Sizilien

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Ein Kontinent für sich sizilien − ein potpourri aus sonne, meer, natur, geschichte und kultur. strandurlauber begeistert das vielfältige eiland ebenso wie hobbyarchäologen und naturliebhaber. die küsten sind zum verlieben schön, die großstädte quicklebendig, antikes gibt’s auf schritt und tritt. dazu noch eine multi­ kulturelle küche wie auch eine junge weinszene. und alles wird überragt vom ätna, der sich immer wieder spektakulär austobt. Menschen, Vespas und dreirädrige Lieferwagen schieben sich vereint durch das Gewirr der engen Altstadtgassen. Vorbei an Marktständen, die schier überquellen von Fisch, Obst, Gemüse und zig anderen Gaben der Natur. Üppige Stillleben, wohin das Auge blickt. Dort glänzt eine Pyramide von Seeigeln in ihren schwarzblauen Stachelkleidern, daneben eine silbrige Kaskade aus zarten Sardinen und ein dunkelrosa Gemälde aus Rotbarben. Säcke, Kisten und Eimer voll mit Tintenfischen, Muscheln, Krebsen und Schnecken stehen auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster. Bizarre Drachenkopffische, prächtige Zackenbarsche und schwarz gepanzerte Hummer liegen wunderschön drapiert auf einem Bett aus gestoßenem Eis. Dahinter schwingen

Die Kunst der Majolika-Herstellung brachten die Araber nach Sizilien. Seite 336 − 337: Ein Schwertfisch wird auf dem Markt in Palermo zerteilt. Seite 338: Reichlich Sonne macht die sizilianischen Orangen zum Geschmackserlebnis.

Verkäufer in orangefarbenen Plastikschürzen die blutverschmierten Messer und zerteilen die prallen Leiber riesiger Schwertfische. Die Obst- und Gemüsestände wirken, als hätten Maler ihre Pinsel tief in alle Farbtöpfe getaucht: Berge von wildem Fenchel in zartem Grün, von violetten Auberginen, blutroten Tomaten, königsblauen Feigen und knallgelben Zitronen. Angesichts der schwindelerregenden Vielfalt an Oliven, Rosinen, Pistazien, Pinienkernen und Hülsenfrüchten gehen die Augen über. Die Luft ist durchzogen von Gerüchen; der Duft des Meeres und die Aromen der Zitrusfrüchte und Gewürze mischen sich mit den Abgasen der Zweitakter und dem Rauch der allgegenwärtigen Holzkohlengrills. Und es ist so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht: Hausfrauen feilschen lautstark mit den Geflügelhändlern, werden übertönt vom Geknatter der Motorräder und den lautstarken Verkaufsarien der Händler, die an die Gebetsrufe der Muezzine erinnern. Die Vucciria in Palermo – sie ist einer der schönsten, wenn nicht der schönste Markt im Mittelmeerraum. Hier herrscht ein Trubel wie auf einem orientalischen Bazar. Es ist so voll, als sei ganz Palermo auf den Beinen. Ein unglaubliches Spektakel, das sich gegen Mittag wie eine Fatamorgana in Luft auflöst, das man aber auch in anderen Stadtteilen Palermos, in Catania und vielen weiteren Städten und Dörfern Siziliens erleben kann! Auf den Märkten der Insel treffen Okzident und Orient aufeinander; sie sind der Bauch, das Herz und die Seele Siziliens. Hier findet man vieles in komprimierter Form, was Sizilien so einmalig und reizvoll macht: die Landschaften, die Geschichte, die Kultur und die Menschen. Zu den Reizen, mit denen Sizilien wahrlich nicht geizt, gehören die fast schon magischen Landschaftskompositionen. Da gibt es eine Bergwelt mit schneebedeckten Gipfeln, tiefen Schluchten und kargen Hochplateaus, aber auch fruchtbare, von Flussläufen durchzogene Ebenen mit schier endlosen Gemüseplantagen und ausgedehnten Wiesen. Man kann sich an grüngoldenen Korn- und Rebfeldern sattsehen, wird uralte Oliven-, Zitrus- und Mandelhaine entdecken. Weite Dünenlandschaften, windgepeitschte Macchia und glitzernde Salzgärten prägen einen weiteren Teil der Insel, schwarze Lava und farbenprächtige

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Im März sind sie noch kahl, die Weingärten der Tenuta Rapitalà in Camporeale im Hinterland von Palermo.

Blumenmeere einen anderen. Das alles ist umrahmt von wunderschönen Küsten, die mal schroff und zerklüftet steil in Meer fallen, mal mit weißen Sandstränden sanft in die türkisfarbene See auslaufen. Und über allem thront der Ätna, der ständig kleine Rauchwolken in den meist strahlend blauen Himmel pustet, aber auch immer wieder mit feurigen Fontänen und Lavaströmen von sich reden macht. Dass man auf Schritt und Tritt über sehenswerte Relikte vieler verschiedener Kulturepochen stolpert, es antike Kultstätten wie Sand am Meer gibt und Städte wie Palermo, Catania oder Messina mit pulsierendem Leben inmitten ihrer geschichtsträchtigen Mauern locken, macht Sizilien umso attraktiver. Schon alleine der Osten weiß zu fesseln. Hier gibt es genug zum Staunen und zum Rätseln, zum Beispiel die Zyklopenküste bei Aci Trezza. Die mächtigen spitzen Felsbrocken, die hier aus dem Meer ragen, soll der einäugige Zyklop aus der griechischen Mythologie Odys­ seus hinterhergeworfen haben. Wie auch immer diese Küste entstanden sein mag: Ihr Anblick ist grandios, und sie hat etwas Mystisches. Oder der Dom von Syrakus, hinter dessen barocker Fassade eine Basilika aus dem 7. Jahrhundert versteckt ist, die ihrerseits von den antiken Säulen eines Athene-Tempels von 480 v. Chr. gestützt wird. Oder das Teatro Greco, das Wahrzeichen von Taormina und wohl das schönste Theater der Antike. Wie im 3. Jahrhun340

dert v. Chr. können die Zuschauer nicht nur auf die Bühne sehen, sondern gleichzeitig auf das azurblaue Meer und den imposanten Vulkankegel des Ätna. Der Westen von Sizilien steht dem in nichts nach und bezaubert durch Bauwerke wie den Dom von Monreale, einer Symbiose arabischer, byzantinischer und romanischer Baukunst, oder durch das Bergdörfchen Erice, das fast noch genauso aussieht wie im Mittelalter, wenn die Touristenlädchen geschlossen sind. Oder Selinunte, wo man die imponierenden Überreste der griechischen Stadt Selinus und ihrer prächtigen Tempelanlagen bewundern kann. In der bewegten Vergangenheit liegt auch einer der Schlüssel zu diesem Eiland, das so völlig anders ist als der Rest von Italien. Sizilien ist ein ganz eigener Mikrokosmos, mit eigener Sprache, eigener Küche und eigener Mentalität. Um diese Eigenheiten Siziliens und die der Sizilianer zu verstehen, bedarf es eines kleinen Spaziergangs durch die Zeitgeschichte.

Schmelztiegel der Kulturen Sizilien war im Laufe seiner dreitausendjährigen Geschichte immer ein Objekt der Begierde, um das zahllose Kriege geführt wurden. Dank der zentralen Lage im Mittelmeer – durch die Meerenge von Messina nur drei Kilometer vom


Der Dom von Palermo beeindruckt durch seinen ungewöhnlichen Stilmix.

Festland getrennt und am äußersten Zipfel der Südwest­ küste nur rund 140 Kilometer von Nordafrika entfernt – war Sizilien als Stützpunkt für Militär, Seefahrt und Handel geradezu ideal. Zudem war die Insel wegen ihrer 1.000 Kilometer langen Küstenlinie so gut wie nicht zu verteidigen. Und sie eignete sich wegen ihrer enormen Größe von rund 26.000 Quadratkilometern – Mallorca bringt es mal gerade auf 3.640 Quadratkilometer – und der fruchtbaren Böden auch optimal zur Besiedlung. Also wurde Sizilien zum Zankapfel der Weltgeschichte. Fast jede Großmacht war schon da, als Beherrscher, Unterdrücker, Ausbeuter. Zuerst kamen die Phönizier, Karthager, Griechen und Römer. Dann gaben sich die Vandalen, Goten, Byzantiner, Araber, Normannen, Staufer, Franzosen, Spanier und Österreicher die Klinke in die Hand. Einige der fremden Herrscher brachten Elend und Inquisition, Zerstörung und verbrannte Erde. Andere brachten Sizilien immer wieder zur Blüte – und zwar auf vielfältigste Art und Weise. Die Hellenen kultivierten den Wein- und Olivenanbau. Sie gründeten Syrakus, das mit bis zu einer Million Einwohnern zu den mächtigsten Städten der antiken Welt zählte. Und sie bauten Heiligtümer, Tempelanlagen, Theater und Nekropolen. Wer sich ein Bild vom immensen Reichtum der damaligen griechischen Kolonien machen will, sollte sich das Theater in Syrakus, den archäologischen

Park von Selinunte und das Tal der Tempel in Agrigent anschauen. Die Römer betrachteten Sizilien als Kornkammer ihres Imperiums, verbesserten die Verkehrsinfrastruktur und bauten wunderschöne mosaikverzierte Villen. Die Araber verwandelten die Insel in eine blühende Oase – im wortwörtlichen Sinne durch ihre Bewässerungstechniken, im übertragenen Sinn durch die Förderung von Wissenschaft und Kunst. Die normannischen Herrscher brachten Sizilien eine tolerante Gesetzgebung und Religionsfreiheit, florierenden Handel sowie zahlreiche Bauwerke im multikulturellen Stil wie den Normannenpalast und den Dom in Palermo. Die Feudalherrschaft der Spanier und Franzosen führte vor allem zu Hungersnöten, bevor der italienische Freiheitskämpfer Guiseppe Garibaldi für den Anschluss Siziliens ans italienische Königreich sorgte. Es versteht sich fast von selbst, dass die Jahrtausende der Fremdherrschaft nicht nur Sizilien prägten, sondern auch die Sizilianer selbst. Sie sprechen eine eigene Sprache, nämlich den kosmopolitischen Dialekt Sicilianu mit Wurzeln im Griechischen, Lateinischen und Arabischen. Auch optisch zeigen die Insulaner, dass sie einem Schmelztiegel der Kulturen entstammen. Da blitzen dann mal „normannisch“ blaue Augen unter einem dichten schwarzen Haarschopf, da ziert ein Kranz blonder Haare ein markantes Gesicht mit unverkennbar arabischen Zügen, da guckt einen mal

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Schon vor über tausend Jahren wurde auf Sizilien der Frischkäse Ricotta produziert.

jemand an, der fast „typisch griechisch“ aussieht – oder alles durchein­ander. Und die Sizilianer vereinen in sich auch die Temperamente ihrer vielen Vorfahren: Lebensfreude wie Schwermut, Verschlossenheit wie Beredsamkeit, Stolz wie Demut, Misstrauen wie Familiensinn, Apathie wie Mobilität, Liebe wie Verzweiflung, Hass wie Glaube, Gastfreundschaft wie Zurückhaltung, Genügsamkeit wie kulinarische Leidenschaft. Letztere ist bei den Sizilianern sehr ausgeprägt. Sie essen gerne, egal ob daheim oder beim Marktbummel, ob im Restaurant oder bei den beliebten Sonntagspicknicks im Wald, in den Bergen oder am Strand. Beim Genießen mit der Familie oder Freunden verwandelt sich so mancher wortkarge Sizilianer in einen charmanten Unterhalter, und so manche in Schwarz gehüllte gestrenge sizilianische Mama zeigt dann pralle Lebensfreude. Sizilianische Rezepte gibt es in Hülle und Fülle und dass sie sich lesen wie die Rezepturen der multikulturellen Küche, erstaunt in Anbetracht der wechselhaften Geschichte der Insel auch nicht wirklich. Der aktuelle multikulturelle Genießer-Trend ist auf Sizilien 342

ein alter Hut! Ein ganz alter Hut sogar. Denn ganz gleich, welche Völker auch immer die Insel eroberten, sie ließen ihre Spuren deutlich schmeckbar in Siziliens Küche zurück. Heraus kam eine einzigartige Vielfalt an aromatischen und fantasievollen Speisen, die den ohnehin schon breiten Rahmen der bekannten Azzuri-Küche lustvoll sprengt. Das zeigt schon die stattliche Antipasti-Palette, die angeführt wird von der beliebten, kalt servierten caponata, die aus Auberginen, Tomaten, Sellerie, Kapern, Oliven und Sardinen zubereitet wird, und den nicht minder begehrten arancine – safrangelbe gefüllte und frittierte Reiskugeln. Eine kulinarische Hauptrolle spielt selbstverständlich Fisch. Star ist der pesce spada, der Schwertfisch – schlicht, aber ergreifend auf dem Grill zubereitet oder raffinierter alla ghioto mit Zwiebeln, Knoblauch, Oliven und Kapern. Publikums­liebling ist die Sardine, die oft als paste con le sarde – Makkaroni mit Sardinen, Pinienkernen, Safran und Samen von wildem Fenchel – auf den Tisch kommt. Ihren großen Auftritt aber hat sie als sarde a beccafico – köstliche gebackene Sardinenwickel, gefüllt mit Zwiebeln, Knob-


Stromboli Salina Lipari Vulcano A3

Milazzo Palermo Trapani

1 2

Anbaugebiete Marsala

1 Marsala

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A29

2 Alcamo 4 Sciacca

Randazzo

Taormina

5

A19

Enna Caltanissetta

Sciacca

5 Etna Rosso

kala­ brien

Etna 3328 m

3 Menfi 4

3 Menfi

Messina

A20

Cefalù

6 Cerasuolo di Vittoria

Catania

Agrigento

7 Noto

A18

8 Eloro

6

Nero d’Avola − in ganz Sizilien

Siracusa Vittoria

7

Ragusa Noto Pantelleria

10

20

30

40

50 km

8

5

10

15 20 25 mi

lauch, Pinienkernen, Rosinen und Bröseln. Eine echte Kulinarie ist der sizilianische rote Thunfisch. Der größte Teil des Fangs wird an japanische Feinschmecker verkauft, was schon viel über die außerordentliche Qualität aussagt. Wie alle Italiener sind auch die Sizilianer leidenschaftliche Pasta-Fans. Sie erfanden die makkaroni! Noch heute stellen die Hausfrauen der Insel diese Nudelart per Hand her und geben ihr – wie früher – die Röhrenform mit Hilfe eines Binsenhalmes. Bestseller unter den typischen sizilianischen Nudelgerichten ist die pasta alla norma, Makkaroni mit gerösteten Auberginen, Basilikum, Tomaten und gehobeltem Ricotta. Diese Hommage an Catanias größten Sohn, den Opernkomponisten Vincenzo Bellini und seine Oper Norma, ist nur ein Gericht aus dem riesigen Pastarepertoire, in dem Nudeln der unterschiedlichsten Formen mit Gemüse und Fischen, Gewürzen und Kräutern, Käse oder Brotbröseln sowie diversen, gerne süß-sauer gewürzten, salse und sughi in schönster Harmonie verschmelzen. Das offensichtlichste Beispiel für die Beeinflussung durch fremde Kulturen aber ist die Abteilung Süßspeisen. Da ent-

puppt sich der Sizilianer als orientalisches Schleckermaul. Schon morgens liebt er eine granita – ein Halbgefrorenes aus Fruchtmark, Mandelmilch oder Kaffee. Dass man es auch Schnee vom Ätna nennt, weist auf seine Ursprünge. Immer eine Sünde wert: die cassata siciliana, eine Schichttorte aus Biskuit und Ricotta mit kandierten Früchten. Zwischen dem Original und dem, was ansonsten als cassata serviert wird, liegen nicht nur Flugstunden, sondern ganze Welten. Und nicht zu vergessen die mit süßem Ricotta gefüllten luftigen Teigröllchen namens cannoli und die paste reale, Gemüse und Obst aus Marzipan – zum Reinbeißen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Inselweine. Die junge Generation der Winzer hat längst die ausgetretenen Pfade verlassen und hebt die Schätze, die in den heimischen Rebsorten verborgen liegen, Schätze, die es zu entdecken gilt, wie so vieles auf dieser Insel, die die Griechen ein Geschenk der Götter nannten. Ein Geschenk für Besucher mit offenen Sinnen ist Sizilien allemal, und zwar egal, in welche Himmelsrichtung man sich bewegt. Mit anderen Worten: In Sizilien ist fast jeder Schritt ein Hit! ari

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