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Vorwort von Heidi Tagliavini

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Gebrauchsanweisung

Gebrauchsanweisung

VERSTEHEN KANN MAN RUSSLAND NICHT, UND AUCH NICHT MESSEN MIT VERSTAND. ES HAT SEIN EIGENES GESICHT. NUR GLAUBEN KANN MAN AN DAS LAND.

FJODOR TJUTSCHEW

Wer einmal seinen Fuss nach Russland gesetzt hat, macht die Erfahrung, dass ihn das Land nicht mehr loslässt. So ergeht es auch Peter Gysling, der uns in seinem neuen, reich bebilderten Buch die für ihn wichtigsten Eindrücke seiner Zeit als Berichterstatter für verschiedene Schweizer Medien zu vermitteln versucht. Rund ein Vierteljahrhundert zieht an uns vorbei, die wohl wichtigsten 25 Jahre in der Geschichte des ehemaligen sowjetischen Imperiums, entscheidende Momente von weltgeschichtlicher Bedeutung in den Jahren von 1990 bis 2015. Höhepunkte und Tiefschläge der Endphase der Sowjetunion ziehen an uns vorbei, darunter so zentrale Ereignisse wie die Auflösung des Vielvölkerstaates Ende 1991 und das gleichzeitige Entstehen von fünfzehn neu unabhängigen Staaten. Wir lernen Persönlichkeiten kennen, die die Geschichte Russlands und der Nachfolgestaaten der Sowjetunion nachhaltig geprägt haben, wie Michail Gorbatschow und Boris Jelzin, Dmitri Medwedew oder Wladimir Putin. Oder eben auch den früheren georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili, der Georgiens Schicksal mit jugendlich-revolutionärer Verve zu verändern versuchte, dabei aber wohl das Gewicht und die Trägheit der Geschichte unterschätzte. Die Auflösung der Sowjetunion zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Peter Gysling beschreibt in eindrücklichen Bildern den weitgehend friedlichen Zerfall des Riesenreiches, und das immer aus seiner ganz persönlichen Perspektive eines passionierten und anteilnehmenden Reporters. Den Preis für die damals weitgehend friedliche Auflösung des Sowjetreiches haben allerdings einige Regionen an den Rändern dieses grössten Landes der Welt bezahlt, mit Konflikten, die heute noch nicht gelöst sind, und es wohl noch längere Zeit nicht sein werden. Einige dieser Kriege werden in diesem Buch mit grosser Betroffenheit und Anteilnahme beschrieben. Auch viele Menschen verstreut über das ganze ehemalige Riesenreich, die durch den Zerfall des sowjetischen Imperiums all ihre einstige Sicherheit und

manchmal ganz einfach den Boden unter den Füssen verloren haben, kommen zu Wort und schildern drastisch, wie sie schon seit Jahrzehnten ganz auf sich allein angewiesen sind und halt eben das Beste aus ihrer Situation zu machen versuchen.

Peter Gyslings Buch ist sehr persönlich gehalten; der Autor lässt uns an seinen vielen einmaligen Erlebnissen teilhaben und vermittelt uns sein ausgeprägtes Bedürfnis zu verstehen, was diesen Ländern und den dort lebenden Menschen durch die Macht der geschichtlichen Ereignisse für Kataklysmen zugemutet wurden und zum Teil auch heute noch werden. Aus seinen Schilderungen spricht ein für den Autor charakteristischer Sinn für Gerechtigkeit und eine gute Portion an Humor. Denn ohne Humor wären wohl die zum Teil skurrilen und grotesken Situationen, in denen sich Peter Gysling immer wieder zurechtfinden musste, kaum auszuhalten gewesen.

Unübersehbar sind auch die ganz persönlichen Vorlieben des Autors: Georgien mit seiner komplexen Geschichte, mit seiner reichen Kultur und seinen Traditionen, seiner dramatisch schönen Landschaft, seiner Lebensfreude und der unvergleichlichen Gastfreundschaft hat es ihm besonders angetan. Aber auch die Ukraine, in der er die echte Revolution mit ihren ganz schrecklichen Seiten kennengelernt hat, verdient seine besondere Aufmerksamkeit. Der hier vorgelegte Bilderbogen erstreckt sich auch auf in unseren Breitengraden weniger bekannte Gegenden wie Tatarstan, Jakutien, den Aralsee oder das nördliche Archangelsk, Regionen, die alle mit Überraschungen aufwarten und auf die eine oder andere unerwartete Art Besitz vom Berichterstatter ergreifen.

Peter Gyslings Buch erhebt – wie er selbst betont – keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht dem Autor nicht um eine systematische Aufarbeitung aller Entwicklungen in einem Land, aus dem 15 Nachfolgestaaten hervorgegangen sind; vielmehr sind die einzelnen Beiträge unterschiedlichster Länge ein Spiegel zu verschiedensten Themen, über die der Autor als Korrespondent berichtet hatte und die ihn besonders bewegt hatten. Das Buch ist also ein zeitgebundenes Dokument, in dem die einzelnen Beiträge wie Pinselstriche ein sehr persönliches Bild von einem unermesslich grossen und vielfältigen Land malen.

Heidi Tagliavini

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