Alle Angaben in diesem Buch wurden von den Autorinnen nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihnen und vom Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autorinnen noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten.
Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.
ISBN 978-3-03818-586-4 www.weberverlag.ch
Was hast du in deinem Leben eigentlich auf die Beine gestellt?
Mich.
Immer wieder.
Verfasser*in unbekannt.
Auf dem Thunersee kann ich immer wieder Kraft schöpfen.
Mutrakete
«Hallo Mirja … Erst mal möchte ich Dir sagen, dass mir Deine Songs gefallen und ich sie bereits im vorhandenen Format sehr gelungen finde! Für eine EP-Produktion fehlt mir im Moment leider die Zeit … Ich hätte Dir gerne mehr angeboten, ich hoffe, Du verstehst mich. Danke Dir sehr und liebe Grüsse, Adrian.»
Da war er wieder. Dieser beharrlich nagende Biber namens Zweifler, der drohte, meine wunderschön blühenden Visionsbäume zu Fall zu bringen. Dabei war ich mir so sicher gewesen, dass es Adrian Stern sein muss, der meine Songs produziert. Der Mann mit dem untrüglichen Gespür für Arrangements und der sensiblen Wahrnehmung für die Tiefe der Melodien. Aber scheinbar soll es nicht sein und ich sehe es als Zeichen, die Idee von der Veröffentlichung meiner Lieder endgültig zu verabschieden. Wenn es nicht sein soll, dann soll es eben nicht sein.
Aber Lieder schreiben ist nicht einfach nur ein Hobby von mir. Es ist ein innerer Drang, es ist Verarbeitung und Heilung, Sinn, Zweck und Lebensfreude. So sind in den letzten Jahren wieder einige Songs entstanden. Lieder vom Scheitern und Wiederaufstehen, von grosser Liebe und Dankbarkeit. Diese Stimme meines Herzens verlangt mit allem Nachdruck Gehör.
So finde ich mich plötzlich auf einer Freelancer-Plattform im Internet wieder. Ich denke mir, dass es heute ja möglich ist, mit Musikern auf der ganzen Welt zusammenzuarbeiten. Der Vorteil für mich wäre, dass ich von zu Hause aus musizieren könnte – keine langen Präsenzzeiten in Studios, keine langen Anreisen irgendwohin. Ich höre mir viele Produzierende an, ihre Songbeispiele, ihre Vorstellungsvideos. Dann stosse ich auf Lloyd Miller aus Austin, Texas. Seine Musikpalette
ist gross, von Country über Rock und Singersongwriter-Pop bis Blues. Er ist mir sympathisch und scheint seine Arbeit gut zu machen. Was vergebe ich mir, ihm einfach eine Songidee zu schicken und zu sehen, was passiert? Ich nehme mit Lloyd Kontakt auf und lasse alles ins Englische übersetzen, weil mein Schulenglisch da nicht wirklich taugt. Er freut sich, mit mir zusammenzuarbeiten, der Song gefällt ihm und er schickt mir innerhalb von zwei Wochen ein Arrangement, das mich vom Hocker haut! So viele Glücksgefühle löst es aus, meine nackten Liedideen nun im instrumentalen Kleid zu erleben! Song um Song entsteht, gibt mir Auftrieb, Energie und Kraft für die herausfordernden Momente, die natürlich (wie immer) auch da sind. Anstelle von fünf Songs beschliesse ich, ein ganzes Album zu machen.
Ich traue mich aber lange nicht, das an die Öffentlichkeit zu tragen. Zu gross ist die Angst, keine Resonanz darauf zu bekommen. Schliesslich braucht es einen Impuls von aussen. Nachdem ich ein altes Video von einer früheren Band auf Facebook geteilt habe, schreibt mir Nina: «Dini Lieder berüehre, will me drin dini Ehrlechkeit, dis Innere darf gspüre u nid nur dis künstlerische Chönne! Schön gits di eifach, liebi Mirja!!» Das ist der letzte Funke, den es braucht, um die Mutrakete zu zünden. Ich mache mich sichtbar und erzähle von meiner Vision, zwölf Songs in zwölf Monaten herauszugeben. Geplant ist zusätzlich ein Podcast mit meiner Freundin Yvonne Wiedmer, in dem ich die Geschichte zu den Songs erzählen werde. Bereits nach dem ersten Aufruf melden sich viele für den Newsletter an, alle mit sehr liebevollen und mutmachenden Kommentaren, was mich tief berührt und mir Rückenwind gibt.
Ich bin davon überzeugt, dass all diese gute Energie dazu führt, dass plötzlich Wunder passieren! Ende März kann ich wegen meines Zauberlinse-Kinderbuchprojekts beim Weber Verlag vorstellig werden. Schon das ist eine glückliche Fügung, die sehr überraschend kommt. Bei diesem Gespräch erwähne ich wegen der Terminplanung auch mein Albumprojekt.
Die Verlagsleiterin Annette Weber fragt mich, ob es schon etwas zum Reinhören gäbe, also spiele ich ihr die ersten zwei Songs ab, die noch ungemischt auf meinem Handy gespeichert sind. Sie ist berührt und meint, ich solle doch meine Lieder zusammen mit meiner Biografie herausgeben. Ich denke, das sei ein Witz. «Ich traue mir nicht zu, meine Biografie zu schreiben», sage ich. Sie antwortet: «Das musst du nicht selbst machen, dafür gibt es Autoren.» Ich bin sehr überwältigt von diesem unglaublichen Angebot, ihrer Begeisterung für meine Musik und ihrem Glauben an mich. Sie sieht da etwas in mir, was mir bisher verborgen blieb.
Ich bin total aus dem Häuschen und rufe aus dem Auto meine Eltern an, die gerade einige Tage in Italien unterwegs sind. Meine Mutter meint nach längerem Nachdenken: «Ja, ich glaube, das solltest du machen.» Mein Vater sagt: «Lies den Vertrag gut durch!» Ich liebe die beiden so sehr.
Mein Mann meint: «Es ist schön, dass sich jetzt ein Verlag richtig für dich interessiert, ohne dass du darum betteln musst. Wenn ich in deinem Buch vorkomme, ist das für mich okay. Meine Freunde kennen meine Geschichte sowieso und was andere denken, ist mir egal.» Ich liebe diesen Mann so sehr.
Meine liebe Freundin Yvonne Wiedmer schreibt: «Irgendeinisch fingt ds Glück eim. Und i ma dir das SO gönne!!!» Sie ist die Beste. Dass nun sogar sie diejenige ist, die meine Gedanken, Gefühle und Erlebnisse hier mit mir und für mich aufschreibt, ist ein absoluter Glückstreffer!
Hier ist es also: Das Buch zu meinen Songs und die Melodie zu meiner Geschichte. In zwölf Kapiteln werden alle Lieder von meinem neuen Album «Zwüsche Bärn u Texas» einzeln beschrieben und gleichzeitig mein Leben beleuchtet. Sozusagen mein ganz persönlicher Herzklang.
Ich kann es immer noch nicht fassen!!!
Ihr Lieben
DANKE, DASS IHR DIESEN WEG MIT MIR GEHT!
Irgendeinisch fingt ds Glück eim.
Denn, we mes am wenigschte erwartet.
Das wünsche ich Dir auch!!!
Bis gly, blyb xung und e feschte Drücker
CD Mirja, Zwüsche Bärn u Texas
Label: igroovemusic.com, EAN/UPC 4062851048156
Ganzes Album herunterladen
Erhältlich beim Weber Verlag und digital auf allen Plattformen.
In diesem Buch erzähle ich zu jedem Lied von diesem Album einen Teil meiner Geschichte. Der QR-Code führt dich direkt zum Song.
I bi no da
U plötzlech isch’s wieder still
U der Sturm isch verby
I bi läär u i bi müed u i bi chly
I bi verletzt, i bi verwundet
Aues tuet mir weh
Niemer söu mi so gseh
Aber i bi no da, i bi no da, i bi no da
De chani ou wieder ufsta
Ob i flueche u frage warum
Es isch egal
Mängisch lat dir ds Läbe grad ke Wahl
U di Wuet u all di Träne
Bruche Chraft, woni nid ha
Auso lanis ga
Aber i bi no da, i bi no da, i bi no da
De chani ou wieder ufsta
Musik & Text: Mirja
Erstes Kapitel
Der Liedtitel «I bi no da» schlich sich letzten Sommer in meinen Kopf. Und zwar auf der Alp. Den Song dazu habe ich erst später für mich allein in meinem kleinen Tonstudio geschrieben. Dort konnte ich das Gefühl in Worte fassen und zu einem Lied bündeln.
Mein Ehemann hat sich 2023 seinen langersehnten Traum nach einer Alpsaison erfüllt. Ich habe ihn begleitet, obwohl man mir kurz vor den Sommerferien ein Burn-out diagnostiziert hatte – oder vielleicht gerade deswegen.
Es ist kein einfacher Einstieg ins Älplerleben, denn ich bin am Ende meiner Kräfte. Die grosse Erschöpfung ist die eine Sache, gleichzeitig habe ich eine lange und heftige Bauchschmerzphase – mal wieder.
Wir sind erst ein paar Tage auf der Alp, da schleppe ich mich mit meiner Wärmflasche ins Badezimmer. Nachdem ich meine Hände gewaschen habe, schaue ich auf und sehe mein Spiegelbild. Ich sehe schlimm aus. Keine Lebenskraft, energielos, am Boden. Ich weiss nicht, wie es weitergehen soll. Wie bekomme ich die Beschwerden und diese Schmerzen endlich in den Griff? Du musst wissen, meine Bauchschmerzen sind etwas, das mich schon seit Jahren begleitet. Aber davon erzähle ich später noch ausführlicher.
Ich stehe also vor dem Waschbecken und frage mich weiter: Wann hört es endlich auf? Bereits seit sechs Wochen nehme ich nur Schonkost zu mir. Vorwiegend sind das Haferschleimsuppe, «Gschwellti» und Traubenzucker. So kann es doch nicht weitergehen! Auch mein Körpergewicht ist inzwischen besorgniserregend. Und jetzt bin ich hier auf der Alp. Es gibt haufenweise Arbeit und ich kann nicht helfen. Ich bin leer, müde und am Ende. Obwohl mich der Blick in den Spiegel
schockiert, wird mir gleichzeitig bewusst: «I bi no da.» Egal wie schlimm es gerade ist: Ich bin noch da. Und plötzlich wächst die Zuversicht wieder.
Ich habe in meinem bisherigen Leben schon sehr viele schwierige Momente erlebt. Sogar solche, in denen ich glaubte, ich müsste jetzt sterben. In der Realität war es zwar nie lebensbedrohlich, aber ich hielt es einfach nicht mehr aus. Müde von den Schmerzen, genug von allem. Dennoch ging es jedes Mal weiter. Immer ist es irgendwann wieder aufwärtsgegangen und ich habe alle Krisensituationen überstanden. Ich nenne sie heute Phönixmomente.
Einer der prägendsten geschah im Jahr 2000. Es ist der 23. Dezember und für diesen Abend ist ein Auftritt mit einem Gospel- und Rockchor geplant. Eine spannende Gesangsformation aus dem freiburgischen Sensebezirk und ich helfe dort aus. Bei allen ist die Vorfreude riesig, bei mir besonders auf meine Soloeinlagen. Ein schwarzer Rock ist Pflicht, also ziehe ich mich entsprechend an und mache mich parat. Als ich später vor dem Badezimmerspiegel stehe, merke ich plötzlich, dass ich Mühe habe, die Wimperntusche auf das linke Auge aufzutragen. Ich kann nicht mehr gut blinzeln. Nur einen Wimpernschlag später stelle ich fest, dass sich auch der linke Mundwinkel nicht mehr bewegt wie sonst. Das alles irritiert mich zwar, aber gleichzeitig nehme ich es auch nicht so wahnsinnig ernst. Zudem habe ich auch keine Zeit. Ich muss in den Sensebezirk; wir haben ein Konzert.
Im Freiburgischen angekommen singen wir uns ein und wieder fällt mir auf, dass irgendetwas merkwürdig ist. Ich kann mein Auge nicht vollständig zudrücken und meinen Mund nicht bewegen wie sonst. Ich bin richtig neben der Spur und es macht mir inzwischen Angst. Und obwohl ich mich sehr unwohl fühle, ziehe ich dieses Konzert durch. Das funktioniert auch, aber ich fühle mich zunehmend schlechter und gehe danach sofort nach Hause.
Am nächsten Tag – am 24. Dezember 2000 – geht meine Mutter mit mir in die Notfallklinik der Insel; das Universitätsspital in Bern. Die ganze linke Gesichtshälfte ist inzwischen gelähmt. Ich kann die Stirn nicht mehr runzeln, das Auge nicht mehr schliessen und den Mundwinkel nicht mehr bewegen. Auf der linken Gesichtshälfte sind bis und mit Hals alle meine Muskeln lahmgelegt und die Reflexe nicht mehr vorhanden. Die Ärzte machen diverse Untersuchungen, verkabeln mich und leiten Strom durch mich hindurch, um zu erfassen, ob dieser vom Hirn überallhin in den Körper geleitet werden kann. Das ist eine sehr unangenehme Prozedur. Zum Abschluss des Untersuchungsmarathons machen sie noch am gleichen Tag eine Computertomografie mit Verdacht auf einen Hirntumor. Der Moment in dieser erdrückenden Röhre kommt mir endlos vor. Die Gedanken fahren Karussell und ich habe panische Angst. Ich glaube nämlich inzwischen, dass das der Anfang vom Ende ist und ich bald sterben muss. Meine schwarzen Gedanken werden vom schrecklichen Geratter und dem unangenehmen Gehämmer der Röntgenröhre untermalt.
Während ich auf das Resultat warten muss, ist meine Mutter bei mir. Wie schon den ganzen Tag. Sie unterstützt und tröstet mich und macht mir Mut. Sie selbst ist aber auch verzweifelt und hat Angst, das merke ich. Noch bevor man mich gegen Abend nach Hause entlässt, kommt aber zum Glück noch die Erlösung: Es ist kein Hirntumor. Die Erleichterung ist riesengross und ich fühle mich fast ein bisschen wie neugeboren. Doch die Ernüchterung folgt sogleich, denn die Lähmung ist ja noch da und die Ärzte sind immer noch unschlüssig über meine Symptome und deren Herkunft.
So feiern wir am selben Abend Weihnachten. An Heiligabend mit meiner Familie zu feiern hat jahrelange Tradition, da wollen wir auch diesmal keine Ausnahme machen. Von dieser Weihnachtsfeier gibt es nur ein einziges Bild von mir, denn ich will keine Fotos von diesem Anlass, mein Aussehen ist mir unangenehm. Zudem muss
ich mich sehr anstrengen, dass mir das Essen nicht unkontrolliert aus dem Mund hinausfällt. Natürlich ist auch die Ungewissheit sehr schlimm für mich. Meine Gedanken drehen sich im Kreis und immer wieder tauchen dieselben Fragen auf: Was ist das? Bleibt es? Wie lange noch?
Nach den Feiertagen bekommen wir einen Termin beim Hausarzt meiner Mutter. Wir wollen bei ihm eine Zweitmeinung einholen und seine langjährige Erfahrung gibt uns neue Hoffnung. Der damals schon 70-jährige Dr. Traffelet praktiziert noch und war für meine Mutter schon immer eine wichtige Bezugsperson. Er schaut mich an und sagt trocken, aber einfühlsam: «Dr Tüüfu schiisst scho geng a glich Huufe.» Diese Aussage war darauf zurückzuführen, dass auch meine Mutter in ihrem Leben schon vieles durchstehen musste. Und auch darauf, dass ich in der Kindheit bereits diverse gesundheitliche Probleme hatte. Einerseits mit Asthma und andererseits schon damals oft mit Magen-Darm-Beschwerden. Jedenfalls habe ich mich an diesen einen Satz auch später noch oft erinnert …
Dr. Traffelet erklärt uns, dass auch er nicht wisse, womit wir es hier zu tun hätten. Infolgedessen muss er pragmatisch entscheiden: «Mir schiesse eifach uf aues und hoffe mir preiche öppis!» Geschossen wird mit Kortison und Antibiotika und von da an wird in meinem Körper ein Krieg geführt, ohne zu wissen, gegen welchen Gegner.
Ich werde auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Das macht mich zusätzlich traurig, denn ich habe gerade meine erste Stelle als Lehrerin in Ligerz angetreten. Eine wunderbare Schule, an der ich elf Kinder in der dritten und vierten Klasse unterrichten darf. Jetzt kann ich nicht mehr hingehen. Wie lange das so bleiben wird, weiss ich auch nicht. Oder was genau bedeutet: Auf unbestimmte Zeit?
Ich sitze wochenlang zu Hause rum und verzweifle. Allem voran kann ich nicht verstehen, was mir da gerade passiert und woher das alles
Oben: Rechts der alte Dr. Traffelet mit seiner Praxisassistentin Frau Wahli.
Unten: Das einzige Foto mit Gesichtslähmung, Weihnachten 2000.
kommt. Warum ich? Einen anderen Plan, als Medikamente einzunehmen, gibt es noch immer nicht. Dr. Traffelet ist sehr besorgt um mich und hat sich inzwischen stundenlang in Studien vertieft, um herauszufinden, was die Ursache meiner Gesichtslähmung sein könnte. Er hat aber noch immer keine Antwort gefunden und ist weiterhin ratlos. Es ist schwierig auszuhalten. Das Einzige, was mir wirklich hilft, ist die Musik.
Nach sehr langen sechs Wochen ist plötzlich wieder ein Millimeter Mundwinkelbewegung möglich. Diesen unfassbaren Moment kann ich heute nicht mehr beschreiben. Ich weiss nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Sofort steigt meine Hoffnung, dass doch noch alles gut werden könnte. Tatsächlich ist das Gefühl in meinem Gesicht innerhalb von zwei Wochen fast wieder zurück. Ich kann heute noch demonstrieren, welche Muskeln sich auf der linken Halsseite nicht vollständig erholt haben. Für mich ist es aber nicht mehr spürbar, und wer es nicht weiss, sieht davon nichts. Mein Auge kann ich wieder selbstständig schliessen und muss es nicht mehr zukleben. Meine Mimik ist zurück und ich erkenne mein eigenes Spiegelbild wieder. Vor allem kann ich wieder normal essen. Ich bin der glücklichste Mensch auf Erden und das überwältigende Gefühl kommt einer Erlösung gleich.
Ich darf auch wieder arbeiten. Nur einen Monat später haben wir besonderen Besuch in Ligerz. Es ist Kofi Annan. Meine Klasse darf ihm in der Kirche ein Lied vorsingen. Natürlich ist es ein selbst komponiertes Lied, das ich zusammen mit den Kindern geschrieben und auf CD aufgenommen habe. Das Lied heisst «I üser Schueu isch aues schreg» und wir dürfen dem UNO-Generalsekretär diese CD mit Stolz übergeben. Der damalige Bundesrat Moritz Leuenberger ist ebenfalls dabei, und natürlich der Gemeindepräsident von Ligerz. Alle sind sehr beeindruckt. Für mich ist dieser Moment doppelt speziell und dreifach besonders, weil ich überhaupt dabei sein kann und das alles miterleben darf.
Kurze Zeit später flattert ein Brief ins Haus. Es ist eine Umfrage, die an alle verschickt wurde, welche die nasale Grippeimpfung «Nasalflu» gemacht haben. Ich gehöre auch dazu. Bereits die erste Frage trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht und parallel dazu klärt sich alles auf:
«Haben Sie nach der nasalen Grippeimpfung eine Gesichtslähmung bekommen?»
Der Grund für meine Gesichtslähmung war also die neuartige, nasale Grippeimpfung «Nasalflu». Diese Impfung wurde anfangs Oktober 2000 von einer Biotech-Firma in Bern auf den Markt gebracht und musste kurze Zeit später wieder zurückgezogen werden. Bei auffällig vielen Geimpften trat nämlich eine vorübergehend halbseitige Gesichtslähmung (Fazialisparese) auf. Das kann man im Internet alles nachlesen.
Manchmal frage ich mich heute, ob diese Impfung der Auslöser sämtlicher Probleme meiner linken Gesichtshälfte war. Wie ich erst später herausfinden sollte, hat die übermässige Medikamentenzufuhr in meinem Körper – vor allem in meinem Darm – wohl ebenfalls bleibende Schäden hinterlassen.
Aber immerhin: Für das Ausfüllen der Umfrage bekomme ich zehn Schweizer Franken als Dankeschön.
www.news.uzh.ch/de/ articles/2004/1108.html
www.nzz.ch/article87I3Zld.210789
www.pharmazeutische-zeitung.de/ pharm2-35-2001/
TRACK 2
Nordkap
(DUETT MIT HENÄ)
Musik & Text: Mirja
Er het sini Täsche packt, ds Navi liegt bereit
Der Tank isch voll, der Service gmacht, d Reiseroute steit
Es schmöckt nach grosser Freiheit u nach ändlech gläbte Tröim
Un i giben ihm Rüggewind u warte deheim
Mit em Töff bis a ds Nordkap het er immer scho mau wöue
Aber wo d Ching si cho, het er sech d Zyt nümm gno
Hüt fahre si mit ihm zäme los bis a ds Nordkap
Wei sech Wind u Wätter stelle
I bi froh isch kes eleini uf der Strass
Si winke u gäbe Gas
Es isch heiss u d Sunne brönnt, aues stinkt nach Teer
D Kilometer wärde läng bi däm viele Verkehr
Der Campingplatz isch übervoll u d Nächt si zweni läng
Ds Füdle tuet zwar weh, doch ds Ziel rüeft mi no gäng
Mit em Töff bis a ds Nordkap hani immer scho mau wöue
Aber wo d Ching si cho, hani mir Zyt nümm gno
Hüt fahre si mit mir zäme los bis a ds Nordkap
Wei üs Wind u Wätter stelle
I bi froh si mir itz zäme uf der Strass
Mir winke u gäbe Gas
Da lütet ds Telefon u mi Maa isch dran:
I ha ständig Rüggeweh u ke Freud am Fahre me
I ha nes unguets Gfüel im Buuch u chume wieder hei
Was seit e gueti Frou i somene Fall?
Gib no nid grad uf, das isch der Afangsblues
Das wird no aues liechter we dir witer wäg sit
Aber we du würklech das Nordkap wosch la zieh
I erwarte di mit offne Arme hie
Mit em Töff bis a ds Nordkap het er immer scho mau wöue
Aber mängisch wird eim plötzlech klar:
Ou e Troum het es Verfallsdatum
Nordkap – vilech irgendwenn mau
Mängisch muesch en alte Troum la ga –
E neue steit scho da
Zweites Kapitel
Den Song «Nordkap» singe ich zusammen mit Henä im Duett. Lustigerweise haben wir uns bis dahin noch nie persönlich getroffen. Ich hatte bisher nur in der Rolle als Konzertveranstalterin mit ihm telefoniert oder gemailt. An sein Konzert damals konnte ich aus gesundheitlichen Gründen nicht hingehen. Irgendwann haben wir aber am Telefon zueinander gesagt, dass wir musikalisch mal was zusammen machen könnten. Ich freue mich sehr, dass dies nun möglich wird.
Im Zentrum dieses Songs stehen das Reisen, das Unterwegssein und die ganz grossen Träume. Ich erzähle darin vom langersehnten Wunsch meines Mannes, mit dem Töff von der Schweiz bis zum Nordkap zu reisen. Dass man Träume leben muss, wurde uns beiden erst im Jahr 2008 so richtig bewusst.
Im Sommer 2008 wollen wir in das Haus umziehen, in dem wir heute wohnen. Da wir dieses in einem sehr schlechten Zustand gekauft haben, muss zuvor alles neu gemacht werden. Mein Mann baut jede freie Minute an unserer Zukunft, und auf die Hilfe unserer Familien und engsten Freunde können wir auch immer zählen. Es wird gemauert, lasiert, geschliffen, verlegt, gehandlangert, montiert, geschreinert, verglast, geschnitten, angeschlossen, gestrichen, gekocht – wir haben wirklich für jedes Anliegen die perfekte Unterstützung. Einige Tage bevor wir umziehen wollen, merke ich plötzlich, dass ich auf dem linken Auge Grün und Rot nicht mehr unterscheiden kann und praktisch nur noch Graustufen sehe. Das macht mir grosse Angst. Ich gehe also zum Optiker, der mich sofort an einen Augenarzt verweist. Dessen Gesichtsfelduntersuchung bringt uns aber auch nicht weiter. Somit schickt er mich in das Universitätsspital Bern, in dem ich bereits am nächsten Tag einen Termin in der Neurologie bekomme.
Sofort wird eine Magnetresonanztomografie (MRT) mit Kontrastmittel durchgeführt, demnach die Ursache schnell gefunden ist: Ich habe eine Entzündung des linken Sehnervs. Und wieder betrifft es die linke Gesichtshälfte …
Im Anschluss an diese Diagnose folgt eine Lumbalpunktion. Die ist darum notwendig, weil eine Sehnerv-Entzündung ein Anzeichen für weitere Erkrankungen sein kann. Um herauszufinden, ob das auch bei mir der Fall ist, muss das Nervenwasser im Rückenmarkskanal untersucht werden. Dieser Eingriff wird auch gerne Hirnwasseruntersuchung genannt. Dies liegt wohl daran, weil diese Körperflüssigkeit Gehirn und Rückenmark gleichermassen umspült. Ich liege also seitlich auf dem Krankenbett, während mir der Arzt auf der Höhe der Lendenwirbelsäule mit einer dünnen Hohlnadel die erwähnte Flüssigkeit entnimmt, die später im Labor untersucht wird. Als diese sehr unangenehme Prozedur abgeschlossen ist, wird mir Kortison verabreicht – hoch dosiert. Und siehe da: Die Symptome im Auge sind sofort weg. Wegen der Punktion darf ich 24 Stunden nicht aufstehen, damit sich der Unterdruck im Gehirn wieder normalisieren kann. Wenn ich trotzdem aufstehe, wird mir sofort schwindlig und schlecht, weswegen ich noch eine Nacht im Spital bleiben muss. Ausgerechnet am Tag vor dem Umzug.
Für den nächsten Tag ist eine Riesenaktion geplant. Umziehen mit vier Kindern ist nicht etwas, das man ratzfatz erledigen kann. Wir haben wieder alle unsere Freunde und Familienmitglieder mobilisiert. Nur ich kann nicht mithelfen. Ich komme zwar am nächsten Morgen vom Spital nach Hause, darf aber nach wie vor nicht aufstehen. So legt man mich im neuen Haus am Boden auf eine Matratze, auf der ich bleiben und mich stillhalten muss. Rund um mich herum wird getragen, geschoben, gezogen und geschleppt. Das alte Haus ist binnen kürzester Zeit leer geräumt. Meine Mutter, meine Schwiegermutter und einige Freundinnen putzen im alten Haus. Die restlichen Helfer und Helferinnen räumen im neuen Heim ein. Jedes Kind hat eine
Equipe in seinem Zimmer, die Möbel aufbaut und die persönlichen Sachen einräumt. Ich versuche, von meinem Bodenlager aus zu delegieren, was wohin kommt. Es geht zu wie in einem Taubenschlag. Am Abend ist das alte Haus bereits geputzt und abgabebereit. Das neue Zuhause ist schon so weit eingerichtet, dass sich die Kinder in ihren Zimmern wohlfühlen können. Man kann nicht in Worte fassen, wie unendlich dankbar wir einmal mehr für diese grossartige Unterstützung sind.
Nachdem wir langsam angekommen und eingerichtet sind, kommt der 9. Dezember 2008. Mein Mann hatte vor einiger Zeit eine ungewöhnliche Gewebsveränderung festgestellt und ging deswegen zum Hausarzt. Dieser schickte ihn zu einem Spezialisten weiter, bei dem er heute einen Termin hat. Auf den obligatorischen Ultraschall folgt gleich die Hiobsbotschaft: Es ist ein Tumor, der so schnell wie möglich raus muss, da man zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiss, ob er gutoder bösartig ist. «Morgen habe ich Zeit», sagt der Arzt und entsprechend wird sofort alles in die Wege geleitet.
Am 10. Dezember findet also diese Operation statt. Am selben Tag habe ich einen bereits länger geplanten Termin im Inselspital – mal wieder. Es geht um die Nachbesprechung all meiner Untersuchungen, die ich seit meiner Lumbalpunktion durchführen musste. Aufgrund meiner Sehnerv-Entzündung war ein Verlaufs-MRI notwendig, um mögliche Veränderungen feststellen zu können. Diese Resultate will man heute mit mir besprechen. Meine Mutter ist gerade krank, weswegen mich mein Vater zu diesem Termin begleitet. Es ist Nachmittag. Mein Mann wurde am Morgen operiert und ich will in diesem Moment nichts anderes, als so schnell wie möglich zu ihm zu gehen. So betrete ich also etwas ungeduldig das Behandlungszimmer und der zuständige Arzt redet nicht lange um den heissen Brei: «Sie haben Multiple Sklerose. Es ist jetzt definitiv.» Tausend Gedanken schiessen gleichzeitig durch meinen Kopf, aber sagen kann ich noch nichts. Stattdessen weine ich bitterlich. Es ist nicht so, dass ich es nicht
erwartet hätte. Ich hatte schon seit einiger Zeit Symptome, die für genau diese Diagnose sprachen. Sehstörungen und Taubheitsgefühle in Händen und Beinen sind nur einige davon. Vermutlich ist meine Vorahnung auch der Grund, warum ich mich nach fünf Minuten Trauer wieder einigermassen erhole. Danach finde ich auch wieder meine
Worte: «Gut. Was kann man dagegen tun? Welche Optionen habe ich?»
Der Arzt erklärt mir alles ganz genau. Mit einer Interferon-Therapie werden wir starten, was bedeutet, dass ich mir selbst täglich ein Medikament spritzen muss. Mein Gesichtsausdruck spricht vermutlich Bände, denn er versucht, mich zu beruhigen, dass man das alles lernen kann. Dieses Arzneimittel wird zum Schliessen der Blut-Hirn-Schranke verabreicht und um den Entzündungsprozess zu hemmen. Viele weitere Informationen prasseln auf mich ein. Ich habe keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen soll, aber eines, das weiss ich genau: Ich will jetzt zu meinem Mann, denn das, was er hat, ist sowieso viel schlimmer.
Mein Vater fährt mich nach Thun ins Spital. Mit dieser Diagnose in der Tasche und mit dem Wissen, dass jetzt eine schwierige Zeit auf uns zukommen wird, setze ich mich mit einem mulmigen Gefühl zu meinem Mann auf das Bett. Zuerst versuche ich herauszufinden, wie es ihm nach seiner Operation geht. Der Krebstumor ist bösartig. Er war allerdings eingekapselt und so konnte man ihn problemlos entfernen. Wie ich meinen Mann nicht anders kenne, macht er bereits Witze und scheint guten Mutes zu sein. Dennoch geht ein solcher Eingriff an niemandem spurlos vorbei. Meine Diagnose kann und will ich ihm nicht länger verheimlichen, und so erzähle ich, was ich selbst erst seit zwei Stunden weiss. Er liegt da, ich sitze immer noch auf seinem Spitalbett und wir wissen beide, dass wir das alles nur zusammen durchstehen können. Eine Erklärung der eigenen Gefühlslage ist unnötig, weil wir beide gerade durch einen ähnlichen Prozess hindurchgehen müssen. Das Verständnis füreinander ist also gegenseitig sofort da. Wenigstens das ist ein Riesengeschenk in dieser schwierigen Situation. Einmal mehr finden wir in unserer Liebe die nötige Kraft, gemeinsam nach vorne zu blicken. Mein Mann sagt: «Der Tumor ist jetzt
raus. Ich gehe noch bestrahlen und dann ist die Sache für mich gegessen.» Und ich ergänze: «Es gibt bereits gute Therapieformen und ich steige sofort ein. Ich beginne mit dem Spritzen und lerne damit umzugehen.» So packen wir den Stier bei den Hörnern.
Die beiden Diagnosen sind die eine Sache, aber diese neue Ausgangslage verändert auch sonst einiges in unserem Leben. Allem voran entscheide ich mich genau in diesem Moment gegen eigene Kinder. Einerseits hat mein Partner schon vier Kinder, die bei uns leben, und andererseits steht heute noch in den Sternen, wie sich unsere Krankheiten in Zukunft entwickeln werden. Es kann zum Beispiel sein, dass ich in ein paar Jahren mit einem Rollstuhl leben muss. Man weiss es heute einfach nicht. Mir wird also genau an diesem Tag klar, dass ich keine Mutter sein werde, und es folgt ein langer Prozess, meinen Wunsch nach eigenen Kindern gehen zu lassen.
Die zweite Sache, die uns der 10. Dezember 2008 auch aufzeigt, ist, dass man seine Träume wirklich leben muss. Sind wir mal ehrlich: Wie oft philosophieren wir darüber, dass wir nur ein Leben haben? Darüber hinaus nehmen wir uns dann immer wieder vor, etwas Sinnvolles daraus zu machen. Diese Gedanken hängen dann jeweils noch einen Moment lang irgendwo in der Luft und verpuffen schliesslich wieder nutzlos im Alltagsgeschehen. Dabei wäre diese philosophische Erkenntnis so wichtig und wegweisend. Meinem Mann und mir ist jedenfalls schon mehr als einmal bewusst geworden, wie schnell alles anders sein kann und wie nahe Freude und Leid beieinanderliegen. Genau deshalb sprechen wir nicht nur von unseren Träumen, sondern setzen sie eben auch wirklich um. Und zwar lieber heute als erst morgen.
Darum hat mein Mann sich auf eine Motorradreise zum Nordkap aufgemacht. Dies war schon lange ein grosser Traum von ihm, den er während der Elternzeit immer wieder hinausgeschoben hatte. Umso schöner, dass er die Reise schliesslich mit zwei von seinen vier Kindern zusammen unter die Räder nehmen kann. Er hätte sehr gerne
gehabt, dass ich auch mitkomme. Wir haben viel darüber diskutiert, aber wegen meiner gesundheitlichen Baustellen traute ich mir diese weite Reise einfach nicht zu. So habe ich mich schweren Herzens dagegen entschieden, obwohl mir die Vorstellung zusetzte, acht Wochen allein zu Hause und ohne meinen Mann zu sein.
Erst im Sommer 2020, nach einem weiteren Schicksalsschlag, starten die drei auf ihre lang geplante Reise. In den ersten paar Tagen läuft alles rund; bei ihnen auf der Strasse und auch bei mir daheim. Etwa nach einer Woche ruft mich aber mein Mann an und sagt, er komme wieder nach Hause. Ich denke zuerst, ich höre nicht richtig, doch er erklärt mir weiter: «Ich fühle mich nicht gut, habe dauernd Rückenschmerzen und keine Freude mehr am Fahren.» Was ihn aber vor allem beschäftigt, ist dieses komische, ungute Gefühl im Bauch. «Ich kann es nicht erklären, aber irgendetwas stimmt einfach nicht.» Ich bin hin- und hergerissen. Meine erste Reaktion ist ein innerer Jubelschrei, denn ich würde mich riesig freuen, wenn mein Mann wieder nach Hause käme. Aber auf der anderen Seite weiss ich, dass diese Reise sein ganz grosser Traum ist, aus diesem Grunde versuche ich ihn zu motivieren: «Du darfst doch jetzt nicht aufgeben, das bereust du sonst dein Leben lang.» Ich zeige ihm auf, dass das vielleicht nur der «Anfangsblues» ist und dass es sicher noch besser werden würde. «Man muss sich zuerst wieder an das Unterwegssein gewöhnen», versuche ich ihn weiter anzuspornen. Aber er bleibt dabei und meint, er habe sich bereits entschieden. Und was sagt eine gute Ehefrau in so einem Moment? «Wenn du heimkommst, dann freue ich mich wahnsinnig!»
Manchmal läuft es mir noch immer kalt den Rücken runter, wenn ich daran zurückdenke. Vor allem, wenn die Frage auftaucht, was passiert wäre, wenn er sein Gefühl einfach ignoriert hätte? Ich bin jedenfalls froh, dass mein Mann immer auf seine innere Stimme und sein Herz hört. Dass sie schliesslich wieder umdrehen mussten, war für alle sehr traurig. Auch ich habe mit ihnen gelitten, bin aber gleichzeitig froh,
sind alle wieder heil zu Hause angekommen. Denn wie gesagt: Wer weiss …
Ich hatte auch immer einen grossen Traum, und zwar wollte ich schon seit Kindheitstagen eine bekannte Mundartsängerin werden. Wie zum Beispiel die Walliser Sängerin Sina, eine Frau, die im Mundartgesang ein Vorbild für mich war. Die erste Berührung mit Mundartmusik hatte ich aber mit der CD «Zytvertrieb» von Huber-Minnig. Ich fand diese Scheibe im Gestell meines Vaters und hörte sie rauf und runter. Songs wie «Frou vor Strass» oder «Ä Frömde i dr Nacht» inspirierten mich sehr. Der Zufall wollte es, dass eben dieser Minnig in derselben Firma arbeitete wie mein Vater, weshalb ich wusste, dass mein musikalisches Idol gerade in Israel unterwegs war. Das hat mich wahnsinnig beeindruckt. Später gab es dann noch den unvergesslichen Moment, als dieser Jack Minnig höchstpersönlich bei uns zu Hause am Küchentisch sass. Das versetzte mich nullkommaplötzlich in eine Schockstarre, denn für mich fühlte es sich an, als wäre gerade Michael Jackson hereinspaziert. So kam es, wie es kommen musste. Die logische Konsequenz für mich war: Ich wollte Mundartsängerin werden.
Drehen wir die Zeit zurück: Meine ersten musikalischen Schritte mache ich als 13-Jährige mit der Klavierkomposition «Teacher Song». Ein reines Klavierlied. Schon seit der zweiten Klasse nehme ich im Konservatorium in Bern Unterricht. Finanziert wird dieser durch meinen Grossvater. Der Rektor höchstpersönlich führt Tests mit mir durch, um herauszufinden, welches Instrument für mich das geeignetste wäre. Schnell ist klar, dass ein Klavier besser zu mir passt als die Geige. Immerhin singe ich gerne und kann mich somit mit dem Klavier begleiten. Ich bin froh über diese Entscheidung, denn ich habe nie so richtig den Zugang zur klassischen Musik gefunden. Brav absolviere ich also meine Klavierstunden und hangle mich von Vortragsübung zu Vortragsübung. Immer, wenn ich die ganze Woche über nichts geübt habe, hat mein Klavierlehrer in seinem deutsch-englischen Sing-Sang-Dialekt gesagt: «Mirjam, du hast geübt sehr gut.»