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Von Falschgeld und Goldschmuggel

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Die Protagonisten

Die Protagonisten

(Freitag, 9. September)

«Rufen Sie die Polizei, da drinnen liegt ein Toter!» «Wie können Sie das beurteilen?», wollte Jimenez von Erwin Hofer wissen. Er erhielt aber keine Antwort, weil Hofer sich im Korridor übergeben musste. Um sich selber zu überzeugen, setzte der Spanier mit einem Sprung seinen linken Fuss zwischen Tür und Rahmen. Tatsächlich, da lag einer mit offenen Augen in einer Blutlache regungslos auf dem Rücken. Neben ihm einige Euroscheine.

Was in den folgenden Minuten nach dem Anruf bei der Polizeinotrufnummer 117 und dem neuerlichen Eintreffen der Sanitätspolizei geschah – dem Mann konnte allerdings nicht mehr geholfen werden –, war Routine: Jene mobile Polizeipatrouille, die sich am nächsten beim Westside befand, wurde nach Brünnen beordert, wo einer der beiden Beamten, nachdem er einen Blick zum Notarzt in den Raum gewagt hatte, Julio Jimenez befragte. Sein Kollege versah währenddessen den Zugang zum Korridor − 3 mit rot-weissem Absperrband, ehe er sich um den Swisscom-Mann kümmerte und ihn zur Transportrampe führte, um im Korridor ein zweites Malheur zu verhindern. Der Polizist bat auch einen herumstehenden Kollegen von Julio Jimenez darum, dafür zu sorgen, dass niemand das Absperrband als Dekoration einschätzte. Hiess: Betreten der Fläche verboten.

«Herr Hofer, haben Sie im Raum etwas berührt?», wollte der Polizist wissen. «Was, bitte?» «Sie haben den Toten gefunden. Haben Sie irgendetwas berührt oder verändert?» «Nein, ein Blick genügte mir, mein Magen meldete sich beim Anblick sofort, es tut mir leid.» «Kein Problem. Ich lasse Sie jetzt allein, reden Sie bitte mit niemandem, bevor die Kriminalisten eintreffen. Geht das okay für Sie?» «Jaja, doch, mir ist sowieso nicht ums Reden zumute.»

Hinter dieser Türe auf der Ebene − 3 wurde ein Toter gefunden.

Während der Beamte noch immer im Gespräch mit Julio Jimenez war, traf bereits Peter Gosteli ein, da das Inselspital vom Westside nur einen Steinwurf entfernt liegt. Sofort liess er sich aufdatieren, um anschliessend Migros-Aare-Boss Reto Sopranetti ins Bild zu setzen. Während des gesamten Einsatzes bekamen die Kunden des Centers übrigens nichts vom Vorfall mit, weil die wenigen Fahrzeuge der Ermittler und des IRM in und vor der Ladehalle unbemerkt parkieren konnten. Abgesehen davon: Das Zentrum hatte gar noch nicht geöffnet.

Eine knappe halbe Stunde nach Entdeckung des Toten waren alle Spezialisten am Werk. Eugen Binggeli und Georges Kellerhals von der Kriminaltechnik sowie Rechtsmedizinerin Veronika Schuler im Schwachstromraum Nord, derweil Peter Kläy und Stephan Moser ihrerseits nochmals Julio Jimenez befragten und sich über Jürg Ryser informierten. Peter Gosteli konnte den Ermittlern auch eine erste Diagnose aus dem Inselspital liefern. Worüber bereits diskutiert wurde: Welchen Zusammenhang gab es zwischen den beiden Vorfällen? Gab es überhaupt einen? Kläy hoffte, Ryser sei bald ansprechbar.

«Herr Gosteli, wo können meine Kollegin Sivilaringam und ich die Videobänder der letzten zwölf Stunden im Bereich Vorplatz Westside-Ost und des Eingangsbereichs Senevita sowie der Einfahrt Korridor Ost visionieren?», fragte Elias Brunner, der das Einkaufszentrum ohnehin bestens kannte, da es nur fünf Autominuten von seinem Wohnort in Wohlen entfernt lag. «Ich organisiere das mit dem Sicherheitsdienst, gehen Sie in die SecurityZentrale. Sie wissen, wo sich diese befindet?» «Ja, wissen wir. Danke.» Stephan Moser und Peter Kläy blieben mit Julio Jimenez zurück. «Christoph Ramseyer müsste dort anzutreffen sein. Er ist der Stellvertreter des Sicherheitschefs, der sich seit vorgestern in den Ferien befindet – für vier Wochen.» Die letzten Worte von Peter Gosteli klangen dabei ähnlich wie: «Eso schön sött mers ha …»

An diesem Vormittag ging es darum, zwei völlig verschiedene Anliegen unter den berühmten Hut zu bringen: Einerseits mussten die herumstehenden Waren feinverteilt werden, ohne andererseits die Spurensicherung zu beeinträchtigen. Man einigte sich deshalb darauf, den Zugang zu den

Lagerräumen der Mieter zu ermöglichen. Gesperrt blieb hingegen die Passage vom Schwachstromraum zum Senevita-Lift und -Eingangsbereich. Kläy bat Moser, Kontakt mit dem Senevita-Verantwortlichen aufzunehmen mit der Zusicherung, dass der Lift so schnell als möglich wieder in Betrieb genommen werden könne. Inzwischen sei ein Schild mit der Aufschrift «Technischer Defekt. Bitte benutzen Sie den Lift im Haus Courgenay. Danke für Ihr Verständnis.» zu montieren.

Sehr rasch bemerkte Dezernatsleiter Kläy, dass es sowohl zum Schwachstromraum als auch auf dem Weg zum Senevita-Lift einige Türen gab. Um sie zu öffnen, bedurfte es Spezialschlüssel.

«Herr Gosteli, wie viele Leute im ganzen Westside, also Senevita, Hotel, Badebereich, Kinos und Restaurants, besitzen Passepartouts?», fragte Kläy, der zusammen mit dem Centerleiter zum Duo Brunner/Sivilaringam in der Sicherheitszentrale stiess, derweil Moser weiter mit Jimenez sprach. «Das kann Ihnen Christoph Ramseyer vom Sicherheitsdienst sagen, er ist ebenfalls auf dem Weg.» «Und wie steht es mit Servicetechnikern wie diesem Swisscom-Mann?» «Haben Sie doch etwas Geduld, er kommt … Hoppla! Wenn man vom Teufel spricht.» In diesem Moment meldete sich Christoph Ramseyer bei Peter Gosteli, der dem Security-Mann gleich die Fragen von Peter Kläy stellte. «Da muss ich überlegen», antwortete Ramseyer, «wollen Sie es genau oder nur ungefähr wissen?», worauf Kläy schmunzeln musste. «Genau wäre ganz toll. Und das Ganze mit Namen.» «Das mache ich gerne, benötige dazu aber einige Minuten.» «Tun Sie das doch, Herr Ramseyer. Zwei Leute aus meinem Team, Frau Aarti und Herr Brunner, sind bereits daran, Videobänder zu visionieren. Mal sehen, ob sie schon etwas entdeckt haben.» Kläy hatte sich abgewöhnt, die Frau im Team mit Familiennamen zu nennen, «Aarti» konnte man hingegen problemlos speichern. Mit «Ich beeile mich» verabschiedete sich Ramseyer in Richtung seines Arbeitsplatzes.

Stephan Moser, sichtlich sauer darüber, dass man Chauffeuse Silvia Rüfenacht hatte ziehen lassen, ohne die Polizei abzuwarten, hatte die Befragung von Julio Jimenez abgeschlossen, bedankte sich und griff zum Handy, um jenes Transportunternehmen anzurufen, für das Silvia Rüfenacht

fuhr, mit der Bitte, die Mitarbeiterin «umgehend für eine Befragung» ins Westside zu beordern. Jener Mitarbeiter, mit dem Moser sprach, erzählte davon, dass es nicht so einfach wäre, Routen zu ändern. Erst die Bemerkung, ob er wegen Behinderung von polizeilichen Ermittlungen auf die Wache zitiert werden wolle, liess den Disponenten extrem flexibel werden. Danach gesellte sich Moser zum Chef. Dieser hatte sich – weil die Antwort von Ramseyer auf sich warten liess – wieder ins − 3 begeben, um nach neuen Erkenntnissen zu fragen. Nach Rücksprache mit dem KTD bat Kläy den Zentrumsleiter, die «Pizza» von Erwin Hofer wegputzen zu lassen, da nicht mehr «tatrelevant», wie er sich nüchtern-sachlich ausdrückte.

Weil die Tür zum Schwachstromraum offen arretiert war, fragte das Duo Kläy/Moser Rechtsmedizinerin Veronika Schuler, ob sie eintreten dürften, was die Thurgauerin gestattete, mit der Einschränkung, «wenn ihr euch anständig benehmt und nichts durcheinanderbringt», was Georges Kellerhals zu einem «Bravo, Veronika!» motivierte, begleitet vom Lachen der beiden Kriminalisten.

«Du brauchst gar nicht erst zu fragen, Peter, Todeszeitpunkt vor ungefähr sechs Stunden, plus/minus eine Stunde. Er wurde mit mehreren Stichen in den Brustkasten umgebracht, der Blutverlust ist enorm.» «Heisst also», Kläy schaute auf seine Uhr, «3 Uhr, plus/minus. Mehr dazu, wenn du ihn auf dem Tisch hattest, korrekt?» «Ganz schön clever unser neuer Dezernatsleiter, willst du nicht in die Rechtsmedizin wechseln? Solche Fachleute können wir immer gebrauchen», was Kläy mit einem «Nein, danke» quittierte. «Kollegen, wir haben auch etwas zu vermelden», führte Kellerhals das Gespräch weiter. «Neben dem Toten haben wir einige 50-Euro-Noten gefunden. Wir haben die Seriennummern bereits überprüfen lassen. Blüten.» «Eine wunderbare Ausgangslage», meinte Kläy, «ein niedergeschlagener Security-Mann im künstlichen Koma, von dem wir nicht wissen, was er zu dieser Zeit hier zu suchen hatte, ein unbekannter Toter, mit Falschgeld angereichert. Und das alles in den Eingeweiden des Zentrums, verrückt.» «Herr Dezernatsleiter, du kannst dich jetzt als Baustellenleiter beweisen …» «Stephan, wieder eines deiner Bonmots?» «Überhaupt nicht. Es geht darum, die Baustellen zu definieren, dann schliessen wir eine nach der anderen.»

Wäre den Leuten eine Infotafel zur Verfügung gestanden, hätte man darauf wohl folgende Stichworte notiert:

Befragung Jürg Ryser / Silvia Rüfenacht / Julio Jimenez / Erwin Hofer Überprüfung Videoaufnahmen Anzahl Passepartouts / Befragung Besitzer Befragung aller Westside-Mitarbeitenden Ergebnis Autopsie DNA/Identität des Toten Falschgeld

Mit anderen Worten: Es galt, alle zur Verfügung stehenden personellen Ressourcen in die Ermittlungen einzubinden, vor allem für die Befragungen der Westside-Mitarbeitenden. Kläy würde dazu den Polizeikommandanten um personelle Unterstützung bitten müssen. Aber auch Koordinationsaufgaben waren voraussehbar. Er würde auch Elias Brunner fragen, ob Regula Wälchli Zeit für Administratives hätte.

Bevor die Herren des KTD den Raum verliessen, wo der Tote gefunden und inzwischen in Richtung IRM abtransportiert worden war, gestatteten sie dem Swisscom-Spezialisten, seine Arbeit unter ihrer Aufsicht zu verrichten, was nur einige Minuten dauerte, vermutlich darauf zurückzuführen, dass Hofer den Raum so schnell als möglich wieder verlassen wollte, da sich sein Magen noch immer leicht im Drehmodus befand. Nachdem die Türe mit einem amtlichen Kleber versiegelt worden war, verliessen Kellerhals und Binggeli das Westside in Richtung Ringhof, Zentrale der Berner Kantonspolizei im Lorraine-Quartier, «mit einer Hand voller Euro», wie Stephan Moser zuvor in Anlehnung und mit leichter Abänderung an einen Film von Sergio Leone mit Clint Eastwood in der Hauptrolle treffend feststellte. Vor fast 60 Jahren gedreht, aber Moser war in Sachen Film ein Ass.

Im Vergleich zu anderen Ländern ist Falschgeld aus der Schweiz eher selten im Umlauf, weil die Schweizer Banknoten fälschungssicher sind. Ihre Produktion entspricht den neusten Erkenntnissen, sie liegt international auf höchstem Niveau. Gefälschte Noten lassen sich anhand von verschiedenen Sicherheitsmerkmalen zum Teil sogar von blossem Auge als solche erkennen. Und dennoch: In der Schweiz ist vermehrt Falschgeld im Umlauf – vor allem gefälschte Tausender. Das Bundesamt für Polizei sieht

aber noch keinen Trend. Es ist jedoch ein deutlicher Sprung nach oben in der neusten Falschgeldstatistik: Für das Jahr 2020 meldete das Bundesamt für Polizei gefälschte Schweizer Banknoten im Nominalwert von rund 837 000 Franken. Das ist beinahe viermal so viel wie im Vorjahr. Auch im mehrjährigen Vergleich ist es ein Spitzenwert: Zwischen 2015 und 2019 schwankte die Summe jeweils zwischen 208 000 und 340 000 Franken – lag also deutlich tiefer als 2020.

In die Höhe getrieben hat die Deliktsumme 2020, dass mehr falsche 1000erNoten im Umlauf waren. 568 gefälschte Tausender weist die Statistik aus – mehr als viermal so viele wie im Vorjahr. Der Grossteil davon wurde mit einem Tintenstrahldrucker gefälscht. Das Bundesamt für Polizei ist wegen der höheren Zahlen aber nicht beunruhigt. «Wir sehen hier keinen Trend», sagt Sprecher Florian Näf gemäss der Aargauer Zeitung. «Das ist eine natürliche Schwankung.» Wenn in einem Fall sehr viele Blüten festgestellt würden oder zufälligerweise gleich mehrere grössere Fälle auftauchten, könne dies die Falschgeldstatistik in einem Jahr nach oben treiben. Nähere Angaben macht das Fedpol nicht. In die Statistik fliessen zum einen die Meldungen von Banken, Polizei und anderen Institutionen ein, zum anderen die Ergebnisse der teils mehrjährigen Ermittlungen des Fedpol. Übrigens: Falsche Euro- und Dollarnoten seien deutlich attraktiver, schreibt Fedpol. Abgesehen davon: Das Bargeld hat seinen Höhepunkt überschritten.

Auch die Fälle von erkannten Münzfälschungen sind stark gestiegen. Diese Zunahme liegt gemäss Fedpol wohl an den immer moderneren Geräten in der Zahlungs- und Bargeldverarbeitung. Diese würden die Fälschungen – im Gegensatz zu früher – heute besser erkennen und aus dem Zahlungsverkehr herausnehmen.

Wenn offensichtlich oder mutmasslich gefälschte Noten oder Münzen dennoch auftauchen, leiten Polizei, Banken, Post oder andere Institutionen sie an die Bundespolizei weiter. Fedpol überprüft sie und registriert das Material, wenn es sich tatsächlich um Falschgeld handelt. Unter Leitung der Bundesanwaltschaft werden entsprechende Verfahren eröffnet, mitunter auch in Absprache mit Kantonen und ausländischen Stellen von Interpol. Die Trefferquote ist hoch: In der Schweiz aktive Geldfälscher werden fast immer ausfindig gemacht. In den letzten zehn Jahren wurden jährlich 150 bis 400 Fälle der Bundesanwaltschaft gemeldet.

Das Schweizer Strafgesetz gibt gemäss Artikel 240 vor: «Abs. 1. Wer Metallgeld, Papiergeld oder Banknoten fälscht, um sie als echt in Umlauf zu bringen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. Abs. 2. In besonders leichten Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Abs. 3. Der Täter ist auch strafbar, wenn er die Tat im Ausland begangen hat, in der Schweiz betreten und nicht ausgeliefert wird, und wenn die Tat auch am Begehungsorte strafbar ist.»

Ganz anders präsentiert sich die Situation im Ausland, wo die 50-EuroNote mit Abstand die Hitparade von gefälschten Geldscheinen anführt. 2020 gelang Europol ein Riesenschlag noch nie gekannten Ausmasses gegen eine Fälscherbande: Die Gangster sollen mehr als drei Millionen Banknoten hergestellt und in Umlauf gebracht haben. Wert der Blüten: 233 Millionen Euro. «Das ist ein Viertel aller gefälschten Euroscheine, die seit der Einführung des Euro in Umlauf gebracht und entdeckt wurden», teilte die europäische Polizeibehörde mit.

An der Aktion waren Ermittler aus Italien, Belgien und Frankreich beteiligt. In Italien wurden nach Angaben von Europol 50 Wohnungen, 8 Geschäftshäuser, 2 Bauernhöfe, dazu Autos und Boote beschlagnahmt sowie 22 Bankkonten blockiert. 44 Personen wurden festgenommen. Die Ermittlungen hatten im Oktober 2017 begonnen. Damals waren in der Region um Neapel gefälschte 50-Euro-Scheine aufgetaucht. Die Spurensicherung ergab, dass die Banknoten technisch perfekt hergestellt worden waren. Die Fälscher hatten alle Hauptsicherheitskennzeichen echter Euro-Banknoten imitiert. Bereits im Februar 2018 waren in Neapel bei einem Einsatz der Polizei gefälschte Banknoten im Wert von 41 Millionen Euro entdeckt worden. Der Chef der Bande ist laut Europol seit mehr als 20 Jahren in Geldfälschungen verstrickt und verfügt über ein ausgeklügeltes Netz zur Verbreitung der Blüten auf dem europäischen Markt. Ermittler stellten ebenfalls Verbindungen zur italienischen Mafia fest.

Als Peter Kläy und Stephan Moser die Sicherheitszentrale betraten, trafen sie dort nicht bloss auf Aarti Sivilaringam und Elias Brunner beim Visionieren von Videobändern. Westside-Chef Peter Gosteli stand ebenso im Raum wie Sicherheitsmann Christoph Ramseyer und Migros-Aare-Boss Reto Sopranetti, der sich vor Ort kurz aus erster Hand informieren wollte, bevor er sich Minuten später «auf Filialtour» machen sollte.

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