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Was ist mit Jürg Ryser passiert?

(Freitag, 9. September)

Silvia Rüfenacht hatte ihren Lastwagen um 5.45 Uhr an eine der acht Andockstationen im Bereich Korridor Ost gefahren, auf die Ebene − 3. Die 28-Jährige fuhr seit einigen Jahren für ein bekanntes Transportunternehmen, das unter anderem Dienstleistungen für Mieter des Westside ausführte, am 8. Oktober 2008 eröffnet, von Stararchitekt Daniel Libeskind realisiert. Mit diesem Zentrum war auch ein völlig neues Quartier entstanden, dem es in Sachen Infrastruktur an nichts mangelte, selbst ein Alterswohnheim von Senevita wurde ins Westside integriert. Und das medizinische Zentrum MedBase.

Auf 42 000 Quadratmeter Verkaufs- und Freizeitnutzungsfläche finden sich auf 4 Etagen 69 Geschäfte, das Multiplexkino von Pathé mit 11 Sälen, das Hotel Holiday Inn mit 151 Zimmern und vielen Seminarräumen, das Erlebnisbad und Spa Bernaqua sowie zehn Restaurants. Den Kunden stehen 1275 Parkplätze zur Verfügung, aber auch optimale Verbindungen mit dem ÖV dank der Tramwendeschlaufe der Linie 8 auf dem Gilberte-deCourgenay-Platz sowie der BLS-Haltestation Bern-Brünnen. Mit anderen Worten: In nur wenigen Minuten fährt die Bahn ins Stadtzentrum – und umgekehrt.

Nichts deutete an diesem frühen Morgen auf aussergewöhnliche Umstände hin, Hektik war um diese Zeit noch nicht ausgebrochen, weil die meisten Anlieferungen erst nach 7 Uhr erfolgten, obwohl die Rolltüren bereits um 4.30 Uhr hochgezogen wurden, dies im Hinblick auf die erste Anlieferung eines Migros-Lastwagens noch vor der nächsten vollen Stunde. Den mächtigen Sattelschleppern des orangen M standen auf einer anderen Ebene Andockstationen zur Verfügung, auf − 3 kamen aus Platzgründen und Zufahrtsmöglichkeiten nur kleinere Lastwagen zum Einsatz.

Silvia Rüfenacht, die an diesem Tag elf Palette auf eine bestimmte Fläche gestellt hatte – zur späteren Feinverteilung an die Mieter, die im Korridor Ost ihre Lagerräume hatten –, schien, dass in einer entfernten Ecke des Korridors etwas am Boden zu sehen war. Nicht nur von der sprichwörtli-

chen weiblichen Neugier getrieben, sondern auch, um mit einigen Dehnübungen ihre Beinmuskeln zu lockern, näherte sie sich dem Objekt. Je näher sie kam, desto klarer wurde, dass die Füsse eines Menschen zu sehen waren. Augenblicke später die Gewissheit. Hier lag ein bewusstloser Mann, der weder auf Zurufen noch auf Körperkontakt reagierte. Was jetzt? Silvia Rüfenacht glaubte, sich zu erinnern, dass beim Abladeplatz ein Telefon hing, eine daneben montierte Tafel gross mit dem Hinweis auf die Notfallnummer beschriftet.

Weil noch niemand anderes im Bereich − 3 zu sehen war, konnte sie vor Ort nicht nach Hilfe rufen, also wählte sie die Notfallnummer des Zentrums, wodurch sie um diese Zeit direkt mit der Alarmzentrale der Securitas verbunden wurde. Sekunden später konnte Silvia Rüfenacht mit einem Mitarbeiter sprechen.

«Wo genau liegt der Mann?» «Bei der Anlieferung Korridor Ost, Ebene − 3, am Ende des Korridors.» «Hat er sichtbare Verletzungen?» «Ich bin Chauffeuse, keine Ärztin», versuchte sich Rüfenacht in Selbstironie, «Blut ist jedenfalls nicht zu sehen, aber er reagiert nicht. Immerhin habe ich ihn in der Seitenlage stabilisiert, er atmet auch.» «Danke, Frau Rüfenacht, bleiben Sie vor Ort, ich avisiere die Sanitätspolizei.»

Weil in relativer Nähe des Westside am Rand des Bremgartenwaldes zusammen mit der Feuerwehr vis-à-vis stationiert, dauerte es nur wenige Minuten, bis die Ambulanz in den Korridor Ost einfuhr, worauf sich die beiden Rettungssanitäter sofort an ihre Arbeit machten, mit der Bitte an Silvia Rüfenacht, mögliche Schaulustige zurückzuhalten.

Und tatsächlich: Zwei Migros-Magaziner gesellten sich zu Silvia Rüfenacht mit der obligaten Frage, was denn hier passiert sei. Als Arzt und Sanitäter nach fünf Minuten mit der fahrbaren Bahre am Trio vorbeiliefen, bemerkte Julio Jimenez, einer der beiden Migros-Männer, im Flüsterton, das sei «Ryser vom Sicherheitsdienst».

«Es sieht so aus, als ob der Mann niedergeschlagen wurde. Wir fahren ihn ins Inselspital. Und ja, laut seiner ID heisst er Jürg Ryser. Bitte informieren Sie die Zentrumsleitung», sagte einer der Rettungssanitäter.

Die Ebene − 3 im Westside. Ganz hinten wurde Jürg Ryser gefunden.

«Das mache ich sofort», sagte Julio Jimenez, «ich kenne die Nummer von Westside-Chef Peter Gosteli.» «Und noch etwas: Weil der Patient möglicherweise niedergeschlagen wurde, muss der ganze Korridor abgesperrt werden, für den Fall, dass Ermittler später vor Ort gerufen werden. Das weiss man nie.» «Wie lange müssen wir absperren?» «Bis jemand Entwarnung gibt. Wohin führt der Korridor?» «Am Ende zum Lift in den Eingangsbereich des Trakts Ramuz der Senevita. Man kommt dort im EG raus.» «Stellen Sie mit Senevita sicher, dass dieser Lift sofort stillgelegt wird.» «Und Sie glauben wirklich, dass man bei Senevita Instruktionen von Julio Jimenez befolgen wird?» «Keine Diskussion. Auf Wiedersehen.»

Nachdem einer der beiden Rettungssanitäter in Eile die Kontaktdaten von Silvia Rüfenacht und Julio Jimenez aufgenommen hatte, verliessen die beiden Männer das Zentrum mit Blaulicht, direkt auf die Autobahn einfahrend. Auch Silvia Rüfenacht fuhr kurz danach mit ihrem Lastwagen weg.

Julio Jimenez telefonierte umgehend Zentrumsleiter Peter Gosteli, der offensichtlich nicht aus dem Tiefschlaf gerissen wurde, sondern hellwach in einer Art Selbstgespräch blitzartig die sofort zu ergreifenden Massnahmen aufzählte: Information an Senevita, Meldung an den Geschäftsleiter der Migros Aare, an Reto Sopranetti, sicherstellen, dass es sich tatsächlich um Jürg Ryser handelt, Information an dessen Partnerin, Julio Jimenez als vorübergehende Anlaufstation aller Informationen via Migros-Markt-Filialleiter Mic Maznikolli von seiner eigentlichen Aufgabe entbinden. Gosteli fragte sich insgeheim, wieso sich Jürg Ryser, sollte sich seine Identität bestätigen, um diese Zeit überhaupt im Zentrum aufgehalten hatte, sein Einsatz am Vorabend hatte nämlich offiziell um 20.30 Uhr geendet, heute hatte er frei. Merkwürdig, aber darüber nachzudenken, hatte im Moment keine Priorität.

Peter Gosteli arbeitet seit über 40 Jahren bei der Migros, in den verschiedensten Funktionen; das Westside leitet er seit 2019, zum Schluss seiner beruflichen Karriere. Will heissen: Er kennt alle Schlüsselpersonen persönlich, hatte ihre privaten Telefonnummern gespeichert. Er machte sich

nach den diversen Anrufen zur Notfallstation des Inselspitals auf, um sich zu vergewissern, dass es sich beim Bewusstlosen tatsächlich um Jürg Ryser handelte, wenn es darum gehen sollte, die Partnerin zu informieren. Um sich letzte Gewissheit rund um die Identität des Sicherheitsmannes zu verschaffen, telefonierte er mit der Freisprechanlage im Auto mit Bezirkschef Hans-Peter Mäusli vom Polizeiposten Bümpliz, der fürs Westside zuständig war. Er bat Mäusli, die Notfallaufnahme des Spitals zu informieren, dass er «in 20 Minuten» eintreffen werde. Gosteli hätte auch direkt das Inselspital informieren können, beliess es aber bei der Polizei. Weshalb so und nicht anders? Der Westside-Chef hätte die Frage nicht beantworten können. Intuition, Bauchgefühl.

Eine halbe Stunde später erhielt Myriam Schmid – die sich bereits grosse Sorgen um Jürg Ryser machte, weil telefonisch nicht zu erreichen – einen Anruf von Peter Gosteli; ihr Partner liege im Inselspital, die Umstände des Ereignisses noch unklar. Er, Gosteli, würde dort bei der Notfallaufnahme auf sie warten. Inzwischen hatten alle Räder ineinandergegriffen, nur etwas mehr als eine Stunde seit dem Zwischenfall. Gosteli stand in Kontakt mit Julio Jimenez, den er seit einigen Jahren kannte und schätzte, nicht zuletzt deshalb, weil der Katalane sich immer darum bemühte, neuen Mitarbeitenden spanischer Muttersprache im Westside – bei wem auch immer angestellt und der deutschen Sprache nicht prächtig mächtig – den Geist des Zentrums zu vermitteln.

Die erste Diagnose aus dem Inselspital liess keine Zweifel offen: Jürg Ryser war niedergeschlagen worden, Zeitpunkt noch unklar. Unterdessen war seine Partnerin eingetroffen, die erklärte, er habe gegen 2 Uhr einen Anruf erhalten und sei daraufhin sofort Richtung Westside aufgebrochen; mehr wusste sie nicht. Die Schwere seiner Verletzungen sei, so ein Arzt, noch nicht einzuschätzen, sicher handle es sich aber um ein Schädel-HirnTrauma, der Patient sei deshalb in ein künstliches Koma versetzt worden, um den Druck auf die Schädeldecke zu minimieren.

Ein künstliches Koma ist eine Form der Langzeitnarkose. Der Arzt versetzt den Patienten mittels medikamentöser Unterstützung und unter Überwachung von Herz und Kreislauf in ein Koma. Der Patient befindet sich dabei in einem Zustand der tiefen Bewusstlosigkeit, aus der er auch mit den üblichen Stimuli, beispielsweise einem gezielt gesetzten Schmerz-

reiz, nicht herauszuholen ist. Um die Narkose zu initiieren, kommen als Medikamente einerseits Narkosemittel und andererseits Schmerzpräparate zur Anwendung. Die Ernährung erfolgt entweder über eine Magensonde oder alternativ intravenös über die Vene direkt in die Blutbahn. Der zentrale Grund für eine kontrollierte Langzeitnarkose ist in der Regel die Entlastung des menschlichen Körpers nach einer schweren Verletzung. Wenn der Körper infolge eines Unfalls oder einer komplexen Operation auf besondere Schonung und Genesungsressourcen angewiesen ist, bietet ein künstliches Koma unter Umständen wertvolle Hilfe. Es sorgt dafür, dass sich der Körper ausschliesslich auf den Heilungsprozess fokussiert und dadurch optimal regeneriert. Schwere Kopfverletzungen oder auch die Notwendigkeit einer künstlichen Beatmung gehen häufig mit einem künstlichen Koma einher.

«Herr Doktor, wie lange muss Jürg im künstlichen Koma bleiben? Und was heisst das alles? Wird er wieder ganz gesund?», wollte Myriam Schmid vom Neurologen wissen. «Prinzipiell beträgt die Dauer wenige Stunden, aber bei Bedarf auch mehrere Monate. Meist wird der genaue Zeitraum während des Komas selbst entschieden. Er hängt wesentlich vom Verlauf der Genesung und der damit verbundenen Erholung des Körpers ab. Grundsätzlich dauert die Langzeitnarkose nach Möglichkeit nicht länger, als für eine ausreichende Gesundung erforderlich ist.» «Und was heisst das in diesem Fall konkret?» «Es tut mir leid, Frau Schmid, aber für eine Prognose ist es im Moment noch zu früh. Und bitte entschuldigen Sie mich jetzt, ich muss zum Patienten.» «Wann kann ich ihn besuchen?» «Wir rufen Sie an, sobald das möglich sein wird.» «Herr Gosteli, können Sie …»

Peter Gosteli konnte die Frage nicht abwarten und Myriam Schmid auch nicht fragen, weshalb ihr Partner sich zu dieser Zeit im Westside aufgehalten hatte, denn das Display seines Handys kündigte JJ an, Julio Jimenez, sodass er sich bei Myriam Schmid damit entschuldigte, dass er den Anruf unbedingt annehmen müsse. Und was er zu hören bekam, liess das Blut in seinen Adern gefrieren. Keine fünf Meter vom Ort entfernt, wo Jürg Ryser aufgefunden worden

war, befindet sich der Schwachstromraum Nord. Um eine Störung zu beheben, erbat sich ein Spezialist der Swisscom noch vor 8 Uhr Zugang, der ihm von Julio Jimenez anfänglich verwehrt wurde, wie der Spanier zuvor auch Mitarbeitende von H&M bat, später vorbeizukommen, um eingetroffene Waren in ihr Lager zu stellen. Erst als Swisscom-Mann Erwin Hofer den Spanier von der Dringlichkeit seiner Aufgabe überzeugen konnte – «Oder wollen Sie dafür verantwortlich sein, wenn die Telefonverbindungen im Westside ausfallen?» –, liess er ihn widerwillig gewähren, unter genauer Beobachtung, damit keine möglichen Spuren vernichtet werden würden, sollte man darauf angewiesen sein. Mit Kopfschütteln benutzte der Techniker deshalb wie gefordert ein Papiertaschentuch, um die Tür zu öffnen, begleitet von einem gut wahrnehmbaren «Bireweich!».

Die Türe hatte sich noch nicht vollständig von selber geschlossen, als Jimenez ein lautes «Verdammi!» zu hören und Sekundenbruchteile danach einen kreidebleichen Mann zu sehen bekam, als hätte dieser einen Geist gesehen.

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