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Gebrauchsanweisung

Mit «Andere Welten» erlaube ich mir, Erlebnisse und Ereignisse zu schildern und zu kommentieren, die mich während meiner Auslandskorrespondentenzeit in Moskau persönlich besonders bewegt oder beeindruckt haben. Dies sind Fragmente und Einzeleindrücke.

Der Leser hält hier also keine austarierte, in sich ruhende «Jüngere Geschichte der ehemaligen Sowjetrepubliken» in der Hand. Ich versuche mit meinen Texten und Bildern vielmehr, beobachtete Ereignisse aufzugreifen, die meiner Ansicht nach die Gesamtregion in spezieller Weise herausfordern. Zudem erlaube ich mir, persönliche Erlebnisse zu schildern, die ich für mein ehemaliges Berichtsgebiet als irgendwie beispielhaft halte.

DIE GEMEINSAME WURZEL Die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern der ehemaligen UdSSR ist zum Teil immer noch geprägt vom gemeinsam erlebten Schicksal unter dem Sowjetregime. Diese einzelnen Regionen haben sich nach dem Zerfall der Sowjetunion zwar auf ganz verschiedene Weise weiterentwickelt, stehen dabei aber nicht selten Herausforderungen gegenüber, die sie mit ihren Nachbarländern teilen.

Unter dem Sowjetregime wurde den Bürgerinnen und Bürgern eine Weltanschauung vermittelt, die sich stark nach den Vorgaben und der Ideologie der Kommunistischen Partei, der KPdSU, ausrichtete. Viele Menschen in diesen Ländern setzten deshalb nolens volens auf die Verheissungen des Sozialismus. Eigeninitiative, Eigenverantwortung, freies und insbesondere regimekritisches Denken waren nicht erwünscht und hatten dem kollektiv verordneten Handeln oder planwirtschaftlichen Vorgaben zu weichen.

Deshalb ist es verständlich, dass es vielen Bürgerinnen und Bürgern in diesen Republiken schwerfiel, nach dem Zerfall der UdSSR bisherige Wertvorstellungen über Bord zu werfen und sich etwa mit den Grundideen einer liberalen Marktwirtschaft zu versöhnen. Sie sind anfangs der 90er-Jahre zum Teil auch arg enttäuscht worden. Bei der «Privatisierung» des Staatseigentums in Russland oder in der Ukraine beispielsweise haben es bisherige Parteikader und Fabrikdirektoren zum Teil geschafft,

zulasten der einfachen Bürger grossen Privatreichtum zusammenzuraffen. Sie haben sich wichtige Teile der einstigen Staatsbetriebe angeeignet. Viele der heutigen Oligarchen haben damals trickreich Gesetzeslücken genutzt, um sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern. Die einstige sozialistische Planwirtschaft war einem Raubkapitalismus gewichen.

In den meisten zentralasiatischen Staaten wiederum sind es vorwiegend die einstigen KP-Parteichefs aus UdSSR-Zeiten (oder deren Nachfahren oder einstige Verbündete), die seit Jahrzehnten die Geschicke dieser Länder bestimmen und sich diese dabei beinahe wie Könige angeeignet haben. Mit einem autoritären Selbstverständnis gebieten sie über «ihr Volk».

ALTLASTEN Die Sowjetunion hat auch ein schwieriges Erbe und zahlreiche Altlasten hinterlassen. So sind beispielsweise die zentralasiatischen Staaten heute allein dafür verantwortlich, der ökologischen Katastrophe am Aralsee Einhalt zu gebieten, einem Desaster, das einzig auf die verfehlte Wirtschaftspolitik Josef Stalins zurückzuführen ist.

Auch die ethnischen Konflikte und Bürgerkriege, die in einzelnen Regionen aufgeflammt sind, haben zum Teil ihre Wurzeln in der Bevölkerungspolitik des seinerzeitigen Sowjetdiktators. Zudem: Während das Sowjetregime einst das Ideal der Vielvölkergemeinschaft propagierte, suchen heute viele Regionen nach ihrer «nationalen Identität» und grenzen dabei ethnische Minderheiten aus.

Gewiss: Es gibt in all diesen Ländern Kräfte, die sich für Gerechtigkeit, für einen Ausgleich unter den Bevölkerungsgruppen, für soziale Verantwortung, für Demokratie und Frieden einsetzen. Doch der erhoffte Wandel benötigt offensichtlich mehr Zeit, als viele Beobachter einst prognostiziert hatten. Die Bürgerinnen und Bürger in Russland, in der Ukraine, in Weissrussland, Moldawien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und in den Ländern Zentralasiens sind im ihnen auferlegten Wandel hart gefordert. Sie erleben auch immer wieder Rückschläge.

GEDULD Der Weltgemeinschaft sei deshalb geraten, den Menschen in diesen Regionen auch dann Verständnis, Toleranz und Solidarität entgegenzubringen, wenn sich gewisse Entwicklungen nicht so einstellen, wie das einst euphorisch erhofft wurde und westlichem Wunschdenken entspricht.

Vor diesem Hintergrund möchte «Andere Welten» die Köpfe und Herzen der Leserinnen und Leser öffnen – auch für die Eigenheiten, Schönheiten und Attraktivität dieser Länder. Gleichzeitig möchte das Buch Verständnis schaffen für die Schwierigkeiten, mit denen die Bürgerinnen und Bürger in unserer östlichen Nachbarschaft konfrontiert sind. Diese Menschen sind Teil unserer gemeinsamen Welt und verdienen unsere Solidarität!

Peter Gysling

Studentenkundgebung in Tbilissi, Oktober 2013

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