Kurzvorschau – Der Gymer

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Impressum

Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft.

Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten. Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2018 Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun/Gwatt

Texte

Birgit Stalder unter Mitarbeit von Hanspeter Andermatt

Gestaltung Umschlag

Monica Schulthess Zettel, Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun / Gwatt

Gestaltung Inhalt

Susanne Mani, Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun / Gwatt

Satz

Catherine Schubiger, PT-6150 Sobreira Formosa

Lektorat

Lars Wyss, Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun / Gwatt

Korrektorat

Madeleine Hadorn, Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun / Gwatt

ISBN 978-3-03818-189-7

www.werdverlag.ch www.weberverlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ein Buch zum Gymnasium Bern-Kirchenfeld, ohne äusseren Anlass. Es steht kein Jubiläum an, das gefeiert werden muss, kein millionenteurer Neubau wird eingeweiht. Einfach nur Zwischenhalt, Rückblick auf Umbrüche und Veränderungen, die sich gerade in den letzten drei Jahrzehnten geballt haben.

Und doch gibt es vielleicht Gründe, warum das Buch ausgerechnet jetzt erscheint. Die grössten Baustellen wurden in den letzten Jahren geschlossen. Nach all den Umbauten, Reformen und Professionalisierungen könnte nun eine Phase der Beruhigung folgen. Auch ist ein anpackender, an Mitwirkungsprozessen interessierter Erziehungsdirektor, in dessen Amtszeiten etliche Umstrukturierungen fielen, eben abgetreten. Ein guter Grund also innezuhalten und zurückzuschauen?

Aber um ein Erinnerungsbuch für Bernhard Pulver handelt es sich hier nicht, nicht mal im Ansatz. Auch er kommt höchstens en passant vor, wie viele prägende und eindrückliche Menschen aus der Geschichte des Gymnasiums Bern-Kirchenfeld nur en passant auftauchen. Hier geht es um die grossen Umbrüche, Veränderungen, Anpassungen an die Zeit. Und wie Menschen, die sie mit befördert haben und davon betroffen waren, persönlich erlebten.

Auch der Eindruck, dass nun eine Phase der Beruhigung eintreten könnte, liegt wohl eher an der Auswahl der Befragten. Dass viele Interviews mit ehemals Verantwortlichen geführt wurden, deren Blick zwangsläufig eine Art Fazit beinhaltet. Vermutlich halten wir uns besser an Willi Stadelmann, den ehemaligen Rektor des Literargymnasiums: «Bildung ist grundsätzlich stets in Bewegung.» Die einzige Konstante, die er habe ausmachen können, sei der Umbruch gewesen. Warum sollte das in Zukunft anders sein?

Meine eigene Gymerzeit – von 1979 bis 1983 am Realgymnasium – war geprägt von den Achtziger-Jugendunruhen. Wobei die Prägung den Unterricht nur am Rand betroffen hat. Wir waren sicher eine eher umtriebige Generation, die sich im Schülerrat betätigte, die «Re-Zeitung» herausgab und das Gymerfest organisierte. Wir hatten etliche Lehrer, die

Verständnis hatten dafür und uns in vielem sogar unterstützen. Darin unterschieden sich unsere Bedingungen, zumindest innerhalb mancher Bildungsinstitutionen, von denen der Achtundsechziger. Wir haben viel diskutiert, gestritten – der Kalte Krieg sass uns in den Köpfen –, direkte politische Auswirkungen erfolgten allenfalls nach uns.

So boykottierten meine Mitschülerinnen den obligatorischen »Fünfwöcheler» in den Sommerferien und machten sich dabei noch strafbar. Die staatliche Wasch-, Koch- und Bügel-RS für Frauen wurde bald darauf abgeschafft. Stattdessen führte die Schule 1985 ihrerseits einen Hauswirtschaftskurs für beide Geschlechter ein, der allerdings 1997 schon wieder dem neuen Lehrplan zum Opfer fiel. Auch die Zunahme an weiblichen Lehrkräften scheint zu jener, meiner Zeit eingesetzt zu haben. Wir wurden noch fast ausschliesslich von Männern unterrichtet. Der Schülerinnenanteil bei uns betrug immerhin rund 30 % und war damit höher als in den anderen Real-Klassen.

Wie sehr die gesellschaftlichen Umbrüche und Veränderungen auch die einzelne Biografie bestimmen können, wurde mir kürzlich bewusst, an der Erinnerungsfeier für Theo Umhang. Theo Umhang war mein Geschichtslehrer am Gymer gewesen, ein Mensch, der mich geprägt hat, mit seinem aufmerksamen, fragenden historischen Interesse. Wir hatten später wieder miteinander zu tun, als er nach seiner Frühpensionierung zum Kulturveranstalter wurde. Theo hatte die Filmgruppe am Gymer ins Leben gerufen und vermittelte Geschichte als gestaltete Politik. Seine Unterrichtsformen verlangten uns viel Eigeninteresse und selbständige Auseinandersetzung mit Themen ab. Das war nicht jedermanns Sache und polarisierte auch innerhalb der Klasse. Doch was ich damals als fortschrittlich oder in meiner Wahrnehmung sogar als zeitgemäss empfand, hatte sich tatsächlich in einem langen persönlichen Prozess entwickelt. Theo war als junger aufstrebender Historiker, dem universitäre Ambitionen nachgesagt wurden, an den Gymer gekommen. Zwischen der Krawatte in der ersten Zeit und den Sandalen später bei uns lagen die Achtundsechziger- und Siebzigerjahre. Theo hatte sich in der Zeit und mit der Zeit entwickelt, sicher auch im ständigen Kontakt mit jungen Menschen, die ihn als Lehrer herausforderten. Und dass ich ihn schon als Schüler duzen durfte, nahm mir keinerlei Respekt vor ihm, im Gegenteil.

Deutlich ist und deutlich wird beim Lesen dieses Buches, wie sensibel die Schule auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert. Und wie unmittelbar betroffen sie ist von politischen Verhältnissen. Stand die Säkularisierung der Bildung am Anfang der Berner Gymnasien, scheint seit dreissig Jahren die Sparpolitik immer wieder den Kurs vorgeben zu wollen. Doch was ist das für eine Politik, die nicht mehr die Bildung als solche verhandelt – ihren Sinn und Zweck und wer an ihr teilhaben darf –, sondern nur noch wissen will, ob’s das Bestehende nicht auch billiger gibt?

Aufschlussreich ist, einzelnen, vielleicht sogar Nebenaspekten zu folgen. Die Geschichte des Rauchens am Gymer Kirchenfeld beispielsweise erzählt time-in-time die Geschichte unserer Gesellschaft im Umgang mit Tabak. Ähnlich verhält es sich wohl mit anderen Drogen, die hier nur am Rand Erwähnung finden: Alkohol, Hanf, Heroin. Wie ist es mit Kokain und Designer-Drogen? Der Einzug der Verkehrspolitik: Die Frage, ob der Schulbeginn, mit Rücksicht auf die öffentlichen Transportmittel, später angesetzt werden soll. Der Bau der Velo-Tiefgarage und das Aufheben von Lehrer-Parkplätzen. Wie Fragen der Nachhaltigkeit und des Energieverbrauchs auf einmal eine Rolle spielen, vor allem im Zusammenhang mit Umbauten. Und die – vielleicht zurecht – stets ein wenig verzögerte technische Entwicklung und Digitalisierung.

Schliesslich: Wie wird die Bevölkerung abgebildet in der Population eines Gymnasiums? Der Anteil an Gymnasiastinnen betrage derzeit 67 %, ist zu erfahren. Und schon regen sich männliche Politiker, die das Verhältnis baldigst korrigiert haben wollen. Wo das Ungleichgewicht, sogar noch viel krasser, umgekehrt über Jahrzehnte geherrscht hat. Stören sich die gleichen Politiker auch an der Tatsache, dass die migrantische Bevölkerung am Gymer Kirchenfeld zwischen 1980 und heute im Schnitt bloss 6 % ausmacht?

Der Anteil an Schülerinnen und Schülern aus Einwanderungsfamilien und damit in der Regel auch sozial Schwächeren nehme zu, ist im Buch zu erfahren. Und doch ist es noch ein langer Weg bis zu einer wirklichen Chancengleichheit. Auch die technische Entwicklung wird im ähnlichen Tempo fortschreiten wie zuletzt.

Bildung ist, nach Stadelmann, weiterhin in Bewegung. Und Generationen von Schülerinnen und Schüler werden das Gegebene wohl als gegeben annehmen und erst hinterher, wie ich bei der Lektüre dieses Buches, erkennen, wie schnell sich die Dinge wandeln und dass das Gewesene im Rückblick auch komplett anders hätte sein können.

Ein Buch, ohne äusseren Anlass – viel Material jedenfalls, auf das auch Künftige zugreifen können. Und vielleicht sehen wir uns ja wieder, 2026, anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Gymers Kirchenfeld, oder 2030, anlässlich der 150-Jahr-Feier des Städtischen Gymnasiums in Bern. Bis dahin: Gute Lektüre.

Guy Krneta ist freier Autor und Dramatiker in Basel. Er ist in Bern aufgewachsen und besuchte das Realgymnasium Bern-Kirchenfeld von 1979 bis 1983.

Einleitung

Viele Generationen sind durch die Flügeltüren geschritten. Wer das Gymnasium Kirchenfeld besucht hat, erinnert sich – mit unterschiedlichen Emotionen – an diese Zeit. Seit der Eröffnung des Gebäudes 1926 haben sich Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte, verschiedene Rektoren, Hauswarte, Unterrichtsassistenten und Sekretärinnen abgewechselt. Bis 1966 war das Kirchenfeld das einzige, das Städtische Gymnasium in Bern. Wer vom «Gymer» sprach, meinte die Schule an der Kirchenfeldstrasse. Und daher verdient sie längst ein Buch über ihre Geschichte.

Das Jahr 1926 macht es bereits deutlich. Das vorliegende Buch ist keine Jubiläumsschrift. Es steht am Gymnasium Kirchenfeld in den nächsten Jahren kein wichtiger Gedenktag an, und die Schule soll in dieser Schrift auch nicht explizit gefeiert werden. Es ist auch keine Erzählung, die von Anfang bis Ende durchgelesen werden soll. Vielmehr handelt es sich um ein wissenschaftlich erarbeitetes Handbuch mit unterschiedlichen Kapiteln, die je nach Interesse aufgeschlagen werden können. Trotz dieser Themensammlung folgt die Publikation einer übergreifenden Fragestellung: Sie fragt nach der Geschichte des Gymnasiums Kirchenfeld mit Schwergewicht ab 1980. Insbesondere wird dabei der Frage nachgegangen, wie viele Konstanten die Schule bis heute tragen und wie viele Momente des Wandels das Schulleben verändert haben. Die folgenden Seiten präsentieren die verschiedenen Facetten einer Antwort.

Das Buch enthält drei verschiedene Teile. Zum einen gibt die Chronologie einen ersten Überblick über die wichtigsten Ereignisse und Strukturen. Da der Schwerpunkt auf der Zeit zwischen 1980 und 2017 liegt, erwähnt der chronologische Überblick aber bis 1980 nur ausgewählte Momente. Diese dienen dazu, den langen Werdegang der Schule zu skizzieren. Ab 1980 sind die richtungsweisenden Ereignisse detaillierter ausgeführt, wobei die Auflistung klar zeigt, dass die Geschichte des Gymnasiums Kirchenfeld nicht eine einzige Geschichte darstellt. Vielmehr ist sie die Sammlung von Geschichten, zum einen der verschiedenen Schulen, aus denen das Gymnasium bis 2005 bestand, zum andern der unzähligen Personen, die das Gymnasium Kirchenfeld im Laufe der Zeit geprägt haben und umgekehrt von ihm geprägt wurden. Erst gemeinsam ergibt sich das historische Bild.

Die je selbständigen Schulleben des Literar-, Real- und Wirtschaftsgymnasiums bis 2005 erschweren eine vollständige Nennung und Analyse aller Begebenheiten. Deshalb haben die Bemerkungen zu den einzelnen Schulen in der folgenden Tabelle exemplarischen Charakter.

Hauptgrundlage für diese Chronologie waren die schriftlichen Quellen, die in den Archivräumen des Schulhauses lagern. Es handelt sich dabei in erster Linie um Protokolle verschiedener Gremien (Abteilungs- und Gesamtkonferenzen, Rektorenkonferenz, Schulkommission, Arbeitsgruppen), aber auch um Reglemente, Lehr- oder Baupläne. Eine reiche Quelle sind auch die Schulberichte, die zwischen 1980 und 1996 jährlich erschienen sind und einen Überblick über die Stundentafeln, Lehrernamen, Pensionierungen, Maturanden oder kulturellen Ereignisse am Städtischen Gymnasium, das heisst am Kirchenfeld, Neufeld und am Untergymnasium boten.

Bei methodischem Studium der Chronologie werden gewisse Abläufe und Zusammenhänge deutlich. Diese Relationen und Abhängigkeiten liegen zwischen den Zeilen. Die zehn interpretatorischen Kurzkapitel, die im vorliegenden Buch auf die Chronologie folgen, erfassen diese prägendsten Ge- und Begebenheiten, die zwischen den vielen Jahreszahlen und Stichworten durchscheinen. Sie beziehen sich auf wichtige Reformschritte, aber auch auf die Genderfrage, Sparmassnahmen oder die Auswirkungen der Jugendbewegungen auf den Schulbetrieb.

Schliesslich sind an ausgewählten Stellen im Buch Interviews eingestreut. Der ehemalige Chemielaborant, eine pensionierte Sekretärin, viele frühere und aktuelle Rektoren, die Rektorin, die ehemalige Hauswartin, die inzwischen zurückgetretene Schulkommissionspräsidentin und der Vertreter der Erziehungsdirektion – alle erzählen von ihrer Tätigkeit und vom Schulleben. Die Schülerinnen und Schüler hingegen fehlen. Dies ist eine bewusste Entscheidung. Der Grund liegt darin, dass sich keine Auswahl aus den vielen Tausenden hätte wissenschaftlich rechtfertigen lassen. Ihre Geschichten am Gymnasium Kirchenfeld werden aber zum Teil in den Fotos abgebildet. Dabei sind die Fotos nicht nur Illustrationen, sondern ebenfalls wichtige Quellen. Auffällig ist auch die Aufteilung der Interviews auf Männer und Frauen. Die Mehrheit Männer widerspiegelt die

Geschlechterverhältnisse an der Schule, die sich erst in den letzten 15 Jahren zugunsten einer ausgeglichenen Repräsentation der Geschlechter –zumindest bei den Schülerinnen und Schülern und vermehrt auch bei den Lehrkräften – verschoben haben. Auf der Ebene der Schulleitung dominieren die Männer.

Dass so oder so die eine und exklusive Geschichte nicht erzählt werden kann, ist auch bei der Aufzeichnung dieser 18 Interviews klargeworden. Jede befragte Person hat ihre eigene Geschichte im Gymnasium erlebt und entsprechend auch die Schulentwicklung mitgestaltet. Die Gespräche sind nach der Methode der Oral History geführt worden. Diese beinhaltet, dass bei der Auswertung der Interviews der Distanz der befragten Personen zur eigenen Erzählung methodisch Rechnung getragen wird.

Jedes Interview endet mit einem kleinen Kommentar der Historikerin. In diesen kurzen Texten werden die Aussagen der interviewten Personen aufgrund der Forschungsergebnisse eingebettet, eingeordnet und interpretiert. Diese wissenschaftlich fundierten Überlegungen decken sich nicht in jedem Fall mit den Wahrnehmungen der Interviewten.

Trotz der grossen Vielstimmigkeit bietet die historische Methodik die Möglichkeit, dass wir uns dem Gymnasium Kirchenfeld, insbesondere des letzten Jahrhunderts, zumindest annähern. Die Sammlung ausgewählter Erzählungen lässt durch ihre Vielschichtigkeit ein historisches Bild des Gymers erahnen.

Ein historischer Rückblick

Bereits im Mittelalter bestanden höhere Schulen, viele unter Leitung der katholischen Kirche. Auch die im Rahmen der Reformation gegründete Lateinschule (ab dem 17. Jahrhundert «Litterarschule» genannt) nahm lange nur Knaben auf und bereitete sie auf das Theologiestudium vor. Die Akademie (damalige Universität) bot nur Theologie und Alte Sprachen als Studium an. Erst 1680 kam auf Hochschulniveau das Studium der Rechtswissenschaften, 1684 der Eloquenz, 1709 der Geschichte, 1736 beziehungsweise. 1749 der Mathematik und 1664 eine Anatomieschule im Inselspital dazu. In den 1770er-Jahren veränderte sich auch die Mittelschullandschaft. Der langsam einsetzende vorindustrielle Wandel verlangte nach gut und anders ausgebildeten Arbeitskräften. Als Folge erhielt die Literarschule Konkurrenz durch die «Kunstschule», eine Ausbildung, welche die Fächer Deutsch, Französisch, Mathematik, Zeichnen, Schreiben, Buchhaltung, Geschichte und Geografie, aber kein Latein und Griechisch anbot und auf zukünftige Handwerker und Handelsleute ausgerichtet war. Die Literarschule selber wurde modernisiert. Zwar lag das Schwergewicht noch immer auf den Alten Sprachen, doch kamen auch naturwissenschaftliche Fächer («Realfächer») und Sittenlehre dazu.

Die Zeit zwischen 1780 und den 1830er-Jahren war politisch bewegt und vom Einmarsch der französischen Truppen, der helvetischen Verfassung, verschiedenen Staatsstreichen sowie der Rückkehr zu vorrevolutionären Verhältnissen geprägt. Das Schulwesen war somit stets im Umbruch. Die Literarschule musste 1823 neu aufgebaut werden. Soziale Stellung, Reichtum und Bürgerrecht entschieden – nach einer Phase der erweiterten Gleichberechtigung unter Napoleon – wieder über den Zugang zu Wissen und Bildung. Der Schwerpunkt lag erneut auf der Theologie und den Alten Sprachen. Doch hatte sich der Zeitgeist gewandelt. Liberale Strömungen und die sich anbahnende Industrialisierung verlangten verstärkt nach anderem Wissen. Aus diesen Überlegungen gründete die Stadt 1829 die burgerliche Realschule, die bis 1837 an zentraler Stelle an der Marktgasse Schüler ausbildete. «Real» bezeichnete dabei nicht wie heute eine Schulstufe, sondern umschrieb den Schwerpunkt des Unterrichts. Im Unterschied zur Literarschule bot die Schule nicht nur klassische Fächer an, sondern konzentrierte sich auf «nützliche» naturwissenschaftliche Inhalte und Mathematik. Der Mitgründer, Bernhard Studer, musste sich gegen die Befürchtung der Öffentlichkeit wehren, der Unterricht könnte

einfacher sein als jener der «Litterarschule». Er argumentierte: «Es lässt sich kaum mehr bezweifeln, dass auch auf anderem Boden als auf dem classischen die Humanität zur Blüthe gelangt und dass nicht immer die Opfer der Grazien am hellsten brennen.» 1

Als 1831 die Einwohnergemeinde Bern entstand und viele der Verwaltungsaufgaben übernahm, die bis anhin die einzig in der Stadt existierende Gemeinde – die Burgergemeinde – innegehabt hatte, gehörte neu auch das Schulwesen in ihren Aufgabenkreis. Die liberale Regierung des Kantons förderte die Bildung als wesentlichen Pfeiler ihrer Politik und veranlasste im selben Jahr die Schulpflicht für alle Kinder. Die ehemals burgerliche Realschule wurde städtisch und empfing nun vermehrt Kinder aus allen sozialen Schichten. 1835 verabschiedete der Kanton Bern ein Primarschulgesetz, 1839 das Sekundarschulgesetz. Die obligatorische Schulzeit erlangte bereits die heute noch gültige Grobstruktur. 1852 übernahm die Stadt zudem von der Burgergemeinde die Realschule als vorbereitende Schule auf die Universität.

Die öffentlichen höheren Schulen – die kantonale Literarschule beziehungsweise ab 1856 neu «Kantonsschule» und die Städtische Realschule – erhielten ab 1856 eine weitere Konkurrenz durch die vom Patrizier Theoderich von Lerber (1823–1902) gegründete Lerberschule. Von Lerber fühlte sich dazu berufen, eine christliche Schule als Gegenpol zum säkularen Bildungskonzept der liberalen Kantonsregierung aufzubauen. Der Zweck und der Auftrag der Schule waren in mehrere Grundsätzen gefasst. Körper, Geist und religiöse Bildung standen im Vordergrund. «Die Kinder vor allen Dingen ihrem Gott und Heiland zu zuführen» und «die Kinder an Geist und Gemüt, und, was oft übersehen wird, am Körper gesund zu erhalten. Gesunder Verstand und ein unverdorbener Geist in einem kräftigen Leibe sind uns mehr wert, als viele Kenntnisse und Fertigkeiten ohne dieselben».2 Diese Ausbildungsstätte war privat und somit kostenpflichtig, sodass anfangs fast nur burgerliche Kinder einflussreicher Berner Familien die Schule besuchten. Sie existiert noch heute als Freies Gymnasium.

1 Bernhard Studer, zitiert in: Nüscheler, Rolf, 150 Jahre Real 1829–1879, Bern 1979, S. 4.

2 Bietenhard, Bendicht / Grädel, Christoph (Hg.), Das Jubiläumsbuch. fgb. 150 Jahre Freies Gymnasium, S. 19.

Auch die Gründung der Universität Bern 1834 machte die Neuorganisation der Mittelschule dringlich. Über Jahre probierten die Verantwortlichen von Stadt und Kanton verschiedene Fächerkombinationen aus, erprobten unterschiedliche Varianten von humanistischen und realgymnasialen Lehrgängen. Mit der Gründung der ETH 1855 erhielt die Realschule endgültig ihre Existenzberechtigung. Noch waren die städtische Realschule und die kantonale Literarschule getrennte Institutionen. Beide kämpften schon in den 1870er-Jahren gegen die schnell zunehmende Platznot. Die Realschule befand sich an der Brunngasse und mietete vorübergehend Schulzimmer in der Polizeiwache.

Die Kantonsschule stand an der Herrengasse, in unmittelbarer Nähe der Universität. Die Burgergemeinde beschloss, an dieser Stelle das Kulturcasino zu errichten. Die Schule musste weichen. Die grossrätliche Kommission weigerte sich, der Kantonsschule beim Bau des neuen Unigebäudes auf der Grossen Schanze einen Platz einzuräumen. 1880 veränderte aber eine gewichtige Schulreform die Lage: Die Realschule und die Kantonsschule vereinigten sich zum Städtischen Gymnasium – die Stadt übernahm das gesamte Mittelschulwesen, um den finanzknappen Kanton zu entlasten. Die daraus entstandene neue Schule blieb vorerst an der Herrengasse. Doch waren die Platzverhältnisse prekär, die Zimmer winzig, ungelüftet und rochen nach den nahen Stallgebäuden. Einzelne Fächer mussten anderswo unterrichtet werden.

Erst 1882 entschied sich die Stadt, eine Vorlage für einen Neubau zur Volksabstimmung zu bringen. Das Stimmvolk hiess den für damalige Verhältnisse hohen Kredit von 1 200 000 Franken gut. Die Stadt zeigte sich aber enttäuscht über die minimale finanzielle Beteiligung des Kantons, selbst gewisse Zünfte zahlten mehr. Unklar war lange, wo das neue Gebäude zu liegen kommen sollte. Optionen waren die Kaserne hinter der französischen Kirche, ein Bau an der Waisenhausstrasse oder gar im Kirchenfeldquartier. Doch schien letztere Idee abstrus: Das Kirchenfeldquartier war noch kaum erschlossen, die Brücke erst im Bau. Schliesslich zog die Schule ins neue Haus am Waisenhausplatz (in den heutigen Progr) ein.

Alle freuten sich vorerst über die grossen Räume, die hellen Korridore und die «treffliche Einrichtung für die Spezialfächer».3 Erst mit der Zeit zeigten sich die Nachteile: Der Spielhof war zu klein, der Lärm und Staub

3 Bärtschi Ernst, Denkschrift anlässlich der Vollendung und Einweihung des neuen städtischen Gymnasiums auf dem Kirchenfeld, hrsg. von der Schuldirektion der Stadt Bern, 1926, S. 8.

Abbildung 1: Bauplan für die neue Schulanlage am Waisenhausplatz, 1881. Im heute noch bestehenden Gebäudekomplex (heute «Progr») entstanden eine Primarschule im rechten Flügel, ein Gymnasium im linken Flügel sowie eine Turnhalle. Der Bau begann 1881. Dieses Schulhaus beherbergte das Städtische Gymnasium während fast einem halben Jahrhundert, bevor es ins Kirchenfeld zog. Heute ist die ehemalige Turnhalle eine Café-Bar mit dem Namen «Turnhalle», auch das ehemalige Lehrerzimmer der Primarschule ist heute ein Ausgehlokal und heisst «Lehrerzimmer». Die früheren Schulzimmer sind an Kunstschaffende verschiedenster Richtungen vermietet und so zu Ateliers und Proberäumen geworden.

Foto: Staatsarchiv Bern 1944.

vom Markttreiben und vom regen Verkehr störten den Unterricht. Zudem fehlte es bald an Zimmern. Wegen des Bevölkerungswachstums zwischen 1880 und 1920 von 43 000 auf 104 000 Einwohner verdreifachte sich die Schülerzahl. So zog die Bibliothek in den Estrich ohne Licht um, das Oberlehrerzimmer wurde zum Schulzimmer, das Lehrerzimmer teilten die Lehrkräfte mit der Oberprima, und Zimmer an andern Standorten in der Stadt wurden zugemietet, sodass die Lehrkräfte zwischen vier Örtlichkeiten hin- und herwechseln mussten. Schliesslich erfolgte die Umstellung von den Klassenzimmern auf «Wanderklassen». Fortan mussten die Klassen von Zimmer zu Zimmer ziehen, damit die Räumlichkeiten effizienter genutzt werden konnten. Diese Neuerungen galten als grosser Qualitätsverlust. 1911 schliesslich kam es zu ersten Vorstössen im Stadtrat:

Auch die Politik erkannte, dass die Situation untragbar wurde und dass ein Neubau geplant werden musste. Der Erste Weltkrieg unterbrach die Planungsarbeiten. Als sich 1916 der Regierungsrat einmischte und die Platzverhältnisse als gesetzeswidrig bezeichnete, dauerte es noch weitere zehn Jahre, bis der Bauplatz definitiv gewählt war und das Haus stand.

Verschiedene Standorte wurden diskutiert: Marzili, Neubrückstrasse, Kirchen feld… Im ersten Moment schien das Kirchenfeld zu teuer. Im Herbst 1921 kam es zu einer überraschenden Wende: Das Kunstmuseum bot zu einem zahlbaren Preis (567 000 Franken) das Bauland im Kirchenfeld an, zudem war die lang andauernde prekäre Lage der Stadtfinanzen wieder besser. Der Bauplatz, der schon zehn Jahre zuvor in Erwägung gezogen worden war, schien ideal: ruhig, in der Nähe von Sport- und Badeanlagen und inzwischen verkehrstechnisch gut erschlossen. Zudem sicherte sich die Stadt so ihren Einfluss auf die weitere Entwicklung des noch jungen Quartiers.

Nun ging es schnell. Der städtische Baudirektor, Hans Blaser, und der Schuldirektor, Fritz Raaflaub, machten Druck. Aus 43 Beiträgen im Architekturwettbewerb gewann das Projekt «Pallas Polias» des Architekturbüros «Widmer und Daxelhoffer». Die Baukosten beliefen sich auf 3 483 000 Franken, dazu kamen 270 000 Franken für das Mobiliar und 147 000 Franken für die Umgebungsarbeiten. 1923 akzeptierte das Stimmvolk den Kredit. Zweieinhalb Jahre später stand das neoklassizistische

Abbildung 2: Das Bild zeigt, wie umfassend das Kirchenfeldquartier ab den 1890er-Jahren erschlossen wurde. Dank der hohen Bodenpreise verhinderte die Stadt das Entstehen eines Arbeiterquartiers. Aus dieser Befürchtung hatten viele Stadträte das Bebauen des Quartiers vorerst überhaupt verhindern wollen. Im Hintergrund: Das Bundesarchiv im Bau. Foto: Staatsarchiv Bern um 1899.

Abbildung 3: Das Gebiet, auf dem das Städtische Gymnasium Kirchenfeld zu stehen kam, wurde davor – noch als freies Feld – in verschiedener Weise genutzt: 1886 fand in Bern das eidgenössische Schützenfest statt. Die Karte zeigt die verschiedenen Anlagen mitten im noch kaum erschlossenen Quartier. Die Bierhallen und Buden rundum den Helvetiaplatz, die riesige Festhütte auf dem späteren Areal des Historischen Museums und das Schiessgelände, wo heute die Nationalbibliothek und das Gymnasium Kirchenfeld stehen. Imposant zeigt die Architektur die ehemalige Symmetrie der Anlage, mit der Thormannstrasse als durchgehende Achse. Das Kirchenfeld war zu diesem Zeitpunkt noch bei Weitem nicht urbanisiert.

Foto: Staatsarchiv Bern 1885.

Gebäude, das die Literar- und die Realschule aufnehmen sollte. Die Maler Cuno Amiet und Victor Surbek dekorierten in den folgenden Jahren die Wände. Der Rektor des Realgymnasiums und der Handelsschule, Ernst Bärtschi (liberaler Stadtrat und späterer Nationalrat und Stadtpräsident), freute sich über den neuen Bau:

«Wer heute die hellen Räume des neuen Gymnasiums durchmisst und wahrnimmt, wie einfach und zweckmässig sich eins ans andere reiht, wie selbstverständlich und folgerichtig sich eins aus dem andern entwickelt, der ahnt kaum, welcher Unsumme an Arbeit es bedurft hat, bis diese Zweckmässigkeit und Folgerichtigkeit erreicht war.»

Abbildung 4: Auf dieser Karte von 1904 ist die fortschreitende Überbauung vom Helvetiaplatz aus Richtung Nordosten deutlich sichtbar. Der Helvetiaplatz war als zentraler Platz geplant worden, von dem aus sternförmig sechs Strassen abgehen. Die Thormannstrasse, die heute vom Gymnasium Kirchenfeld gegen den Dählhölzliwald führt, liegt – heute kaum mehr erkennbar – in der Achse zur Kirchenfeldbrücke. Der Bau der Monbijoubrücke und der Ausbau der Kirchenfeldstrasse 1962 zerstörten die Symmetrie endgültig und liessen die Thormannstrasse städteplanerisch unwichtig werden. Die Kirchenfeldstrasse schnitt das Gymnasium von der Thormannstrasse und vom nahen Dählhölzliwald ab.

Foto: Burgerbibliothek Bern 1904.

Auch in der Denkschrift zur Einweihung betonte er die Wichtigkeit der Schule: «Die Jugend eines Volkes ist seine Zukunft. Ihre Ausbildung und Vorbereitung auf das Leben ist zu einer der wichtigsten Aufgaben des öffentlichen Wesens geworden. Aus der einfachen Lateinschule der früheren Jahrhunderte, die vornehmlich auf das theologische Studium vorbereitet hatte, ist mit dem Fortschreiten der Wissenschaft das Gymnasi-

um der Gegenwart hervorgewachsen, das die Grundlagen zu schaffen hat zur Kenntnis und geistigen Beherrschung des ganzen, vielseitigen Lebens unserer Tage. Es ist augenscheinlich, dass die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik, das machtvoll flutende Verkehrs- und Kulturleben unserer Zeit neue und vermehrte Anforderungen stellen an die Vorbereitung der Jünglinge, die berufen sind, im Leben die geistige Führung ihrer Volksgenossen zu übernehmen. Heute, wo die ganze Erdkugel einen Kulturkreis und eine Lebensgemeinschaft darstellt, wächst die Notwendigkeit, Männer heranzubilden, die in der Lage sind, mit weitem Blick, mit der Sicherheit, die zuverlässiges Wissen, geistige und körperliche Gewandtheit verleihen, ihre Aufgabe zu bewältigen. Unser kleines Land hat, wenn es sein eigenes Gepräge, seine selbständige Führung behalten will, nach der wirtschaftlichen und politischen Seite hin mit so grossen Schwierigkeiten zu rechnen, dass nur eine in weite Kreise dringende Erkenntnis, eine hochstehende und geistige Führung ihm die uralten Überlieferungen einer freien und unabhängigen Volksgemeinschaft erhalten kann. In richtiger Auffassung ihrer Aufgabe haben Behörden und Volk unserer Stadt entschlossen und einmütig die Mittel bewilligt, um dem Gymnasium ein würdiges Heim zu erstellen. In lichtvoller Klarheit, gediegen und einfach steht der neue Bau da, zur Freude der Schule, zum Stolz des Gemeinwesens.» 4

Rektor Bärtschi glaubte an die Notwendigkeit einer klaren gesellschaftlichen Führung durch eine Elite in einer Zeit, die viele Menschen als Zeit des Aufbruchs, aber auch der Überflutung der Sinne empfanden. Das Gefühl, von aktuellen Entwicklungen überfordert zu sein, war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Dass der Rektor in einer öffentlichen Rede Mitte der 1920er-Jahre die Begriffe «Volksgemeinschaft», «Führung» und «Elite» verwendet, mag erstaunen, war aber zu jenem Zeitpunkt auch in freisinnigen Kreisen, in denen das Vertrauen in eine starke politische Führung gross war, noch üblich. Im Weltbild des Rektors und seiner Zeitgenossen bestand diese Elite aus Akademikern und nur aus Männern.

Weil sich im Eröffnungsjahr des Städtischen Gymnasiums Kirchenfeld ein zukünftiger Geburtenrückgang abzeichnete, änderte die Stadt spontan ihre Pläne: Es sollten nicht nur die Literar- und Realschule einziehen, sondern auch die Handelsschule, die 1856 als eine Abteilung der Real-

4 Bärtschi, Ernst, Denkschrift anlässlich der Vollendung und Einweihung des neuen städtischen Gymnasiums auf dem Kirchenfeld, hrsg. von der Schuldirektion der Stadt Bern, 1926, S. 8–16.

schule gegründet worden war und auf die immer zahlreicheren Berufe im Dienstleistungsbereich vorbereitete. 1919 hatte sie sich von der Realschule getrennt und war zur eigenen Schule geworden. Es handelte sich dabei vorerst nicht um ein Gymnasium, sondern um eine Berufsausbildung, die nicht zum Besuch der Universität berechtigte. Erst 1900 wandelte sich ein Zweig der Handelsschule zu einem gymnasialen Lehrgang, wobei die Berufsausbildung bis 1964 noch beibehalten wurde.

Die Folge des Einzugs aller drei Schulen im Kirchenfeld war erneuter Platzmangel, und dies bereits ab der Inbetriebnahme des Schulhauses 1926.

Chronologie

Wenn nicht genauer präzisiert wird, betreffen die folgenden chronologischen Ausführungen das Gymnasium Kirchenfeld. Bis 2005 bestand dieses aber nicht aus einer Schule mit Abteilungen, sondern aus drei eigenständigen Schulen. Da, wo sich die Unterscheidung aus dem Kontext nicht klar ergibt, werden die Abteilungen vor der Fusion als «einzelne Schulen», «Schulen des Kirchenfelds» oder «Einzelschulen» bezeichnet.

Wo möglich, werden immer beide Geschlechter erwähnt. Bei zusammengesetzten Begriffen wie «Schülerrat» wird im gesamten Buch nur die männliche Form «Schüler» verwendet, gemeint sind aber in den meisten Fällen beide Geschlechter.

Inhaltlich mag die Auswahl der im Folgenden ausgeführten Punkte auf den ersten Blick willkürlich wirken. Dieser Effekt ist gewollt. Er soll das Gefühl der Gleichzeitigkeit vermitteln. Der Gleichzeitigkeit von Mikro- und Makroereignissen, von kleiner und grosser Geschichte, von Schulalltag und Politik, von Schüleranliegen und Weltgeschehnissen.

Abbildung 5: Der lange Weg zum Kirchenfeld.

Zu Beginn lief die Thormannstrasse mit einer breiten Allee direkt auf die neoklassizistische Freitreppe des Gymnasiums zu. Die 1962 ausgebaute Kirchenfeldstrasse schnitt das Gymnasium dann von der Thormannstrasse und vom nahen Dählhölzliwald ab. Die Schülerinnen und Schüler flanierten fortan kaum mehr in der Grossen Pause bis zum Waldrand. Die Allee besteht noch heute, wird aber durch den Bruch der Symmetrie weniger wahrgenommen.

Das Bild verweist auch auf den Eindruck, den die Architekten vermitteln wollten: Der neoklassizistische symmetrische Bau von 1924 wirkt auf den Aufnahmen mächtig und repräsentativ. Er antwortete in seiner Ausrichtung auf der Nordseite architektonisch der fast gleichzeitig erbauten Landesbibliothek. Heute verschwindet das Gymnasium inmitten der anderen Bauten des Quartiers. Foto: Staatsarchiv Bern 1933.

Vorgeschichte und 19. Jahrhundert

16. Jahrhundert Die Reformation in Bern verändert die Schullandschaft. Die katholische Kirche wird auch als Bildungsstätte entmachtet. Die alte Lateinschule (Gründung wohl 1411) bekommt eine neue Funktion. Sie bereitet Knaben neu auf die protestantische Priesterausbildung an der Hohen Schule vor und gilt nicht mehr als allgemeine Volksschule für alle Kinder.

1779 Gründung der Kunstschule als Alternative zur Lateinschule. Sie ist für Handwerker, Kaufleute und Offiziere gedacht, die kein Latein, dafür Deutsch, Französisch, Mathematik, Zeichnen, Schreiben, Buchhaltung, Geschichte und Geografie lernen wollen. Der Nutzen von Latein für gewisse Berufe wird bereits zu diesem Zeitpunkt und nicht erst im 20. Jahrhundert angezweifelt. Die Schule kann als frühe Vorläuferin der Handelsschule beziehungsweise des späteren Realgymnasiums bezeichnet werden. Sie besteht in dieser ersten Form aber nur kurz.

Die Lateinschule wird modernisiert und heisst neu «Litterarschule».

1798–1830 Der Kanton Bern erlebt viele kurzlebige politische Verfassungen, unter anderem unter napoleonischer Herrschaft. Ebenso kurzlebig und konzeptlos ist die Schulpolitik.

1798 Der Patrizier, Philipp Emanuel von Fellenberg, gründet im Hofwil verschiedene Lehr- und Erziehungsanstalten sowie einen landwirtschaftlichen Musterbetrieb. Aus dieser «pädagogischen Republik» entsteht später das Gym nasium Hofwil.

1805 Gründung der medizinischen und rechtswissenschaftlichen Fakultäten an der Hohen Schule. Diese wird umbenannt zur «Akademie».

1829 Eröffnung der burgerlichen Realschule. Sie bietet eine Ausbildung für Gewerbe, Industrie und Handwerk statt nur für das Priester- und Jurastudium.

1831 Der Kanton Bern wird neu liberal regiert. Es entsteht die erste kantonale Erziehungsdirektion.

1834 Aus der «Akademie» wird die «Universität Bern». Die Burgergemeinde gründet eine burgerliche Mädchenschule auf Sekundarschulstufe.

1835 Die liberale Regierung des Kantons Bern verabschiedet ein neues Primarschulgesetz. Die Volksschule wird obligatorisch und kostenfrei. Sie dauert 10 Jahre. Das Berner Schulsystem teilt sich auf in Elementarschule, Progymnasium und Gymnasium: Das Gymnasium ist kantonal. Daneben bestehen weiterhin die burgerliche Realschule und verschiedene Privatschulen.

1839 Das erste kantonalbernische Sekundarschulgesetz tritt in Kraft.

1846 Die liberal-radikale Partei regiert den Kanton. Bildung ist ein wichtiges politisches Traktandum.

1852 Die burgerliche Realschule und die burgerliche Mädchenschule gehen an die Stadt über. Erstere ist eine gymnasiale Ausbildungsstätte, letztere eine Sekundarschule.

1855

Gründung der ETH. Diese bestärkt die Existenzberechtigung der auf sie vorbereitenden Realschule.

1856 Gesetz zur Gründung zweier Kantonsschulen. Zum einen heisst die Literarschule neu «Kantonsschule», zum andern entsteht ein zweites kantonales Gymnasium in Porrentruy für die französischsprachige Bevölkerung des Kantons. Mit den beiden Institutionen soll der Zweisprachigkeit des Kantons Rechnung getragen werden.

1859 Gründung der Evangelisch Freien Schule von Theoderich von Lerber (später Freies Gymnasium) als Alternative zu den laizistischen Schulen der Gemeinde und des Kantons.

1880 Das Kantonsgymnasium hat Platzprobleme. Der Kanton vermag aber aus finanziellen Gründen keine grössere Schule zu bezahlen. Die Stadt Bern übernimmt: Die Städtische Real- und die Kantonsschule verschmelzen zum Städtischen Gymnasium als Vorbereitungsschule für die Universität und die ETH. Die neue Lehranstalt besteht aus einem vorbereitenden Progymnasium und drei Abteilungen: Das Progymnasium dauert vier Jahre, die Ausbildung an der Literarabteilung 4,5 Jahre, an der Realabteilung 3,5 und der Handelsschule zwei Jahre. Die Handelsschulausbildung ist nicht gymnasial. Der «Verein für ehemalige Schüler des Städtischen Gymnasiums» wird aus der Taufe gehoben.

1881 Die ETH kündigt vorübergehend die Verträge mit allen vorbereitenden Schulen. Sie fordert eine Verlängerung der Ausbildung und bessere Vorbildung in Deutsch und Geschichte.

1885

1886

1891

Bezug des neuen Schulhauses am Waisenhausplatz.

Einweihung der Aula des Städtischen Gymnasiums an der Herrengasse 25 mit einem Auftritt einer gymnasialen Theatergruppe.

Gründung der Eidgenössischen Maturitätskommission. Es handelt sich hier um erste gesamtschweizerische Ansätze auf der Ebene der Mittelschulen.

700-Jahre-Gründungsfeier der Stadt Bern mit Beteiligung des Städtischen Gymnasiums.

1892 Die Handelsschule wird zur Handelsmittelschule ausgebaut und dauert neu vier Jahre.

1893 Einweihung der Kirchenfeldbrücke mit Beteiligung des Städtischen Gymnasiums.

Abbildung 6: Blick auf das freie Feld, auf dem das Gymnasium Kirchenfeld zu stehen kommen sollte. Deutlich ist das damals neue Schlösschen des Historischen Museums zu sehen. Foto: Staatsarchiv Bern 1894.

Abbildung 7: «Als der Tempel der Jugend sich erhob»: Innert zehn Monaten wurde 1924 der Rohbau des Kirchenfeld-Gymnasiums hochgezogen und veränderte das Gesicht des Kirchenfeldquartiers grundlegend. Foto: Staatsarchiv Bern, FI Losinger 1924.

1894 Ausbau der Handelsschule auf vier Jahre. Mädchen müssen per Gesetz am Gymnasium zugelassen werden. Erste Schülerinnen treten ins Literargymnasium ein. Sie haben nun Zugang zu den oberen Klassen, nicht aber zum Progymnasium.

1898 Einweihung der Kornhausbrücke mit Beteiligung des Städtischen Gymnasiums.

1900–1979

1900 Der Abschluss an der Handelsschule wird aufgrund eines Regierungsratsbeschlusses zur Handelsmaturität. Die Universität anerkennt diesen Abschluss aber vorerst nicht. Das erste Konzert des neu gegründeten gymnasialen Schülerorchesters geht über die Bühne.

1901 Ein kantonales Gesetz verfügt, dass Mädchen zur gesamten gymnasialen Ausbildung (auch Progymnasium) Zugang haben.

1906 Reform der eidgenössischen Maturitätsregelungen. Griechisch ist für das Medizinstudium nicht mehr obligatorisch.

1909 Schüler führen im neuen Stadttheater «Joseph von Ägypten» von Etienne-Nicolas Méhul auf. Das erste Mädchen macht die Handelsmaturität und wird später Ärztin.

1914 Die Schweizerische Landesausstellung findet mit Beteiligung des Städtischen Gymnasiums in Bern statt. Das Militär beansprucht während des Ersten Weltkriegs Räumlichkeiten im Schulhaus. Zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler erkranken an der Spanischen Grippe.

1919 Die Handelsschule erhält ein eigenes Rektorat: Die bisher gemeinsam verwaltete Real- und die Handelsschule werden administrativ getrennt. Eine erste Schülerin tritt in die gymnasiale Realschule ein.

1924 Aus Platznot entsteht im Kirchenfeld das neue Schulhaus: Vom ersten Spatenstich bis zum Rohbau vergehen nur zehn Monate.

1925 Das Latein als Obligatorium für Medizinstudenten ist bereits politisch umstritten, wird aber vorläufig (bis 1968) beibehalten. Die erste eidgenössische «Verordnung über die Anerkennung von Maturitätsausweisen» (MAV) tritt in Kraft. Die Typen A (Latein, Griechisch), B (Latein, Englisch) und C (mathematisch-naturwissenschaftlich) werden gesamtschweizerisch definiert.

1926 Das Literargymnasium, die gymnasiale Realschule und unerwarteterweise (spontaner Gemeinderatsbeschluss) auch die Handelsschule beziehen das Gymnasium Kirchen feld im kürzlich erschlossenen Kirchenfeldquar tier. Das Schulhaus ist von Anfang an zu klein.

1927

Realschule des Städtischen Gymnasiums:

- Adolf Burri wird Rektor der Realschule des Städtischen Gymnasiums. Er löst Ernst Bärtschi ab.

1932 Literargymnasium:

- Walter Müri wird Rektor des Literargymnasiums.

Um 1940 Das Gymnasium ist noch immer deutlich eine Schule der Oberschicht.

1939–1945 Gymnasiasten engagieren sich während des Zweiten Weltkriegs im Landdienst, in der Anbauschlacht und in der Armee.

1941 Die Maturandenquote liegt im Kantonsgebiet bei 2 %.

1946 Realschule des Städtischen Gymnasiums: - Max Moser löst Adolf Burri im Rektorenamt ab.

1948 Die Theatergruppe des Städtischen Gymnasiums wird offiziell gegründet.

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