Leseprobe wie wird man allein gross s bauer

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Sonja L. Bauer

Wie aber wird man allein gross?

WEBERVERLAG.CH



Wie aber wird man allein gross?

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Sonja L. Bauer

Wie aber wird man allein gross? Eine als Kind ausgesetzte und schwer misshandelte Frau tritt mit ihrer Geschichte aus dem Schatten ans Licht.

Wir erinnern uns nicht daran, was wir erlebt haben. Woran wir uns erinnern wird zu dem, was wir erlebt haben. (Quelle unbekannt)


IMPRESSUM Alle Angaben in diesem Buch wurden von der Autorin nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihr und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen ­alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autorin noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten. Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich diejenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe. © 2014 Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun /  Gwatt Idee und Texte: Gestaltung / Satz: Lektorat: Korrektorat:

Sonja L. Bauer Eva von Allmen, Werd & Weber Verlag AG Eva Beyeler, Werd & Weber Verlag AG Heinz Zürcher, Steffisburg

ISBN 978-3-03818-025-8 www.werdverlag.ch www.weberverlag.ch


Inhaltsverzeichnis Vorwort 9 Ausgesetzt auf einem Stapel Wäsche

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Kinderheim und Pflegeeltern

15

Einzelhaft und Bonbontrost

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Grossmutters Mühle

25

Die Folterungen

29

Das Geständnis

33

Vaters Schuh

35

Mutters Dämon

41

Unschuldig bei Wasser und Brot

45

Die Konfirmation

49

Todesstrafe 53 Die Vergewaltigung

59

Unerfüllte erste Liebe

67

Die neue Familie

71

Hermann 79 Die Gestalt des Verhängnisses

83

Zur Hochzeit den Rest

97

Die Geburt des ersten Kindes

105

Erneute Vergewaltigung

109

Elender Alltag

117

Der Unfall

119

Die leibliche Mutter

123

Die Fehlgeburt

125



Die Hoffnung …

129

… stirbt zuletzt

131

Gericht und Scheidung

139

Der Mordversuch

141

Alleinerziehend 143 Bibel und Peitsche

147

Der siebte Sinn

151

Der zweite Mann

153

Im Emmental

155

Das Verschwinden

159

Der Terror

163

Im Berner Oberland

167

Feind Schizophrenie

171

Traurige Seele, ungebrochen

181



Vorwort Alle Namen, ausser derjenige der Protagonistin, sind geändert. Die Geschichte wurde auf Grund der Erzählungen von Gertrud Luise L. aufgezeichnet. Das Buch ist im Präsens geschrieben, mit Zitaten von Trudi L., meist im Präteritum. Eigentlich müssten sie im Präsensperfekt stehen, denn obwohl die Handlungen in der Vergangenheit stattfanden, sind die Folgen für Trudi noch heute relevant. Während das Buch entstand, starb Martin, Trudis ältester Sohn. Ein erneuter Schicksalsschlag für die starke Frau, die dem tiefen Leid mehrmals in ihrem Leben ausgesetzt war und dennoch ungebrochen blieb. Das Buch soll ihr die Möglichkeit geben, endlich ihre Sicht der Dinge darzulegen. Auch in der Gegenwart werden Kinder seelisch und/oder körperlich gequält, misshandelt, ignoriert, während Verwandte und Bekannte aus Angst, Bequemlichkeit oder Gleichgültigkeit wegschauen. Trudis Geschichte ist ein Aufruf zum Hinschauen, zum Interesse am Mitmenschen, zur Zivilcourage, zum Gebrauch des «gesunden Menschenverstandes», der den Respekt für die Würde jeglicher Kreatur voraussetzt. Vor allem aber ist es ein Aufruf zu Liebe und Verständnis für unsere Kinder – denn was wir empfangen, geben wir weiter. Oder wie es Pestalozzi sagt: «Erziehung ist Liebe, Geborgenheit und Vorbild.» Mit einem liebenden Vorbild bleiben wir frei von negativen Mustern, die unser Leben bestimmen. Geliebte Kinder – deren Eltern es ihnen und nicht der Gesellschaft recht machen wollen und die sie statt im engen Raum von 11



«Disziplin und Ordnung» im weiten Feld geliebter und geführter Freiheit gross ziehen, damit sie sich entfalten können – sind die einzige sinn- und seelenvolle Investition in die Zukunft, die einzige Möglichkeit, die Welt zu verändern … Behandelt die Kinder respektvoll, als wären sie Engel – dann wird es nur noch Engel auf der Welt geben. Sonja L. Bauer

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Ausgesetzt auf einem Stapel Wäsche Es ist Winter, als das Kind geboren wird. Irgendwann im Januar Mitte des vergangenen Jahrhunderts. 1944 oder 45, morgens um sieben. An welchem Tag weiss die heute fast Siebzigjährige nicht. Ihre leibliche Mutter will nichts mit ihr zu tun haben. Am besten, sie schweigt das Baby tot, dann gibt es dieses Mädchen vielleicht gar nicht. Oder sie ignoriert es, und wer weiss, wenn sie sich lange genug einbildet, dass alles gar nicht wahr ist, dann ist es vielleicht nicht wahr. Dann ist es nur ein schlechter Traum gewesen, der sie vage daran erinnert, dass sie wieder ein Kind geboren hat, ihr Viertes. Es darf das Neugeborene nicht geben; also gibt es das Kind nicht. Wer sein Vater ist, wird es nie erfahren. Nur, dass die Mutter das Baby nackt auf einem Berg schmutziger Wäsche in der Wäschekammer des Stockalper-Palastes in Brig liegen liess, da, wo sie als Dienstmädchen arbeitete. Dass sie die Tür hinter sich schloss wie ein Kapitel ihres Lebens und beschloss, Ereignis und Kind – zu vergessen. Das Alleingelassenwerden zwingt Trudis Leben in eine andere als die geplante Umlaufbahn. In eine, in der sie ständig mit dem Schicksal anderer, trauriger, enttäuschter und hilfloser Menschen kollidiert. Keine Umlaufbahn – ein Teufelskreis, den sie, blickend aus Kinderaugen, der Handlung des Aussetzens durch die leibliche Mutter zuschreibt. Kinder machen keine Kompromisse. Ungeliebte Kinder haben oft keine Wahl: Sie haben die Möglichkeit, zum Werwolf oder zum Opfer zu werden. Trudis durch Menschenhandlung irritiertes Schicksal schlägt von der ersten Lebensstunde an mit märchenhafter Brutalität zu – nur ohne Happy End. Auf dem Berg dreckiger Wäsche, in diesem Palast, der mitten in den Schwei15


zer Bergen steht, stirbt das Kind beinahe. Die Frau, die es geboren hat, nimmt dies in Kauf. Sie bringt ihm weder Milch, noch Kleider, noch Windeln. Nachdem es auf die Welt gedrängt hat, verdrängt die Mutter es aus ihrem Bewusstsein. Ob sie es jemals aus dem Gewissen verdrängen kann, ist unbekannt und zweifelhaft, dennoch tut sie das Unfassbare. Sie geht und lässt das Baby allein. Als das kleine Mädchen schliesslich Tage später von Unbekannten gefunden wird, ist es halb verhungert und krank. Dies erfährt das Kind, das bis anhin keinen Namen hat, später vom Vormund. «Es hörte und fühlte sich an wie die Geschichte eines anderen Kindes.» Die Behörden weisen es ins Spital in Brig ein und lassen es sofort taufen. Sie gehen davon aus, dass es sterben wird. Doch es stirbt nicht. Hätte es damals schon bewusst denken können, dann hätte es dies vielleicht als gutes Zeichen gewertet: Dass es stark ist, kräftig, leben will. Dass es eine Chance bekommt. Doch das Schicksal weiss, warum Kinder vergessen. Und dann ein Leben lang fragen und suchen müssen. Und dennoch niemals erraten, weshalb es ihnen Unerträgliches abverlangt.

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Kinderheim und Pflegeeltern Irgendwann in den anderthalb Monaten im Spital in Brig erhält das Mädchen seine zwei Vornamen: Gertrud Luise. Vielleicht sind dies die Vornamen der beiden Schwestern, die es pflegen. Gertrud wird, wie in Bern üblich, Trudi genannt. Sie weiss nicht, woher sie die Namen wirklich hat. Genauso wenig, wie sie weiss, wer ihr Vater ist. Wo ihre Mutter lebt. Niemand will ihr Auskunft geben. In den Augen der Menschen um sie herum meint sie zu lesen: «Was fragst du, Kind? Kind, ohne Berechtigung zu fragen.» Schon früh spürt sie, dass jemand wie sie, die niemand will, zu gar nichts ein Recht hat. Vor allem kein Recht auf Fragen. Ein Wort, das mit Verlangen, auch im Sinne von Ersehnen, Hand in Hand geht. Jahre später wird die junge Frau ihre Mutter dennoch treffen und kurz kennen lernen, nachdem man ihr auf den öffentlichen Ämtern jahrelang jegliche Auskunft verwehrt hat. Doch dann kann sie die Anwesenheit der Mutter nicht ertragen, zu schrecklich war ihre Kindheit, zu immens ist ihre jugendliche Anklage. Danach hat sie die Mutter nie wieder gesehen. Auch nicht, als sie das Alter gehabt hätte, vielleicht zu verstehen, wenn auch nicht zu verzeihen oder zu vergessen. «Ich fragte mich nie, wie sich meine Mutter fühlte und weshalb es für sie so schrecklich war, dies Kind – mich – zu bekommen. Aber als sie mich suchte und fand, als ich zwanzig war, schrie ich sie an, sie solle verschwinden. Schliesslich wollte sie, als ich ein Baby war, nichts von mir wissen. Sie liess mich im Stich. Was also hätte ich mit zwanzig und nach so einer schrecklichen Kindheit anderes tun sollen?» Als Trudi zum ersten Mal ihre Dokumente einsieht, stehen dort nur zwei Daten. Wobei sie, gemäss dieser Schrif17


ten, erst getauft und dann geboren wurde. Als Geburtsjahr ist das Jahr des Kriegsendes, 1945, eingetragen. Nach der Zeit im Wallis bringen die Behörden das Kind nach Bern ins Monbijou-Kinderheim. Dort wird es noch einmal getauft. Nun evangelisch-reformiert. Es lernt laufen und sprechen. Was Eltern sind und wie sich das Leben in einer Familie anfühlt, weiss es nicht. Auch nicht, was Zuwendung heisst. «Im Heim war ich ein Kind unter Kindern, die niemand wollte.» Die Betreuerinnen haben genug damit zu tun, die Kinder satt zu kriegen und sauber zu halten. Für Gefühle bleibt keine Zeit. Was Geschwister sind, erfährt Trudi nur kurz. Ihre Gegenwart streift sie wie ein Windhauch aus der Ferne. «Eines Tages standen zwei Jungen und ein Mädchen im Heim, von denen man mir sagte, sie seien meine Brüder und meine Schwester. Sie waren sehr viel älter als ich.» Doch auch sie scheinen keinen Zugang zu Trudi zu finden. «Ich weiss bis heute nicht, warum.» Nur der älteste, Sepp, kommt öfter. Er spielt mit seiner kleinen Schwester. Wenn sie weint, weil sie traurig ist oder einsam, oder weil sie sich verletzt, nimmt er sie in den Arm und tröstet sie. Er zeigt ihr, wie man auf einer Schaukel sitzt und wie man aus eigener Kraft schaukelt. «Das war wie fliegen. Nicht nur das Gefühl auf der Schaukel, nein, auch Sepps Zuneigung. Es war die schönste Zeit im Kinderheim.» Doch dann bleibt Sepp weg und kommt nicht wieder. Die kleine Trudi wartet vergeblich. Die Schaukel bleibt leer. Der harte Boden der Realität lässt sie ein zweites Mal schmerzhaft aufprallen. Als sie drei Jahre alt ist, stehen plötzlich eine Frau und ein Mann im Kinderheim. Man sagt ihr, dass die beiden sie mit18


nähmen. Niemand zögert lange. Trudi wird angezogen, ihre paar Kleider zusammen- und ins Auto gepackt. Von diesem Tag an wird ein grosses Haus mit Garten und Pergola in Steffisburg, im Berner Oberland, ihr neues Zuhause sein. Sie erinnert sich an eine nahe Mühle und an ihr geräumiges Kinderzimmer, über das sie sich wohl – gemessen mit dem Massstab der Erwachsenen, welche die Welt in Geld und Gut einteilen – freuen sollte. «In meinen Kinderaugen war es nur gross, leer und kalt.» Ein Schrank steht darin und ein Bett. Darauf sitzt, einsam, eine schwarze Puppe. Sonst ist da nichts. Dabei hätte es so viel Platz gegeben für ein wenig Zuwendung und Liebe. Bald schon ahnt das kleine Mädchen: Ich bin zwar nicht mehr im Kinderheim, aber auch nicht daheim. Diese zwei Menschen sollen denn auch nie ihre Eltern werden. Obwohl, so erfährt sie später, über eine Adoption gesprochen wurde, die dann, aus Angst vor dem finanziellen Erbe, das die junge Frau einmal hätte antreten können, nie vollzogen wird. «Dies war mir egal. Was ich brauchte, war nicht Geld, sondern Liebe.» Die jedoch können ihr die Pflegeeltern, deren Nachname Trudi noch heute als zweiten in ihrem Nachnamen trägt, nicht geben. «Eltern sein ist ein grosses Wort. Sie waren es nie, weder auf dem Papier noch im Leben. Das Wort Pflegeeltern beinhaltet ‹Pflege› und hat einen guten Klang. Meine Pflegemutter jedoch hat dies Wort nicht verdient. Sie pflegte mich nicht, sie quälte und zerstampfte mich im Laufe der Jahre wie eine Puppe, die dafür da ist, die Lebenswut eines Menschen aufzufangen.» Der Pflegevater bekommt Trudi im Laufe der Zeit vielleicht sogar etwas lieb. Doch er ist feige und unterwirft sich den Launen seiner Frau. 19


«Ich kann mich nicht erinnern, dass er sich jemals für mich eingesetzt hätte, dass er mir half oder zu mir stand.» Wenn die kleine Trudi etwas tut, das der Pflegemutter nicht gefällt, wenn ihr etwas passiert, das ihr nicht passieren darf – zum Beispiel, wenn sie Milch verschüttet oder etwas zu Boden fallen lässt, oder wenn sie etwas sagt, das sie nicht sagen soll –, so schlägt sie die Pflegemutter sofort ins Gesicht. Sie verbietet ihr, mit anderen Kindern zu spielen; mit ihnen sprechen darf sie nicht. Geschweige denn mit Erwachsenen. Geht die Pflegemutter ins Dorf, befiehlt sie Trudi, in ihrem Zimmer zu bleiben. Oft sperrt sie sie darin ein, bis sie aus dem Dorf zurück ist. «Ich war noch sehr klein, aber Einsamkeit und damals noch unbewusste, namenlose Ohnmacht haben meine Sinne geschärft. Alles tat weh, das Nichtverstehen weshalb, das Alleinsein, das einsame nächtliche Wachliegen und das Fragen, warum niemand kam, um mich zu trösten.» Als Kleinkind hat Trudi noch keine Worte dafür, kein ausgefeiltes Bewusstsein, um zu fragen. Dafür bleibt ihr die Erinnerung. Hartnäckig und treu ist sie. Schmerzhaft und nagend. An einem Frühlingstag, Trudi ist drei, vier Jahre alt, blühen die ersten Frühlingsblumen im Garten. Das kleine Mädchen findet sie zauberhaft und muss sie die ganze Zeit betrachten und an ihnen riechen. Plötzlich zieht ein Gewitter auf. Trudi rennt ins Haus, während der harte Regen blitzartig die Blumen zerstört. Trudi ist unendlich traurig. Als das Gewitter vorbei ist, rennt sie erneut hinaus – «ich wollte doch den Blumen helfen» – und fragt eine Nachbarin, die gerade vorbei kommt, wer die Pflanzen denn so «verdonnert» habe und was sie tun könne, damit sie wieder aufständen. Dummerweise hört dies ihre Pflegemutter. In Anwesenheit der Frau packt sie Trudi, zerrt sie 20


ins Haus und ohrfeigt sie, dass sie umfällt. Dann schleift sie das Kleinkind in sein übergrosses Zimmer und sperrt es darin ein. «Ich habe nie verstanden, warum. Ich wusste nur, dass ich hier nicht bleiben konnte, dass ich wohl nun ganz allein gross werden musste – wie aber wird man allein gross?»

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Einzelhaft und Bonbontrost Trudi ist noch nicht lange im Haus der Pflegeeltern. Doch von diesem Augenblick an weiss sie, dass die Frau, die ihr als «neue Mutter» angekündigt wurde, sie nicht mag. Niemand will sie haben, niemand hat sie lieb. Dass sie nichts wert ist, hört sie von nun an täglich. Die Pflegemutter bläut es ihr so lange ein, bis sie es glaubt. Auch Schläge gibts von nun an täglich. «Das fing bereits morgens an. Manchmal konnte ich ganz klar denken und ‹wartete›, bis es vorbei war.» Kein liebes Wort kommt jemals über die Lippen der Pflegemutter. Kein Lächeln für Trudi, kein lieber Blick. Sie schlägt sie immer und immer wieder. Immer öfter. So, als würde erst das Schlagen die Pflegemutter beruhigen – und befriedigen. Oft bekommt Trudi nichts zu essen und wehe, fragt das Kind nach dem Grund des «Vergehens». «Einmal fragte ich scheu, weshalb sie mich schlage. Daraufhin sperrte sie mich wütend in mein grosses, leeres Zimmer ein. Dort musste ich bis zum nächsten Morgen aushalten. Ohne Abendbrot und die Möglichkeit, mit irgend jemandem zu reden.» Die Pflegemutter nennt Trudi nie bei ihrem Namen. Sind andere Menschen dabei, nennt sie Trudi «ds Meitschi». Sind die drei allein zu Hause, sagt sie einfach «Soutotsch» zu ihr. Trudi ist noch keine fünf Jahre alt. Sie weiss nicht, warum alles so ist, wie es ist. Sie fühlt sich schlecht und unwohl in ihrem Körper, ist traurig. Fremd auf der Welt. Ihr Sehnen hat keinen Empfänger. Es ist niemand da, der sie nachts weinen hört. Kein Mensch, der sie tröstet, kein Engel, der sie erlöst. Nur Einsamkeit, die keinen Namen hat. Sie beginnt, das Bett zu nässen. 23


Die Geschwister der Pflegemutter und deren Eltern, ihre Grosseltern, sind lieb zu Trudi. Gern würde sie sich ihnen anvertrauen. Doch sie kann nicht. Sie darf nichts sagen. Zu sehr fürchtet sie sich vor den Konsequenzen. Sie weiss, die Taten der Pflegemutter sind ein Geheimnis. Ein furchtbares Geheimnis zwischen Pflegemutter und Kind, das dankbar zu sein hat dafür, dass es im Haus der Pflegemutter wohnen darf. Erzählte Trudi von dem lieblosen und seelisch wie körperlich unendlich brutalen Vorgehen der Pflegemutter gegen sie, würde diese sie für diesen Verrat mit noch härteren Strafen peinigen. Trudis Grossmutter hat zwei Katzen. Diese darf Trudi streicheln und lieb haben. Ist sie bei der Grossmutter, so sitzt sie stundenlang auf der Laube und streichelt und liebkost ihre «Buseli», wie sie sie nennt. Zum ersten Mal spürt sie so etwas wie Geborgenheit. Bei den Tieren ist sie glücklich. Auch ihre Tante I., die Schwester der Pflegemutter, ist nett zu ihr. Einmal nimmt sie Trudi in den Arm und fragt, wie es ihr gehe. Wieder kann das Kind nichts sagen. Der Kloss im Hals versperrt den Worten den Weg in die Freiheit. Was den Worten verwehrt bleibt, schaffen die Tränen: Trudi beginnt zu weinen. Die Tante tröstet sie mit einem Stück Schokolade. Sie wird nie mehr fragen. Trudi bekommt keine zweite Chance zu sagen, was täglich passiert. Dafür bekommt sie manchmal von der Tante ein «Täfeli» (Bonbon). «Oh, das war fein!» Trudi erinnert sich mit Wonne an den Geschmack der Süssigkeiten. Doch kurz nur. Bald weicht dieser der Bitterkeit dessen, was folgt, wenn die Pflegemutter mitbekommt, dass Trudi von der Verwandtschaft Süssigkeiten erhält. 24


«Sie nahm mir sofort alles weg und strafte mich dafür. Wenn ich die Schoggi bereits im Mund hatte, fasste sie mir mit den Fingern grob hinein und zerrte den Pudding wieder heraus.» Wo sie das gestohlen habe, wettert die Pflegemutter im Beisein der Tante, die Trudi gerade beschenkt hat. Diese indes ergreift nur schwach Partei für das Kind. Nützen tut es sowieso nichts. Kaum sind die Verwandten weg, wird Trudi dafür geschlagen und fragt sich, ob die Tante und die Grossmutter denn wirklich nicht wissen, was ihr ihre Pflegemutter antut – was für eine «Mutter» sie Trudi ist.

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Grossmutters Mühle Eines Tages besucht Trudi mit ihrer Pflegemutter die anderen Grosseltern. Die Eltern des Pflegevaters betreiben in Steffisburg die alte Mühle (heute abgerissen, Anmerkung der Autorin). Der Müller und seine Frau haben keine Katzen, dafür einen schwarzen Pudel. Jerry ist anhänglich und lieb und wird sofort Trudis Freund. Grossvater nimmt sie mit und zeigt ihr die ganze Mühle, erklärt, wie alles funktioniert und gemacht wird und fährt mit ihr im alten Mühle-Lift hoch und runter. Ein Fahrstuhl, den man selbst mit dem Seil hoch- und runterziehen kann. Das Kind ist glücklich. Lacht. Fühlt sich ernst genommen und geborgen. Nach der Mühle-Tour mit Grossvater geht sie fröhlich zu Jerry, umarmt ihn, schmust mit ihm. Da ist doch jemand, der sie lieb hat! Ihre Pflegemutter sieht dies. Es gefällt ihr nicht, wenns Meitschi glücklich ist. Sie will nicht, dass sich Trudi wohl fühlt, dann fühlt sie sich unwohl. Sie steht vom Tisch auf, an dem sie sitzt, und gibt vor, in die Küche gehen zu wollen. Dabei geht sie nahe an Trudi und dem Pudel vorbei und tritt ihm – «alles ging sehr schnell. Doch ich habe genau gesehen, dass sie schaute, wo sie hintreten muss» – rabiat auf den Schwanz. Der arglose Hund erschrickt so stark, dass er laut aufjault und Trudi im Affekt in die Nase beisst. Es schmerzt sie sehr. Die Nase blutet. Die Pflegemutter sagt lapidar: «Ich habe dir ja gesagt, dass Tiere böse sind.» Am liebsten würde das Mädchen der Pflegemutter ins Gesicht schreien: «Nein, du bist böse!» Aber sie traut sich nicht. Und das schmerzt ihre Seele noch mehr. Zur Strafe, weil der Hund sie biss, aber vor allem, weil die Mutter Trudis Glücklichsein an diesem Tag nicht ertragen 27


kann, darf sie lange Zeit nicht mehr zu den Grosseltern in die Mühle gehen. Doch dann reden die Grosseltern mit der Pflegemutter und laden das Kind ein paar Tage zu sich ein. Und tatsächlich: Trudi darf gehen. Die Mutter sagt ihr, sie sei es sowieso leid, jeden Morgen das Bett neu zu beziehen. Sie könne nun ein paar Tage bei der Grossmutter das Bett nässen. Trudi freut sich so sehr, wieder in die Mühle und zu Jerry gehen zu dürfen, dass sie kaum warten kann bis zum nächsten Abend. Sie hofft, dass nun eine Zeit der Ruhe einkehrt, eine Zeit, in der sie sich selber sein kann: ein Kind. Sie hat, seit sie bei den Pflegeeltern ist, noch nie irgendwo anders geschlafen als in ihrem grossen, leeren Zimmer, allein im einsamen Bett. Bereits am ersten Morgen, an dem sie bei den Grosseltern aufwacht, merkt sie, dass etwas anders ist: Das Bett ist trocken. Oma, Opa und sie freuen sich sehr darüber. Die Grossmutter sagt ihr liebevoll: «Schauen wir mal, ob das Bett morgen wieder trocken ist.» Und es ist trocken. So geht es noch eine weitere Nacht, die auf einen einfachen, aber geborgenen Tag folgt. Am dritten Tag aber macht die Grossmutter einen Fehler. Sie ruft ihre Schwiegertochter an und sagt ihr, dass Trudi keine Bettnässerin sei und es nicht wahr sei, was sie alles über das freundliche und liebe Mädchen sage. Das ärgert die Pflegemutter. Sie wird böse. Am gleichen Nachmittag holt sie das Kind in der Mühle ab. Zurück bleiben ratlose Grosseltern. Zu Hause gibt es Prügel, weil der «Soutotsch» nicht mehr ins Bett macht. Oder nur bei anderen nicht ins Bett macht. Weil er es zu Hause absichtlich tut, nur, um der Pflegemutter zu schaden. Am nächsten Morgen ist das Bett wieder nass. Trudi will nicht mehr hier bleiben. Ihr Leiden ist tief und gross. Die Leere frisst ihre Seele auf. Und es gibt nun mehr Schläge. Jeden Tag. Morgen für Morgen. Das Weinen hilft nichts. 28


Es nässt ihre Wunde nur noch mehr, damit sie nicht heilen kann. Sie frisst Trudis kleinen Körper auf, ihre Seele. Das ganze Kind ist eine einzige Wunde. Tagsüber gibt es Schläge für andere Dinge, die sie in Mutters Augen falsch macht. Sie weiss nicht mehr, warum sie Schläge kriegt. Sie bekommt sie einfach. Was soll sie tun? Sie weiss es nicht. Sie kann nicht mehr. Sie will nur, dass es aufhört. Sie implodiert, nie explodiert sie. Wie auch, sie ist ein Kind. Alles in ihr stirbt. Einmal fragt sie noch das Mühle-Grosi, nur einmal, was sie tun solle. «Du musst halt schneller laufen», sagt diese. «Weglaufen.» Ein Rat nur, keine Tat. Keine aktive Hilfe. Also rennt Trudi los. So schnell sie kann. «So Grosi?», fragt sie. «Nein, nein», sagt diese. «Nicht so schnell. Nur ein wenig schneller weggehen, halt.» Sonst erfährt sie nichts. Glaubt ihr denn keiner? Oder weiss es niemand? Weshalb hilft ihr niemand? Als die Pflegemutter sie am gleichen Abend schlagen will, probiert sie das Weglaufen aus. Doch sie ist zu zaghaft. Die Mutter holt sie ein. Sie straft das Kind fürs Wegrennen. Sie holt einen Lederriemen und züchtigt es damit. Trudi ist nun sechs Jahre alt, im Kindergarten.

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Die Folterungen Das Allerschlimmste seiner Kleinkindertage soll das Mädchen allerdings erst jetzt erleben. Bereits am ersten Kindergartentag erzählt die Pflegemutter der Kindergarten-Leiterin in Anwesenheit der Kinder laut und deutlich, dass «ds Meitschi» nicht etwa ihr leibliches Kind sei, sie es aber gütigerweise aus dem Heim geholt habe und nun zu ihm schaue. Kein Wunder, dass seine Mutter es nicht wolle, hört Trudi, denn das Kind sei ein «Soutotsch», der ihr nur Ärger mache. Da fühlt sich Trudi zum ersten Mal, als müsse sie sogleich sterben. Von diesem Moment an wird sie nicht nur von der Mutter geprügelt, sondern auch von den Kindergarten-Kameraden. Die Kinder lachen sie aus, verspotten sie. Niemand hinterfragt die Aussage der Mutter. Schliesslich ist die Familie reich und demzufolge angesehen. «Du hast ja nicht mal Eltern. Niemand hilft dir, wenn wir dich verhauen. Du bist ja gar nichts wert!» Und: «Du wehrst dich ja nicht mal …!», spotten die anderen. Dass sie nichts wert und zu nichts zu gebrauchen ist, weiss Trudi allerdings schon längst von der Pflegemutter. Sie glaubt es mittlerweile selbst. Schliesslich sagen es alle. Manchmal kommt sie wegen der Gemeinheiten der Kinder mit verschmutzten Kleidern nach Hause. Dann schlägt die Mutter sie. Sind die Kleider gar zerrissen, weil die anderen Kinder sie in die Dornen geschubst haben oder ihr die Kleider absichtlich zerschnitten haben, kriegt sie Prügel mit dem Lederriemen. Sie traut sich kaum mehr nach Hause. Sie traut sich nicht in den Kindergarten. Dann geschieht es: Ein paar ältere Kinder, die bereits zur Schule gehen, lauern ihr nach dem Kindergarten auf. Sie jagen sie, lachen, amüsieren sich. Dann plötzlich packen sie starke Kinder31


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