Es war einmal ein Spiel – Leseprobe

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Moritz Küpper

ES WAR EINMAL EIN SPIEL

VERLAG DIE WERKSTATT

Wie der Fußball unsere Gesellschaft beherrscht


Über den Autor Moritz Küpper, geboren 1980, ist Landeskorrespondent für das Deutschlandradio in Nordrhein-Westfalen. Zuvor arbeitete er als Redakteur in der DeutschlandfunkSportredaktion sowie beim Wirtschaftsmagazin Capital. Er ist Autor der Bücher „Politik kann man lernen. Politische Seiteneinsteiger in Deutschland“ und „Die Joker. Warum unsere Gesellschaft Generalisten braucht“.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-7307- 0321-2 Copyright © 2017 Verlag Die Werkstatt GmbH Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen www.werkstatt-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto: imago sportfoto Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau Printed in Germany ISBN 978-3-7307-0320-5


Inhalt Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Prolog: Von Bern nach Rio de Janeiro in sechs Jahrzehnten

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„Es war einmal ein Spiel“: Vom Massenphänomen zur Geldmaschine .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Am Puls der Macht: Wie der Fußball die Nähe zur Politik pflegt

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Populäres Druckmittel: Wie der Fußball von der öffentlichen Hand nimmt

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Großer Fan-Klub: Wie der Fußball sein Netzwerk in die Gesellschaft spinnt

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„Deutschland, einig Vaterland“: Wie der Fußball für Identität und Integration sorgt .. . . . . . . . . . . . . . 94

Lukratives Wechselspiel: Wie Fußball und Wirtschaft voneinander profitieren

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„Turek, du bist ein Fußballgott“: Wie der Fußball als Religionsersatz fungiert

Allumfassende Dominanz: Wie der Fußball die übrigen Sportarten erdrückt . . . . . . . . . . . . . . . 124

Gesichertes Fundament: Wie der Fußball die Wissenschaft nutzt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Rechtsfreier Raum: Wie der Fußball seine eigene Justiz pflegt

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Kontrollierte Öffentlichkeit: Wie der Fußball die Medien beeinflusst .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Absolute Aufmerksamkeit: Wie sich der Fußball in Musik, Mode und Lifestyle inszeniert .. . 172

Beliebtes Trittbrett: Wie über den Fußball (fast) alles vermarktet wird

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Eigene Welt: Wie der Fußball in einer Luxus-Blase lebt – und neues Personal anzieht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Beliebte Floskeln: Wie sich der Fußball in unsere Sprache schleicht

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Keine Alternative: Wie der Fußball die Termingestaltung beeinflusst

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Kalkuliertes Kinderspiel: Wie der Fußball für Nachwuchs(-fans) sorgt

Epilog: Die schönste (Neben-)Sache der Welt? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Literaturhinweise

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Personenregister

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Zu diesem Buch Der Fußball hat mich mein Leben lang begleitet. Zwar nie als Spieler in einem Verein, dafür in der Freizeit auf der Straße, mit Freunden auf Wiesen und Kunstrasenplätzen, als Zuhörer am Radio oder eben als Zuschauer im Stadion oder vor dem Fernseher. Und gut fünf Jahre als Redakteur in der Deutschlandfunk-Sportredaktion. Den Sport als einen Teil der Gesellschaft sehen – und ihn entsprechend journalistisch begleiten. Das ist der Ansatz dieser Redaktion, der ich viel zu verdanken habe. Und so habe ich mich jahrelang auch beruflich mit dieser Rolle des Fußballs beschäftigt. Dazu gehörte natürlich die klassische Berichterstattung aus BundesligaStadien oder von Länderspielen. Doch abseits dieser häufig öffentlichen Bühnen fanden sich zumeist die interessanteren Geschichten: Ich habe bei Auswahlturnieren Nachwuchsscouts getroffen und mich auf Bundestagen des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) oder FIFA-Kongressen mit Funktionären unterhalten. Mit einer DFB-Delegation der U15-Nationalmannschaft bin ich nach Israel gefahren und war dabei, als diese jungen Spieler die Gedenkstätte Yad Vashem besuchten. Bei der letztmals veranstalteten Lizenz-Prüfung für Spielerberater saß ich im Prüfungsraum, hörte im Bundestags-Sportausschuss zu und besuchte ein „Fan-Hearing“ der Piraten-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag. Mit NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans war ich mit einem alten Ball bei Fortuna Köln im Südstadion zum Spendensammeln unterwegs, Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff habe ich in seiner Wahlheimat am Starnberger See getroffen und im Deutschlandfunk-Sportgespräch mit den Bundesinnenministern Thomas de Maizière und HansPeter Friedrich, den Professoren Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University) und Moshe Zimmermann (Hebräische Universität Jerusalem), den einstigen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger und Wolfgang Niersbach, dem Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (DFL), Christian Seifert, dem Weltmeister von 1954, Horst Eckel, und zahlreichen Bundesliga-Managern, -Trainern sowie anderen Sportlern wie Diskuswerfer Robert Harting und Welt-Hockeyspieler 7


Tobias Hauke über die Rolle des Fußballs in unserer Gesellschaft diskutiert. Dass dieser Stellenwert hoch ist, mag eine naheliegende Erkenntnis sein. Und doch wurde mir bei all diesen Gesprächen und Reisen immer deutlicher, wie stark und wie umfassend das Massenphänomen Fußball unsere Gesellschaft dominiert. Ich habe – gerade abseits der üblichen Orte – die Wirkung und Kraft, aber auch die Macht des Fußballs gespürt. Es waren zumeist kleine Anekdoten, weitreichende (personelle) Verflechtungen, überraschende Beobachtungen aus allen gesellschaftlichen Bereichen sowie aussagekräftige Vergleiche, die – wie bei einem Puzzle – ein komplettes Bild entstehen ließen. Im Anekdotischen das Exemplarische zu entdecken und somit das Sittengemälde einer Gesellschaft zu zeigen, in deren Mitte der einstige „Arbeitersport“ Fußball mittlerweile angekommen ist: Das war die Idee der sechsteiligen Deutschlandfunk-Serie „Blinde Liebe – Wie sich der Fußball in unserer Gesellschaft ausbreitet“ – und wurde zur Grundlage für dieses Buch. Es will damit dem Gewöhnungsprozess ein wenig trotzen, der vieles bei diesem Massenphänomen mittlerweile als normal erscheinen lässt. Dieses Buch soll zeigen, wie sich der Fußball (und sein gesellschaftlicher Stellenwert) in den vergangenen sechs Jahrzehnten verändert hat: vom „Wunder von Bern“ bis hin zum „Triumph von Rio“. Wie sich der Fußball kommerzialisiert, politisiert, professionalisiert hat – und auch, wie dieses Spiel instrumentalisiert wird. Dieses Buch soll Augen öffnen, nicht anklagen – zugleich aber auch nicht der Faszination Fußball erliegen. Deshalb habe ich mich bemüht, meine Erlebnisse und Beobachtungen möglichst authentisch widerzuspiegeln. Denn, wie heißt es so oft? Fußball ist die schönste Nebensache der Welt. Dass der Fußball schön ist, erscheint angesichts des Massenphänomens als unstrittig. Aber eine Nebensache? Darüber dürfte wohl mancherorts diskutiert werden – vielleicht nach der Lektüre dieses Buchs. Moritz Küpper, Februar 2017

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Prolog: Von Bern nach Rio de Janeiro in sechs Jahrzehnten „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!“ (Radioreporter Herbert Zimmermann beim Weltmeisterschafts-Endspiel 1954 in Bern)

„Mach ihn! Maaach ihn! Er macht ihn!“ (TV-Kommentator Tom Bartels beim Weltmeisterschafts-Endspiel 2014 in Rio de Janeiro)

Die Füße tragen mittlerweile schwer. Knapp 60 Jahre nach dem legendären Weltmeisterschaftsfinale von Bern humpelt Hans Schäfer über eine große Einkaufsstraße im Kölner Westen. Gut 50 Meter könne er noch gehen, so Schäfer, das rechte Knie mache ihm Probleme. Jahrzehnte vorher war dies noch anders: Schäfer müsse nach innen flanken, rief einst der Rundfunkreporter Herbert Zimmermann in seinem legendären Kommentar. Der Rest waren ein Abpraller, ein Schuss von Helmut Rahn aus dem Hintergrund – und das 3:2 von Deutschland gegen Ungarn im WM-Finale 1954. Doch vom „Wunder von Bern“ will Schäfer heute nicht mehr viel wissen – er ist auf dem Weg zum Friseur. Wie fast jeden Donnerstag bringt er seine Frau dorthin. Schäfer setzt sich dann dazu, wartet und liest in der Kölner Boulevardzeitung Express. „Ich bin 1954 Weltmeister geworden, habe mir danach den Mund abgeputzt, das genügt doch“, sagte er einst in einem der seltenen Interviews, „was soll ich denn 60 Jahre ständig und immer darüber reden?“ In seiner Heimatstadt ist er dennoch bekannt: Im Supermarkt trägt ihm der Filialleiter die Einkaufstaschen zum Auto. Doch der Kult um die „Helden von Bern“ ist ihm fremd: „Die Dinge aus meiner Zeit als aktiver Fußballer habe ich alle verschenkt“, erzählt er: „Ich lebe in der Gegenwart.“ Von daher lehnt 9


er weitere Interviews grundsätzlich ab, auch im Friseursalon – und widmet sich stattdessen wieder dem Express. Lesen mag er, sprechen mit Journalisten dagegen weniger. Auch Wochen später am Telefon bittet er darum, nicht mehr anzurufen, er habe „zu viel zu tun“. Dies sei eine Geheimnummer, man solle sie am besten streichen und sofort vergessen – und legt auf. Schäfer ist, neben Horst Eckel, das letzte lebende Mitglied der WM-Elf von 1954. Sie sind Weltmeister – genauso wie der Jahrgang von 1974 um Franz Beckenbauer, Sepp Maier und Uli Hoeneß, die „Helden von Rom“ 1990 um Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann oder eben die Weltmeister 2014 aus Brasilien. Doch während der Titelgewinn all diese Männer verbindet, haben sich die Zeiten geändert. Es ist – ohne Vertragsdetails zu kennen – wohl nicht unwahrscheinlich, dass die drei deutschen Final-Siegtorschützen von 1954, 1974 und 1990, eben Helmut Rahn, Gerd Müller und Andreas Brehme, zusammengerechnet in ihrer gesamten Karriere nicht so viel verdient haben wie der damals 22-jährige Mario Götze bei seinem Siegtreffer im Juli 2014. 60 Jahre liegen zwischen dem ersten und dem bislang letzten WM-Erfolg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Auch 1954 jubelten die Menschenmassen den „Helden von Bern“ zu, doch deren Erfolg war beispielsweise der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) einst nur eine kleine Meldung auf der ersten Seite wert. 60 Jahre später übertrugen mehrere Fernsehsender den Empfang der „Helden von Rio“ in Berlin – und es gab keine deutsche Tageszeitung, die nicht mit dem Titelgewinn 2014 aufgemacht hat. In den sechs Jahrzehnten zwischen 1954 und 2014 hat sich der Fußball enorm entwickelt: Das Leben von Schäfer, der einst eine Tankstelle betrieb, als Kaufhof-Vertreter arbeitete und heute zurückgezogen lebt, ist nur eine dieser unzähligen Geschichten. Und die (fast) grenzenlose Kommerzialisierung ist auch nur ein Kapitel dieser Erfolgsgeschichte Fußball. Denn in den vergangenen sechs Jahrzehnten hat sich der Deutschen liebster Sport in fast alle gesellschaftlichen Bereiche vorgearbeitet und dort etabliert. Von welchem Ausgangspunkt, das lässt sich gut 270 Kilometer von dem Friseursalon im Kölner Westen entfernt, in dem Schäfer häufig sitzt, feststellen: Horst Eckel öffnet die Tür zu seinem Haus in Vogelbach, einer Ortsgemeinde von Bruchmühlbach-Miesau in der Pfalz. 10


Es ist ein kleines Dorf, in dem nicht nur die Geldautomaten ausgeschildert sind, sondern – sozusagen als Kontrast – auch die französische Hauptstadt. Bis Paris seien es 430 Kilometer, zeigt das Verkehrsschild an. Sein ganzes Leben hat Eckel hier verbracht. Hoch oben, über dem Dorf, liegt der Fußballplatz des SC Vogelbach, Eckels erstem Verein. Idyllisch, mitten im Wald. Im Jahr 1985 haben sie Eckel hier eine Gedächtnisbuche hingestellt. Und normalerweise fährt er für Interviews hoch in die Vereinsgaststätte. Dann muss man unten klingeln, „ihren Mann abholen“, wie Hannelore Eckel sagt, die sich um die Termine kümmert. Doch heute könne das Gespräch auch zuhause stattfinden. Im 60. Jahr nach dem „Wunder von Bern“ mehren sich mal wieder die Interview-Anfragen. Eckel trägt einen braunen Rollkragenpullover, an seiner linken Hand glänzt der goldene Siegel-Ring des 1. FC Kaiserslautern. Dazu eine Uhr für den WM-Erfolg. Schäfers Schweigen macht Eckel zu „so etwas wie den inoffiziellen Nachlassverwalter des ‚Wunders von Bern‘“, stellte die Berliner Zeitung fest. Dabei sind ihre Herkunft und ihr Lebensweg jeweils typisch für die damalige Zeit: Ähnlich wie Schäfer blieb Eckel seinem Verein – dem 1. FC Kaiserslautern – immer verbunden. Ähnlich wie Schäfer lebte Eckel sein ganzes Leben an einem Ort. Und ähnlich wie Schäfer lernte Eckel nach der Karriere einen Beruf (Realschullehrer) und arbeitete darin. Während der WM 1954 teilten sich die beiden ein Zimmer, doch der Kontakt zueinander ist abgerissen. Schade findet Eckel das. Und auch der Umgang mit dem WM-Erfolg könnte nicht unterschiedlicher sein: Während Schäfer schweigt, sich mithilfe einer Telefon-Geheimnummer von der Öffentlichkeit abschottet und auf Anfragen knurrig reagiert, gibt Eckel bereitwillig Interviews, geht weiterhin zu Benefiz-Spielen und betreibt sogar einen eigenen Twitter-Account. Durch seine Erzählungen lässt „Die Arbeit mit Kindern hat mir mehr bedeutet als das Sportliche“ sich erahnen, woher das heutige Massengeschäft Fußball einst kam: Zweimal die Woche hätten sie damals trainiert, erinnert sich Eckel. Die monatliche Obergrenze für die Bezahlung der Fußballer lag bei 320 DM, für den WM-Titel 1954 gab es 500 DM und einen Fernseher. 60 Jahre später waren es 300.000 Euro – pro Spieler. Anders als Schäfer hadert Eckel nicht mit diesen Summen: Wenn er heute noch spielen würde, hatte Schäfer, 11


der als erster deutscher Spieler an drei Weltmeisterschaften teilnahm, immer mal wieder im Friseursalon gegrummelt, dann hätte er hunderte Millionen an Euro verdient. Ob realistisch oder nicht, für Eckel ist dies ohnehin zweitrangig. Denn das „Wunder von Bern“ war ihm zwar wichtig, noch schöner sei aber seine Zeit als Lehrer gewesen: „Die Arbeit mit Kindern hat mir mehr bedeutet als das Sportliche“, so Eckel. „Wenn ich sehen konnte, wie sich die Schüler entwickelt haben, was aus ihnen geworden ist.“ Werte weiterzugeben, bedeutet ihm viel. Und dennoch, bei allem Engagement: Auch Eckel merkt das Alter. Auch ihm wird der Trubel ein wenig zu viel. Weil Schäfer ja schweigt, fragen alle ihn, den damals Jüngsten, nach den alten Geschichten. Und Eckel erzählt. Wieder. Und immer wieder. Und obwohl er dies schon unzählige Male gemacht hat, nimmt er sich jedes Mal Zeit. Der WM-Erfolg von Bern war und ist für ihn auch eine Aufgabe – genauso wie Autogrammwünsche, bei denen er sich auch heute noch, sechs Jahrzehnte später, alle Mühe gibt. „Ohne Brille“, sagt er, an seinem Wohnzimmertisch sitzend, während er seinen Namen auf sein Bild schreibt: „Ich denke, das kann man gut lesen.“ Er blickt auf sein Werk: „Eckel“, steht da, leicht geschwungen, mit einem schwarzen, dicken Edding geschrieben. Wenige Minuten vorher hatte Eckel noch extra zwei Stifte auf einem Papier ausprobiert. „Autogramme muss man lesen können“, sagt er und blickt auf. „Was sollen die Leute sonst damit?“ Wenn er das bei den heutigen Bundesliga-Profis und Nationalspielern manchmal sehe, entfährt es ihm mit einem Kopfschütteln, „die machen einfach einen Haken“. Er fährt durch die Luft: „Das war’s.“ Er schüttelt wieder den Kopf: „Das hätten wir uns früher erlauben sollen.“ Seinen Namen ordentlich zu schreiben, sei eine Anweisung von Sepp Herberger gewesen, so Eckel, „und auch Fritz Walter hat immer darauf geachtet“. Wie stark sich die Lebensumstände eines Fußball-Weltmeisters in 60 Jahren verändert haben, lässt sich aber nicht nur an den Autogrammen der Profis ablesen, nicht nur an Eckels Erzählungen, sondern auch an einer kleinen Begebenheit auf dem Weg zum WMTurnier nach Brasilien. Denn im Herbst 2013 qualifizierte sich die deutsche Mannschaft mit einem 3:0-Sieg über Irland in Schäfers Heimatstadt Köln für die Endrunde. Die Spieler bekamen daraufhin kurzfristig zwei Tage frei, woraufhin das DFB-eigene Reisebüro fast 12


überrannt wurde. Und während die Spieler für anderthalb Tage von Köln nach London, München oder Madrid flogen, zeigt dies den Kontrast zu den Umständen 60 Jahre vorher. Denn vor dem Viertelfinale der WM 1954 gegen Jugoslawien hatte Hans Schäfer einst seine Frau angerufen: Sie solle in die Schweiz kommen. Schäfers Begründung: Gegen Jugoslawien seien sie chancenlos, würden ausscheiden und könnten anschließend gemeinsam in den Urlaub weiterfahren. „Wir verdienten damals nicht so viel Geld, dass wir hin- und herfahren konnten“, so Schäfer. Eine gute Idee, die aber doch scheiterte. Deutschland gewann, wurde Weltmeister – und das Volk wollte seine Helden sehen. Die Schäfers mussten zurück nach Deutschland. Ohne Urlaub.

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„Es war einmal ein Spiel“: Vom Massenphänomen zur Geldmaschine „Früher saßen die reichen Leute auf der Tribüne. Heute sitzen die armen oder nicht so bemittelten Leute auf der Tribüne, während die Millionäre unten auf dem Rasen rumlaufen.“ (Fritz Pleitgen, ehemaliger Intendant des WDR)

„Ich sehe noch keine Sättigung für die Marke der Nationalmannschaft. Ich sehe noch keine Sättigung für den Fußball. Insofern gibt es noch viele spannende Projekte.“ (Oliver Bierhoff, Manager der deutschen Fußball-Nationalmannschaft)

Jan Lehmann sitzt in der „Sky-Box“, in der 2. Etage eines Bürogebäudes in Köln. Es ist ein Besprechungsraum des Unternehmens Nielsen Sports. Von hier kümmert sich die Marktforschungs- und Beratungsfirma um Themen aus dem Sport, seien es Sponsoring-Daten, TV-Reichweiten oder die Einstellungen von Sportfans. Lehmann, braune Haare, graue Hose, hellblaues Hemd, hat einst Wirtschaftswissenschaften studiert, anschließend promoviert und beim Sportrechtevermarkter Infront Sports & Media in der Schweiz sowie als Unternehmensberater bei McKinsey & Company in Köln gearbeitet. Dann wechselte er zur DFL nach Frankfurt am Main und verantwortete dort das Produktmanagement und das strategische Marketing der Bundesliga. Auf der Suche nach der gesellschaftlichen Bedeutung des Fußballs und dessen rasanter Entwicklung ist Lehmann, selbst großer Fußballfan, ein guter Ansprechpartner. Denn: Er kann den Fußball in Zahlen fassen. Beispielsweise beim Trikotsponsoring. Die Einnahmen daraus stiegen in der Bundesliga von umgerechnet 80.000 Euro in der Saison 1972/73 auf knapp 182 Millionen Euro in der Saison 2016/17. Bekam Bayern München in der Spielzeit 1981/82 umgerechnet rund 380.000 Euro von Iveco, so bezahlte die Telekom in der Saison 2007/08 14


20 Millionen pro Jahr. Zuschauerzahlen? Von durchschnittlich 19.765 Besuchern in der Spielzeit 1989/90 stieg der Schnitt auf 42.421 in der Saison 2015/16. Ein Plus von 115 Prozent. Oder das aktuelle Sponsoring-Volumen: Die 100 größten Sportsponsoren in Deutschland zahlten in der Saison 2014/15 973 Millionen Euro – wovon 71 Prozent in den Fußball flossen. Lehmann verweist auch auf den sogenannten Bundesliga-Report sowie die Studie „Wirtschaftsfaktor Bundesliga“. Letzteres ist ein Zusammenspiel seiner ehemaligen Arbeitgeber: McKinsey erstellte für die Saison 2013/14 im Auftrag der DFL eine viel zitierte Studie. Demnach sorgte das „System Profifußball“, wie es in dem Bericht heißt, in jener Saison für eine Wertschöpfung von 7,9 Milliarden Euro sowie 110.000 Arbeitsplätze und brachte dem Staat Nettoeinnahmen in Höhe von 2,3 Milliarden Euro. Gegenüber der Spielzeit 2007/08 waren die Werte jeweils um gut 50 Prozent gestiegen. Es sind viele Zahlen, aussage„Letztendlich ist der Fußball kräftige Zahlen mit vielen Nullen, heutzutage ein Geschäft“ die im Gespräch durch die Luft fliegen. Doch auch die Prozesse rund um Nielsen Sports beziehungsweise dessen Vorgängerunternehmen Repucom sind symptomatisch für die angesprochene Entwicklung: Denn in den Wochen rund um diesen warmen Sommertag im Juli 2016, an dem Lehmann über die gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs berichtet, wird Repucom übernommen. Die einst schwarz-grüne Farbkombination des Unternehmens verschwindet in den nächsten Wochen, stattdessen dominiert künftig Blau. Es ist eben die Farbe von The Nielsen Company, dem neuen Besitzer und Marktführer bei Marketing- und Medieninformationen. Niederlassungen in über 100 Ländern, rund 40.000 Mitarbeiter, der Jahresumsatz 2014 betrug 6,3 Milliarden Dollar. Was einst im Jahr 1984 als „Sport+Markt“ begann, als ehemalige Studenten der Sporthochschule Köln eine Firma gründeten, mit der sie Daten im Sport-Sponsoring und -Werbemarkt erheben wollten, endet damit in einem globalen Konzern: Im Jahr 2010 von Repucom übernommen, wurde aus der einstigen Studenten-Gründung eines der international führenden Unternehmen im Bereich Sportbusiness. Und nun – sozusagen als nächster Schritt – wird es von dem weltweit führenden Informations- und Marktforschungsunternehmen über15


nommen. Dort gehört Nielsen Sports zur Abteilung Nielsen Entertainment. Unterhaltung also. Auch für Lehmann ist diese Entwicklung logisch: „Letztendlich ist der Sport – und in Deutschland vor allem der Fußball – heutzutage ein Geschäft.“ Lehmanns Zahlen, aber auch die Firmengeschichte seines Arbeitgebers stehen damit prototypisch für eine Entwicklung, in der sich der Fußball von seinem Status als Sportart entkoppelt hat und stattdessen zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden ist. Fußball ist Small-Talk-Thema Nummer eins, gilt als der letzte Kitt der Gesellschaft. 90 Minuten lang sind alle gleich: egal ob reich oder arm, jung oder alt, männlich oder weiblich. Die Nationalmannschaft ist eine der Instanzen, der die Kraft nachgesagt wird, dem wiedervereinigten, durch Zuwanderung geprägten Land eine gemeinsame Identität zu geben – wie einst beim „Wunder von Bern“, der „wahren Geburtsstunde der Bundesrepublik“, so der Politologe Arthur Heinrich. Dabei war und ist das Spiel eigentlich recht simpel: ein Platz, ein Ball, 22 Spieler. Seit den Anfängen im 19. Jahrhundert haben sich die Spielregeln so gut wie kaum verändert. Zumindest auf dem Platz. Doch abseits des Rasens ist aus dem Fußball eben ein gesellschaftlicher Faktor geworden, der seinesgleichen sucht und dessen Einfluss sich mittlerweile in (fast) allen Bereichen finden lässt: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Medien, Gesellschaft, Kultur, Entertainment, Tourismus, sogar innerhalb der Sprache. Wenn die deutsche Nationalmannschaft das Endspiel um die Weltmeisterschaft erreicht, fliegen Bundespräsident und Bundeskanzlerin zu dem Spiel ein, obwohl gemeinsame Auslandsbesuche der beiden Staatsorgane – nach Auskunft des Bundespräsidialamtes – eigentlich vermieden werden sollen. Das war nicht nur bei der WM 2014 der Fall, sondern auch bei der WM 2002 in Japan, als der damalige Bundespräsident Johannes Rau sowie der seinerzeitige Bundeskanzler Gerhard Schröder nach Yokohama flogen. Weitere gemeinsame Auftritte der Staatsspitze im Ausland in der jüngeren Vergangenheit? Fehlanzeige. Wenn Nationalspieler Mesut Özil ein paar Sätze bei Facebook postet, erreicht er bei seinen gut 31 Millionen Likes knapp fünfzehnmal so viele Menschen wie zeitgleich Bundeskanzlerin Merkel mit 2,2 Millionen Fans auf diesem Social-Media-Kanal. 16


Wenn Parteien einen Mitgliederschwund beklagen und alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien (CDU, CSU, SPD, Linke, Bündnis 90/Die Grünen) zusammen auf 1,3 Millionen Mitglieder kommen, kann der DFB auf steigende Zahlen und imposante 6,8 Millionen Mitglieder verweisen. Wenn es in Deutschland einen Pilotenstreik gibt, kann der FC Bayern München trotzdem pünktlich fliegen, wie beispielsweise nach seinem Champions League-Auswärtsspiel im April 2014 in Manchester: „Damit sie weiter trainieren können und uns im Rückspiel keine Schande machen“, kommentierte der Leiter des Lufthansa-Flugbetriebs, Werner Knorr, damals. Wenn der Präsident des FC Bayern München, Uli Hoeneß, wegen Steuerhinterziehung in München vor dem Landgericht steht, übersteigen die 545 Akkreditierungsanfragen der Journalisten deutlich die 324 Journalisten-Gesuche an dasselbe Gericht beim Prozess gegen den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), der zehn Menschen umgebracht haben soll. Wenn sich der Kapitän der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, Michael Ballack, im Vorfeld der WM 2010 verletzt, sendet die ARD einen „Brennpunkt“ nach der Tagesschau – wie sonst nur bei Terroranschlägen, Naturkatastrophen oder dem Rücktritt des Bundespräsidenten. Wenn Vorstandsvorsitzende von Dax-Konzernen auf ihren Bilanzpressekonferenzen ein schlechtes Ergebnis verkaufen müssen, dann heißt es, dass „wir in der zweiten Halbzeit aufholen“ müssen (Telekom-Chef Timotheus Höttges). Denn: Man wolle ja „in der Champions League spielen“. Wenn heutzutage Professoren auf wissenschaftlichen Tagungen ernsthaft darüber debattieren, ob „Fußball als Religionsersatz“ diene, und diese Frage bejahen, wenn es vereinseigene Friedhöfe sowie Gottesdienste gibt und das Maskottchen des 1. FC Köln, der Geißbock Hennes, in den Stein des Kölner Doms gemeißelt ist, erinnert sich kaum noch einer daran, dass sich bei der WM 1954 der RundfunkReporter Herbert Zimmermann für seine Wortwahl „Turek, du bist ein Fußball-Gott“ noch rechtfertigen musste. Und wenn das renommierte Frankfurter Naturmuseum Senckenberg seine Besucher darüber abstimmen lässt, wessen Gehirn in 17


50-facher Vergrößerung zu einer Begehung nachgebaut werden soll, gewinnt nicht der weltbekannte Physiker Albert Einstein, der Inbegriff der Intelligenz, sondern Karl-Heinz Körbel. Seines Zeichens Bundesliga-Rekordspieler, einst Verteidiger bei Eintracht Frankfurt, dessen Gehirn durch unzählige Kopfbälle erschüttert wurde. Er bekam gleich doppelt so viele Stimmen wie Einstein. Wolfgang Holzhäuser schüttelt den Kopf, wenn er solche Vergleiche hört: „Die gesellschaftliche Beachtung des Fußballs ist zu hoch“, sagt er. „Ob der Fußball will oder nicht: Er ist mittlerweile eine Plattform, auf der sich alle tummeln.“ Holzhäuser sitzt in seinem Haus im Westen des Rheinisch-Bergischen Kreises. Es ist der Tag nach dem zweiten Vorrundenspiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2016 gegen Polen. Rund 26 Millionen Zuschauer in Deutschland verfolgten das dröge 0:0-Unentschieden. Holzhäuser kommt aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Ein sportlich fast bedeutungsloses Gruppenspiel wird zum Straßenfeger: „Ich habe mich heute Morgen, als ich das gelesen habe, ernsthaft gefragt: Wissen die Leute eigentlich, was sie sich da angetan haben?“ Der ehemalige Geschäftsführer von Bayer 04 Leverkusen guckt etwas ratlos. 26 Millionen TV-Zuschauer in der Vorrunde? Solche Zahlen sind mittlerweile Standard in Deutschland. Holzhäuser ist wahrlich kein FußballSkeptiker. Er gehört vielmehr einer Generation von Männern an, die den Fußball in Deutschland groß gemacht haben. Wie Heribert Bruchhagen. Auch der ehemalige Manager von Schalke, dem Hamburger SV, Arminia Bielefeld und Eintracht Frankfurt, neuerdings Vorstandsvorsitzender des HSV – und einst sportlicher Gegenspieler Holzhäusers –, ist angesichts dieser Entwicklung fast sprachlos. „Früher haben von den Zuschauern mindestens 60 bis 70 Prozent den kicker gelesen und selbst gespielt, die Fachspezifik des Publikums war hoch“, sagte Bruchhagen im Sommer 2016. „Diese Zahlen haben sich verändert. Heute ist der Fußball mehr erlebnisorientiert und emotional.“ Mit Bruchhagen hat Holzhäuser viele Auseinandersetzungen ausgetragen, hier aber stimmt er ihm ausdrücklich zu. Holzhäuser nennt sich selbst ein Kind der Bundesliga. „Des Profifußballs“, schiebt er nach. Man könnte auch sagen: Er ist einer der Väter der Bundesliga, wie wir sie heute kennen. Denn Holzhäuser war maßgeblich an der Gründung der DFL sowie der Einführung 18


der Kapitalgesellschaften im Profifußball beteiligt. Dass aus dem Bundesliga-Klub mit dem Zusatz „e.V.“, dem eingetragenen Verein, eine GmbH oder eine Aktiengesellschaft wurde, ist mit sein Werk. Genauso wie die sogenannte „50+1-Klausel“, nach der der Verein weiterhin das Sagen in den Kapitalgesellschaften haben soll. All das sind große Weichenstellungen im deutschen Fußball gewesen, deren Anfänge jedoch auf einen Arbeitsamtbesuch im Jahr 1975 zurückgehen: Nach dem Abschluss seines BWL-Studiums erkundigte sich Holzhäuser dort nach beruflichen Perspektiven. Diese Auskunft von damals werde er nie vergessen, sagt er heute: „Mit Betriebswirten können wir die Straße pflastern.“ Doch seine Frau richtete ihn auf: „Sie hat mir damals gesagt: Du interessierst dich doch für Fußball, bewirb dich doch da mal.“ Holzhäuser schickte Bewerbungen zu Kickers Offenbach, zum Hessischen Fußball-Verband und zum DFB, der ihn letztendlich einstellte. Holzhäuser muss schmunzeln, wenn er an jene Zeit denkt: „Das war eine andere Welt damals“, erinnert er sich. „Das waren drei oder vier Zimmer.“ Er bekam ein paar Ordner hingestellt und sollte sich um den Liga-Betrieb kümmern. Doch nach Jahren beim Verband hatte Holzhäuser genug gesehen. Er wollte die Liga ausbauen und unabhängig machen. Seine Idee: den Profifußball den Profis überlassen. Doch damit stieß er auf großen Widerstand innerhalb des DFB. Die Funktionäre wollten die Liga nicht ziehen lassen, die Strukturen lieber innerhalb des Verbandes ausbauen. „Aber das hätte nicht funktioniert“, ist sich Holzhäuser noch immer sicher. Er kämpfte weiter, bis schließlich der damalige DFB-Präsident Egidius Braun Ende der 1990er Jahre entnervt aufgab. Die Grundlagen für die Liga waren gelegt – und Holzhäuser wechselte die Seiten, um seine Idee weiter voranzutreiben. „Die Bundesliga hätte mich nie als DFB-Vertreter akzeptiert“, erklärt er seinen Schritt, mit dem er auch seine berufliche Zukunft mit dem Glauben an eine eigenständige Liga verband: „Ich war Überzeugungstäter.“ Holzhäuser wechselte in die „Der Fußball hat das Glück, dass keine Verteilungskämpfe einsetGeschäftsführung von Bayer 04 zen und Geld für alle da ist“ Leverkusen, managte dort die Umwandlung des Vereins in eine GmbH. Er stieg zum Sprecher der Geschäftsführung auf, engagierte sich im neu gegründeten Ligaver19


band, dessen operative Tochter DFL den Spielbetrieb übernahm. Im September 2013, als sich Holzhäuser aus dem Fußball-Geschäft zurückzog, waren fast alle Bundesliga-Klubs Kapitalgesellschaften geworden. Die Geschichte hatte Holzhäuser Recht gegeben. Und auf seiner Abschiedsfeier erinnerte der damalige DFB-Präsident Wolfgang Niersbach auch noch einmal an Holzhäusers Kündigung beim Verband. Denn mit deren Verkündung war damals direkt ein Schlussstrich gezogen worden. Holzhäuser musste sein Büro räumen, alles abgeben. „Der Wolfgang hat bei meiner Abschiedsfeier die Quittung von damals herausgeholt und vorgelesen“, erinnert sich Holzhäuser heute. „Ein Anzug, blau. Zwei weiße Hemden, Krawatte, Schlüssel, PKW und noch etwas stand darauf …“ Es fällt ihm gerade nicht ein. Doch angesichts der heutigen Summen erinnerte das kleine Stück Papier nochmals an die Zeiten vor den dreistelligen Millionen-Ablösen und milliardenschweren TV-Verträgen. „Der Fußball hat das Glück, eine so stark wachsende Branche zu sein, so dass keine Verteilungskämpfe einsetzen und dementsprechend Geld für alle da ist“, analysiert Holzhäuser mit etwas Abstand. In der Branche hatte er immer das Image eines Kaufmanns, weil er sich bei Spielereinkäufen auch mal nach dem Grenzertrag erkundigte. Noch gut kann sich Holzhäuser an den öffentlichen Aufschrei beim ersten Millionen-Transfer der Bundesliga erinnern: Im Jahr 1976 wechselte der Stürmer Roger van Gool vom FC Brügge zum 1. FC Köln. Kaufpreis: eine Million DM. „Wenn Sie heute einen Spieler für zehn Millionen Euro kaufen und der einschlägt“, sagt Holzhäuser, „dann ist das ein Schnäppchen“. Mittlerweile sind Summen jenseits der 50-Millionen-Grenze Sommer für Sommer an der Tagesordnung. „In diese Zahlen wächst man rein“, erklärt Holzhäuser zwar. Aber: „Der Fußball ist nur noch Mittel zum Zweck.“ Für Holzhäuser ist die immer stärkere Kommerzialisierung nicht neu: „Ich habe schon damals die Haltung vertreten, dass wir ein Teil der Unterhaltungsindustrie sind. Einfach: die Sparte Fußball.“ Das betrifft nicht nur die Bundesliga, sondern auch und gerade die Nationalmannschaft. Eine „Bierhoffisierung des Fußballs“ nannte es Spiegel Online im Zuge der EM 2016 in Anlehnung an die Strategie des Nationalmannschafts-Managers Oliver Bierhoff und definierte dies als: „Glattbügeln, Disziplinieren und Entemotionalisieren 20


von allem, was irgendwie noch einen Hauch von Authentizität und Echtheit ausstrahlt. Und was die Inszenierung stören könnte.“ Denn über die Jahre und Jahrzehnte sind immer neue Geschäftsfelder entstanden, lässt sich der Fußball immer weiter monetarisieren, wie schon Ex-Repucom- und nun Nielsen-Mann Lehmann festgestellt hat. Ab den 1970er Jahren begann adidas mit dem Verkauf von Trikots der Nationalmannschaft und konnte Jahrzehnte später, rund um die WM 2014, mehr als drei Millionen Exemplare absetzen. Zu einem Stückpreis von rund 85 Euro. Die TV-Gelder, also die Einnahmen für die Fernsehübertragung des Fußballs, stiegen von rund 650.000 DM, die sich ARD und ZDF in den Gründungsjahren der Liga die Bericherstattung kosten ließen, auf inzwischen rund 1,3 Milliarden Euro. Pro Saison, ab der Spielzeit 2017/18. Das alles funktioniert, weil der Fußball Aufmerksamkeit bekommt. Laut einer Umfrage der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse (AWA) im Jahr 2015 gab es zu der Zeit deutschlandweit rund 68,61 Millionen Personen in der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren, denen Fußball bekannt war. Das sind rund 99,1 Prozent, wobei sich nicht nur der damalige Chefredakteur des Kölner StadtAnzeigers, Peter Pauls, in einem Editorial wunderte, „dass es Menschen in unserem Land gibt, die nicht wissen, dass es Fußball gibt. 0,9 Prozent. Das sind ein paar Hunderttausend. Immerhin.“ Aufmerksamkeit ist die Währung im heutigen Medien-Zeitalter. In den Top Ten der quotenstärksten TV-Sendungen in Deutschland aller Zeiten sind ausschließlich Fußballspiele aufgeführt. An der Spitze steht das WM-Finale 2014: 34,57 Millionen Menschen schalteten damals offiziell ein. In Wahrheit dürfte diese Zahl sogar noch höher liegen. Der Fußball hat damit – nach dem Ende der TV-Sendung „Wetten, dass …?“ – den Status als das „letzte Lagerfeuer der Nation“. Dabei hatte es zu Beginn der medialen Ausschlachtung des Fußballs noch Sorgen und Vorbehalte gegeben, wie sich Heribert Bruchhagen erinnert. Denn als Anfang der 1990er Jahre der Besitzer des Sky-Vorgängers Premiere, Leo Kirch, den Antrag stellte, die Bundesliga per Konferenzschaltung live zu übertragen, ließ Bruchhagen, der damals im Ligaausschuss saß, zu Protokoll geben, dass bei einer Zustimmung die Stadien alsbald leer sein würden. „Falscher konnte ich gar nicht liegen“, erinnerte er sich nun rückblickend: „Je mehr 21


Hype es gibt und je mehr Fußball in den Medien stattfindet, umso mehr füllen sich die Stadien.“ Auch dieses Phänomen lässt sich belegen: Kamen in der Gründungssaison 1963/64 insgesamt rund sechs Millionen Zuschauer in die Stadien, verdoppelte sich diese Zahl bis heute – in der Saison 2011/12 waren es sogar exakt 13,55 Millionen. Und wie sich dieses Interesse teilweise vom sportlichen Erfolg entkoppelt hat, lässt sich an den Zuschauerzahlen des Gründungsmitglieds und ersten Meisters der Bundesliga, 1. FC Köln, ablesen: In der Saison 1977/78, als der FC das sogenannte Double aus Meisterschaft und DFB-Pokal gewann, hatte der Verein einen Zuschauerschnitt von 34.763, kein einziges Heimspiel war ausverkauft. Ab Ende der 1990er Jahre entwickelte sich das Team zu einer sogenannten Fahrstuhlmannschaft, stieg insgesamt fünf Mal aus der Bundesliga ab, zuletzt in der Saison 2011/12. Der Zuschauerschnitt in jener Spielzeit lag fast um ein Drittel höher: bei 47.257, sechs Heimspiele waren ausverkauft. Steigendes Interesse, steigende Ein„Bis zur WM 2006 waren nahmen, steigende Bedeutung. Doch der alle Sportereignisse einendgültige Durchbruch zum gesellschaftfach nur Sportereignisse“ lichen Massenphänomen ist nicht nur für Nielsen-Mann Lehmann und Ex-Fußballfunktionär Holzhäuser, sondern auch für Alfons Madeja eindeutig mit einer Jahreszahl verbunden: „Bis zur WM 2006 waren alle Sportereignisse einfach nur Sportereignisse“, sagt der Professor für Betriebswirtschaft und Kultur-, Freizeit-, Sportmanagement an der Hochschule Heilbronn. Madeja spielte einst beim VfB Stuttgart in der zweiten Mannschaft, studierte anschließend BWL. Er arbeitete im Management bei Bundesligavereinen und gründete dann an der Universität Bayreuth einen Studiengang für Sportmanagement, bevor er schließlich nach Heilbronn ging. „Mit dem Erfolg der WM 2006 als Massenveranstaltung wurde der Fußball zum unausweichlichen Instrument für die Gesellschaft“, sagt Madeja. Daran war der grauhaarige Schwabe mit Schnäuzer nicht ganz unschuldig: Im Vorfeld der WM 2006 erhielt er vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) den Auftrag, zu evaluieren, wie aus dem Turnier eine Veranstaltung für das ganze Land sowie eine Werbeplattform für Gäste aus der ganzen Welt werden könnte. Madeja 22


fuhr nach Portugal, zur Europameisterschaft 2004, und befragte die Zuschauer. Zudem erfuhr er vom damaligen DFB-Generalsekretär Niersbach, dass die Tickets bei der WM in Deutschland eher knapp sein würden. Eine Erkenntnis, die Madeja mit seiner Umfrage kombinierte. Ein Ergebnis: 53 Prozent der Befragten gaben an, auch ohne Eintrittskarten nach Deutschland kommen zu wollen. Es musste also ein Weg gefunden werden, diese Menschen, aber auch die heimische Bevölkerung an der WM teilhaben zu lassen. Madeja schlug ein „FanDorf “ vor: ein, zwei zentrale Plätze, an denen möglichst vor Großbildleinwänden und umrahmt von Musik bei Liveübertragungen die Party steigen konnte. „Ich habe das damals ‚virtuellen Stadion-Besuch‘ genannt“, erinnert er sich heute. Doch anders als die Idee setzte sich Madejas Bezeichnung nicht durch. Stattdessen heißt es heute: „Public Viewing“ – und ist mittlerweile ein fester Bestandteil jeder Großveranstaltung. Alleine 15 Millionen Menschen kamen damals im WMSommer 2006 zu den offiziellen Festen des Weltverbands FIFA an den zwölf Spielorten. Der Fußball war endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Oder, wie es Madeja, der heute als Geschäftsführer der Beratungsagentur SLC Management GmbH sein Geld verdient, rückblickend formuliert: „Mittlerweile haben alle erkannt, dass der Fußball bei den Menschen eine gewisse Priorität hat.“ Und dies zeigt sich nunmehr nicht nur alle zwei Jahre bei einem Welt- oder Europameisterschaftsturnier oder wöchentlich Spieltag für Spieltag in der Bundesliga, sondern tagtäglich – und zwar in allen Bereichen.

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Beliebtes Trittbrett: Wie über den Fußball (fast) alles vermarktet wird „Ein Leben ohne Fußball ist möglich. Aber sinnlos.“ (Bandenwerbung des Elektronikkaufmarkts MediaMarkt)

„Es geht nur noch um Unterhaltung und Verkaufen.“ (Felix Magath, ehemaliger Fußballspieler und -trainer)

Geht nicht? Gibt’s nicht! – Was alles mit dem Fußball in Verbindung gebracht wird Die Krankheit Diabetes, die Tourismusregion Antalya, Weingummi und Haar-Shampoo, Suppe, Schuhe, Elektrogrills oder Finanz-Anleihen. Sie alle eint wenig – und doch eines: die Tatsache, dass sie über oder vom Fußball selbst vermarktet werden. „So schmeckt die EM“, hieß es in einer großen Supermarkt-Kette im Sommer 2016, „EM schon, denn schon“, nannte es ein Elektronikfachmarkt, „Perfekt für jede Anstoßzeit!“, lautet der Slogan einer – Achtung! – Bierwerbung mit dem Fußballtrainer Jürgen Klopp. Der Automobilklub ADAC bot ein großes Info-Paket rund um die EM an, und der NRW-Ableger der Bundesagentur für Arbeit warf vor jedem EM-Spiel der deutschen Nationalmannschaft ein „Arbeitsmarkt-Schlaglicht“ auf die Menschen, die in dem Land des jeweiligen Gruppengegners geboren sind oder dessen Staatsbürgerschaften besitzen, aber in NRW leben und arbeiten. Wie beim Auftaktgegner Ukraine: „Wenn am Sonntag im ersten Gruppenspiel beide Mannschaften aufeinandertreffen, sind es in Nordrhein-Westfalen eher die Frauen, die zum Team Ukraine halten“, hieß es da. „Hier leben mehr Ukrainerinnen als Ukrainer, mehr Frauen arbeiten und die Frauen stellen in NRW auch die Mehrzahl der arbeitslosen Ukrainer.“ 180


Geht nicht? Gibt’s nicht! So könnte die Devise rund um den Fußball heißen. Denn fast jedes Produkt lässt sich mit der Deutschen liebstem Kind verbinden – und wenn nicht, wird einfach eine Verbindung hergestellt. Beim Discounter gibt es seit Jahren Weltmeisterbrötchen, die Lufthansa fliegt in der „Fanhansa“, die Tierrechtsorganisation PETA kürte für die Spielsaison 2015/16 erneut das Veggie-freundlichste Stadion der 1. und 2. Bundesliga und die Deutsche Diabetes-Hilfe e.V. hat die Kampagne „FC Diabetologie“ ins Leben gerufen. Begründung: „Keine andere Sportart der Welt schafft es, so viele Menschen zu einem Ereignis zu vereinen. Warum also sollte man dieses Potenzial nicht nutzen, um die Diabetesaufklärung voranzutreiben?“ Es geht vor allem – wie immer in der Werbung – darum, Nähe herzustellen: Sei es zum Fußball, zur Nationalmannschaft, zum Klub oder zum Spieler selbst. Mitunter ist dies naheliegend. So werben Arztpraxen offensiv damit, dass sie für das gesundheitliche Wohl der Fußballer sorgen, aber auch Tourismusregionen haben die Sportart beziehungsweise die Vereine für sich entdeckt, um mit deren Hilfe nicht nur den Tross aus Spielern, Trainern, Betreuern und mitreisenden Fans für sich zu gewinnen, sondern auch Werbung zu machen. Berühmtestes Beispiel: die als türkische Riviera bekannte Region rund um die Orte Belek und Antalya. Im Jahr 1993 reiste mit dem Hamburger SV erstmals ein Fußballklub an, seitdem fanden über 450 Trainingslager für deutsche Profiteams in der türkischen Urlaubsregion statt. In der Winterpause der Saison 2015/16 gastierte fast der halbe deutsche Profifußball dort: sieben Bundesligisten, neun Zweitligisten, acht Drittligisten. Fußballreisen entwickelten sich somit – neben dem Golfurlaub – zur zweiten Säule der Urlaubsregion in den Wintermonaten. Das haben auch andere Anbieter gemerkt: Während der 1. FC Köln und Bayer Leverkusen in die USA fliegen und in „Disney World“ absteigen, zieht es den Branchenprimus FC Bayern München nach Katar. Die Trainingsbedingungen dort seien die besten, so Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge, doch das ist nicht der einzige Grund: „Katar ist ein wichtiger Partner unseres Teilhabers VW/Audi.“ Zumal die Bayern für den Aufenthalt auch nichts bezahlen müssen. Laut Medienberichten kassieren sie sogar für das Trainingslager über eine Million Euro – und auch Katar profitiert: Neben der umfangreichen Berichterstattung, bei der auch immer die Region erwähnt wird, gibt es Werbevideos mit 181


Jerome Boateng und Co., die ebenfalls den Tourismus ankurbeln. Ein Prinzip, das auch das Weinanbaugebiet Côtes du Rhône während der EM in Frankreich nutzen wollte („Zwischen den Austragungsorten Lyon und Marseille bietet es Wein, Kultur und viel Abwechslung zwischen den Spielen.“) und auf das sich mittlerweile zahlreiche Reiseveranstalter („Planen Sie jetzt Ihr Fußballjahr 2016!“) spezialisiert haben. Während der Ausrüster mit der Sport- sowie der Freizeitkleidung, der Schuhhersteller und sogar der Trikotsponsor mittlerweile als naheliegende Vermarktungsmöglichkeiten aufgefasst werden, entwickelt sich das Geschäft immer weiter. Dies liegt vor allem daran, dass die Klubs ihre Popularität selbst nutzen wollen und dadurch zum Anbieter zahlreicher eigener Produkte werden: Waren es früher vor allem die Tickets für Spiele sowie Fanartikel wie Trikots und Schals, ist das Merchandising-Sortiment der Klubs mittlerweile gigantisch – und um Produkte wie zum Beispiel einen Sarg für die Beerdigung erweitert worden. Auch beliebt sind Fan-Anleihen: Gut ein Dutzend Fußballvereine hat derzeit Schulden bei den eigenen Fans. So haben etwa Schalke 04, der Hamburger SV und der 1. FC Köln Anleihen verkauft, ebenso wie der Hauptstadtklub Hertha BSC. Innerhalb von nur neun Minuten und 23 Sekunden sammelten die Berliner im März 2016 mithilfe einer Crowdfunding-Plattform eine Million Euro ein und zeigten somit auch traditionellen Banken, wie man als starke Marke mit einer großen Fanbasis an Geld kommen kann. Geworben wird mit hohen Zinsen, im Fall der Berliner mit 4,5 Prozent, und einer „emotionalen Rendite“: Der Fan kann so den nächsten Millionentransfer oder den Stadionausbau mit ermöglichen. Hinzu kommt eine schmucke Urkunde. Es gibt jedoch auch Risiken. Als beispielsweise Alemannia Aachen vor mehr als drei Jahren in die Insolvenz musste, fiel die Rückzahlung des im Jahr 2008 ausgegebenen Schuldscheins aus. 4,2 Millionen Euro hatten die Anhänger dem Verein für den Stadionbau geliehen. Das Geld war futsch. Doch neben diesen eigenen AktiThomas Müller war innerhalb vitäten in mitunter fremden Terrains von zweieinhalb Monaten 4.187- breitet sich der Fußball vor allem mal in TV-Spots zu sehen durch die Werbung seiner Stars in allen Teilen der Gesellschaft aus. Nationalspieler Thomas Müller z.B. hat insgesamt elf Partner-Unternehmen, so eine Analyse der 182


Münchner Medienagentur XAD Service, und war dadurch jüngst innerhalb von zweieinhalb Monaten 4.187-mal in TV-Spots zu sehen. Neben einem Nudelproduzenten, einem Autohersteller und einer Supermarktkette sind dies etwa ein Grill-Produzent und eine Rasierer-Firma. Zwar ist auch ein Sportartikelhersteller darunter, doch eine direkte Verbindung braucht es mitunter gar nicht. Das meinte zumindest Sven Müller, Geschäftsführer der Agentur „People Brand Management“, die sich auf den Einsatz von Prominenten in der Werbung und den Aufbau von Starprofilen spezialisiert hat, einmal in einem FAZ-Interview: „In der Werbung geht es um Wiedererkennbarkeit. Die kann man auch durch Hölzernheit erreichen. Die Schwäche kann sogar charmant wirken.“ Aus Sicht des Fachmanns hat sich die Situation verändert: „Der Fußball steht heute in Konkurrenz zu Hollywood. Deutsche Kicker treten bei der TestimonialVermarktung an gegen Prominente wie Thomas Gottschalk, Günther Jauch, Schauspieler wie Til Schweiger und auch einen DSDS-Sieger.“ Der Fußball und sein gesellschaftlicher Aufschwung führen auch hier zu einem Wachstum. Die Zeit der Werbeverträge für Fußballer begann zwar schon früh, als beispielsweise Uwe Seeler „Im Frühtau zu Berge“ pfiff und sich dazu Rasierwasser ins Gesicht klatschte, der Spieler Franz Beckenbauer mit einem legendär gewordenen Satz für Suppe warb („Kraft auf den Teller, Knorr auf den Tisch“) oder – Jahre später – Lothar Matthäus ein Mobilfunknetz anpries („Ein Lothar Matthäus ist immer im Gespräch“), doch an die elf Werbepartner von Müller oder Nationalmannschaftskapitän Manuel Neuer, der auf die gleiche Anzahl kommt, kamen sie nicht heran. Wie weit die Verknüpfung dabei schon gehen kann, zeigte sich in einem Interview des Sportmagazins kicker, für das Neuer später viel Häme ernten sollte: „Wenn man Ihre Werbepartner adidas, Coca-Cola, Allianz und Sony sieht, sind Sie schon ein Topstar. Wofür möchten Sie als Werbepartner stehen?“, fragte der kicker-Redakteur allen Ernstes. Neuers Antwort: „Ich wähle Partner, hinter denen ich auch stehe. Es muss zu mir passen. Allianz zum Beispiel steht für Rückhalt, wie ich als Torwart auch. Coke Zero steht für das Zu-null, das ich immer schaffen will; Sony für die Schärfe des Bildes, die ich auch benötige.“ Einstudierter Werbe-Sprech, monierten zahlreiche Kritiker. Doch bei vielen Werbe-Millionen lässt sich die Häme aushalten. 183


Zwar ist die Präsenz von Fußballern als Werbefiguren mittlerweile wohl auf einem Rekordniveau, doch für viele Unternehmen sind diese direkten Verbindungen zu teuer. Dennoch lässt sich auch ohne die geschützten Namen und Persönlichkeitsrechte werben. So gab Rechtsanwalt Markus Wekwerth von der Kanzlei „Kurz Pfitzer Wolf & Partner“ in Stuttgart im Mittelstandsfachmagazin Impulse Ratschläge für die Fußball-Werbung ohne Partner: „Tippspiele, Fanbrötchen, Tor-Rabatte – die rechtlichen Grundlagen fürs Marketing im Überblick.“ Man dürfe zwar keine Logos und Marken verwenden, hieß es da, aber: „Sie können jede Fußballsymbolik verwenden und auch sämtliche Begriffe rund ums Thema Fußball“, so Wekwerth. Brötchen in Fußballform, Torten als Fußballfeld, jubelnde Fußballfans. Auch das Schaufenster könne voll sein mit Fußbällen, Luftschlangen und Fahnen. In Katalogen und auf Werbemitteln könnten Fähnchen abgebildet werden, oder Unternehmen könnten Werbeartikel wie Trillerpfeifen, Hüte oder Tröten austeilen. Und diesen Hinweisen scheinen viele Firmen zu folgen: Ein DruckerpatronenHersteller z.B. verschickte per E-Mail Druckvorlagen, mit denen sich „kostenlos Büro-Fanmeilen ausdrucken“ lassen, um Monitor, Schreibtisch, Fenster oder Kaffeetasse zu dekorieren; im Supermarkt-Regal gab es Champions-EM-Pasta, das schwarz-rot-goldene Pausen-Ei, die EM-Zahnpasta, dazu saure Gummibärchen in den Farben der Deutschlandfahne, Jugendbilder deutscher Nationalspieler auf Schokoverpackungen und Holzkohlegrills in Fußball-Form. Der Effekt wird auch durch Zahlen gestützt. So konnten die Marktforscher der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) nachweisen, dass sich das Kaufverhalten der Bundesbürger rund um Fußballgroßereignisse verändert. Für die WM 2006 ergab sich in den beiden Spielmonaten ein Plus von 12,8 Prozent (Juni) und 15,7 Prozent (Juli) bei WM-typischen Produkten wie Bier, Limonade, Knabbergebäck, Würzsoßen und Grillgut; bei der WM 2014 verzeichneten die Marktforscher im Juni ein deutliches Absatzplus von 5,7 Prozent bei Produkten ihres „WM-Warenkorbs“. Es sind solche Belege, die gerade zu Zeiten großer Turniere voll durchschlagen: „Dass der Fußball ein gigantisches Geschäft ist, haben mittlerweile auch die größten Romantiker eingesehen“, stellte Die Welt in einem Kommentar mit dem Titel „Ich will weder Gewin184


ner-Gulasch noch Fan-Shampoo!“ fest, „aber vor großen Turnieren nimmt die Vermarktung absurde Züge an. Jeder, aber auch wirklich jeder, will auf den Fußball-Zug aufspringen, um Geld zu verdienen.“ Dabei kann eine Übersättigung auch einen gegenteiligen Effekt haben. Wie eben beim Welt-Autor: „Schönen Dank, liebe Marketingfuzzis – ihr habt es geschafft, mir den Appetit und die Vorfreude auf die Europameisterschaft zu nehmen.“

Zielgruppe männlich, jung: Wie die Bundeswehr den Fußball als Rekrutierungsplattform nutzt Es war vor der Zeit des Werbe-Sprechs, in dem die deutsche National­elf nur noch unter dem Begriff „Die Mannschaft“ firmiert, und vor den Zeiten der feinen Spielzüge, für die Mesut Özil, Mario Götze und die übrigen technisch bestens ausgebildeten Nationalspieler stehen. Es kam aus einer Zeit, in der das Nationalteam statt für Kurzpasswirbel eher für Wucht und Robustheit stand. „Panzer“, so nannten italienische und britische Medien die Nationalmannschaft in den 1980er und 1990er Jahren, bestens repräsentiert durch die „Walz aus der Pfalz“. So lautete jedenfalls der Spitzname von Hans-Peter Briegel. Und es waren wohl genau diese Wurzeln, zu denen das Team und dessen Ausrüster im Vorfeld der EM 2016 zurückkehrten: Ausgerechnet am 60. Jahrestag der Gründung der Bundeswehr im November 2015 präsentierte der DFB sein neues Ausweichtrikot, das in seinem Nato-Grün und angesichts des Musters eher an ein Camouflage-Hemd erinnert als an ein Fußball-Trikot. Die FAZ sprach sogar von einem „Tarnanzug“. Dass der Sport im Allgemeinen sowie der Fußball im Speziellen schon immer eine enge Verbindung zum Militär hatte, ist nicht neu. „Vom Schützengraben auf den grünen Rasen. Der Erste Weltkrieg und die Entwicklung des Sports in Deutschland“, lautet beispielsweise der Titel der Dissertation von Peter Tauber, CDU-Bundestagsabgeordneter und seit April 2014 Generalsekretär seiner Partei. Vor seiner Tätigkeit im Parlament beschäftigte sich Tauber an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main intensiv mit der Entwicklung des Sports und den Zusammenhängen mit dem Ersten Weltkrieg und wies in seiner Arbeit nach, dass beispielsweise 85 Prozent der DFB-Mitglieder nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu den Fahnen geeilt waren. Und es gibt noch mehr Beispiele. „Diplo185


maten im Trainingsanzug“, wurden auch die DDR-Sportler genannt, die bei Olympischen Spielen antraten – unter ihnen zahlreiche Spieler von Armee-Klubs. Doch ungeachtet dieser historischen Gemeinsamkeiten sowie der farblichen Annäherung des Nationalteams spielt der Fußball nach dem Wegfall der Wehrpflicht im Jahr 2011 auch für die Rekrutierungsbemühungen der Bundeswehr eine Rolle. Für Bandenwerbung in Stadien, Inserate in Vereinszeitschriften und Videoclips in der Halbzeitpause gab die Armee im Jahr 2013 insgesamt 453.000 Euro aus, eine Steigerung um knapp 80 Prozent gegenüber dem Vorjahr. „Besonders im Sport erreichen wir eine junge Zielgruppe“, begründete ein Bundeswehr-Sprecher die Maßnahme, „wir müssen deshalb früh genug ansetzen.“ Denn, so hieß es in der schriftlichen Antwort von Seiten des Ministeriums: „Kommunikationsinhalte bei Maßnahmen im sportlichen Umfeld sind Fähigkeiten und Eigenschaften, die sowohl im Sport als auch bei einer Tätigkeit in der Bundeswehr als Voraussetzungen gelten: Teamgeist, Kameradschaft, Leistungsbereitschaft, körperliche Fitness, hohe Motivation und Flexibilität.“ Und so etwas findet sich in Deutschland vor allem im Fußball. Obwohl für das Engagement im Sport im Ministerium vergleichsweise geringe Haushaltsmittel innerhalb des millionenschweren Blocks „Nachwuchswerbung“ aufgewendet wurden, wollte man dennoch vom Massenphänomen Fußball und dessen Strahlkraft profitieren. In der Liste der Kooperationspartner fanden sich zahlreiche Fußballvereine: Neben kleinen Klubs wie BV Cloppenburg, VfR 1925 Schneckenlohe e.V. oder dem ASV Stockenroth gab es auch durchaus namhafte Vereine wie den damaligen Bundesligisten Hannover 96, Zweitligist Union Berlin oder die in der 3. Liga spielende KSV Holstein Kiel. Dabei war das Engagement breit gefächert: Während Profiklubs wie Hannover 96 rund 65.000 Euro pro Spielzeit für Werbebanden und Anzeigen im Stadionheft kassierten, wurde der Fußball-Landesligist FC Lörrach-Brombach mit 11.600 Euro unterstützt. Viel Geld für einen Siebtligisten, bei dem die Bundeswehr im Gegenzug nicht nur auf der Bande werben durfte, sondern auch mithilfe von Informationsständen. Ähnlich wie bei Veranstaltungen in Schulen wollte man so gezielt über Arbeitsmöglichkeiten bei der Bundeswehr aufklären. Ziel seien vor allem junge Menschen bis 25 Jahre, hieß es dazu. 186


Doch genau an dieser Art der Personalgewinnung störte sich beispielsweise Ralf Buchterkirchen, Bundessprecher der „Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen“ und Fan von Hannover 96: „Das hat im Stadion nichts verloren, denn Werben für das Militär ist Werben für das Töten“, sagte er in einem Interview mit Zeit Online. „Die Bundeswehr soll sich von unter 18-Jährigen fernhalten, egal ob im Stadion, im Fußballverein im Ort oder anderswo.“ Ähnlich sah es auch Ulla Jelpke, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, die in den letzten Jahren regelmäßig Anfragen zum Engagement der Bundeswehr im Sport-Umfeld an die Regierung gestellt hatte. „Wir haben Grundprinzipien, die keine Bundeswehr im Inneren vorsehen, und plötzlich taucht sie im Stadion auf. Was soll das?“, fragte sich Jelpke. Im Bereich der Amateurvereine fand die tageszeitung bei ihren Recherchen zudem zahlreiche Belege dafür, dass die Bundeswehr bei der Auswahl ihrer Kooperationspartner gerne auf Verbindungen ihres eigenen Personals setzte, das eben in den jeweiligen Vereinen engagiert war. Von Seiten der Bundeswehr hieß es dagegen dazu, dass es vor allem „betriebswirtschaftliche Gründe“ gewesen seien. Nach welchen Motiven letztendlich ausgesucht wurde, sei dahingestellt. Fest steht dagegen, dass auch die Bundeswehr den Schulterschluss mit dem Fußball in Deutschland suchte, wie auch eine Aktion in Berlin zeigte: Dort durften im April 2015 vier Kinder von Soldaten, die in Afghanistan ums Leben kamen, an der Hand der Spieler ins Stadion einlaufen. „Hertha BSC möchte mit dieser Geste, auch mit den seit Jahren stattfindenden Einladungen an Soldatinnen und Soldaten sowie deren Angehörige, zeigen, dass die Arbeit der Bundeswehr von uns im höchsten Maße wertgeschätzt wird“, erklärte Herthas Präsident Werner Gegenbauer. Und auch der stellvertretende Generalinspekteur der Bundeswehr, Generalleutnant Peter Schelzig, zeigte sich erfreut: „Es ist ein Zeichen, ein sehr positives Zeichen aus der Gesellschaft, das wiederum in viele Richtungen strahlt. Zurückblickend ist der Hauptstadtverein – unsere Hertha – sehr aktiv in der Zusammenarbeit mit der Bundeswehr. Wir sind sehr dankbar dafür.“ Im Bereich der Kooperationen hatte man jedoch – trotz dieser positiven Worte – andere Entscheidungen getroffen: „Alle langfristigen Sportkooperationen, die auch die bisherigen Kooperationen mit Fuß187


ballvereinen umfassen, wurden – auch vorzeitig – zum 31.12.2015 beendet“, teilte eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums auf Anfrage mit. „Die Bundeswehr engagiert sich daher im Rahmen von langfristigen Sportkooperationen seitdem nicht im Bereich Fußball.“ Ob es an der kritischen Berichterstattung lag, bleibt unklar. Von Seiten des Ministeriums hieß es dazu nur: „Die von der Bundeswehr geförderten Spitzensportler/-innen üben mehrheitlich olympische Sportarten aus. Insbesondere diese Sportarten eignen sich, die sinnstiftenden und persönlichkeitsbildenden Werte zu vermitteln“, so die Sprecherin. „Deshalb wird sich die Sportkooperation zu personalwerblichen Zwecken nicht mehr auf den Bereich Fußball, sondern auf diese Spitzensportler/-innen, ihre Sportarten und Vereine konzentrieren.“

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Fußball ist überall. Die Bundeskanzlerin steht in der Umkleidekabine, die Stars lächeln als omnipräsente Werbeikonen von Plakaten, Vereine und Verbände bewegen Milliarden und selbst in Kirchen gibt es Fußball-Gottesdienste. Der einst „schönsten Nebensache der Welt“ ist nicht mehr zu entkommen. Moritz Küpper zeigt, wie weit der Fußball mittlerweile in Politik, Medien, Wirtschaft, aber auch Glaube, Sprache oder Terminplanung vorgedrungen ist, welchen Einfluss er ausübt – und fordert eine kritische Rückbesinnung gegenüber dessen Übermacht. Damit das Spiel, das wir lieben, auch noch ein Spiel sein darf.

ISBN 978-3-7307-0320-5 VERLAG DIE WERKSTATT


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