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Mitten im Rausch der Geschichte
ERINNERUNGEN AN DIE LETZTEN TAGE DER UDSSR, AN DEN KAMPF UM EIN EIGENSTÄNDIGES RUSSLAND UND UM SELBSTÄNDIGE REPUBLIKEN Im August 1991, mit dem Beginn des versuchten und gescheiterten Putschs gegen Staatspräsident Michail Gorbatschow, überschlugen sich die Ereignisse bis Ende Dezember 1991 immer wieder. Ein achtköpfiges «Staatskomitee für den Ausnahmezustand» hatte sich am 19. August zur vorübergehenden Staatsführung erklärt und die Bevölkerung der Sowjetunion wissen lassen, dass Gorbatschow derzeit amtsunfähig sei. Der sowjetische Staatspräsident hätte in diesen Tagen eigentlich nach Moskau zurückkehren wollen, die Putschisten aber hatten ihn auf der Regierungsdatscha in Foros isoliert.
In der Nacht zum 19. August 1991 waren Panzer ins Moskauer Stadtzentrum gerollt, auf allen wichtigen Plätzen der Stadt standen Mannschaftswagen mit Soldaten und immer wieder Panzer. Doch bald war klargeworden, dass das Putschistenkomitee, das vom KGB-Chef Wladimir Krjutschkow dirigiert wurde, eher ziel- und hilflos operierte und bald scheitern würde. Auch die meisten Menschen, die man damals in den Moskauer Strassen oder in der Metro antraf, reagierten nach meinem Empfinden eher gelassen auf den Putschversuch.
Ich erinnere mich an eine Pressekonferenz, die damals unter der Leitung des Putschisten und offiziellen sowjetischen Vizepräsidenten Gennadi Janajew stattfand. Er versuchte, den angestrebten Machtwechsel mit der Behauptung zu begründen, die territoriale Integrität der UdSSR sei bedroht und eine gefährliche Anarchie mache sich breit. Selbst konservative (KP-nahe) Journalisten reagierten mit Achselzucken, Ratlosigkeit oder gar mit Gelächter auf diese Erklärungen und den Machtanspruch des selbsternannten «Staatskomitees für den Ausnahmezustand» (GKTschP).
So bedrohlich die Lage in der Stadt beim Auftakt des Putschversuches schien – irgendwie war schon nach wenigen Stunden spürbar, dass dieser Spuk bald ein Ende nehmen würde. In St.Petersburg (die Stadt hiess damals offiziell noch Leningrad) hatten sich Tausende vor dem Winterpalast ver-
sammelt, um gegen den Putschversuch zu protestieren. In Moskau waren es etwa 10 000 bis 20 000 vor allem jüngere Menschen, die sich mit grosser Entschlossenheit gegen die Putschisten zur Wehr setzten und sich vor dem Moskauer Weissen Haus, dem damaligen Parlamentsgebäude der Sowjetrepublik Russland, verschanzt hatten und dort mit allem, was ihnen in die Hände fiel, Barrikaden errichteten. Sie erhielten in den weiteren Stunden immer mehr Unterstützung. Auch von Passantinnen und Passanten, welche die Widerständler mit Tee und Lebensmitteln versorgten.
Den Putschisten war es nicht gelungen den selbstbewussten russischen Präsidenten Boris Jelzin zu isolieren. Jelzin galt schon damals als liberaler Gegenspieler zu Gorbatschow. Jelzin hatte es in den ersten Stunden des Putschversuchs geschafft, zum Weissen Haus, zum Zentrum des Widerstands gegen die Putschisten zu gelangen. Mit seinen dortigen Auftritten vor den Fernsehkameras der ganzen Welt wurde er denn auch sofort zur Symbolfigur des Widerstands gegen den Putschversuch der radikalen Kommunisten.
An einem Abend unmittelbar nach dem Beginn des Putschversuchs – ich mag mich gut daran erinnern – interviewte der Moderator der RadioInformationssendung «Echo der Zeit» des damaligen Schweizer Radios DRS einen deutschen Sowjetologen aus München (!) zu den Vorgängen in Moskau. Dieser berichtete mit pathetischer Stimme von einem erfolgreichen Aufstand «des ganzen sowjetischen Volkes». Ich selbst wartete derweil brav mit aufgesetztem Kopfhörer vor meinem Mikrofon auf meinen bevorstehenden Einsatz und schaute dabei durchs Bürofenster auf die Strasse vor unserem Haus hinunter. Im Gegensatz zu den Protesten vor dem Weissen Haus war hier nichts von einem grossen Volksaufstand zu erkennen. Es war aber auch kaum etwas von Angst spürbar. Vor dem damaligen Brot- und Milchladen am Moskauer Grusinskij Pereulok stand, wie damals immer, am Abend eine lange Menschenschlange, in der nahen Grünanlage sassen einige Leute auf den Parkbänken. Nichts, aber auch gar nichts wies hier – nur etwa drei Kilometer vom Moskauer Weissen Haus entfernt – auf den Putschversuch oder auch auf einen Volksaufstand hin. Mir oblag es dann, den Sowjetologen, der die Geschehnisse in Moskau von München aus kommentierte, mit meiner direkten Sicht auf das Geschehen zu relativieren. Ich erklärte, dass alles darauf hindeute, dass der Spuk bald vorbei sei, dass aber – abgesehen von den etwa 20 000 aktiv Protestierenden vor dem Weissen Haus – eher wenige Moskauer offensiv zu erkennen gäben, dass sie die jüngsten Ereignisse verunsicherten.
Die entschlossene Haltung Jelzins und der Protestierenden aber wirkte äusserst nachhaltig. Innert Kürze war damals klar geworden, dass die Bevölkerung den Putsch nicht hinnehmen würde. Den Altkommunisten fehlte die Gefolgschaft, sie konnten selbst die Armeeangehörigen nicht überzeugen. Auch einfachste Soldaten, die zur Absicherung des versuchten Machtwechsels abkommandiert waren, gaben sehr deutlich zum Ausdruck, dass sie nicht gewillt waren, gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen und insbesondere gegen die Protestierenden vor dem Moskauer Weissen Haus einzugreifen.
«Schande» hatte jemand mit weisser Farbe auf einen der Panzer gepinselt, den ich in der Twerskajastrasse in Warteposition entdeckte. Einzelne Panzerbesatzungen wechselten in diesen Stunden auch die Seite.
Eines Abends marschierten mehrere Tausend Protestierende vom Weissen Haus zur Lubjanka, vor die Zentrale des gefürchteten damaligen Geheimdienstes KGB. Ihr Ziel: Sie wollten das tonnenschwere Denkmal Felix Dserschinskis, des ersten Leiters des sowjetischen Geheimdienstes stürzen, das dort mitten auf dem Platz stand. Mit Hilfe von Leitern kletterten einige Demonstranten zum Kopf Dserschinskis hoch und legten der eisernen Statue Stahlseile um. Ein paar Besonnene aber warnten und meinten, das stürzende Denkmal könnte Anwesende verletzen, oder – wegen ihres Gewichts – auch die Metrostation gefährden, welche sich unterhalb des Platzes befindet. Diese Besonnenen mussten nicht lange auf den Beistand der Moskauer Stadtverwaltung warten. Bald fuhren Kranwagen mit Seilwinden zur Lubjanka vor und Dserschinski wurde unter dem Jubel der Anwesenden fachmännisch vom Sockel gehoben, auf einen Tieflader gelegt und unter grossem Applaus abtransportiert.
Ich bin in diesen Stunden immer wieder von meinem Korrespondentenbüro zum Weissen Haus, zum Kreml, zum Roten Platz oder eben zur Lubjanka geeilt, habe mich dort umgesehen, mich mit Passanten und Protestierenden unterhalten. Und rund um die Uhr berichtete ich in den Informationssendungen des Schweizer Radios über die beobachtete Entwicklung.
Die Putschisten – alles politische Hardliner aus der sowjetischen KP – hatten sich gegen Gorbatschows Öffnungskurs zur Wehr zu setzen versucht, gegen Gorbatschows «Perestrojka» (Umgestaltung) und «Glasnost» (Offenheit). Sie hatten vor allem die von Gorbatschow geplante Unterzeichnung eines neuen «Unionsvertrags» verhindern wollen, mit dem die Sowjetrepu-
bliken im Rahmen einer Konföderation – aber nach wie vor im Verbund der UdSSR – mehr politische Eigenständigkeit und mehr Autonomie hätten erhalten sollen. In diesem Abkommen orteten die Putschisten eine Gefahr für das bisherige sozialistische Sowjetsystem. Sie wollten die Struktur der bisherigen, zentralistisch regierten, autoritären, planwirtschaftlich ausgerichteten UdSSR sichern. Mit ihrem gescheiterten Putschversuch aber waren sie es, die der Sowjetunion den Todesstoss versetzten. Ende 1991 wurde die UdSSR formell aufgelöst. Die Präsidenten einzelner Sowjetrepubliken hatten zuvor – mehr oder weniger zur gütlichen Aufteilung und Verwaltung des sowjetischen Erbes – die GUS, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, gebildet, ein Commonwealth, das zum Ziel hatte, die Republiken der sich auflösenden UdSSR in einer etwas lockereren Struktur zu verbinden. Doch diese GUS hat in den Jahren danach nie jene Form und Kraft angenommen, die sich deren Begründer einst erhofft hatten.
Ende 1991 erklärte Gorbatschow (Zitate aus meinen damaligen Sendemanuskripten) in einer seiner letzten offiziellen Reden als abtretender sowjetischer Staatspräsident:
«Jetzt, nachdem die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten gegründet wurde, stelle ich mein Amt zur Verfügung.»
Er habe sich für die Souveränität der einzelnen Sowjetrepubliken eingesetzt, dabei aber versucht, die Union (die UdSSR) zu erhalten.
«Die Ereignisse aber haben einen anderen Verlauf genommen. Die Politik, welche das Auseinanderfallen des Landes und einen Zerfall des Staates bewirkt, hat jetzt obsiegt, was ich nicht akzeptieren kann.»
Schliesslich meinte Gorbatschow:
«Ich werde mein Möglichstes tun, damit die Vereinbarungen, die nun unterzeichnet wurden, zu einem Konsens in der Gesellschaft führen und dass damit der Ausweg aus der Krise und auch der Reformprozess erleichtert werden können.»
Damit bezog sich Gorbatschow auf die Konferenz der Republikspräsidenten, die sich zuvor in der damaligen kasachischen Hauptstadt Alma Ata (heute: Almaty) auf die Gründung der GUS verständigt hatten.
Schliesslich versuchte Gorbatschow in seiner Rede auch noch, sich selbst ein bisschen zu würdigen. Er habe sich seit seinem Amtsantritt 1985 redlich für Verbesserungen eingesetzt.
«Das Land erstickte damals in den Fesseln des bürokratischen Kommandosystems. Alles musste verändert werden. (…) Ich habe damals begriffen, dass Reformen nicht nur schwierig, sondern auch gefährlich werden könnten.»
Er habe sich auch für freiere Wahlen eingesetzt, für die Presse – und für die Einführung der Religionsfreiheit (1990).
«Wir leben jetzt in einer neuen Welt.»
Aber man habe, so Gorbatschow, auch viel verloren. Weil das alte System zusammengebrochen sei, noch bevor das neue habe wirksam werden können.
Etwas verbittert schloss Gorbatschow dann mit den Worten:
«Ich bin überzeugt, dass unsere Völker früher oder später die Früchte unserer Anstrengungen ernten werden, und dass unsere Völker (jene der ganzen Sowjetunion) in einer demokratischen und hoffnungsvollen Gesellschaft leben werden.»
Die Tage des versuchten Putsches, aber auch die Wochen danach, warteten mit immer neuen Überraschungen auf. Mir sind sie als Tage des Aufbruchs in Erinnerung – als Ereignisse, die damals in ihren wichtigen Einzelheiten aber kaum voraussehbar waren. Dies vor allem auch war das Spannende der damaligen Zeit.
SITZUNG DES RUSSISCHEN PARLAMENTES VOM 23. AUGUST 1991 Nach der Befreiung von Michail Gorbatschow und seiner Rückkehr von der Krim hatte Russlands Präsident Jelzin ihn eingeladen, vor den russischen Parlamentsabgeordneten Rede und Antwort zu stehen. Jelzin versuchte dabei, Gorbatschow «kleinzumachen». Jelzin nahm ein erstes Mal Rache für die parteiinternen Demütigungen, die er in den Jahren zuvor von KPdSU-Parteichef Gorbatschow hatte hinnehmen müssen.
Ich hatte mir den überraschenden Auftritt Gorbatschows an diesem Tag im sowjetischen Fernsehen angesehen, die Debatte in meinem Büro auf Tonband aufgezeichnet und kurz danach folgenden Beitrag für die Radiosendung «Echo der Zeit» nach Bern überspielt:
«Die Abgeordneten des russischen Parlamentes haben den geretteten sowjetischen Staatspräsidenten auffallend skeptisch empfangen. Frenetischen Applaus gab es nur, als sich Gorbatschow bei Jelzin bedankte, oder als er erklären musste, dass es jetzt wohl das beste sei, die ganze Sowjetregierung «zum Teufel» zu jagen.
Jelzin sass derweil mit bestimmter Miene, siegesbewusst auf jedes Wort Gorbatschows achtend, auf dem Podium.
Gleich zu Beginn erweckte der sowjetische Staatspräsident den Eindruck, als ob er bei jedem einzelnen Abgeordneten wenigstens um ein bisschen Verständnis werben wollte. Dafür, dass man ihm doch bitte glaube, dass seine Lage während des Putsches äusserst misslich gewesen sei, und dass er (Gorbatschow) gewillt sei, Konsequenzen zu ziehen.
Ja, so Gorbatschow, gegen die Putschisten werde ermittelt. Alle würden zur Verantwortung gezogen.
Zwischenrufe. «Was also wird mit der KP geschehen?»
Gorbatschow, entnervt, bald etwas ungehalten, warb dafür, jetzt keine Hexenjagd zu veranstalten. Alles müsse seinen rechtmässigen Weg nehmen.
Zwischenrufe: «Also keine Konsequenzen?»
Doch, beschied Gorbatschow: «Ich habe mich schon gestern deutlich erklärt. Haben Sie nicht zugehört, wollen Sie, dass ich jetzt nochmals alles wiederhole?»
Dann Gorbatschows erste Neuigkeit: Mit Boris Jelzin habe er sich inzwischen geeinigt, dass man sich in ähnlichen Notsituationen ge-
genseitig vertreten werde. Neuer sowjetischer Innenminister werde Barannikow, ein Russe, neuer KGB-Chef Bakatin, ein Russe, neuer sowjetischer Verteidigungsminister Schaposchnikow – ein General, der mit den Putschisten wirklich nichts am Hut gehabt habe.
Applaus.
Gorbatschow schien jetzt erleichtert. Dann aber erhob sich Jelzin mit gewichtiger Miene von seinem Sessel und überreichte Gorbatschow ein Blatt Papier: «Lesen Sie mal vor.»
Gorbatschow: «Lassen Sie mich doch erst mal meine Ausführungen beenden!»
Tumult im Saal.
Jelzin hatte Gorbatschow ein geheimes Protokoll überreicht, aus dem hervorgeht, dass beinahe alle zwanzig Sowjetminister den Staatsputsch unterstützt hatten. Vor allem: Kein Einziger hatte sich gegen den Staatsstreich gewehrt.
Gorbatschow begann betroffen vorzulesen …
«Michail Sergejewitsch, lesen Sie genau ...», donnerte Jelzin von seinem Platz. Offenbar hatte Gorbatschow etwas übersehen. «Ich sehe diese Liste zum ersten Mal, verstehen Sie!», versuchte sich Gorbatschow zu entschuldigen. Dem sowjetischen Staatspräsidenten wurde sichtbar immer unwohler.
Dann aber wurde seine Stimme wieder ruhig. Bestimmt, fast ein wenig triumphierend erklärte er, es werde jetzt wohl am besten sein, wenn er seine ganze Regierung «in die Wüste» schicke.
Die russischen Abgeordneten jubelten. Es wurde immer deutlicher, dass Gorbatschow hier die Geisel Jelzins war. Denn Jelzin war es, der hier die Sitzung, Gorbatschows Auftritt diktierte. Und ihm, Gorbatschow, blieb nichts Anderes übrig, als brav mitzuspielen.»
(Aufzeichnungen: gemäss meinem Manuskript vom 23.8.1991)