hundeausstellungen mit. Seit Jahrzehnten wirke ich im Schweizerischen Klub für Nordi­ sche Hunde in der Zuchtkommission und als Vizepräsidentin mit und befasse mich intensiv mit Zuchtzulassungen. Ich bildete mich weiter zur Spezialrichterin für 29 Nordische Rassen und als Zuchtstätten- und Welpenkontrolleu­ rin. 2003 gründete ich als Hauptinitiantin mit einigen Interessierten den Rasseklub «Schwei­ zer Klub Asiatische Spitze». Einige Jahre betreute ich diese Rassen als Zuchtwartin und bin dafür ebenfalls Spezialrichterin. Neben der Ausbildung von Richteranwärtern am­ tierte ich bei deren Abschlussprüfungen als Expertin. Doch aus den Augen verlor ich die Bernhardiner nie. Und plötzlich waren sie wieder präsent. 2014, zum 200. Todestag des legendären «Barry», sollte gemeinsam mit dem Weber Verlag ein Buch entstehen, das Gross und Klein ansprechen sollte.


Meine Begeisterung war gross. Sofort be­ gann ich zu schreiben und zu zeichnen. Die Geschichte «Barrys Erben  … und wie Sämi zu seinem Bernhardiner kam» nahm ihren Anfang. Nun beschäftigte ich mich intensiv mit geschichtlichen Recherchen. Ich wollte in meinem Buch auch einiges Wissenswertes über das Thema «Barry» zusammentragen, um das Ganze mit einem etwas profunde­ ren Hintergrund zu ergänzen. In Martigny besuchte ich die Bernhardiner-Zuchtstätte «du Grand St. Bernard», fuhr weiter auf den Grossen Sankt Bernhard ins Hospiz und schaute mir die beiden Museen an. Fotos und Detail­skizzen entstanden. Später nahm ich Verbindung auf mit Dr. Marc Nuss­ baumer, Kurator und Hundespezialist des Naturhistorischen Museums Bern. Wir kann­ ten uns von früher, aus jener Zeit, als ich dort sporadisch arbeitete. Marc hatte für sein Buch «Barry vom Grossen Sankt Bern­ hard» umfassend, aufwändig und sorgfältig recherchiert. Seine gesammelten Informa­ tionen erwiesen sich für mein Projekt als ausgesprochen wertvoll und hilfreich. Das enorme, fundierte Wissen, die stete Hilfsbe­ reitschaft und die interessanten Gespräche mit Marc halfen mir, die ganze Materie bes­ ser zu verstehen und nachzuvollziehen. Sein «Kontrollblick» wachte über die Richtigkeit meiner geschichtlichen Angaben.

Frau Ruth gestaltete sich sehr freundschaft­ lich. Die beiden standen für entsprechende Auskünfte begeistert zur Verfügung. Wie freute ich mich jedes Mal über die Zusam­ menkünfte mit Thomanns und den betagten Bernhardinern, die mich immer einnehmend begrüssten und sich anschliessend hinge­ bungsvoll mit willkommenen Streichelein­ heiten verwöhnen liessen. Wie bei all meinen Projekten begleitete mich mein Ralf auch diesmal zu allen diesbezüg­ lichen Unternehmungen. Ralf, Tobias und mein Bruder Wolf «dienten» als Modelle für die Darstellung der Chorherren. Sämi wurde für diese Geschichte erfunden. Wie bereits bei anderen meiner Bücher er­ wies sich die gute Zusammenarbeit mit der Verlegerin und ihren Mitarbeitern als spedi­ tiv und zielorientiert. Auch bei diesem Werk war es mir ein Anlie­ gen, Tiere zu unterstützen, und so geht pro verkauftes Buch ein Betrag an die Bernhar­ diner der «Fondation Barry». Bei all den Menschen, die mir tatkräftig und motivierend zur Seite standen, möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Ohne sie wäre das nun vorliegende Buch nie Realität geworden!

Der Kontakt zum Geschäftsführer der «Fon­ dation Barry», Ruedi Thomann, und zu seiner

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Langsam neigte sich der Sommer seinem Ende zu. Länger wurden die abendlichen Schat­ ten, merklich kürzer die Tage. Bald zauberte der Herbst einmal mehr bunte Farbkleckse auf Sträucher und Bäume. In der Bernhardiner-Zuchtstätte mit dem Namen «Fondation Barry du Grand Saint Bernard» in Martigny gabs ein freudiges Ereignis. Die Hündin Karina hatte drei gesunde Welpen zur Welt gebracht. Zwar galt ein Dreierwurf als eher bescheiden, kam es doch bisweilen vor, dass doppelt, ja sogar dreimal so viele Junge fielen. Man war allseits dankbar, dass die Kleinen wohlauf und kräftig waren und bereits kurz nach der Geburt eifrig von der warmen Muttermilch tranken. Der Hundemutter ging es gut. Karina freute sich ganz offensichtlich über den Nachwuchs und umsorgte ihn liebevoll. Sie liess es sogar zu, dass man die Neugeborenen kurz in die Hände nahm, rundherum begutachtete, auf eine Waage legte, Geschlecht, Gewicht und Farbe notierte und sie nachher wieder zu ihr zurücklegte. Es war üblich, dass alle Namen der Welpen eines Wurfes mit demselben Anfangsbuchstaben begannen. Man wählte «Basco» für den Erstgeborenen, «Barry» für den Zweiten und «Banday» für den Dritten. Die drei strammen Rüden brachten 750, 740 und 720 Gramm Geburtsgewicht auf die Waage. Alle waren weiss mit glänzenden, beinahe schwarzen Flecken. Erst später würden die Fellzeichnungen zu einem kräftigen Rotbraun aufhellen, mit rauchschwarzen Abzeichen im Gesicht und an den Ohren.

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der zweitgeborene war ein besonders hübscher Rüde. Mitten auf dem Kopf trug er einen dunk­ len Tupfen, den man entsprechend als «Krönchen» bezeichnete. Deshalb erhielt er, zum Andenken an seinen legendären Stammvater Barry, den sel­ ben Namen. Die Hauptbeschäftigungen der Kleinen waren Trinken und Schlafen. Nach zwölf Tagen öffneten sie die Augen. Mit wackeligen, wie in Zeitlupe aus­ geführten Bewegungen begannen die Welpen kurze Zeit später herumzu­ krabbeln.

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Sie entwickelten sich bestens. Am liebsten kletterten sie auf ihrer Mutter herum, um, sozu­ sagen von oben herab, ihre nähere Umgebung zu erkunden. Als Karinas Kinder etwas grösser waren, erzählte sie ihnen von Barry, ihrem weithin berühmten Vorfahren, der unzählige Menschen gerettet hatte, die sich in den Bergen bei Nebel, Sturm oder Schnee verirrten oder in Lawinen geraten waren.

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Dank seiner unübertroffenen Spürnase konnte Barry damals die herbeigeeilten Augusti­ ner-Chorherren vom Sankt-Bernhard-Hospiz mit ihren Angestellten zu den verschütteten Wanderern führen und helfen, die Verunglückten mit seinen kräftigen Pfoten auszugraben und zu bergen. Karina war stolz darauf, von diesem bemerkenswerten, menschenfreundlichen Bernhardiner abzustam­ men, der als Urvater der Rasse gilt. Sie sprach von den Glaubensbrüdern, die oben im Hospiz in felsiger Höhe begonnen hatten, diese Hunde zu züchten, um ihre hervorragenden Eigen­ schaften an Nachkommen weiterzuvererben, und erklärte, dass damit der Grundstein für die Rassezucht der Sankt-Bernhards-Hunde, die berühmteste, älteste Hunderasse der Schweiz, gelegt wurde. Die Welpen hörten aufmerksam zu und sahen staunend und voller Respekt zu ihrer Mutter auf. Obwohl sie nicht alles verstanden, was ihre Mutter ihnen erzählte, fühlten sie, dass es etwas ganz Ausserordentliches sein musste und dass sie selber da offenbar eine gewisse Rolle spielten. Neben einem grosszügigen Innenraum samt Wurfkiste konnten die Welpen auf einem eingezäunten Grundstück im Freien herumtoben. Mit ungefähr drei Wochen durften sie ein erstes Mal hinaus. Welche Umstellung, welch ein Abenteuer! Aufmerksam beobachtet von Mutter Karina, setzten sie vorsichtig, sich duckend, die kühle Luft schnuppernd, Pfote für Pfote auf den seltsam un­ gewohnten Grasboden. Sie blieben nicht lange draussen und waren froh, als sie wieder in die wohlige Wärme im Innern des Hauses zurückkehren konnten. Nach und nach wurden ihre Ausflüge ins Freie ausgedehnter. Sie gewöhnten sich an die kühlere Temperatur draussen und an das unter­ schiedliche Umfeld.

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In Martigny rutschte Sämi im Schulzimmer unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er konnte es kaum erwarten, dass die Schulglocke schrillte und das Zeichen zum Schulschluss und somit zum Aufbruch nach Hause ankündigte. Eilig sammelte er seine Siebensachen zusammen und machte sich schleunig auf den Heimweg. Ausser Atem und mit roten Backen kam er dort an. Es war ein sonniger, warmer Herbsttag. Am Nachmittag wollte die ganze Familie in der nahe gelegenen Bernhar­ dinerzuchtstätte einen der Welpen auswählen. Ein ganz besonderer Hund sollte es sein. Vater hatte früher einen Bernhardiner besessen und der Ge­ danke, wieder einen solchen Hund anzuschaffen, beschäftigte ihn bereits seit einer Weile. Da Sämi ein Einzelkind war und auch bleiben würde, sollte der Hund vor allem ihm gehören. Der Junge wohnte mit seinen Eltern am Rand der Stadt in einem schmu­ cken Haus, das genug Umschwung und Platz für einen grossen Hund bot. Natürlich hatte man die Sache vorher lang und breit besprochen und genau bestimmt, wie die Haltung und Pflege des Tieres organisiert werden sollte und wie Sämi seinen Teil dazu beitragen konnte. Und so war das Kind ver­ ständlicherweise vor freudiger Erwartung ganz aufgeregt. Vater hatte sich den Tag frei genommen. Es war nicht die erste Begegnung mit den Welpen in der Zuchtstätte. Vor­ gängig hatte Sämi bereits mehrmals die erwachsenen Hunde besucht, um sich mit deren Umgang etwas vertraut zu machen. Auch die trächtige Hün­ din Karina hatte Sämi kennengelernt und war ganz ausser sich gewesen, als sie Welpen bekommen hatte. Von da an verfolgte er begeistert, wie die Welpen langsam heranwuchsen, und besuchte sie, wann immer er konnte. Nach dem Essen zog die Familie los. Vom Personal der Zuchtstätte wurden sie alle sehr herzlich empfangen. Man kannte sich ja bereits. Karina befand sich mit ihren Kleinen im Aussenge­ hege. In Begleitung einer Angestellten durfte sich Sämi ganz allein, ohne Eltern, zu der Hundefamilie gesellen. Kurzerhand legte er sich ins Gras. Er wollte auf Augenhöhe mit den Hundekindern sein.

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Barry sauste als Erster auf ihn zu. Bevor der Junge recht wusste, wie ihm geschah, spürte er erst eine kalte Nase, dann eine weiche, feuchte Zunge, die ihm übers ganze Gesicht fuhr. Was für ein Erlebnis! Sämi strahlte, er war selig vor Glück. Der kleine Hund wollte kaum mehr von ihm lassen, wedelte unablässig mit dem Schwanz und stiess leise, fiepende Laute aus. Sämi kraulte sein weiches Fell und war von dem kleinen Kerlchen absolut hingerissen. Der Junge fühlte sich wohl inmitten der kleinen Hundeschar. Mutter Karina beobachtete aufmerksam das Treiben ihrer Jungen und merkte sofort, dass keine Gefahr bestand. «Und», fragte Vater nach einer Weile, «gefällt dir einer der Welpen?» «Jaaaaa», jauchzte der Junge, «der mit dem hübschen Fleck auf dem Kopf, der ist der liebste. Er kam sofort zu mir und hat mir Küsschen gegeben!» Die Eltern blickten einander an und schmunzelten. Sie würden Barry, wenn er alt genug war, zu sich nach Hause holen. Nun kam Sämi sich unglaub­ lich erwachsen vor, hatte er doch den Bernhardinerwelpen ganz allein aus­ gesucht! Oder war es vielleicht gerade umgekehrt? War es Barry, der ihn ausgewählt hatte?

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Für heute wurde der Besuch beendet. Hundemutter und Welpen brauchten wieder Ruhe. Die Angestellte versicherte, dass Sämi samt Familie jederzeit ihren Welpen besuchen könnten, denn dieser Kontakt sei gut für das spätere Zusammen­ leben. Sämtliche Mitarbeiter gaben sich grosse Mühe, die zukünftigen Hundebesitzer gut auf das Leben mit einem Bernhardiner vorzubereiten. Stets wurde da­ rauf geachtet, dass die jungen Hunde nur Familien anvertraut wurden, die sich zur Haltung eines so grossen Hundes eigneten. Dazu mussten sie über wohlwollendes Verständnis, eine gute Portion Hundeverstand und viel Zeit und Platz verfügen. Dementsprechend investierte man viel Zeit, gab diesen Menschen Gelegen­ heit, die Hunde kennenzulernen und zu erfahren, was in Zukunft auf sie zukam. Der kleine, muntere Sämi war immer willkommen. Er brachte Ab­ wechslung für Mensch und Tier ins Haus. Voller positiver Eindrücke kehrte die Familie nach Hause zurück.

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Die letzten Herbsttage waren vorbei. Der Wind frischte auf. Bald zerrte er die bunten Blätter in einem prächtigen Farbenspiel von den Zweigen, fegte sie wirbelnd in einem wilden Reigen tanzend übers Land und jagte sie durch die Strassen. Die Temperatur begann zu sinken. Die Obstbäume, welche die Zuchtstätte umgaben, entledigten sich endgültig ihrer letzten, verwelkten Blätter und gaben sie ergeben dem Winter preis. Nur vereinzelte verschrumpelte Äpfel blieben in den Ästen hängen und sorgten dafür, dass dem Vogelvolk das Überwintern leichter fiel. Gaukelnd segelten die ersten Schneeflocken vom Himmel. Bedächtig hüllten sie die Natur in sanftes, gleichmässiges Weiss und tauchten sie in winterliches Schweigen. Im Aussengehege tobten Karinas Welpen übermütig herum, jagten den grossen Schneeflocken nach, versuchten, sie zu erhaschen, und wunderten sich verblüfft über das seltsame, kühle Nass, das an ihren Pfoten klebte, doch unverzüglich verschwand, wenn sie es ablecken wollten. Ein hohler Baumstamm lud zum Klettern und Versteckspiel ein, was den Welpen be­ sonders gut gefiel. Längst hatten sie gelernt, selbständig aus kleinen Futternäpfen zu fressen. Wenn der eine oder andere versuchte, aus dem Napf der Geschwister zu naschen, wurde er von einem der Pfleger geduldig zurechtgewiesen. Die Kleinen sollten lernen, das Fressen der anderen zu respektieren und sich nicht darum zu streiten. Zwar duldete Karina eine Weile noch, dass ihre Kinder ab und zu die spärlich verbliebene Muttermilch tranken, gab ihnen jedoch mit leisem Knurren zu verstehen, dass die spriessenden scharfen Milchzähne ihre Zitzen zu verletzen drohten. Bald waren die drei Rüden kräftig genug, um grössere, erwachsene Bern­ hardiner kennenzulernen. Sie freundeten sich mit dem einen oder anderen an, alberten mit ihnen herum und genossen die Narrenfreiheit, die ihnen grosszügig von den älteren Hunden gewährt wurde.

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Eines frühen Morgens, es war noch dunkel, begann ein besonders schicksalhafter Tag für die drei Hundegeschwister. Ob es an der nicht ganz geschlossenen Eingangstür zum Aussengehege gelegen hatte, konnte im Nachhinein niemand mit Bestimmt­ heit sagen. Beim Hereinholen der Bernhardinerschar, die sich vergnügt im Schnee getummelt hatte, fehlten plötzlich die drei jungen Rüden. Die Bestürzung der Betreuer war gross. Unverzüglich begann man mit der Suche, streifte durch die Obstplantagen, guckte hinter Bäume und Sträucher und durchkämmte alle Winkel der Zuchtstätte. Schnee und Wind hatten schnell jegliche Spuren zugedeckt und verwischt. Ratlosigkeit herrschte, besonders weil sich für heute Sämis Familie für einen Welpenbesuch angemeldet hatte. Wie sollte man hier, in der Ebene, abge­ legen vom Ort, oder in der Stadt zwischen den Häusern und auf den viel befahrenen Strassen die Welpen wieder finden? Nach drei Stunden intensiver Suche musste man wegen des immer stärker werdenden Schneetreibens die Aktion abbrechen. Mehrmaliges Herumte­ lefonieren blieb ebenfalls erfolglos. Niemand hatte die drei jungen Hunde gesehen. Sie blieben unauffindbar.

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Schweren Herzens rief man Sämis Familie an, um mitzuteilen, dass ihr Welpe abhanden ge­ kommen sei und man den Besuch absagen müsse. Vater und Mutter waren gleichermassen erschrocken und traurig. Sämi konnte weder begreifen noch glauben, dass sein Barry verloren gegangen sei. Unglücklich zog er sich in sein Zimmer zurück und weinte ganz erbärmlich. Die Eltern versuchten vergebens, ihn zu trösten, und konnten knapp verhindern, dass Sämi sofort loszog, um seinen Hund zu suchen.

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Unterdessen marschierten die kleinen Rüden wohlgemut den Bergen entgegen. Schon seit geraumer Zeit hatten sie die Idee verfolgt, das Zuhause ihres berühmten Vorfahren und die Chorherren im Hospiz aufzusuchen, von denen ihnen ihre Mutter erzählt hatte. Die Welpen wollten unbedingt nachschauen, ob Barry vielleicht noch irgendwo da war. Die Gelegenheit hatte sich gerade heute als besonders günstig erwiesen. Am frühen Morgen war die Tür des Aussengeheges einen Moment lang nur leicht angelehnt gewesen. Flugs hatten sich die drei ungesehen hinausgestohlen und waren entwischt. Bald hatten sie das Tal hinter sich gelassen. War es Instinkt? Vorsehung? Fügung vielleicht? Wie selbstverständlich wählten die Jungen den Aufstieg zum Pass des Grossen Sankt Bernhard. Sie genossen den kühlen Wind und die wirbelnden Schneeflocken und fühlten sich in ihrem Element. Die Kälte schien ihnen nichts auszumachen, hatten sie doch bereits ein dichtes, isolierendes, wetterfestes Fell. Gemächlich stiegen sie bergauf. Die Welpen waren bereits recht lange unterwegs und hatten eine beträcht­ liche Strecke Richtung Hospiz zurückgelegt. Unentwegt stapften die drei Hundegeschwister durch den Schnee und liessen sich weder durch die auf­ kommenden, beissenden Windböen, noch durch das unaufhörliche Schnee­ gestöber von ihrem Vorhaben abhalten. Plötzlich zerriss ein lauter Knall die weisse Stille. Dumpfes Donnern und rumpelndes Grollen folgte. Die Hunde hielten inne und horchten. Konnte es sein, dass der Untergrund zitterte? Was war da los? Die drei spürten deutlich, dass etwas Unerwartetes, Bedrohliches in der Luft lag. Doch bevor sie in irgendeiner Weise reagieren konnten, begann unverhofft der Schnee unter ihren Pfoten nachzugeben und wegzurutschen. Zutiefst erschrocken versuchten sie, Stand und Gleichgewicht zu halten. Vergebens.

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Polternder, krachender Schnee war schlagartig überall, warf sie um, riss sie fort, deckte sie zu, engte sie ein und drohte, ihnen Besinnung und Atem zu rauben. Dann, auf einmal, war der Spuk vorbei. Nichts regte sich mehr. Die losgebrochene Lawine, welche die drei Welpen mitgerissen und verschüttet hatte, war zum Stillstand gekommen. Unheimliche Totenstille herrschte. Die Hunde lagen irgendwo unter den Schneemassen begraben und hatten ganz fürchterliche Angst. Was nun? Die vom Schnee verschluckten Hundekinder fühlten sich mutlos, zum Sterben bange und elend. Langsam kroch lähmende Kälte in ihre Glieder und begann, ihren Lebenswillen zu untergraben. Sie schienen verloren. Doch da – was war das? Aus dem Nichts hörten die Welpen eine intensive Stimme, fremd und doch vertraut, zuerst leise, dann immer lauter. Jedes der drei Geschwister konnte sie deutlich vernehmen und verstehen. «He, hallo! Was seid ihr nur für Kerle!», tönte es. Und weiter: «Schon ver­ gessen? Ihr seid Bernhardiner, echte Schneehunde! Los, bewegt euch! Gebt nicht kampflos auf! Das ist keines echten Bernhardiners würdig. Ihr seid meine Nachkommen! Ihr werdet nicht einfach still hier liegen bleiben und erfrieren!» Die Welpen stutzten, horchten auf. «Los, los, ihr müsst graben, rudern! Ihr wisst genau, wos an die frische, rettende Luft geht, dazu sind eure feinen Nasen geschaffen! Das Graben liegt euch im Blut, dafür habt ihr grosse, kräftige Pfoten mit soliden Krallen und starke Muskeln, auch wenn ihr noch so klein seid! Über Generationen hab’ ich euch all das vererbt. Bernhardiner sind ausdauernd und geben im Schnee niemals auf! Sie können Leben retten! Also los, Kinder, rettet euer eigenes!» Im Geiste erschien den drei Verschütteten deutlich ihr Urvater Barry mit seinem um den Hals gehängten Holzfässchen und dem typischen Stachel­ halsband, bei dem die Stacheln nach aussen standen, um ihn gegen Angriffe jeglicher Art zu schützen. Er forderte sie eindringlich dazu auf, durchzuhal­ ten, damit sie überlebten.

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Nun kam Bewegung in die kleinen Bernhardiner. Unerwartete Energie durchströmte sie und ver­ lieh ihnen ungeahnte Kräfte. Wie auf Kommando begannen sie, sich eifrig durch die Schneemassen nach oben zu schaffen. Wie geheissen wühlten, strampelten, ruderten und gruben sie sich stetig und zielbewusst der Ober­ fläche und somit der rettenden frischen Luft entgegen. Es war, als würden sie von ihrem Vorfahren Barry in ihrem Tun begleitet, bestätigt und angefeuert. Und sie schafften es wirklich! Einer nach dem andern tauchte unversehrt aus den beklemmenden, todbringenden Schneemassen auf. «Juhuuu, geschafft!», jubelten sie, schüttelten sich ausgiebig und stapften einander schwanzwedelnd entgegen. Welch freudiges Wiedersehen! Wie ein fernes Echo hörten sie nochmals Barrys Stimme: «Gut gemacht Kinder, bravoooooo!» Nein, aufgeben wollten sie nicht. Die Hundegeschwister setzten neuen Mutes ihren Weg Richtung Hospiz fort. Der Schneefall wurde dichter und stärker. Die Welpen kämpften sich mühsam vorwärts und sanken bei jedem Schritt tiefer und tiefer in die Schneemassen ein. Langsam kroch der Abend heran und liess die weisse Bergwelt in diffusem Dämmerlicht erscheinen. Die drei kleinen Rüden waren müde und hungrig. Wie weit war es denn eigentlich noch bis hinauf zum Hospiz? Befanden sie sich immer noch auf dem rechten Weg oder hatten sie die Richtung verloren und sich verirrt? Schliesslich blieben die Welpen erschöpft stehen. Weisse, lähmende Stille hüllte sie ein. Es schneite, schneite und schneite. Ratlos, mit erhobenen Nasen, schnupperten sie gegen den Wind und versuchten sich zu orientieren. Von irgendwoher getragene Geruchspartikel reichten aus, um ihnen zu ver­ künden, dass die eingeschlagene Richtung nicht ganz falsch sein konnte. Es roch eindeutig nach Rauch, nach Menschenwelt, nach Wärme und Unter­ kunft. Die drei Geschwister setzten sich hin und heulten ihr Elend hinaus in den Wind, hinaus in die schneeträchtige, unwirtliche Nacht.

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Die auf 2473 Metern über Meer gelegene Passstrasse des Grossen Sankt Bernhard war, wie jeden Winter, für mehrere Monate gesperrt, da sie wegen der un­ geheuren Schneemassen unpassierbar war. Wie jedes Jahr hatte man bereits im Herbst, vor dem ersten Schnee, eine beträchtliche Menge an Lebens­ mitteln ins Hospiz gebracht und hier gelagert. Dieser Vorrat musste bis zur Wiedereröffnung der Passstrasse ausreichen. Drei Geistliche und ein paar freiwillige Helfer hielten den regen, anstrengenden, bei Sportlern sehr be­ liebten Winterbetrieb aufrecht. An diesem Abend fanden sich die Hospizbewohner wie gewöhnlich in der Kapelle zur Abendandacht zusammen. Anschliessend setzten sie sich ge­ meinsam in den gemütlichen, gut geheizten Aufenthaltsraum, hingen ihren Gedanken nach oder lasen. Der vergangene Tag mit den aufwändigen Schneeräumungsarbeiten war für alle sehr anstrengend gewesen. Müde zog sich die Belegschaft bald in ihre Zimmer zurück. Nur die drei Chorherren Sebastian, Tobias und Dieter blieben noch für einen Moment zurück. Draussen kam Sturm auf. Der Wind pfiff um das dicke Gemäuer, doch er konnte den stattlichen, jahrhundertealten, soliden Gebäuden nichts anha­ ben. Auf einmal hielt Bruder Sebastian inne. Er erhob sich und sagte: «Ist es nur der Wind, der ums Haus heult? Ich meine, ich höre da noch andere Geräusche.»

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Seine Mitbrüder standen auf und folgten Bruder Sebastian zur Tür und ins Freie. Sie horchten. Ja, tatsächlich. Neben dem Tosen des Sturmes war deutliches, mehrstimmiges Geheul zu vernehmen. Die drei sahen einander verwundert an. Wölfe? Hier, mitten im Winter, in dieser verlassenen Bergwelt? Wohl kaum. Hunde? Die Bernhardiner, die in den Sommermonaten im Hospiz weilten, waren doch alle wohlversorgt im Winterquartier unten im Tal. Und trotzdem  … es hörte sich an wie Hundegeheul. Bruder Sebastian und Bruder Tobias beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Irgendwie ahnten sie, dass da draussen etwas Merkwürdiges vor sich ging. In dicke Kapuzenmäntel gehüllt, mit Laternen und langen Holzstäben aus­ gerüstet, machten sie sich zu Fuss auf den Weg in den immer heftiger tobenden Schneesturm, genau wie seinerzeit vor über 200 Jahren, wie da­ mals, als der berühmte Barry noch lebte und die Chorherren hinausführte, um verzweifelten Menschen zu Hilfe zu eilen. Unweit des Hospizes fanden sie die drei völlig durchnässten, halb erfrore­ nen und erschöpften Bernhardinerwelpen, die aneinander gekuschelt un­ glücklich im Schnee kauerten. «Du meine Güte, was macht ihr denn da, mitten in der Nacht!», rief Bruder Tobias voller Staunen und beugte sich nieder. Wie unendlich froh waren die jungen Hunde, wieder menschliche Stimmen zu hören und zu merken, dass sich jemand um sie kümmerte! Die beiden Männer trugen die Welpen hinauf ins Hospiz.

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Da angekommen holten sie unverzüglich Decken und Frottiertücher und begannen, die Hunde trocken zu reiben. Kurze Zeit später standen randvoll gefüllte Futternäpfe und Wasser bereit. Genügend Hundefuttervorräte gab es immer im Hospiz. Die Hundekinder machten sich heisshungrig über die willkommene Mahl­ zeit her und putzten die Näpfe bis auf den letzten Krümel leer. Langsam wärmten sich die entkräfteten Welpen wieder auf. Bald rollten sie sich auf weichen, warmen Decken zusammen und schliefen satt und zufrieden ein. Bruder Dieter rief die Bernhardinerstation unten in Martigny an, um sich nach eventuell vermissten Welpen zu erkundigen. Ja, hiess es dort, drei kleine Rüden seien abhanden gekommen und trotz mehrstündiger Suche nicht gefunden worden. Man könne nicht ausschliessen, dass jemand sie womöglich gestohlen habe. Ungläubig vernahm man vom unvermittelten Auftauchen der drei Welpen oben im Hospiz auf dem Grossen Sankt Bern­ hard. Niemals hätte man es im Tal für möglich gehalten, dass so junge Hunde diese Strecke unbeschadet zurücklegen und überstehen würden, vor allem, weil man gehört hatte, dass in der Gegend eine Lawine nieder­ gegangen war.

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E s sind eben Barrys Erben», sinnierte Bruder Dieter, «die haben Ausdauer und Lebenskraft einfach im Blut. Und», fuhr er fort, «ist es nicht besonders schön, dass wir Menschen nun einmal Bernhardiner retten durften und nicht umgekehrt? Es ist bestimmt ein würdiges Dankeschön an diese wunderbare Hunderasse und an all das, was Bernhardiner geleistet haben, um Menschen in Not zu retten!» Unten im Tal war man unendlich dankbar und erleichtert. Es wurde ver­ einbart, dass die Welpen vorläufig oben auf dem Berg bleiben sollten. Die Chorherren freuten sich ungemein über die buchstäblich «hereingeschneite» Gesellschaft der drei tapferen kleinen Rüden. Das Thema «Barry» beschäftigte die Männer bis weit in die Nacht hinein. Bruder Sebastian holte ein altes, in Leder gebundenes Buch hervor, in dem Fotos, Zeitungsartikel und andere Dokumente über die Sankt-Bernhards-Hunde auf­ bewahrt wurden. Jeder wusste etwas zum Thema zu erzählen.

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Währenddessen schlummerten die drei ermatteten Welpen ruhig atmend dem Morgen entgegen. Nur ab und zu zappelten und ruderten sie kräftig mit den Läufen, spreizten die Pfoten und japsten dazu. Womöglich träumten sie von ihrem so knapp aber heil überstandenen Lawinenabenteuer, oder vielleicht vom berühmten Barry?

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Unterdessen hatte man selbstverständlich auch Sämis Familie über das Wiederfinden und den Ver­ bleib ihres zukünftigen Welpen informiert. Die Familie war überglücklich und sehr erleichtert, dass es ihrem kleinen Welpen gut ging. Während des ganzen Winters durfte Sämi ab und zu im Hospiz anrufen, um sich nach dem Befinden seines Barrys zu erkundigen. So erfuhr Sämi in allen Einzelheiten, was die Welpen, natürlich besonders Barry, trieben und anstellten. Regelmässig sandte Bruder Dieter per E-Mail Fotos hinunter ins Tal, damit Sämi das Gedeihen seines Welpen aus der Ferne mitverfol­ gen konnte. Vater druckte die Aufnahmen aus und Sämi klebte sie an seine Kinderzimmertür, damit er sie auch vom Bett aus immer sehen konnte. Obwohl die Berggipfel noch Schneehauben trugen, kehrte nach und nach der Frühling mit seiner ganzen Farbenpracht ins Tal zurück. Endlich wurde die Passstrasse des Grossen Sankt Bernhard nach guten sieben Monaten wieder geöffnet. Aus den drei Bernhardinerwelpen waren stattliche, kräftige Junghunde geworden. In der Zuchtstätte in Martigny stellte man alle Unterlagen samt Abstam­ mungsurkunde für den Rüden «Barry du Grand St. Bernard» zusammen, damit alles vorbereitet war, wenn er von Sämi und den Eltern im Hospiz abgeholt würde. Endlich kam der langersehnte Tag. Die freudige Erwartung war gross. Eine Hundebetreuerin der Zuchtstätte begleitete die Familie, um Barry abzu­ holen. Vater steuerte das Auto die kurvenreiche, teils unübersichtliche, schmale Strasse sicher dem Hospiz entgegen. Der Junge konnte es kaum erwarten, seinen Barry zu sehen. Ob der Hund ihn noch kennen würde? Sämis erwartungsvolle Ungeduld stieg mit jeder Minute weiter an. Endlich erreichten sie ihr Ziel. Kaum war Sämi aus dem Auto geklettert, nahm ihn Bruder Dieter an der Hand und führte ihn zu den Hunden. Die drei Rüden lagen ausgestreckt im Aussengehege an der Frühlingssonne und genossen die wärmenden Strah­ len. Bei Sämis Ankunft standen sie auf. Der Junge staunte und blieb mit offenem Mund ergriffen stehen.

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Ouuuu , kommentierte er, «die sind aber gross geworden!» Einer der drei Bernhardi­ ner trottete schwanzwedelnd schnurstracks auf Sämi zu. Erst beschnupperte er den Jungen ausgiebig, dann leckte er ihm freudig über das ganze Gesicht und winselte leise. Sämi war glücklich, weinte und lachte vor Freude und umarmte seinen Hund. Ja, es war sein Barry mit dem hübschen Fleck, dem Krönchen auf der Stirn, der ihn wiedererkannt hatte! «Gell», flüsterte er ihm ins Ohr, «ab jetzt bleiben wir immer, immer zusam­ men, und du läufst nie mehr weg!» Warum Barry ausgerechnet jetzt den Kopf schüttelte … Konnte es sein, dass er Sämi verstand? Da hatten sich zwei ganz offensichtlich wiedererkannt. Bruder Dieter rief Sämi zu sich und übergab ihm feierlich einen Pappkarton. «Wir haben dir etwas eingepackt. Ein Geschenk als kleine Entschädigung, weil du so lange auf deinen Bernhardiner hast warten müssen.» Neugierig öffnete Sämi die Schachtel. Zum Vorschein kam eines der legendären Holz­ fässchen, welche die Hospizhunde früher um den Hals getragen hatten. Sämi wusste natürlich sofort, wozu das Fässchen gedacht war, und jubelte voller Freude: «Barry, Barry! Schau, was wir bekommen haben! Bald wirst du stark genug sein, um das Fässchen zu tragen. Und, weisst du», erklärte Sämi bedeutungsvoll, «erst, wenn du das Fässchen umgehängt hast, bist du ein echter Bernhardiner!» Während Abstammungsurkunde, Impfpass samt genauer Fütterungs- und Pflegeanleitung den Eltern ausgehändigt und die Finanzen erledigt wurden, sassen Sämi und Barry an der Sonne. Bald verabschiedete man sich von den liebenswürdigen Chorherren und Hospizangestellten und lud Barry ins Fahrzeug, wo eine spezielle Transporteinrichtung installiert worden war. Ohne grössere Umstände akzeptierte der Hund die neue Gegebenheit des Autos. Die wertvollen, wohlwollenden Ratschläge und die Hundeerfahrung der Anwesenden halfen ihm dabei.

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Auf der Rückfahrt bemühte sich Vater, das Auto besonders vorsichtig um die Kurven zu steuern. Der Hund sollte nicht zu arg hin und her geschüttelt werden, damit ihm nicht schlecht wurde. Sämi hockte neben seinem Barry, streichelte ihn liebevoll und liess ihn nicht mehr aus den Augen. Irgendwie schien es, als würden sich die zwei schon lange kennen. Sachte legte Barry seinen grossen Kopf vertrauensvoll auf Sämis Knie, schloss die Augen, tat einen tiefen, zufriedenen Seufzer und schlief ein. Ja, wahrhaftig. Etwas nicht Alltägliches, ganz Aussergewöhn­liches schien diese beiden unterschiedlichen Wesen zu verbinden. Sämi und Barry hatten gewählt und sich gefunden.

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Der Grosse Sankt Bernhard, das Hospiz und seine Hunde Bereits im frühsten Altertum galt der Pass des heutigen Grossen Sankt Bernhard als viel benützter, wichtiger Alpenübergang. Die wohl kühnste und spektakulärste Alpenüber­ querung fand im Jahr 218 v. Chr. statt, als der Feldherr Hannibal mit über 30 Elefanten und 50 000 Kriegern über die Alpen nach Ita­ lien zog. Es ist schier unvorstellbar, welche unmenschlichen Strapazen dieses ausserge­ wöhnliche, riskante Unterfangen mit sich brachte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass unzählige Soldaten und Pferde starben. Von den Elefanten überlebte nur ein einziger. Das Thema beflügelte die Fantasie etlicher Künstler und bewog sie dazu, zahlreiche dramatische Szenen bildlich darzustellen. In der Römerzeit – damals nannte man den Pass «Jupiterberg» – diente die Verbindung vornehmlich Handelsreisenden und Sol­ daten. Zu jener Zeit entstand ein Tempel zu Ehren des höchsten römischen Gottes «Jupiter». Auf dem Weg zum Passübergang dienten bescheidene Bauten Mensch und Tier als Unterkunft. Der Untergang des Römischen Reichs bedeutete erhebliche Ver­ unsicherung, was das Geschehen für den Passübergang betraf. Nach wie vor brachte die abenteuerliche, beschwerliche Alpenüberquerung enorme Strapazen mit sich. Nicht selten wurden die Reisenden von unvorhersehbaren Wet­ terwechseln überrascht. Plötzlich auftau­ chender Nebel, heftige Gewitter, extreme Temperaturstürze, Schneestürme und Lawi­ nen waren die ständigen Begleiter der Rei­

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senden in dieser unwirtlichen Alpenwelt. Ausserdem liefen Handelsreisende und Pilger stets Gefahr, von Wegelagerern über­ fallen, beraubt oder gar getötet zu werden. Die verbindende Strecke über den Pass in einem Tag zu bewältigen war besonders im Winter unmöglich. Zwischen den Dörfern Bourg-Saint-Pierre und Saint-Rhémy liegen 25 km. Auf diesem Weg befand sich keine einzige Zufluchtsmöglichkeit. Bernhard von Menthon, Sohn einer wohl­ habenden Familie, gehörte dem kirchlichen Orden der Augustiner an. Um 1045 – 1050 gründete er auf dem Scheitelpunkt des Passes ein Gebäude als Refugium, um Berggängern Unterkunft und Nahrung zu bieten. Er rief eine Gemeinschaft ins Leben, die es sich zur selbstlosen Aufgabe machte, die Gefahren der Berge möglichst zu bezwingen, Reisende zu begleiten, sie zu beherbergen und ihnen Schutz und Sicherheit zu bieten. Seine dies­ bezügliche Entschlossenheit und Organisa­ tion bewährte sich und entwickelte sich rasch weiter. Gastfreundschaft und Nächstenliebe waren ihr oberstes Gebot. Jedem sollte je­ derzeit zu dieser Institution Zugang gewährt werden. Deshalb blieben sämtliche Türen der Einrichtung unverschlossen. Diese Besonder­ heit hat sich bis in die heutige Zeit erhalten. Bernhard starb am 12. Juni 1086 in Novara im Alter von ca. 60 Jahren. 1123 wurde er heiliggesprochen. Im Laufe der Jahrhunderte suchten immer wieder zerstörende Brandkatastrophen das


Hospiz heim. Besonders verheerend war die Feuersbrunst von 1555. Propst Antoine Norat (1671 – 1693) liess das Hospiz umfassend um­ bauen. Anstelle der Kapelle aus dem Jahr 1616 entstand eine Kirche. 1689 wurde sie feierlich eingeweiht. Neben einigen Augustiner Chorherren, so genannten «Chanoines», lebten Helfer im Hospiz. Ausgestattet mit langen Stöcken, Spiessen nicht unähnlich, die in Lawinen­ kegeln auch als Sondierstangen eingesetzt werden konnten, absolvierten sie regelmäs­ sige Rundgänge. Sie gingen den Reisenden entgegen, verpflegten sie bei Bedarf mit Brot, Wein und Käse und führten sie über den Pass. In Not geratenen Menschen standen sie bei. Ihre Aufgaben umfassten ebenfalls das Bergen von Leichen. Vermutlich zwischen 1660 und 1670 kamen die ersten Hunde, möglicherweise als Ge­ schenk wohlhabender Walliser oder Waadt­ länder, ins Hospiz. Um 1695 fand man erstmals Hunde in Verbindung mit dem Hospiz auf einem Gemälde dargestellt. Die erste schriftliche Erwähnung der Hunde er­ folgte 1708 und stammt vom damaligen Prior Ballalu. Das Totenregister, das sich im Hospiz be­ findet und das die Namen aller tödlich Ver­ unfallten enthält, zeugt davon, dass in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ungefähr 20 Menschen auf dem Grossen Sankt Bern­ hard um ihr Leben kamen.

Hospizangestellte, die «Marronniers», be­ gannen um ca. 1750 einige der Hunde zur Spurensuche auszubilden. Von nun an be­ gleiteten sie die Männer auf ihren Runden und spürten verschüttete, verirrte oder an­ derweitig verunglückte Menschen auf. Um 1787 hielt man bereits mehrere dieser recht imposanten Hunde in der Eingangshalle des Hospizes. Sie dienten einerseits den Glau­ bensbrüdern als Schutz gegen Überfälle, andererseits verhinderten sie mit ihrer An­ wesenheit Zwischenfälle unter den Gästen. In den Jahren 1790 bis 1810 waren deutlich weniger Todesopfer zu beklagen als in den vorangehenden Jahrzehnten, was bestimmt teilweise der Arbeit der Hunde zu verdan­ ken sein dürfte. Zur Zeit der französischen Revolution pas­ sierten ca. 200 000 Soldaten die Alpen. Unter Napoleons 46 000 Armeeangehörigen, die im Jahr 1800 mit 7 000 Pferden und 30 Ge­ schützen den Pass überquerten, verlor kein einziger sein Leben. Zwischen 1845 und 1893 entstand die durch­ gehende Strasse zwischen Aosta und Martigny. Sie wurde am 14. Juli 1905 eingeweiht. Chor­ herr Murith berichtete im selben Jahr, dass die Hunde im Winter instinktiv auf sicheren Pfa­ den blieben, auch wenn diese vom Schnee verweht seien. Zudem würden sie den Reisen­ den äusserst liebenswürdig, hingebungsvoll und menschenfreundlich begegnen. Die Marronniers gewöhnten bereits da­ mals die Hunde mit speziell angefertigten

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Tragegeschirren an den Transport von Lebens­mitteln. In dieser Zeit wurde Barry, eine wahre, schon zu Lebzeiten berühmte Legende, ge­ boren. Er rettete über 40 Menschenleben. So soll er unter anderem ein verloren ge­ gangenes Kind, das sich auf seinem Rücken festhalten konnte, bis ins Hospiz getragen und es vor dem sicheren Erfrieren bewahrt haben. In Frankreich, im Ort L’Île des Ra­ vageurs in der Nähe von Paris, gründete Geor­ges Harmais 1899 den weltweit ältesten Tierfriedhof. Am Eingang dieser Institution erinnert ein Denkmal, das Barry mit dem geretteten Kind darstellt, an dieses Ereignis. Es verwundert nicht, dass die Taten von Barry und anderen Hospizhunden immer wieder von verschiedenen Künstlern aufge­ griffen und gemalt wurden. Unauslöschlich verbunden mit Barrys Er­ scheinung ist das ebenfalls legendäre Holzoder Lederfässchen, das ein «belebendes Getränk» enthalten haben soll und den Hos­ pizhunden bisweilen um den Hals gehängt wurde. Pastor Bridel aus dem Waadtland besuchte im April 1801 die Hunde auf dem Grossen Sankt Bernhard. In seinen Aufzeichnungen beschrieb er ihren Charakter als ausseror­ dentlich sanftmütig. Die Hunde würden nie beissen, wenig bellen und besässen bewun­ dernswerte Instinkte, die sie zum Wiederfin­ den des Weges und Aufspüren verschütteter Reisender befähigten. Ihre Fellfarben no­

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tierte er als rot-braun mit weis­sen Flecken. Auch erwähnte er deren offensichtliche Vorliebe für den Schnee. Eine besondere Gabe der Hospizhunde schien das Vor­ herahnen von Lawinenabgängen. Es gibt unzählige Berichte darüber, wie diese Berghunde sich weigerten, an bestimmten Stellen weiterzugehen oder auch nur eine Pfote vor die Haustür zu setzen, und es da­ nach tatsächlich zu Lawinenniedergängen kam. Im Gegensatz zur Legende, die besagt, dass Barry von einem Verunglückten erstochen worden sei, weil dieser ihn für einen an­ greifenden Wolf gehalten hätte, erzählt Meissner, dass Barry im Jahr 1812, als er alt und schwach war, in Begleitung eines Pa­ ters nach Bern in gute Pflege gebracht wor­ den war. Wo Barry seine letzten zwei Jahre verbrachte, weiss man nicht genau. Im Jahr 1814 starb Barry an Altersschwäche. Ein Jahr später stand sein Präparat im «Mu­ seum der Naturgeschichte Helvetiens» in Bern, das der Stadtbibliothek angeschlossen war. Seither tragen besonders schöne, wert­ volle Rüden aus der Zucht des Hospizes den Namen «Barry». Es existieren unzählige Zeitzeugnisse und Berichte über die beachtlichen Leistungen der Hunde des Hospizes auf dem Grossen Sankt Bernhard, die in der unwirtlichen, gefährlichen Bergwelt, besonders während


der strengen Wintermonate, in denen die Schneehöhen teils bis 24 Meter erreichten, mit den Geistlichen und ihren Helfern in Not geratenen Menschen beistanden. Die Berichte von Barry und seinen ausseror­ dentlichen Rettungseinsätzen wurden mehr und mehr international bekannt. Barry er­ langte sogar Weltberühmtheit. Die ursprüngliche Herkunft der ersten ins Hospiz gebrachten Hunde liegt weitgehend im Dunkeln. Ihr damaliges Aussehen kann man anhand bildlicher Dokumente ungefähr erahnen. Die meisten waren kleiner, mit we­ niger massigen Köpfen und leichteren Kno­ chen als die heutigen Rassevertreter. Unterlagen über das genaue Zuchtgesche­ hen fehlen. Sollten sie vorhanden gewesen sein, sind sie womöglich den verschiedenen Brandkatastrophen zum Opfer gefallen. In jener Zeit existierten landesweit verbrei­ tet grosse, braun-weisse Bauern-, Küher-, Käser- oder Alpenhunde, die durchaus dem Bild der Hospizhunde entsprachen. Solche Hunde holte man immer wieder aus den Tälern ins Hospiz, um die Weiterzucht zu garantieren, die mehrmals versiegte. Dabei wurde weder systematisch noch gezielt vorgegangen. Hauptsache, die Hunde sahen einigermassen so aus, dass sie den Hospiz­ hunden, wenn auch nur in etwa, zugeordnet werden konnten. Wichtig schien einzig und allein die gebrauchstüchtige Einsatzfähigkeit der Hunde. Folglich fielen die Zuchtergeb­ nisse höchst unterschiedlich aus. Bisweilen

fielen Langhaarwelpen. Meistens gab man sie weg, da sie sich für den Aufenthalt und die Arbeit im Schnee weniger eigneten. Aus welchen Gründen auch immer. bevor­ zugten die meisten Liebhaber eher schwere, doggenähnliche, massige Hunde mit wuch­ tigen Köpfen. Dementsprechend entstanden Hunde, die mit dem äusseren Erscheinungs­ bild Barrys immer weniger Gemeinsamkei­ ten aufwiesen. Ende des 19. Jahrhunderts herrschte unter den Züchtern, was das Ideal­bild eines Bernhardiners betraf, Unei­ nigkeit und ein beträchtliches Durcheinan­ der. Das erklärt beispielsweise, weshalb ein und derselbe Hund an drei verschiedenen Hundeausstellungen einmal als Leonberger, einmal als Alpenhund und einmal als Bern­ hardiner bewertet werden konnte. Doch die Hospizhunde vom Grossen Sankt Bernhard waren berühmt, beliebt und gefragt, wur­ den international verkauft und erzielten oft wahre Spitzenpreise. Verschiedene Bernhar­ dinerzüchter im In- und Ausland holten sich immer wieder Hunde aus dem Hospiz. Es gehörte einfach zum guten Ton, dass Züch­ ter «Originalhospizhunde» einkreuzten. Der Wirt und Metzger Heinrich Schuma­ cher (1831– 1903) aus Holligen bei Bern darf als Begründer der Bernhardiner-Rein­ zucht angesehen werden. Er war der erste Züchter, der seinen Hunden Ahnentafeln ausstellte und sie in einem eigenen Zucht­ buch registrierte. Er verfolgte die Absicht, den leichteren, ursprünglichen Hunde­

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typ anzustreben und zu rekonstruieren, so wie Barry wahrscheinlich gewesen war. 1867 gewann Schumacher mit seinen Bern­ hardinern an der Welthundeausstellung in Paris eine Goldmedaille. 1880 wurde die Rassebezeichnung «Sankt-Bernhards-Hund» weltweit anerkannt. Drei Jahre später wurde der Dachverband «Schweizerische Kynologi­ sche Gesellschaft» (SKG) ins Leben gerufen und kurz darauf, 1884, wurde das «Schwei­ zerische Hundestammbuch» (SHSB) eröffnet. Im selben Jahr, am 15. März in Basel, fand die Gründung des «Schweizerischen SanktBernhard-Clubs» statt. Am 2. Juni 1887 wurde der Sankt-Bernhards-Hund oder Bernhar­ diner als offizielle Schweizer Hunderasse anerkannt. Somit galt der erstellte Rassestan­ dard als allgemein verbindlich. Seither ist der Bernhardiner Schweizer Nationalhund. Schumacher stand in ständigem Kontakt mit dem Hospiz und holte immer wieder Hunde für seine Zucht. Strikt verfolgte er weiterhin sein Ziel, leichtere, barryähnliche, kurzhaa­ rige Bernhardiner zu züchten. Aber andere Züchter hatten andere Ideen. Der imposante, schwerere Bernhardinertyp erfreute sich immer grösserer Beliebtheit und setzte sich mehr und mehr durch. Auch für Langhaar-Bernhardiner fanden sich un­ zählige Liebhaber. Viele Züchter trugen den Vorlieben der Interessenten Rechnung und passten ihre Zuchtziele dementsprechend an. 1890 resignierte Schumacher schliesslich enttäuscht und gab seine Zucht auf. Ab 1925 etablierten sich vor allem schwere, massige

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Rassevertreter, die nach und nach noch schwerer wurden. Der im Jahr 1880 fertiggestellte Gotthard­ tunnel brachte eine willkommene Erleich­ terung bei der Überquerung der Alpen. Folglich nahm besonders der winterliche Reiseverkehr über den Pass des Grossen Sankt Bernhard stark ab. Damit verlor das Rettungswerk mit den Hospizhunden an Be­ deutung. Offensichtlich liess das Interesse an den Hunden weitgehend auch bei den Chorherren im Hospiz nach. Die Hunde­ haltung und -beschäftigung liess mehr und mehr zu wünschen übrig, was sich negativ auf das Verhalten der Hunde auswirkte. 1949 wurde zur allgemeinen Sicherheit eine Zwingeranlage gebaut, die später, in den Jahren 1984 und 1985, nach den damals neusten Kriterien renoviert wurde. Das gab auch der besseren Betreuung und Haltung der Hospizhunde neuen Aufschwung. Dem eher rudimentären Stopfpräparat Barrys aus dem Jahre 1815 war keine lange Existenz beschieden. Bereits nach einigen Jahren begann es auseinanderzufallen. Der Präpa­ rator Caspar Rohrdorf (1773 –1843) wurde ca. 1826 mit der Neuaufstellung von Barry betraut. In den folgenden Jahrzehnten be­ gann auch dieses Präparat mehr und mehr zu zerfallen und bot schliesslich ein jämmer­ liches, unwürdiges Bild des berühmten Hun­ des, das den immer steigenden Ansprüchen des Publikums nicht mehr genügte.


1923 entschloss sich die Leitung des Natur­ historischen Museums Bern, das kümmerlich gewordene Präparat erneut zu restaurieren und zu retten, was davon noch zu retten war. Es darf als eine wahre Meisterleistung des damaligen Präparators Georg Ruprecht (1887– 1968) angesehen werden, was er aus den verbliebenen, teils kleinen, unvollstän­ digen Fellstücken der mangelhaften, zerlö­ cherten Originalhaut hervorzauberte, zumal als Vorlage nur das marode Präparat diente. Auch wenn das heutige Abbild des soge­ nannten «Originalbarrys» nicht ganz dem Barry von damals entsprechen dürfte, hat Ruprecht – bewusst oder unbewusst – einen Hund erschaffen, der wie eine Verbindung des Aussehens der damaligen Hospizhunde und der heutigen Bernhardiner wirkt. Lange Zeit stand das Präparat in der Eingangshalle des Museums. 1955 bis 1975 bildete man im Hospiz ver­ schiedene Bernhardiner speziell als La­ winenhunde aus. Obschon die Resultate

hervorragend ausfielen, hatten diese Hunde den Nachteil, dass sich ihre beträchtliche Körpergrösse und ihr Gewicht besonders beim Transport in Fahrzeugen und Heli­ koptern ungünstig auswirkten. Mehr und mehr wurden sie deshalb von kleineren, leichteren Rassen abgelöst. Zwei belgische Schäfer waren die letzten im Hospiz auf dem Grossen Sankt Bernhard ausgebildeten Lawinensuchhunde. 1964 wurde der Strassentunnel zum Grossen Sankt Bernhard eröffnet. Dies bedeutete er­ neutes Aufleben des Hospizbetriebes. Men­ schen, die Ruhe und Besinnung suchten, Pilger, Jugendgruppen, zahlreiche Touris­ ten und Tagesausflügler, welche die Hunde sehen wollten, wurden von der Glaubens­ gemeinschaft empfangen, bewirtet und be­ herbergt. Viele dieser Besucher hatten bereits das Prä­ parat Barrys im Naturhistorischen Museum gesehen und wollten nun die berühmten Nachkommen Barrys lebend in ihrer ur­

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sprünglichen Bergwelt bewundern und er­ leben. Mit der immer strenger gewordenen Tierschutz-Gesetzgebung genügten schliess­ lich die Haltungs- und Aufzuchtbedingun­ gen der Sankt-Bernhards-Hunde im Hospiz nicht mehr. Die Chorherren beschlossen deshalb, die Hunde und den Zuchtnamen «du Grand St. Bernard» der weltweit ältesten Bernhardinerzucht – sie besteht bereits über 300 Jahre – zu verkaufen. Dank der grosszügigen Unterstützung der Mäzenin Christine Cerletti wurde am 28. Ja­ nuar 2005 die «Fondation Barry du Grand Saint Bernard» in Martigny gegründet. Am 1. April desselben Jahres gingen die Bern­ hardiner vom Hospiz samt ihrem Zuchtna­ men in Besitz und Obhut der Stiftung über. Seither kümmert sie sich in der entspre­ chend eingerichteten, vorbildlich geführten, «Certodog»-zertifizierten Zuchtstätte um das ständige, tiergerechte Wohl dieser bemer­ kenswerten Hunderasse. Das Zertifikat ist ein Gütesiegel und zeichnet besonders sorg­ fältige, einwandfrei eingerichtete und unter­ haltene Zuchtstätten aus. Seitdem wird hier die ursprüngliche Hos­ piz-Bernhardinerzucht liebevoll und mit sehr viel Sachverstand und Umsicht weiter­ geführt. Neben dem standardgemässen Er­ scheinungsbild werden besonders beste Gesundheit, sicheres, umgängliches Wesen, Langlebigkeit, Gebrauchsfähigkeit und das dafür unabdingbare solide Gangwerk ange­ strebt. Damit wird ein Beitrag geleistet, dass

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die Rasse der Sankt-Bernhards-Hunde ohne extreme Merkmale bestehen und erhalten bleibt. Regelmässig werden die Hunde er­ folgreich an Ausstellungen im In- und Aus­ land gezeigt, wo sie immer wieder erste Plätze erringen. Rassespezifische Förderung und Beschäfti­ gung ist Pflicht. Unter anderem werden sie als Begleit-, Trag-, Zug- und Therapiehunde oder in der Disziplin Mobility ausgebildet. Sie besuchen zum Beispiel Kindergärten, Schulen, Betagtenresidenzen, Behinderten­ zentren und verschiedene andere Institu­ tionen. Mit enormem Erfolg werden seit 2012 Lager für behinderte und verhaltens­ auffällige Jugendliche durchgeführt. Immer wieder ist es erstaunlich, wie viel Positives die Bernhardiner dabei bewirken. Doch die jahrhundertealte Tradition, die unauslöschlich mit dem Hospiz und seinen Betreibern verbunden ist, durfte nicht zu Ende gehen. Obschon das Hauptgewicht der Augustiner Chorherren auf dem selbstlosen, ehrenvollen Einsatz lag, Reisenden Obdach und Verpflegung bereitzustellen und ihnen bei Unglücksfällen Hilfe zu bieten, gehörten die Sankt-Bernhards-Hunde dazu, auch wenn sie eine eher untergeordnete Rolle spielten. Die Hunde waren in erster Linie dazu da, ihre Einsätze zu leisten, wobei sie immer wieder ihre Gebrauchstüchtigkeit unter Beweis stellen mussten. Und trotzdem, was wäre diese Herberge auf dem Berg ohne die Hospizhunde!


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Eine Vereinbarung regelt, dass einige Hunde der Barry-Stiftung aus dem Tal in der wär­ meren Jahreszeit hinauf ins Hospiz trans­ portiert werden und bis in den Herbst dort bleiben. In neu angepassten Einrichtungen wohnen sie auf dem Gelände des Hospizes, damit die zahlreichen Besucher, die oft nur der Hunde wegen den Grossen Sankt Bern­ hard erklimmen, sie sehen können. Speziell ausgebildete Tierpfleger der Barry-Stiftung befassen sich intensiv mit den Hunden, beschäftigen sie entsprechend und bieten ihnen beste Pflege und Zuneigung. Auf Wunsch begleiten die Pfleger die Besu­ cher mit den Hunden auf Spaziergängen in den Bergen. Damit ermöglichen sie dem inte­ ressierten Publikum, die Bernhardiner hautnah zu erleben und sich ausführlich mit ihnen aus­ einanderzusetzen. Bevor der Alpenübergang wegen des Schnees unpassierbar wird, kehren die Hunde ins Tal nach Martigny zurück. Der von Wintersportlern geliebte Winterbe­ trieb im Hospiz ist vollumfänglich gesichert. Unmengen an Lebensmitteln werden vor dem ersten Schnee ins Hospiz gebracht und gela­ gert. Ist der Pass schliesslich geschlossen, gibt es kaum mehr frische Lebensmittel. Gelebt wird hauptsächlich von den Vorräten. Drei bis vier Geistliche, eine Oblatin – so nennt man eine Ordensfrau –, mehrere Angestellte und Freiwillige sorgen für das Wohl der Gäste.

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Zwei bemerkenswerte Museen stehen den Besuchern offen. Das eine befindet sich in Martigny, das andere oben im Hospiz. Un­ zählige zusammengetragene, interessante Zeitdokumente aus verschiedenen Jahrhun­ derten sind da zu bewundern. Täglich halten sich einige der Hunde in den dafür geeig­ neten Einrichtungen der beiden Museen auf und werden hier ebenfalls rund um die Uhr umsichtig betreut. Sehenswert sind ausser­ dem die Kirche des Hospizes und die aufbe­ wahrten, wertvollen Kirchenschätze. Unter der Kirche befindet sich eine für das Publi­ kum zugängliche, eindrucksvolle Krypta. Das fortwährende Interesse an der überlie­ ferten Geschichte des Bernhardiners Barry, des Urvaters der berühmten Schweizer Nationalrasse, beweist die intensive Anteil­ nahme tausender Besucher an dem, was ein instinktsicherer, treuer Hund zum Wohler­ gehen und Schutz der Menschen zu leisten imstande ist. Am 13. Juni 2014, anlässlich Barrys 200. Todesjahres, wurde die ihm zu Ehren gestal­ tete Dauerausstellung im Naturhistorischen Museum in Bern eröffnet. Natürlich trägt Barry ein Holzfässchen um den Hals  … Barrys Erbe ist lebendig und wird es auch weiterhin bleiben.


Bernhardiner Bernhardiner sind grosse, kräftige Hunde mit eindrucksvollen Köpfen. Erwachsen können sie von 50 bis zu 95 kg auf die Waage brin­ gen und erreichen eine Widerristhöhe von ungefähr 65 bis 90 cm. Es existieren zwei Varietäten, eine lang­ haarige und eine kurzhaarige (Stockhaar). Züchterisch dürfen sie miteinander gekreuzt werden. Der gültige, von der FCI (Fédéra­ tion Cynologique Internationale) anerkannte Rasse-Standard Nr. 61 beschreibt detailliert die gewünschten Eigenschaften. Bernhardiner besitzen einen eigenständigen, unabhängigen Charakter. Wohl gerade des­ halb sind sie sehr vielseitig. Das scheinbar phlegmatische Gehabe der Bernhardiner kann täuschen. Sie verfügen über ein ge­ sundes, rassespezifisches Temperament und lassen sich durchaus zum Arbeiten motivie­ ren. Daher ist es wichtig, dass Bernhardiner, wie andere Hunde auch, entsprechend sinn­ voll beschäftigt werden und dass man ihnen mit vernünftigem Hundeverstand begegnet, damit diese menschenbezogenen Tiere kein ereignisarmes Leben fristen müssen. Abgesehen davon, dass sie sich mit ihrem Riechvermögen, das bis 50-mal ausgepräg­ ter ist als jenes des Menschen, zum Spu­ rensuchen bestens eignen, können sie als Begleit- oder Therapiehunde ausgebildet werden. Diese starken Hunde können, mit angepasster Ausrüstung und entsprechen­ dem Training, auch zum Ziehen verwendet werden. Grosse Hitze kann ihnen jedoch zu­ setzen. Sie bevorzugen eher kühleres Klima. Wie bei jeder anderen Hunderasse ist auch

bei den Bernhardinern Einfühlungsvermö­ gen und Verständnis stets gefragt. Bernhar­ diner eignen sich auch als Familienhunde. In der Regel sind sie sehr kinderliebend. Jedoch darf nie vergessen werden, dass Hunde, egal welcher Rasse, niemals zu Spiel­ zeugen für Kinder degradiert werden dürfen und es immer, ohne Ausnahme, vernünftige Begleitung und Aufsicht von Erwachsenen bedingt, wenn Kinder und Hunde zusam­ mentreffen. Normalerweise ist das Fell der Bernhar­diner recht pflegeleicht. Trotzdem ist regelmässi­ ges Bürsten angesagt. Das fördert neben dem körperlichen Wohlbefinden des Tie­ res auch den Kontakt und das gegenseitige Vertrauen. Rücksichtnahme Dritten gegen­ über ist selbstverständlich. Sie unterstützt das gute Einvernehmen zwischen Mensch und Tier. Jeder Halter eines Bernhardiners muss sich immer bewusst sein, dass er einen grossen, imposanten und kraftvollen Hund führt und dass er für ihn die vollumfängliche Verantwortung trägt. Entsprechend ist eine adaptierte, vernünftige Erziehung für jeden Bernhardiner ein Muss und unumgänglich. So wird man diesen wunderbaren, men­ schenbezogenen Hunden gerecht und kann die Bereicherung, die sie mit sich bringen, vollumfänglich geniessen. Das Halten und die Begleitung eines Hundes umfasst im Dasein eines Menschen immer nur eine beschränkte Zeitspanne. Für den Hund aber bedeutet es das ganze Leben.

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Bilderverzeichnis Seite 6

Ausschnitt aus der rosafarbenen Steinskulptur am Kreisverkehr in Sembrancher – 2007, vom Bildhauer Silvano Salto aus dem Aostatal.

Seite 8

Detail aus dem Steinmonument: Barry mit einem geretteten Kind – um 1900, Tierfriedhof in L’Île des Ravageurs, Frankreich.

Seite 13

Halsband, wie sie aktuell im Gebrauch sind.

Seite 16

Halsband, wie sie einst gebraucht wurden – Hospiz-Museum.

Seite 18

Gussform – Barry-Museum, Martigny.

Seite 20

Ursprünglich vergoldete Bronzestatue, 15. Jahrhundert – Hospiz-Museum.

Seite 30

heutiges Barry-Präparat – 1923, von Georg Ruprecht.

Seite 34

Bernhardiner aus Email – Barry-Museum, Martigny.

Seite 36

Bernhardiner aus Porzellan – Barry-Museum, Martigny.

Seite 38

Statue des Heiligen Sankt Bernhard de Montjou – Barry-Museum, Martigny.

Seite 44

Holzfässchen, wie es die Hospiz-Hunde damals um den Hals trugen – Hospiz-Museum.

Seite 51

Barry-Präparat – 1826 bis 1923, von Caspar Rohrdorf – gezeichnet nach einer Aufnahme im Besitze des Naturhistorischen Museums Bern (absichtlich in «demütiger» Haltung).

Seite 53

Vitrine mit präpariertem Barry – gezeichnet nach der ältesten Darstellung aus dem Buch «Le chien, son histoire, ses exploits, ses aventures», von Alfred Barbou (1846 – 1903), erschienen: Jouvet et Cie, Editeurs, 1883.

Quellenverzeichnis «Barry vom Grossen St. Bernhard», von Dr. Marc Nussbaumer, 2000. «Enzyklopädie der Rassenhunde», von Dr. h.c. Hans Räber, 1993. «Grand Saint Bernard, chiens, cani, hunde, dogs» von Marcel Marquis, 1988.

Partner

TM

Dieses Buch ist entstanden in Zusammenarbeit mit der Fondation Barry (www.fondation-barry.ch), Besitzerin der Bernhardinerzucht «du Grand St. Bernard».

Impressum Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe. © 2014 Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun/Gwatt Idee, Text und Illustrationen

Maya Delaquis www.mayadelaquis.ch

Gestaltung und Satz

Bettina Zanella, Werd & Weber Verlag AG

Lektorat

Eva Beyeler, Werd & Weber Verlag AG

Korrektorat

Heinz Zürcher, CH-3612 Steffisburg

ISBN

978-3-03818-000-5

www.werdverlag.ch www.weberverlag.ch Pro verkauftes Buch geht ein Betrag an die Barry-Stiftung, Martigny.

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Barrys Erben Der kleine Junge Sämi darf sich in der Zuchtstätte einen Welpen aussuchen und wählt den kleinen Bernhardiner Barry. Eines Wintermorgens gelingt es den drei Junghunden aus­ zubüchsen. Sie machen sich auf den Weg zum Grossen Sankt Bernhard, Richtung Hospiz, in der Hoffnung, ihren Vorfahren Barry dort zu finden. Sämi erfährt vom Verschwinden Barrys und ist todunglücklich. Unterdessen werden die Welpen von einer Lawine verschüttet und geraten in Lebens­gefahr. Urvater Barry erscheint ihnen und verleiht ihnen den Mut und die Kraft, um zu überleben. Es gelingt den Hunden, sich aus­ zugraben. Sie kämpfen gegen den Schneesturm und scheinen erneut verloren. Die Chorherren des Hospizes retten die Bernhardinerkinder und gewähren ihnen Obdach. Sämi unten im Tal muss warten, bis er seinen Barry im Frühling endlich in den Bergen abholen kann. Glücklich erkennen sich Sämi und Barry wieder.

Pr o verka uft e s Bu ch ge ht e i n Be t r ag z ur Un t er st ützu ng de r Be rnhar di ne r an di e Bar r y–St i ft u ng.

ISBN 978-3-03818-000-5 Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun/Gwatt www.weberverlag.ch


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