BALLBESITZ
VERLAG DIE WERKSTATT
Warum Fußballfans sich besser im Leben zurechtfinden – die besten TORWORT-Geschichten
Sascha Theisen
Für einen Peter Schmitz
Sascha Theisen
BALLBESITZ Warum FuĂ&#x;ballfans sich besser im Leben zurechtfinden
VERLAG DIE WERKSTATT
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 „SZENE F“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Der König von Stolberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Meine Nacht als Guardiola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Das Ende der Strafrunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Am Rande des Wahnsinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Letzter Mann ist Torwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 ECHTE LIEBE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unhaltbar! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Charme der Niederlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursus, der Unbesiegbare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Magie der Tageskarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unbezahlbare Jungs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Dieter-Müller-Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgerechnet Westermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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BLUTGRÄTSCHEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rasenball-Rolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Du warst nicht dabei! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am Sonntag läuft „Tatort“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Müller isst keine Mayonnaise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgestiegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der König der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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GROSSE SCHLACHTEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Die Foxierung der Takahashisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 There is not a team like the Glasgow Rangers . . . . . . . . . . . . . . 94 Die Besten aller Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Ein Parkplatz in Höhenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 In den Wehen mit Clirim Bashi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Deutscher Meister – eine Radiokonferenz. . . . . . . . . . . . . . . . . 107
GÄSTEBLOCK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zettel (Christian Spoo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liebe auf den zweiten Blick (Philipp Terkampe) . . . . . . . . . . . . Der Schuss und das beste Stück (Arne Jens) . . . . . . . . . . . . . . . Cristiano (Axel Post) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die langsamsten Menschen der Welt (Axel Post) . . . . . . . . . . .
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TORWORT-Momente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . The Rock Steady Crew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . You can’t always get, what you want . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlanker als im Fernsehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anette und der Poldi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Gast bei Freunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Kalla Schmitz. Ein Nachruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
„SZENE F“ Am Anfang steht die Mannschaft und zwar die eigene. Kinder- und Jugendfußball ist längst kein Spaß mehr, aber vielleicht war er das auch ohnehin nie. Krakeelende Väter am Spielfeldrand, zu Konzepttrainern mutierende Übungsleiter sowie der Traum vom ersten Tor: Junge Fußballer haben es nicht leicht. Und doch sind sie stärker, wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig sind. Zugegeben: Es könnte schon leichter für sie sein – aber wer möchte schon ein leichtes Leben? Beobachtungen aus der „Szene F“.
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Der König von Stolberg Meine Karriere als Trainer der F-Jugend von Grün-Weiß Brauweiler begann auf holprigen Naturrasen in Kerpen-Horrem mit einem dritten Platz – ungeschlagen zwar, aber trotzdem nur auf dem dritten Platz. Glamour sieht anders aus. Und deswegen hatte die Ansprache des Horremer Jugendvorstandes etwas Tröstendes. Der hatte nämlich bei der Siegerehrung große Worte für die acht F-Jugend-Mannschaften. Dass F-Jugend-Fußball mehr ist als F-Jugend-Fußball, dämmerte mir schon länger. Hier wurde es offen und schonungslos thematisiert: „Liebe Jungs, bevor wir zur Siegerehrung kommen, will ich euch für euren weiteren Lebensweg noch eines mit auf den Weg geben. Egal, was eure Eltern euch erzählen: Es gibt nichts Wichtigeres als den Fußball! Wenn auch eure Eltern mal mit euch schimpfen oder wenn im Leben mal eine Flaute auf euch zukommt, in der Schule oder irgendwann in der Liebe: Das ist nicht weiter schlimm! Denn der Fußball wird immer für euch da sein! Vergesst alles andere – nur der Fußball ist euer Freund!“ Einige Monate nach dieser denkwürdigen Ansprache spielte Alemannia Aachen in Wattenscheid gegen 09, das ohne Uwe Tschiskale, Samy Sané und ebenso wenig mit einem Hannes Bongartz auf dem Trainerstuhl antrat und vielleicht auch deshalb an Alemannia-Spielmacher Rafael García Doblas, dem einzigen Spanier mit zwei linken Füßen, verzweifelte. Ich war nicht im Lohrheidestadion. Das hatte einen guten Grund, denn zeitgleich spielten meine Jungs das erste Hallenturnier der Saison. Und das war nicht irgendwo, sondern ausgerechnet in Stolberg, beim Heimatverein von Egidius Braun – Qualifikation für den „Mexiko Cup“, der eine Woche später am gleichen Ort stattfinden sollte. Heimspiel also für mich! Keine Frage, dass ich die Jungs vor allem damit heißmachte, dass dies hier ein besonderer Ort für ihren Trainer sei und es deswegen keine billigen Ausreden gebe: 10
Die Quali musste her. Egal, welche Flaute die Jungs in ihrem für mich uninteressanten Privatleben auch gerade durchmachten. Wenn mich nicht alles täuschte, kam die Motivationsspritze auch gut an, wenngleich das ständige Versammeln um mein Handy, um den Liveticker aus Wattenscheid kollektiv als Teamevent zu zelebrieren, auf viele der Jungs etwas befremdlich wirkte – sind die meisten doch Fans des FC Bayern, von Borussia Dortmund oder des aufgrund des Wohnortes unvermeidlichen 1. FC Köln. Trotzdem zahlte sich meine positive Ansprache der letzten Monate aus, und die kleinen Kicker heuchelten wenigstens ein bisschen so etwas wie Interesse. Die verständnislosen Kopfschüttler nach dem Ergebnischeck übersah ich jedenfalls geflissentlich, zumal der eigene Sohnemann ehrlich und voller Stolz die Faust ballte, als Alemannia in Führung ging. Nur einen interessierte das Ganze nicht mal im Ansatz: Johannes. Johannes war so etwas wie unser Ergänzungsspieler. Irgendwie war Fußball nicht so seine Sache, was ihn aber auch nicht sonderlich mitnahm. Am Ende war er froh, dabei zu sein. Ansonsten belächelte er seine Trainer eher, die tapfer und ausdauernd versuchten, wenigstens einen seiner Füße richtig einzurenken. Ein Tor hatte er in seiner Karriere bis Stolberg noch nicht geschossen, und jeder Versuch, ihn dahin zu bringen, scheiterte bisher kläglich. An seinen Mannschaftskameraden lag das nicht. Die versuchten alles, um ihn in Szene zu setzen – egal, wie aussichtsreich sie selbst gerade standen. Als Trainer liegst du manchmal nachts wach und denkst darüber nach, ob es an dir liegt, wenn du einen Spieler nicht richtig weiterentwickeln kannst. Dann nimmst du dir mitten in der Nacht einen Block und zeichnest dir Trainingsübungen auf, mit denen es vielleicht klappen könnte. Schließlich willst du dir nicht irgendwann vorwerfen müssen, ein hoffnungsvolles Talent ignoriert zu haben. Bei anderen ist es noch etwas schwieriger. Bei denen fragst du dich nicht, wie du sie entwickeln kannst, sondern eher, wie du sie überhaupt erst mal anknipst. Ausgerechnet in Stolberg kam die Erleuchtung, und zwar genau in dem Moment, in dem ich wieder einmal alle Jungs um mich versammelte, um Alemannias Bemühungen in Wattenscheid zu kontrollieren. Und als auf dem Handy dann ein sattes 3:0 für Schwarz-Gelb blinkte, mein Sohnemann und ich uns ungläubig anschauten, weil wir es nicht fassen konnten, und alle anderen uns anerkennend auf die Schulter 11
klopften, da war klar: Wenn Rafael García, der einzige Spanier mit zwei linken Füßen, einen Doppelpack schnüren konnte, dann war heute auch der Tag, an dem Johannes treffen würde. Und so schritt ich mit meinem Co-Trainer voller Elan zur Mannschaftsbesprechung vor dem zweiten Spiel, stellte die Mannschaft ein und haute zum Schluss noch einen Motivationshammer raus, gegen den Christoph Daums „Geldscheine an die Kabinentür nageln“-Trick ähnlich kraftlos angemutet hätte wie eine Linke von Axel Schulz. Kurz nach der Mannschaftsaufstellung bat ich kurz um Ruhe und nutzte den seltenen Moment der Stille, um mit der Faust in die flache Hand zu schlagen und dabei laut und deutlich „Johannes!“ zu rufen. Dadurch aufgeschreckt, wurde Johannes wach und schien mir zum ersten Mal zuzuhören. „Johannes“, wiederholte ich. „Das ist dein Spiel – wir wechseln dich genau zur Hälfte ein, und dann machst du das Tor!“ Johannes nickte; ja, die ganze Mannschaft nickte. Die Einzigen, die allerdings wirklich daran glaubten, waren die beiden Mitglieder des offenbar verrückt gewordenen Trainer-Gespanns. Das Spiel begann und war schnell entschieden. Unsere Jungs überrannten den Gegner und führten schnell mit 3:0. Also kam Johannes. Er hielt tapfer seine Position und versuchte ebenso tapfer, am Spiel teilzunehmen – allein, er tat es nicht. Und so gaben wir draußen am Spielfeldrand schon die Hoffnung auf. Sicherheitshalber schaute ich noch einmal auf meinem Handy nach, ob Alemannia nicht doch noch 3:3 gespielt hatte, denn dass das Spiel in Wattenscheid mit diesem Turnier hier in einer Art telepathischem Einklang stand, schien mir völlig klar. Da in der Lohrheide aber wirklich Schluss war, rief ich doch noch einmal ein lautes „Auf geht’s, Johannes!“ in die Halle, ohne noch recht an das Wunder zu glauben – erst recht nicht, als die anwesenden Zuschauer begannen, die letzten zehn Spielsekunden herunterzuzählen. Doch dann rauschte tatsächlich ein letzter Angriff auf das gegnerische Tor zu, und als das Publikum bei „vier“ angekommen war, rollte der Ball zu Johannes. Um Himmels willen, direkt zu Johannes. Es war einer dieser Momente, die in Jahrhunderten atmen. Offene Münder, verzerrte Schreie, lähmende Erwartungshaltung, alles wie in Superzeitlupe. Stundenlang schien Johannes auszuholen, um den auf ihn zurollenden Ball zu treffen. Und tatsächlich: Er traf ihn und schickte das Leder in Richtung Tor, in dem der Torwart sich streckte 12
und lang machte. Vergeblich! Für Sekunden schien die Welt still zu stehen, als die Kugel wirklich und für alle sichtbar das Netz ausbeulte. Ungläubig drehte Johannes sich um, vergaß zu jubeln und schaute in meine Richtung. Aber auch ich verharrte! Ein Augenblick – was für ein Augenblick! –, der erst vom tosenden Jubel seiner Mannschaftskameraden unterbrochen wurde, die jetzt alle gemeinsam und ausgelassen auf ihn zuliefen, um sich mit ihm zu freuen. Und so gewannen wir die Vorab-Quali um den Mexiko Cup ohne Gegentor. Und während sich in Wattenscheid gerade Rafael García, der einzige Spanier mit zwei linken Füßen, von den mitgereisten Fans feiern ließ, war in Stolberg ein König geboren worden. Deshalb sage ich euch: Wenn im Leben mal eine Flaute auf euch zukommt, ob in der Schule oder in der Liebe: Das ist nicht schlimm! Scheißt drauf! Denn es ist der Fußball – und nur der Fußball! –, der euer Freund ist! Sonst niemand! Egal, was eure Eltern euch erzählen!
Meine Nacht als Guardiola Trainer zu sein, das bedeutet manchmal, morgens als Pep Guardiola aufzuwachen und abends als Sascha Theisen wieder ins Bett zu gehen. Beim Frühstück noch erotische Glatze und Dreitagebart, während des Abendbrots bei Salami- und Kräuterkäse-Schnittchen wieder graue Schläfen und ein kaputtes Knie in der Hose. Kontrast als Lebensgefühl! Scheitern als Gewissheit! Notorische Zweifler als ewige Begleiter! Bevor ich Trainer wurde, beschimpfte mich mein Vorgänger erst einmal. Er hatte sich während eines E-Jugend-Turniers respektabel die Kante gegeben, und da war es aus ihm herausgebrochen. Nonchalant hatte er mich als „polnischen Arschficker“ ins Rennen um seine Nachfolge geschickt und so irgendwie auch gleich das Feld bereitet. Immerhin trat er anschließend mittels einer theatralischen Mail voller 13
oder es in Wasserpfeifen füllst, um die wegzurauchen, die gerade deinen Weg kreuzen, die Kolonnen der Niederlage. Und wenn du sie dann tief und langsam einatmest, vergiss nie: Manchmal kann selbst der Tod ein Trost sein, wenn das Leben Karl-Heinz Feldkamp heißt.
Ursus, der Unbesiegbare Helmut Dicks war der Name eines Mannes, den ich nie kennenlernte, von dem ich aber oftmals hörte. In dem Dorf, in dem er spielte, nannte man ihn dem Vernehmen nach nicht gerade kreativ „Dicks Helmut“, was implizit ausdrücken sollte, dass er der „Helmut der Familie Dick“ war. Das wiederum bildete so etwas wie eine Schublade für ihn und gab allen Orientierung. Dicks Helmut war Abwehrspieler und machte den Dicksens vor allem dann alle Ehre, wenn er von seinen großen Taten sprach. Zu denen gehörte beispielsweise ein Lattenschuss gegen einen Torwart, der als der Titan seiner Amateurklasse galt, seinerseits Mathar mit Nachnamen hieß und dessen Vorname nie überliefert wurde. Hören wir dazu (aus zweiter Hand) Dicks Helmut persönlich: „Ich bekomm der Ball am Mittelkreis und als ich huuh soh, da war die Wiese wie planiert! Da jing ich op der Mathar an, und ich hört se all brülle: ‚Helmut! Helmut!‘ Und ich denk noch so: ‚Helmut – wennste der jetzt niet machst, dann brülle se nie mie.‘ Also ich op der Mathar an und dann job ich dem Ding ene, und wat soll ich sache: Erst broch de Fooß und dann broch die Latz!“ Völlig klar, dass nach solch einer Szene selbst jemand wie Dicks Helmut nicht weiterspielen konnte und sein bester Kumpel, den sie „Bördy“ nannten, ihm, als er gestützt von zwei angetrunkenen Helfern den 38
Platz verließ, hinterherrannte und schon von Weitem rief: „Helmut, wo bringen se dich hin?“ Schmerzverzerrt im Gesicht, aber klar in der Artikulation antwortete Dicks Helmut: „Bördy – wennste mich suchst, immer der Blutspur nach!“ „Immer der Blutspur nach!“ Es sind Sätze wie dieser, die wie ein Mahnmal für Stürmer jeglicher Couleur in der Welt stehen. Sätze, die sagen: „Herzlich willkommen! Du begibst dich in die Welt des Schmerzes, Smokey!“ Aber die Welt des Schmerzes hat so viel mehr zu bieten als nur Schmerz, Schmutz und Tränen. Sie besteht ebenso aus Rettungstaten von sonst schwerfällig wirkenden Vorstopper-Haubitzen, die mit einer nie für möglich gehaltenen Elastizität in ihrem fleischigen Körper zu einer Fluggrätsche ansetzen, die sogar für einen wie „Mister Anderson“ in Matrix deutlich zu schnell wäre, den Ball von der Linie kratzen und anschließend die Kreide der Torlinie auf ihrem Oberschenkel wie ein Ehrenmal ihres großen Momentes davontragen. Sie besteht aus jenen mühelos von in jeder Situation souverän trabenden Abwehrchefs abgelaufenen Bällen; jenen Strategen in der Hintermannschaft, die lässig, salopp und bis zur Oberlippe gefüllt mit aufreizender Arroganz nur einen letzten kurzen Schritt vor dem in Highspeed heranrauschenden Stoßstürmer an das Leder kommen, um es gekonnt und garniert mit dem unausgesprochenen Auftrag zum Gegenangriff zum Sechser oder Achter ihres Vertrauens zu lupfen. Und sie besteht aus den kräftigen Kasseler-Körpern furchtloser Außenverteidiger, deren Oberschenkel anmuten wie das fleischigste Fleisch aller Fleische, Oberschenkel, an denen sie hektische Stürmer einfach abprallen lassen, um ihnen durch das schlichte Schieben des Balles über die Auslinie anschließend die Möglichkeit zu geben, es erneut zu probieren. Jürgen Kohler, diese Kasseler gewordene Blutgrätsche, brachte es einst im „Aktuellen Sportstudio“ perfekt auf den Punkt. Bernd Heller, gerade frisch aus der Harry-Valérien-Schule der fabulösen Fragekunst entlassen, hatte sich soeben erkundigt, was denn nun die Philosophie hinter seiner, Kohlers, Abwehrkunst sei. Eine Frage, über die einer wie Kohler nicht lange nachdenken muss: „Egal, wer kommt, ich wichs’ sie alle um!“ Männer wie Jürgen Kohler, den sie in der Kabine den „Kokser“ nannten, können nicht anders, als ehrlich zu sein – ehrlich zu sich selbst und ehrlich zu denen, die ihren Weg kreuzen. Was Kohler 39
meinte, hätte man auch so sagen können: „Besorg es dir selbst, ‚diametral abkippende Sechs‘, ‚falsche Neun‘ oder ‚linke Zehn‘. Ohne die erbarmungslose Zwei, Drei, Vier oder Fünf bist du nur eine armselige Anekdote des Spiels.“ Der Beste aber war „Ursus“, der Vorstopper des SC Mausauel, der sich in einem Akt der Verzweiflung selbst geboren hatte und jeden Sportplatz, den er betrat – Asche oder Rasen –, erst einmal verdunkelte. „Ursus“, dessen Pseudonym eigentlich auch biologisch passend aus der Familie der Bären hätte entlehnt sein können, hatte seinen Spitznamen in Wahrheit einem jener italienischen Trash-Movies der sechziger Jahre zu verdanken, der den gewaltigen Titel „Ursus der Unbesiegbare“ trug. Was für das Lexikon des internationalen Films „belanglose Primitiv-Unterhaltung“ ist, wurde in Ursus’ Heimat zum gefürchteten Synonym für knallharte und verlorene Zweikämpfe, an denen man zerschellte, bevor sie begannen. Es ist der wahre Ritterschlag, wenn du einen eigenen Namen in der Umkleide trägst. Ich kannte Typen, die nur deswegen „Betonunterhose“ hießen, weil sie einmal einen knallharten Torschuss mit ihrem Johannes blockten. Wir nannten einen Trainer, der sich zum zweiten Mal dazu überreden ließ, uns zu trainieren, den „früheren Ex-Trainer“, und wir riefen ein lang gezogenes „Diiiieeeetttt“ in die Stille eines tristen Sonntagvormittags, wenn Abwehrchef Dieter zum „Warmmachen“ den Platz betrat. All das sind Namen, die bis heute nach den Spielen unter der Dusche skandiert werden, an jahrzehntealten Fliesen widerhallend, und genauso einen Namen trug auch Ursus. Noch heute erzählen Väter, die dabei waren, ihren Söhnen seine Geschichte – die Geschichte, als Ursus, der eigentlich Markus hieß, bei einem Auswärtsspiel einem Torabstoß des Gegners tief in der eigenen Hälfte mit grimmiger Miene entgegensprang, um zum konternden Kopfball hochzusteigen. Nie wieder danach und wohl auch selten davor stieg ein Spieler in jene Sphären hoch, die Ursus in dieser Spielszene erreichte. Und Ursus wäre nicht Ursus gewesen, hätte er das mit mindestens 2,0 Bar gefüllte Leder in dieser astronomischen Höhe nicht mit seiner Kasseler-Stirn in doppelter Geschwindigkeit in die Richtung, aus der es kam, zurückgeköpft. Doch zum Glück für die Heimmannschaft bestand keinerlei Gefahr für das eigene Tor. Denn anstatt in die Maschen zu fetzen, was beeindruckend genug gewesen wäre, detonierte der Ball nach gut und 40
gerne 60 Metern Flugstrecke knallhart und in zwei Metern Höhe in einem Bauzaun, der knapp zehn Meter hinter dem Tor stand, aufgrund der unwirklichen Wucht des Ursus-mäßigen Kopfballs auf der Stelle umstürzte und nie wieder aufgestellt wurde. Eine Szene, nach der der Schiedsrichter notgedrungen – was sollte er auch tun? – erneut auf einen Torabstoß entschied, den der verwirrte Stockheimer Torwart, dessen Spezialität der lange Abschlag eh nicht war, postwendend ins Seitenaus schlug. Keine Frage: „Ursus“ war der am besten passende Spitzname, den ich je gehört hatte – bis ich vor zwei Wochen beim schlesischen Geburtstag der Tante Doris meiner Frau die Todsünde auf schlesischen Familienfeiern beging und nichts essen wollte. Ihr Schwager war es, der daraufhin entrüstet in die schlesische Feiergesellschaft rief: „Sascha! Du willst nichts von der Doris essen? Was ist nur los mit dir? Die Doris ist doch die BESTE KANTINE DEUTSCHLANDS!“ Ein Punkt, den man nehmen muss. Gegen die „beste Kantine Deutschlands“ ist selbst „Ursus der Unbesiegbare“ nur ein einfacher Fußballspieler, der halt Erdabstöße an die Atmosphärengrenze köpft. Auch über mich wurden einst Lieder unter der Dusche angestimmt, allerdings nur, weil ich sie zunächst selbst oft und laut genug sang. „Wir brauchen keinen Schuster, wir brauchen keinen Bein! Wir haben Sascha Theisen, der haut die Dinger rein!“ Du musst nur lange genug in den Wald rufen, bis du es endlich zurückbekommst – so ist die Soziografie einer Kreisliga-Mannschaft. Lied hin, Lied her. Was ich mir wirklich redlich verdiente, war der Name „Die Grätsche“. In Wahrheit war er allerdings etwas spöttisch gemeint, da ich meist ins Leere grätschte und die Grätsche oft auch einfach als Alibi wählte, wenn ich merkte, dass mein Gegenspieler schneller war als ich. Ein Fall, der sich nicht eben selten einstellte, jedenfalls sofern nicht gerade Training war und mein Gegenspieler Peter Schmitz hieß, der schon damals als der langsamste Mensch der Welt galt. Die perfekte Grätsche setzte ich während einer Sportwoche im beschaulichen Bergstein, irgendwo im Niemandsland der tristen, aber allzeit rauen Voreifel, aus der auch Ursus kam. Sie ist schon lange her, aber sie ist präsent, so wie sie es immer war in all den Jahren. Auch nachdem ich es mittlerweile drangegeben habe, selbst zu grätschen, 41
erstens, weil ich schon lange nicht mehr spiele, und zweitens, weil Jogi Löw sie 2006 verboten und durch den Steckpass ersetzt hat. Ich war „Die Grätsche“! Die Grätsche, die voller Stolz die Brust rausschob, wenn sie in der Kabine im Mannschaftskreis leicht ehrfürchtig, leicht spöttisch „Die Grätsche“ gerufen wurde. Die Grätsche, die sich nicht zu schade war, jüngere Mitspieler beim „Fünf gegen zwei“ behutsam zur Seite zu nehmen, um ihnen die Vorzüge einer guten Grätsche einzuflüstern – was auch immer sie bei einem Spiel wie „Fünf gegen zwei“ tatsächlich zu suchen hatte. Gründe für eine Grätsche gab es viele vor Jogi Löw, denn: Sie war kompromisslos, beinhart und auf Asche schonungslos gegen den Gegenspieler und sich selbst. Vor allem aber war sie die beste Ausrede für die Zeit nach dem Spiel, hinterließ sie doch im besten Fall eine Spur vom Stutzen bis zum Trikot, im schlechtesten eine Schürfwunde vom Knie bis zum Oberschenkelhals, was beides als Beweis dafür diente, dass man auch an diesem verfluchten Sonntag – trotz fehlender Geschwindigkeit, trotz fehlender Motivation, Technik und Kondition, trotz allem – mal wieder alles gegeben hatte, was man in sich trug. Keine Frage: Eine gute Grätsche war mehr als nur Teil des Spiels. Sie war Ästhetik, Verzweiflung, Ausrede. Sie war ich! Perfekt war sie nur einmal – und das war damals in Bergstein. Längst weg war der Gegner, einer dieser belanglosen Achter, der einen brandgefährlichen Konter einleitete. Niemand, absolut niemand rechnete damit, dass ausgerechnet ich, der langsamste Mann auf dem Feld, nun nachsetzen würde, um das drohende Unheil zu verhindern. Trotzdem tat ich es. Aufgrund der fehlenden Geschwindigkeit schien aber weder Gefahr für den davoneilenden Achter noch für seinen Angriff zu bestehen. Also versuchte ich das, was unter den Premium-Grätschern der Zunft bis heute so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner ist, wenn es darum geht, halt einfach etwas zu machen, obwohl eigentlich jeder weiß, dass nichts mehr geht: die besagte Alibi-Grätsche. Ich schloss die Augen, verließ meinen Körper und ließ die Grätsche Besitz von mir ergreifen. Ich grätschte nicht, ich war die Grätsche. Sie legte meinen Körper mit der linken Hälfte nach unten in den leicht angeschwitzten Rasen Bergsteins. Der Schwerpunkt lag auf dem linken Oberschenkel, an dem sich mit jedem gerutschten Zenti42
meter die Fußballhose etwas höher rollte, während das rechte Bein, wie geparkt auf dem nach vorne rutschenden linken, langsam zur pendelnden Ausholbewegung ansetzte, um dann gleich einem meiner körperlichen Konstitution widersprechenden Katapult unbarmherzig nach vorne zu schnellen. Es war eine stilistisch perfekte Grätsche, die allerdings, weil sie ja eigentlich eine Alibi-Grätsche werden sollte, den perplexen Ausführer der Grätsche ebenso wie die mit offenen Mündern staunenden Beobachter der Szenerie dadurch überraschte, dass sie eben nicht ins Leere führte. Es war, als ob andere, bessere Beine in meine gefahren wären. Ohne dass der vorher noch so schnell anmutende Gegenspieler gefällt wurde, was bei treffenden Grätschen sonst unwiderruflich der Fall gewesen wäre, stahl mein rechter Fuß nach der schwingenden Sensenbewegung des zu ihm gehörenden Beines den wahrscheinlich ebenfalls verdutzten Ball direkt und schnörkellos vom Fuß des verblüfften Achters. Was für sich genommen schon Fußballwunder genug gewesen wäre, war allerdings noch nicht das Ende dieser Aktion. Denn immer noch wie von Geisterhand gingen nun in einer weiteren perfekten, fließenden Bewegung Balleroberung und Aufstehen in Richtung des anderen, des gegnerischen Tores ineinander über. Ich selbst war völlig verstört aufgrund dieser abstrusen Perfektion, die hier mit mir vonstattenging und die physikalisch eigentlich unmöglich schien. Trotzdem hob eine unwirkliche Macht meinen Kopf, so dass ich mit einer fast schon arroganten Franz-Beckenbauer-Mimik weitsichtig über das komplette Feld schaute; ganz so, als würde ich meine Optionen prüfen, mit denen der nächste Angriff eingeleitet werden konnte. Ein perfekter Moment, einer für die Ewigkeit und vor allem einer, wie ich ihn nie wieder auf einem Fußballplatz erleben sollte. Er war kurz, aber er war perfekt. Zeit, ihn zu genießen, blieb indes nicht, weil direkt auf ihn ein Fehlpass folgte – einer, der ebenfalls physikalisch unmöglich schien. Aber das war egal! Ich hatte eine „Dicks-Helmut-Aktion“, eine Grätsche gleich einem Ursus-Kopfball geschafft! Besorg es dir selbst, „diametral abkippende Sechs“, „falsche Neun“ oder „linke Zehn“! Wenn ihr mich sucht: immer der Blutspur nach!
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Betrunkene Vorstopper, kickende Schlümpfe, Sammelbild-Dealer oder kleine Jungs, die sich stundenlang im Regen selber tunneln: All das und noch viel mehr bietet »Nach vorne!«, eine Sammlung kurioser, sentimentaler oder einfach witziger Fußballgeschichten. Mit Texten von Sascha Theisen, Axel Formeseyn, Philipp Köster, Jens Kirschneck, Comedian Fritz Eckenga, »Mister Ruhrgebietsfußball« Ben Redelings u.a. 160 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-89533-713-0 € 9,90
auch als e-book
Die witzigen, leidenschaftlichen und nicht zuletzt wunderbar zu lesenden Kurzgeschichten sind eine einzige Verbeugung vor dem Kicken selbst, wobei eines alle Autoren eint: der unvergessliche Duft der Asche, auf der ein rundes Leder auf sie zurollt. Mit Texten von Sascha Theisen, Ben Redelings, Frank Goosen, Ronald Reng, Axel Formeseyn, Uli Hesse u.a. 144 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-7307-0011-2 € 9,90
auch als e-book
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Wie werden in der F-Jugend Könige geboren? Warum war der unhaltbare Kullerball in der D-Jugend schon bitterer Vorbote für das Scheitern der ersten großen Liebe? Und weshalb ist es eine echte Lebenserfahrung, den eigenen Körper für die perfekte Grätsche einfach mal zu verlassen? Sascha Theisen hat mit Ballbesitz eine Liebeserklärung an den ehrlichen, glamourfreien Fußball geschaffen. Ein Buch für Fans aller Vereine, die den täglichen Wahnsinn ihres Lebens nur durch ihre Leidenschaft für das große Spiel bewältigen.
ISBN 978-3-7307-0323-6 VERLAG DIE WERKSTATT