Intuitives Bogenschießen – Leseprobe

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Lars Christensen

INTUITIVES

BOGENSCHIESSEN

Übungen für Technik und Geist


Lars Christensen

INTUITIVES

BOGENSCHIESSEN Übungen für Technik und Geist

VERLAG DIE WERKSTATT


Abbildungsnachweis Die Fotos und Abbildungen in diesem Buch nutzen wir mit freundlicher Genehmigung von Judith Karbach, Nils Rode, Jürgen Maier, Tobias Stachelhaus und vielen Teilnehmern aus den Kursen des Autors bei der Abenteuer Lernen gGmbH. Die Abbildungen auf S. 17, 19 und 132 wurden erstellt vom Verlag Die Werkstatt. Die anatomischen Abbildungen auf den S. 79, 80 (2) und 110 haben wir mit freundlicher Genehmigung des Verlages Elsevier GmbH, Urban & Fischer, München, entnehmen dürfen aus Bräuer, Sobotta Lernkarten Muskeln, 7. Auflage 2013 ( Elsevier GmbH, Urban & Fischer, München).

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Creative Commons: S. 113 oben und unten: BodyParts3D, © The Database Center for Life Science licensed under CC Attribution-Share Alike 2.1 Japan.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 3., durchgesehene und erweiterte Auflage 2019 Copyright 2016 Verlag Die Werkstatt GmbH Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen www.werkstatt-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH

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ISBN 978-3-7307-0167-6


Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Was ist intuitives Bogenschießen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Möglichkeiten des intuitiven Bogenschießens . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Die Technik beim intuitiven Bogenschießen. . . . . . . . . . . . . . . 22 Ab wann wird die Schießtechnik zur Zieltechnik?. . . . . . . . . . . . . 36 4. Drei hilfreiche Ansätze für die ersten Schritte. . . . . . . . . . . . . 40 Sieben Schritte (nach Archery Academy) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Vier-Phasen-Positionsmodell (nach Archery Academy). . . . . . . . . 44 Einführende Übung für Anfänger nach einem Modell (2 x 3 Positionen) der NFAA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5. Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Sicherheitsregeln für das Bogenschießen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Zusätzliche Regeln für das Schießen im Parcours. . . . . . . . . . . . . 49 Techniktraining. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Teamtraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Spiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Meditative Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 6. Embodiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 7. Intuitives Bogenschießen und Bewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . 114 8. Die Atmung als Taktstock der Achtsamkeit . . . . . . . . . . . . . . 120 Aufmerksamkeitstraining in hektischen Zeiten. . . . . . . . . . . . . . . 122 9. Nachwort und Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Glossar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Literatur und Tipps zum Weiterlesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Der Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143


Freude am Bogenschießen „im Parcour“


1. Einleitung Mit einer alten Weisheit gesprochen, „bestimmt nicht der Wind, sondern das Segel den Kurs“. Und so suchen auch wir beim Bogenschießen fortwährend die für uns ganz individuell passende Einstellung: Die passende Abstimmung zwischen Pfeil und Bogen, die optimale Koordination von Hand und Auge, sowie eine angemessene Geisteshaltung. Sie sind die drei entscheidenden Crewmitglieder, die wir beim Bogenschießen mit an Bord haben. Auf sie werfen wir, wie von einem Krähennest herab, unseren Blick. Betrachten wir das Deck aus dieser Perspektive, erkennen wir vieles auf dem eigenen Schiff bald klarer. Dieses Buch wirft – sozusagen aus dem Ausguck heraus – einen anderen, ruhigen, zum Teil meditativen, aber stets sehr achtsamen Blick auf das intuitive Bogenschießen. Es gibt Kapitänen neue praktische Handlungsmöglichkeiten an die Hand, um ihren Wirkungskreis zu erweitern und das Schiff möglichst flexibel steuern zu können. Leichtmatrosen, die gerade erst begonnen haben, können mit Hilfe der Bogenübungen gut an die ersten Seemeilen anknüpfen. Der Anfänger sollte allerdings die ersten Praxisstunden unter erfahrenem Kommando schon hinter sich haben, da sich der größere Teil dieses Buches mit den Übungen befasst. Alten Seebären tut es vielleicht gut, anhand dieses Buches alte, nicht mehr hilfreiche Muster durch neue zu ersetzen. Und bei den erwähnten Kapitänen, Leichtmatrosen, Seebären, Anfängern und überhaupt Bogenschützen kann es sich selbstverständlich auch jederzeit und ebenso gut um Frauen handeln. Ungefähr so lange, wie die Menschheit sich nach Freiheit sehnt und segelt, ist sie auch schon auf der Jagd. Diese ca. 20.000 Jahre alten Erfahrungen haben sich genetisch manifestiert. Bis heute nutzen wir in unserer Sprache Bogen-Metaphern, obwohl viele Menschen in ihrem Leben noch nie einen Bogen in der Hand hatten: Unabhängig davon, ob wir unseren „festen Stand“ im Leben schon gefunden haben, ob wir versuchen, etwas in unserem Leben „loszulassen“ oder „über unser Ziel hinweggeschossen haben“ – mit der sprachlichen Symbolik des Bogenschießens gelangen wir pfeilschnell in unser Unterbewusstsein. So habe ich es schon oft erlebt, dass eine plötzlich eingefrorene Hand beim Ablass den Schützen sich selbst fragen lässt: Warum kann ich nicht loslassen? Wir können uns zwar im Meer spiegeln, doch bleibt uns vieles unter seiner Oberfläche verborgen. Das Bogenschießen kann uns und unseren Lesern die notwendige


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1. Einleitung Ruhe bringen, um lange genug hineinzusehen und schließlich auch den Grund zu erkennen. Wir können aber auch einfach nur hinaus in die Natur gehen und ein paar Pfeile schießen. Abschließend noch eine Bemerkung: Wann immer ich eine Idee oder Übung von jemand anderem aufgegriffen habe, lag es mir am Herzen, darauf hinzuweisen. Ist aus Versehen jemand unerwähnt geblieben, bitte ich um eine Rückmeldung, um dies in zukünftigen Auflagen ggf. ändern zu können.


2. Was ist intuitives Bogenschießen? INTUITIVES BOGENSCHIESSEN ist eine pure, traditionelle Form des Bogenschießens. Es werden keine Zielvorrichtungen oder Stabilisatoren genutzt, wie etwa beim Wettkampfsport. Beim reinen, intuitiven Bogenschießen ruhen einfach beide Augen auf dem Ziel. Wie beim Werfen auf einen bestimmten Punkt schafft es der Übende dann, die Bewegung nach und nach zu optimieren und durch einen kontinuierlichen Abgleich von Ziel und tatsächlich Erreichtem eine passende körperliche und geistige Einstellung zu gewinnen. Hierbei kommt es darauf an, einen möglichst achtsamen Wahrnehmungszustand mit den richtigen Bewegungsmustern zu verbinden. Den Zeitpunkt, an dem der Pfeil gelöst wird, bestimmt das Körpergefühl, ganz intuitiv. Es erfolgt also keine bewusste Entscheidung (so wie beim olympischen Systemschießen über ein Visier und z. B. Fadenkreuz), sondern man schießt aus dem Unterbewusstsein, aus dem Gefühl heraus – ganz im Sinne von: ES schießt. Das INSTINKTIVE SCHIESSEN (nach B. Ferguson auch „Schnappschießen“ oder snap shooting genannt) beschreibt hingegen das sofortige Schießen nach der Zielfindung, also sobald der Schütze das Ziel genau im Visier hat und die Zughand deshalb oftmals noch in Bewegung ist. Da wir unter instinktivem Handeln das Ausführen einer durch Triebe gesteuerten, spontanen, ja reflexhaften Aktion verstehen (die zudem noch ohne reflektierende Kontrolle abläuft), beschreibt dieser Begriff aus Sicht des Autors nur unzureichend diese Form des Bogenschießens. Der Ausdruck „instinktiv“ meint also begrifflich gesehen, dass die Hand nur sehr kurz (wenn überhaupt) im Anker ruht – insofern wird in der Folge stets vom „Schnappschießen“ die Rede sein. Schützen, die sich selbst als „instinktiv schießend“ bezeichnen, fühlen sich oftmals eher der Tradition des Bogens als Jagd- und Kriegswaffe verbunden. In diesem Bezug macht eine gebücktere Haltung auch Sinn, um nicht entdeckt zu werden (weiteres zu Körperhaltung auf S. 24). Beim Schnappschießen wird über eine starke Fokussierung des Zieles geschossen. Alles andere, wie Pfeil, Bogen und der eigene Körper, wird defokussiert wahrgenommen. Es ist aufschlussreich, Schützen dieser Stilrichtung zu beobachten,


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2. Was ist intuitives Bogenschießen? beispielsweise den Dänen Lars Andersen (siehe auch auf youtube.de: larsandersen23) – der den Bogen in der linken Hand hält, den Pfeil aber so wie viele Naturvölker und so, wie es auf vielen historischen Überlieferungen zu sehen ist, auf der rechten Seite des Bogens führt. Dabei kann man den Eindruck gewinnen, dass die Zughand, sobald sie einen bestimmten Punkt erreicht, reflexhaft wie vor dem Zubeißen eines Hundes weggezogen wird. Dabei ist Schnappschießen von seiner Technik her nicht unproblematisch. Besondere Vorsicht ist etwa geboten, wenn ein Anfänger einen „fliegenden Anker“ hat, die Hand also zu keinem Zeitpunkt vor dem Lösen einen ruhenden Fixpunkt findet. Zum einen darf der Pfeil in keinem Fall über die Pfeilauflage hinausgezogen werden. Zum anderen ist ein fester Anker (Lösepunkt) sehr hilfreich, damit der Pfeil immer wieder annähernd mit dem gleich langen Auszug – und somit derselben Kraft, derselben Geschwindigkeit und letztlich auch in etwa derselben

Weitere Möglichkeiten des Zielens Beim GAP SHOOTING fokussiert man nicht nur das Ziel, sondern schätzt zuvor den Abstand (gap = Lücke) zwischen dem Ziel und der eigenen Pfeilspitze ab. Der Schütze versucht hierbei ganz bewusst herauszufinden, wie hoch der Pfeil stehen muss, und richtet seinen Bogen danach aus (siehe Bild). Wer darüber hinaus beim Zielvorgang auch noch seinen Pfeilschaft bewusst mit einbezieht, nutzt die Technik ZIELPUNKTMETHODE (auch split vision genannt) von Howard Hill. Byron Ferguson, einer der besten Trickschützen der Welt, berichtet in seinem Buch Become the Arrow zudem, dass er die Pfeilspitze verschwommen wahrnimmt und „gelernt hat, das Zielbild zu sehen oder vielmehr die Flugbahn, die den Pfeil ins Ziel tragen wird“. Er antizipiert also die Flugbahn des Pfeiles (siehe Bild). Eine weitere Methode ist das STRINGWALKING, bei dem üblicherweise unter dem Wangenknochen geankert wird, um bewusst über die Pfeilspitze zu zielen. Bei kürzeren Entfernungen wandert der Schütze dann mit seiner Hand von der Nocke weg nach unten, so dass er den Pfeil insgesamt kürzer auszieht. Beim vergleichbaren FACEWALKING wandert hingegen die ganze Zughand. ZIELEN ÜBER DIE PFEILSPITZE: Eine einfache Art und Weise zu Zielen, die das intuitive Bogenschießen verlässt, ist das Visieren über die Pfeilspitze. Diese Methode kann auf Entfernungen um den Nullpunkt (siehe Glossar, S. 131) angewendet werden. Hierbei wird der Bogen ohne Auszug in die Vorhalte nach oben genommen, bis die Spitze des Pfeiles über das dominante Auge genau auf dem Ziel sitzt. Anschließend wird die Bogenhand festgestellt! Dies ist bei dieser Zieltechnik besonders wichtig. Die Bogenhand bleibt also in der Luft genau am gleichen Punkt. Anschließend wird der Rest der Bewegung wie trainiert zu Ende gebracht. Eine einfache Zieltechnik mit oft erstaunlichem Ergebnis.


2. Was ist intuitives Bogenschießen?

Schießstil beim Schnappschießen / snap shooting: Der Fokus wird nur auf einen Punkt gelegt (hier gelb).

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Schießstil beim Gap Shooting: Hier wird die Lücke (siehe roter Strich) zwischen Pfeilspitze und Ziel geschätzt. Schießstil beim intuitiven Schießen: Der Zielpunkt wird wahrgenommen, jedoch mit vergrößertem Blickfeld.

Schießstil nach der Technik Byron Fergusons: Er sieht die Flugbahn, die den Pfeil ins Ziel trägt.

Flugbahn – geschossen wird. Hierzu passt auch das Ablaufen eines sogenannten Parcours im Wald, wo die Schützen auf Tierattrappen schießen. Ihnen geht es vielfach vorrangig um Freude und den Kontakt zu grundlegenden Bedürfnissen wie z. B. dem Jagdinstinkt. Entsprechend der Fokussierung aller Sinne auf das Zentrum der Scheibe oder die Attrappe ist der Schütze vorrangig mit dem Zielen beschäftigt. Die wichtigsten Sinne beim Zielen sind zunächst der visuelle und der kinästhetische. Das kinästhetische System besteht aus vier Bereichen: Körperbewusstsein (mit seinem Muskelgedächtnis, in dem automatisierte Bewegungsabläufe gespeichert werden), Tastsinn, Gleichgewichtssinn und Emotionen (also dem Teil, der die Wahrnehmung einem Gefühl zuordnet, wie z. B. die Empathie). Visueller und kinästhetischer Sinn helfen dem Anfänger vorwiegend, grundlegende Bewegungs-


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2. Was ist intuitives Bogenschießen? muster anzulegen und bestehende zu verbessern. Diese Muster werden dann den jeweiligen Verhältnissen angeglichen. Der Lernprozess des Schützen erfolgt anschließend durch einen ständigen Abgleich von Versuch und Ergebnis, unter Berücksichtigung und Verankerung des jeweiligen Körpergefühls. Ähnlich wie bei Freiwürfen eines Basketballers oder Abschlägen eines Golfers koordinieren sich Körper, Auge und Muskeln ständig neu. Gezieltes Schießen bergab über einen festen Anker Somit ist das intuitive Schießen eine natürlichund ein sauberes Körper-T puristische Methode des Zielens, bei der nur über eine im Parcours. visuelle Fokussierung und mit Hilfe des Körpergefühls, aus dem Unterbewusstsein heraus (über die aktive Rückenmuskulatur), gelöst wird. Beim meditativen Bogenschießen ist die Technik ganz ähnlich, das vorrangige Motiv ist jedoch die Persönlichkeitsentwicklung. Solch eine Einstellung kann im Zen bis hin zu einer Grundhaltung der „absichtslosen Gespanntheit“ (Kurt Österle, Autor des Klassikers Wenn der Bogen zerbrochen ist – dann schieß! ) führen. Alle Stilformen, egal wie sie bezeichnet werden, haben natürlich ihren ganz eigenen Wert und ihre ganz eigene Berechtigung, doch vor allem haben sie auch eine Gemeinsamkeit: Sie gipfeln in der Frage: Wie soll ich loslassen? Und führen uns, wenn wir weiter fragen zur Rolle des Unterbewusstseins und somit zur Intuition. Und wird das Thema nicht noch interessanter, wenn wir diese Frage auf unser Leben übertragen; etwa mit: Wie entscheide ich? Bei der japanischen Form des Bogenschießens wiederum, dem Kyudo, steht die Arbeit an der eigenen Geisteshaltung im Vordergrund. Diese alte Kriegskunst geht unter anderem auf die Samurai zurück und dient heutzutage vor allem als eine Methode des Zen, einer buddhistischen Form der Meditations- und Geistesübung. Dem Philosophen Eugen Herrigel, Verfasser des Buchs Zen in der Kunst des

Buchtipp Daniel Kahneman: „Schnelles Denken, langsames Denken“. Der Nobelpreisträger äußerst fundiert und hoch informativ, inwiefern einerseits Rationalität und andererseits Intuition an unseren Entscheidungen beteiligt sind.


2. Was ist intuitives Bogenschießen? Bogenschießens, ist es dabei auf seinem Weg hin zum Buddhismus und zur damit verbundenen Versenkungspraxis gelungen, auch uns Europäern die japanische Lebens- und Schießkunst des Kyudo verständlicher zu machen. Aufbauend auf seinen Erfahrungen in Indien schlägt Zen-Meister Kurt Österle eine Brücke zu diesem spirituellen Ansatz. Der Weg über diese Brücke beruht auf dem Vertrauen in unsere „innere Stimme“. Österle nutzt dabei traditionelle Reiterbögen und beschreibt ein meditatives Bogenschießen. Wird der Bogen auf die meditative Art und Weise geschossen, spielt die Intuition die tragende Rolle. Die Augen ruhen auf dem Ziel, der Geist bleibt jedoch gänzlich offen – ein Paradoxon, das man nicht erklären, sondern lediglich erfahren kann. Systemschützen wie etwa der bekannte koreanische Nationaltrainer der US-Olympiamannschaft, Kisik Lee (Leiter der KSL International Archery (KIA), einer internationalen Schule für Hochleistungs-Bogensport, s. auch unter „Literatur“), beschreiten einen wesentlich rationaleren Weg. Sie streben mit viel Leidenschaft nach technischer Perfektion und Treffsicherheit. Im Konzept dieses Buches wie auch bei der vom Autor geführten Bogenschule (Abenteuer Lernen gGmbH) spielt die Frage „Was mache ich falsch?“, die sich viele Schützen stellen, dagegen eine untergeordnete Rolle. Wichtiger erscheint die Suche nach einem undogmatischen Weg hin zu einer anderen Frage: „Was ist für mich persönlich hilfreich, um es in meinem Sinne gut zu machen?“ Da wir unsere Wurzeln in der Erlebnispädagogik haben, ist der ruhige Weg – mitten in der Natur – für uns der wertvollste, auch wenn viele von uns noch sehr bewusst zielen. Der Autor und sein Team nutzen das Bogenschießen in ihrer täglichen Arbeit als Übungsleiter und Coaches als Achtsamkeitstraining. Die Schützen können entspannter und präsenter werden. Wir arbeiten mit ihnen an einer harmonischen

Der Schießrhythmus Der Schießrhythmus beschreibt das zeitliche Verhältnis von drei Bewegungseinheiten: 1. Die Zeit, die der Schütze benötigt, um den Pfeil zu laden, also einzunocken, 2. die Zeit, die der Schütze braucht, um den geladenen Pfeil in den Anker zu ziehen, und 3. schließlich die Zeit, die vom Ankern bis zum Ende des Nachhaltens vergeht. Stehen diese drei Schritte in Bezug auf Dauer und Flüssigkeit der Bewegungen in einem harmonischen Verhältnis, ist der Ablauf sicher. Anfänger hingegen praktizieren noch eine Schritt für Schritt ablaufende Bewegung.

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2. Was ist intuitives Bogenschießen?

und nach sportphysiologischen Gesichtspunkten gesunden Bewegungsausführung. Der Bogen dient uns hierbei als Spiegel, etwa um solche Persönlichkeitsmuster zu erkennen, die wir gerne ablegen möchten. Er ist aber auch ein Gradmesser für unseren körperlichen Zustand. Und wir tragen dabei gerne ein Lächeln auf den Lippen, denn letztendlich halten wir ja doch nur ein Stück Holz in den Händen, oder etwa nicht? Eine große Kunst für alle Bogenschützen ist sicherlich, alles Unnötige auszublenden, voll im Augenblick zu sein und einen optimalen Geisteszustand zu erlangen. Hierbei hilft Übung.

Schema: Pfeil & (Recurve-)Bogen

Spitze

Oberer Wurfarm

Sehne Schaft Nockpunkt (hier mit Fingerschutz)

Befiederung / Fahnen

Nocke

Griffstück

Schussfenster (ggf. mit Pfeilauflage)

Unterer Wurfarm (i.d.R. mit Herstellerbeschriftung) Tip / Wurfarmende


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4. Drei hilfreiche Ansätze für die ersten Schritte

Vier-Phasen-Positionsmodell (nach Archery Academy) Bei diesem Ansatz handelt es sich um ein hilfreiches Modell aus der Trainerausbildung des Autors, um den Bewegungsablauf beim intuitiven Bogenschießen „auf die Reihe“ zu bekommen. Dieses Modell ist ein Stück weit ganzheitlicher, da vier Bewegungsphasen aneinandergekoppelt werden, sobald die vorherige beherrscht wird.

ERSTE PHASE: Festen Stand einnehmen (siehe S. 22, Der Stand)

ZWEITE PHASE: Aus dem festen Stand Pfeil aufnehmen und einnocken, Sehne leicht auf Vorspannung bringen; Unterarm berührt den Bauch, um die Atmung zu kontrollieren.

DRITTE PHASE: Ziel anvisieren, Bogen bei noch angewinkeltem Zugarm auf Abschusshöhe bringen, erst dann die Zughand in den Anker ziehen (siehe S. 33, Der Anker)

VIERTE PHASE: Schuss kommen lassen und nachhalten (siehe S. 36, Lösen und S. 39, Nachhalten)


Techniktraining

2. Fester (stolzer) Stand · · · · · · · · · · · Technikübung +++ Teamübung + Meditative Übung +++ Wettspiel

a) Inhalt der Übung: Der feste, ruhende Stand (Nullstellung) bildet das grundlegende Fundament für einen sichereren, immer wieder möglichst identischen Bewegungsablauf. Aus dem festen Stand (zur Körperpositionierung siehe Kapitel 3) ergibt sich eine optimale Körperhaltung. Hierfür wird ein Lot (Schnur mit Gewicht) genutzt.

b) Voraussetzungen: Keine, wenngleich die Übung besonders bei Anfängern als Grundlage dient.

c) Lernziele: motorisch: Der feste Stand kann ohne taktile Hilfe eingenommen werden. kognitiv: Die Eckpunkte des festen Standes sind bekannt und verinnerlicht. affektiv: Das Gefühl für den festen Stand ist vorhanden.

d) Ablauf / Durchführung:

➊ Warm-up ➋ Der Trainer erklärt Fuß- und Körperhaltung am Beispiel eines Teilnehmers. ➌ Die Teilnehmer üben im Wechsel: Jeder richtet sich in die gleiche Schussrichtung aus. Wenn die Gruppe gut steht und die Körperhaltung stimmt, wird die Ausrichtung bis zum Körper-T fortgesetzt. Wenn nicht, muss der Trainer die Fehlerkette unterbrechen und die Übung wieder von unten aufbauen. ➍ Jeder Teilnehmer bekommt eine Schnur (mit Schnellspanner) als Gürtel um den Bauch. Ein Schnurende liegt vor dem Bauchnabel an, das andere reicht von dort mit einem Gewicht (z. B. einem Stein) bis kurz vor den Boden. Das angehängte Gewicht wird durch Hüftschwung möglichst mittig auf einer gedachten Geraden zwischen den Füßen bewegt (ggf. zur Verdeutlichung einen Pfeil auf den Boden legen). Hierbei können der „Griff“ der Fußzehen in den Boden und die Belastung des Ballens gut eingeübt werden. Das Gewicht wird auf einer Geraden von einem Fuß zum anderen geschwungen, ohne dabei die Füße zu berühren. Dabei werden kleine, gleichmäßige Kreise erzeugt.

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5. Übungen

➎ Weitere Hilfsmittel, auf die sich der Schütze stellen kann und die je nach Gleichgewichtsfähigkeit eingesetzt werden sollten, können sein: ● ein Wackelbrett ● zwei bis vier Personenwaagen, auf die ein Brett gelegt wird – die Skalen zeigen an, wie gleichmäßig das Gewicht verteilt ist. ● zwei ca. 20 Zentimeter hohe, zylinderförmige Holzpflöcke mit 15 Zentimetern Durchmesser

➏ Wenn die Körperhaltung und das Körper-T stimmen, kann geschossen werden. Ansonsten muss die Fehlerkette unterbrochen und die Übung wieder von unten aufgebaut werden.

e) Vorbereitungen: Die Teilnehmer müssen die Technikmerkmale des festen Standes kennen. Im Yoga gibt es dafür eine Asana (frei übersetzt: „ruhende Übung“) namens „Tadasana“ („Berghaltung“). Mit ihr erdet man sich stärker und übt Stärke und Festigkeit ein.

f) Material: Schnur (am besten mit Schnellspanner) und Gewicht (z. B. Stein oder Schnurlot). Für die Varianten Wackelbrett, zwei bis vier Waagen (auf die ein Holzbrett gelegt wird, auf das der Schütze sich dann stellt) oder einfach zwei kleine Holzstämme, auf denen der Schütze balanciert.

g) Zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen: Bei den Hilfsmitteln und aufgrund der Sturzgefahr bei den Varianten muss der Abstand der Übenden untereinander beachtet werden.

Der feste (stolze) Stand

Fortgeschrittene können ein Wackelbrett benutzen, um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen.


7. Intuitives Bogenschießen und Bewusstsein Bogenschießen ist immer auch eine Spiegelung unserer persönlichen Verhaltensweisen, unseres Charakters. Wenn unser Bewusstsein offen genug ist, um dies wahrzunehmen und zu reflektieren, kann die Bogenübung weit mehr sein als die Freude am Flug der Pfeile. Nutzen wir das intuitive Bogenschießen ein Stück weit im Sinne des Kyudo, nämlich als ein Mittel zur Schulung unserer Persönlichkeit, ist dies eine große Chance. Freilich geht die japanische Art und Weise des Bogenschießens noch weit darüber hinaus und möchte das Bewusstsein („satori“ genannt) „in Beziehung mit der letzten Wirklichkeit“ bringen (Daisetz Teitaro Suzuki, zit. n. Zen in der Kunst des Bogenschießens von Eugen Herrigel). Beim Lernen durch Erfahrung (Erlebnispädagogik) nutzen wir das Bogenschießen als eine pädagogische Methode, um uns weiterzuentwickeln. Übergeordnete erlebnispädagogische Lernziele sind dabei auf psychologischer Ebene: ● Eine Erweiterung der emotionalen Selbstwahrnehmung, wie z. B. einen stärkeren Kontakt zu den eigenen Gefühlen durch die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse ● Einen Empathiegewinn sich selbst gegenüber ● Eine Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten durch eine realistischere Selbstwahrnehmung ● Eine Verbesserung des Selbstwertgefühls. Z. B. über das Einüben einer aufrechten, stolzen Körperhaltung. ● Die Arbeit an einer individuellen, hilfreichen (Lebens-)Grundhaltung mit Hilfe der Grundstellung beim Bogenschießen ● Über die Auseinandersetzung mit meinem Schussrhythmus die Findung eines zu mir passenden Lebenstempos Das intuitive Bogenschießen kann uns jedoch noch mehr eröffnen. Nutzen wir das Bogenschießen in einer ruhigen, konzentrierten Form in der Natur und besinnen uns dabei auf uns selbst, können wir zunächst einmal zur Ruhe kommen und uns


7. Intuitives Bogenschießen und Bewusstsein

Metapher zur Unterscheidung von Bewusstsein und Unterbewusstsein: Das Bewusstsein ist wie der Schütze, der sich ein Ziel setzt und den Bogen spannt. Während des Schießens rutscht dieses Ziel dann in den Hintergrund. Das Unterbewusste unternimmt allerdings weiterhin Schritte, um es zu erreichen. Dabei entspricht das Unterbewusste Pfeil und Bogen, die dem Schützen ermöglichen, sich seinem Ziel anzunähern. Wir wissen ja bereits, dass es nicht besonders klug ist, achtlos zu schießen. Es ist aber auch nicht klug, jede Bewegung genau mitzudenken. Im Idealfall arbeiten Schütze, Pfeil und Bogen harmonisch und ausgewogen Hand in Hand. (Frei nach Joseph O’Connor, der diese Metapher mit Pferd und Reiter entworfen hat, siehe auch NLP – das WorkBook, S. 19)

entspannen. Die größte Chance des intuitiven Bogenschießens ist jedoch, dass es uns einen zusätzlichen Zugang zu unserem Unterbewusstsein verschaffen kann. Haben wir diese Tür erst einmal geöffnet, entdecken wir neue Zimmer und manches Mal sogar bisher unbekannte Etagen in unserem Haus. Persönlichkeitszüge erklären sich neu, Bedürfnisse werden identifiziert und Fragen zur eigenen Identität aufgeworfen. Dies alles geschieht meist ganz unmerklich und ungezwungen. Bei den Menschen, mit denen der Autor schießt, erlebt er sehr oft ein ganz bestimmtes Muster: Unser Bewegungsablauf (vor dem Hintergrund unserer aktuellen physischen Gegebenheiten), unser Bogen (und das gesamte Equipment) sowie unsere persönliche Einstellung (gemeint sind die damit verbundenen Gefühle und Gedanken) müssen sich beim Schießen aufeinander einspielen. Dies stellt insbesondere den Anfänger erst einmal vor eine große Herausforderung und beschäftigt ihn somit auch gedanklich enorm. Diese gedankliche Befangenheit lässt jedoch nach, und zwar deshalb, weil die Koordination sich zunehmend automatisiert. Wir speichern mit jedem Schuss und sogar beim Zusehen Handlungsmuster um Handlungsmuster. Unser Handlungsablauf wird durch das Üben zunehmend flüssiger und erfordert unsere Aufmerksamkeit schließlich nicht mehr auf die gleiche Art und Weise wie zu Beginn. Bleibt unsere Achtsamkeit allerdings trotzdem erhalten (und genau hier ist auch ein Trainer besonders gefragt) – kreist sie also weiter, wie ein Adler, der sich langsam immer höher tragen lässt –, gewinnen wir einen größeren Überblick. Gelingt es uns in dieser Phase, durch klare Rahmenbedingungen und das Vermeiden von Ab-

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7. Intuitives Bogenschießen und Bewusstsein lenkungen präsent zu bleiben, können wir den Adler einfach weiter kreisen lassen. Wir lassen unsere Aufmerksamkeit hoch über allem thronen, gedankenlos verhaftet, auch wenn wir tief unten immer wieder das ein oder andere wahrnehmen. Das Gegenteil sei verdeutlicht am Beispiel eines Menschen, der eine bestimmte Stelle auf dem Boden fokussiert. Diese fokussierte Art der Wahrnehmung ist hochgradig selektiv und kann gerade unter Stress zu einer Art „Tunnelblick“ führen. Unsere sinnliche Repräsentation, unser inneres Abbild auf unserer inneren Landkarte der „Wirklichkeit“, ist also dementsprechend punktuell. Bei einer defokussierten Form der Wahrnehmung können wir zwar genau wie bei der fokussierten Wahrnehmung die gleiche Menge an Informationen aufnehmen, dies allerdings aus einem viel weiteren Feld, sodass unsere innere „Landkarte“ dementsprechend größer ist. Aus psychologischer Perspektive, hier dem Neurologisch-Linguistischen Programmieren (nach Joseph O‘Connor, NLP – das WorkBook, S. 93 ff.), gibt es für die damit verbundenen emotionalen Zustände auch immer zwei wesentliche Unterscheidungen: ASSOZIIERTER ZUSTAND Der Mensch ist vollständig präsent, fühlt sich mitten im Geschehen und ist im starken Kontakt mit seinen Gefühlen, die mit einer entsprechenden Erfahrung verbunden sind. Bei angenehmen Erinnerungen und Erfahrungen ist es hilfreich, assoziiert zu sein, um den Moment ganz zu genießen. DISSOZIIERTER ZUSTAND Der Mensch steht unbeteiligt am Rande und ist nicht ganz bei sich. Dieser Zustand hilft, Erfahrungen zu reflektieren, sich unangenehmen Erinnerungen zu entziehen und einen Überblick zu gewinnen. Hiermit ist nicht das Krankheitsbild der Dissoziativen Störung gemeint, bei der Betroffene sich aufgrund von sehr belastenden Erlebnissen von Erinnerungen oder Persönlichkeitsanteilen abspalten. Dies sind zwei grundlegend verschiedene Arten, innere Bilder zu sehen und die Welt zu erleben. Ein dritter Schritt wäre eine offenere Form der Wahrnehmung, bei der wir versuchen, uns und gleichzeitig den Raum um uns herum wahrzunehmen – eine Form der Wahrnehmung, bei der wir uns selbst sehr achtsam spüren und es zusätzlich zu einer Art Identifikation mit der Umgebung kommt. Im besten Falle gelingt uns ein Wechsel zwischen diesen Formen der Wahrnehmung. Übungen mit meditativem, defokussiertem Charakter können einen Schlüssel für die Tür zum Unterbewusstsein darstellen. Aus neurophysiologischer Betrachtungsweise gilt (aus Sicht des Autors, und nicht nur für das Bogenschießen) diesbezüg-


7. Intuitives Bogenschießen und Bewusstsein

Sinnliche Repräsentative„Landkarte“

Sprachlichkognitive„Landkarte“

„Wirklichkeit“ Fokussierte (grün) und defokussierte (gelb) Form der Wahrnehmung

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7. Intuitives Bogenschießen und Bewusstsein lich: „Das Zusammenspiel von zentralem Nervensystem und Muskulatur funktioniert dann am besten, wenn der Schütze möglichst wenig bewusst agiert.“ (Haidn/Weineck/Haidn-Tschalova, Bogenschießen, S. 197) Der Hintergrund ist, dass wir beim bewussten Handeln nur auf etwa ein Promille der Informationen aus unserem Unterbewusstsein zugreifen können. Die Abbildung soll zugleich verdeutlichen, dass Menschen die Geschehnisse der Welt als Erfahrungen (Repräsentationen) der Sinne und sprachlich-kognitive Erfahrungen wahrnehmen und behalten. Wir können also nur nach unseren eigenen Erfahrungen und nicht nach der Wirklichkeit selbst handeln. Das innere Abbild dieser subjektiven Realität können wir auch als „innere Landkarte“ bezeichnen, die eine Orientierungshilfe für unser Handeln darstellt. Dabei gilt: „Die Landkarte ist nicht das Gebiet.“ (Alfred Korzybski) Mit Hilfe unserer Sprache können wir ja nur die Struktur der erlebten Erfahrung andeuten. Und so wie unsere Sprache unsere Erfahrungen begrenzt, engen unsere Erfahrungen wiederum die wirkliche Idee (manche würden sagen: die Seele) einer Sache ein. Die Verständigung von Mensch zu Mensch über Metaphern oder Geschichten ist demnach auch der Versuch, das Denken hierbei weit und offen zu halten und die eigene Landkarte durch die Erfahrungen anderer Menschen zu erweitern. Folglich können wir oft schon dann das Handlungsfeld und die innere Landkarte eines Schützen entscheidend erweitern, wenn wir ihm den Tipp geben, sozusagen durch die Scheibe hindurchzuschießen. Hierdurch erweitert sich bei vielen Schützen meist automatisch die Wahrnehmung auf den Raum auch hinter der Scheibe, und damit wiederum wird das Ziel näher an der „Wirklichkeit“ repräsentiert. Durch die Reflexion dieser Erkenntnisse, den damit verbundenen Erfahrungen und den Übungen können wir großes Vertrauen in intuitive Entscheidungen gewinnen. Dieses Vertrauen sollten wir nicht als bloßen Appell verstehen, immer dem Gefühl nach und einfach spontan so zu handeln, wie es einem gerade passt, sondern: Durch eine offene, defokussierte Wahrnehmung können wir unsere Achtsamkeit steigern. Wir können dann auf mehr Informationen aus unserem Unterbewusstsein zurückgreifen, ohne dabei bewusstes zielgerichtetes Eingreifen, wie z. B. bei Irritationen, aufgeben zu müssen. Woher kommt diese Aussage? Jeder Mensch kann ca. 20 Bits in der Sekunde mit dem Bewusstsein verarbeiten (je nach Quelle auch bis zu 40 Bits – dabei sind Bits kleinstmögliche Informationseinheiten, die in unser Gehirn gelangen; die Begriffsdefinition geht auf Claude Shannon zurück, der als Mathematiker und Ingenieur die Informationstheorie begründete. Das Unterbewusstsein erfasst hingegen über zehn Millionen Bits.


7. Intuitives Bogenschießen und Bewusstsein Der größte Teil unser wahrgenommenen Informationen bleibt also unbewusst. Deshalb hat jeder Mensch große blinde Flecken (zur Verdeutlichung siehe Übung 13, S. 88). Wir können die Welt also nur so erkennen, wie sie für uns ist. Der Wissenschaftsjournalist Tor Nørretranders schreibt hierzu: „Da das Bewusstsein blitzartig von einem Gegenstand zum nächsten wechseln kann, wird seine Bandbreite nicht als begrenzt empfunden. In diesem Augenblick ist man sich der Enge seines Schuhzeuges bewusst, im nächsten der Ausdehnung des Universums. Eine einzigartige Gewandtheit ist für das Bewusstsein kennzeichnend. Doch ändert dies nichts an der Tatsache, daß wir uns in einem gegebenen Augenblick nicht sehr vieler Dinge bewusst sein können.“ Wenn wir es für nützlich halten, können wir diesen Suchscheinwerfer ausschalten, eine möglichst offene Einstellung und Wahrnehmung Hinweis gewinnen und so versuchen, auf möglichst viele InDer Physiologe Dietrich Trinformationen aus unserem Unterbewusstsein Zugriff cker brachte es während eines 1965 anlässlich des zu erlangen. 300-jährigen Bestehens der Beim Bogenschießen nehmen viele ihr Ziel stark Universität Kiel gehaltenen fokussiert war (wie ein Teleobjektiv, welches sich Vortrages auf den Punkt: „In ganz nah heranzoomt) und können es sehr genau den Kopf gelangen eine Million mal mehr Bits, als das sehen. Sie können das Ziel vielleicht auch genauer Bewusstsein erfasst.“ beschreiben als jemand, der seine gesamte Einstellung und somit Wahrnehmung weit und offen lässt (und dadurch zugleich stärker peripher sieht und folgerichtig z. B. die Entfernung besser abschätzen kann oder eher sehen würde, dass eine Person von der Seite ins Schussfeld läuft). Was Offenheit gegenüber der eigenen Intuition bewirken kann, zeigt ein Erlebnis, das dem Formel-1-Rennfahrer Juan Manuel Fangio beim Grand Prix von Monaco 1950 widerfahren sein soll. Fangio bremste quasi automatisch in einer Passage, in der normalerweise beschleunigt wird, und konnte so durch das verminderte Tempo einer Massenkarambolage hinter der folgenden Kurve ausweichen. Man nimmt an, dass er unterbewusst auf die winzigen Abweichungen in einem bekannten Muster reagierte: Die Zuschauer drehten ihre Köpfe nämlich in Richtung des Unfalls, welchen er selbst jedoch aus seiner Position heraus gar nicht hatte sehen können.

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Glossar ARCHERS PARADOX: Siehe unter Paradoxon des Bogenschießens. ACHTSAMKEIT (engl. mindfulness, nach Jon Kabat-Zinn): Die Kunst, alle Sinneswahrnehmungen und das eigene Bewusstsein ganz bei sich selbst und im Hier und Jetzt zu haben. Der Mensch ist im eigenen Handeln voll präsent und dabei nicht wertend. ANKER(PUNKT): Beschreibt die Position der Zughand (insbesondere deren Daumen, Zeigefinger und den Teil der Hand zwischen diesen beiden Fingern), die kurz vor dem Abschuss an Unterkiefer und Mundwinkel des Schützen fest und ruhig anliegt. ARMSCHUTZ: Verhindert Verletzungen durch die nach vorn schwingende Sehne – bei unsauberer Technik, unpassenden Pfeilen oder zu starker Beweglichkeit des Ellenbogengelenkes. Für Anfänger ist das Tragen eines langen Armschutzes obligatorisch. BACKING: Verstärkung des Bogens am Bogenrücken, also der dem Schützen abgewandten Seite. Das Backing aus Holz oder Glasfaser absorbiert die Zugkräfte des Bogens. BEAR FRED: Legendärer amerikanischer Bogenmacher und Pionier der Bogenjagd. Geb. 1902 - gest. 1988 BLUNT: Stumpfe Pfeilspitze aus Gummi. Wird meist für Rollenspiele verwendet. BOGENFENSTER (Schussfenster): Aussparung in der Mitte des Bogens. Wichtig, um mit beiden Augen das Ziel zu sehen und um den Pfeil mittiger auflegen zu können. BEFIEDERUNG: Die Befiederung des Pfeiles richtet ihn während seiner Flugbahn durch Rotation (schräg aufgeklebte Federn) und Bremskraft aus. Je sauberer die


Intuitives Bogenschießen kann pfeilschnell ins Unterbewusstsein führen. Es wird mit traditionellen Bögen und Pfeilen betrieben und will mehr als nur den Schuss ins Goldene: Mindestens genauso wichtig sind Achtsamkeit, meditatives Erleben und Stressbewältigung mit Hilfe der Atmung. Dieses Buch richtet sich gleichermaßen an Trainer und Schützen. Es enthält 23 gruppengeeignete Übungen: von Stand, Rückenspannung und Lösen bis Atmung und Wahrnehmung. Für optimale Praxistauglichkeit sorgen zahlreiche anschauliche Bilder, für eine Philosophie fundierte Konzepte aus Psychologie (NLP) und Achtsamkeitstraining (Jon Kabat-Zinn).

RTE E T I E ERW FLAGE U NEUA

Der Autor ist Diplom-Sportlehrer und seit 30 Jahren mit Gruppen draußen unterwegs. Er sieht sich gleichermaßen in der Schule der Archery Academy (Henry Bodnik) und von KyuSei Kurt Österle.

ISBN 978-3-7307-0167-6 VERLAG DIE WERKSTATT


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