Leseprobe - Genies in Schwarzweiß

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Martin Breutigam

Genies

in Schwarzweiß

VERLAG DIE WERKSTATT

Die Schachweltmeister im Porträt


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-7307-0306-9 Copyright © 2016 Verlag Die Werkstatt GmbH Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen www.werkstatt-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau ISBN 978-3-7307-0287-1


Inhaltsverzeichnis Vorwort.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Wilhelm Steinitz  Der große Schachreformator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Emanuel Lasker  Kosmopolit und Rekordweltmeister.. . . . . . . . . . . . . 19 José Raoul Capablanca  Ein Gentleman aus Havanna .. . . . . . . . . . . . . 30 Frauen im Schach  Exkurs über ein unverstandenes Phänomen . . . 39 Alexander Aljechin  Widersprüchliches Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Max Euwe  Multitalent mit eiserner Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Michail Botwinnik  Ein Synonym für Schachweisheit .. . . . . . . . . . . . . 71 Wassili Smyslow  Ein Leben zwischen Schach und Musik .. . . . . . . . . 80 Michail Tal  Zaubern wie von einem anderen Stern . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Tigran Petrosjan  Der Eiserne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Boris Spasski  Wie ein Freigeist das Kämpfen lernt.. . . . . . . . . . . . . . . 105 Bobby Fischer  Genial, irre und seiner Zeit weit voraus . . . . . . . . . . . 114 Anatoli Karpow  Rationalismus auf 64 Feldern.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Garri Kasparow  Unnachahmliche Wucht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Wladimir Kramnik  Feingeist mit Nehmerqualitäten . . . . . . . . . . . . . 155 Viswanathan Anand  Wie Schach zurück nach Hause kam . . . . . . . 172 Magnus Carlsen  Frisch gestylt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Anhang Gebrauchsanweisung für Einsteiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Literaturverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208


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Anatoli Karpow

Rationalismus auf 64 Feldern

Bis zuletzt hofften Schachliebhaber auf allen Kontinenten, dass Bobby Fischer ans Schachbrett zurückkehren möge. Der Weltschachbund Fide hatte im März 1975 eigens eine Generalversammlung einberufen, die sich mit den Forderungen des exzentrischen Weltmeisters beschäftigte. Auf fast alle Wünsche Fischers war eingegangen worden, doch aus den USA kam keine Reaktion. Fischer erschien nicht am Spielort, Manila/ Philippinen, und ließ ein Ultimatum der Fide verstreichen. Am 3. April 1975 schickte Fide-Präsident Max Anatoli Karpow im Dezember 1967 Euwe schließlich ein Telegramm an den sowjetischen Schachverband, in dem er Anatoli Jewgenjewitsch Karpow zum offiziellen Weltmeister erklärte. Karpow, geboren am 23. Mai 1951 in Slatoust im Ural, war somit der erste Weltmeister, dem der Titel kampflos zugesprochen wurde. Doch den Verdacht, womöglich nur der zweitbeste Spieler der Welt zu sein, räumte er in den folgenden Jahren überzeugend aus. Er tat nämlich etwas, das Fischer für sich selbst nach dem Titelgewinn 1972 zwar angekündigt, aber nicht eingehalten hatte: Karpow wurde ein spielender Weltmeister, er nahm an vielen Turnieren teil, und er gewann sie fast alle. Eine solche Entwicklung war dem schmächtigen Mann noch zu Beginn der 1970er Jahre allgemein kaum zugetraut worden. Gewiss, Karpow war ein Weltklassespieler, aber dass er die Konkurrenz einmal derart dominieren würde, sah wohl niemand voraus. Schach hatte er mit vier Jahren von seinem Vater gelernt. Zunächst nur vom Zusehen, bald durfte er mit ihm spielen, aber nur, wenn er bei


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einer Niederlage nicht gleich zu heulen anfing. Der kleine Tolja musste früh lernen, sich zusammenzureißen. Eine andere prägende Wirkung hatte sein erstes und für lange Zeit einziges Schachbuch, das er zufällig am Kiosk entdeckt hatte: eine Partiensammlung des Exweltmeisters Capablanca. Karpow galt als ein kränklicher Junge, der noch mit neun Jahren so klein war, dass er nur mit einem Sitzkissen das Schachbrett auf dem Spieltisch überschauen konnte. Er besaß außergewöhnliches Talent und großen Ehrgeiz. Hunderte von Turnierpartien stählten den Stahlarbeitersohn. Im Jahr 1964 wurde er in die kurz zuvor gegründete Botwinnik-Schule berufen. Botwinnik persönlich wies auf Karpows Schwächen in der Eröffnung hin; erst danach, erinnerte sich Karpow später, habe er angefangen, ernsthaft an seinem Schach zu arbeiten. Mit schnellem Erfolg: 1966 bekam er 15-jährig als bis dahin jüngster Spieler den Titel Meister der Sowjetunion verliehen, 1967 wurde er Junioreneuropameister, 1969 Juniorenweltmeister, 1970 Großmeister, und 1971 gewann er unter anderem das stark besetzte Aljechin-Gedenkturnier (geteilt mit Leonid Stein). Seit Ende der 1960er Jahre stand ihm mit Großmeister Semjon Furman ein erfahrener Trainer zur Seite. Ein absolutes Gefühl Karpows Stil erinnerte in seiner Klarheit an Capablanca. Auch Karpow war ein Naturtalent, das über eine Art absolutes Schachgefühl zu verfügen schien wie ein Musiker über ein absolutes Gehör. Bei ihm war dieses spezielle Gefühl frühzeitig an kühle Rationalität gekoppelt: Mit Weiß gewinnen, mit Schwarz erst einmal Ausgleich anstreben – das ist von jeher Karpows Motto gewesen. Auf diese Weise hat er so viele Turniere und Wettkämpfe gewonnen wie kaum ein anderer. „Der Spieler, der nicht rationell spielt, der immer schöne Kombinationen und kopfzerbrechende Komplikationen sucht, verliert letzten Endes den Punkt – so mindestens einen aus zehn. Ich aber ziehe es vor, alle zehn Partien zu gewinnen“, schrieb Karpow in seinem Buch Wie ich kämpfe und siege. In seiner Freizeit sammelte er gerne Briefmarken, am Brett sammelte er kleinste Vorteile. Stundenlang manövrierte Karpow geduldig mit seinen Figuren herum, bevor er seine Vorteile mit tadelloser Technik verwertete. Andererseits ließ er sich, wenn es die Situation erforderte, durchaus auf Komplikationen ein. Egal, ob Strategie oder Taktik gefragt war, er spielte in allen Partiephasen auf hohem Niveau, wie es sich für einen modernen Titelanwärter gehörte.

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Anatoli Karpow (*1951)

Für Karpow stand das Sportliche im Schach immer etwas höher als die Elemente Kunst und Wissenschaft. „Ich mag den Prozess des Kampfes. Das Schrecklichste für einen Schachspieler ist, den Sinn für das Schöpferische zu verlieren. Die Leute sagen, ich sei Rationalist. Ich sehe darin nichts Schlechtes. Meiner Ansicht nach handelt es sich dabei um eine Kunst, über seine Kräfte und seine Zeit richtig zu disponieren.“ Im Jahr 1974 war Karpow seinen ärgsten Widersachern bereits überlegen. Beim Interzonenturnier in Leningrad 1973 hatte er sich für die Kandidatenwettkämpfe qualifiziert, in denen er zunächst zwei Landsmänner klar ausschaltete: Lew Polugajewski mit 5,5:2,5 Punkten und Exweltmeister Boris Spasski mit 7:4. Gegen den Erzfeind Im Kandidatenfinale bekam er es mit Viktor Kortschnoi, seinem späteren Erzfeind, zu tun. Gleich in der zweiten des auf 24 Partien angesetzten Wettkampfs ging Karpow spektakulär in Führung. Mit einer lange zuvor vorbereiteten tiefgründigen Neuerung trieb er seinem Geg­ ner die zweischneidige Drachenvariante ein für allemal aus. Karpow – Kortschnoi 2. Partie, Moskau 1974 Sizilianisch 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 g6 6.Le3 Lg7 7.f3 Sc6 8.Dd2 0-0 9.Lc4 Ld7 10.h4 Tc8 11.Lb3 Se5 12.0-0-0 Sc4 13.Lxc4 Txc4 14.h5!

Der für die Drachenvariante typische Vorstoß. Weiß will unter Bauernopfer die h-Linie öffnen und matt setzen. 14…Sxh5 15.g4 Sf6 16.Sde2! Karpow unterbricht für einen kleinen Moment seine Angriffsabsichten auf der h-Linie und denkt an die Sicherheit: Der Punkt c3 wird überdeckt, ein mögliches Qualitätsopfer entkräftet. Außerdem droht nun neben 17.Lh6 auch 17.e5 dxe5 18.g5 mit Figurengewinn. 16…Da5 17.Lh6 Lxh6 18.Dxh6 Tfc8 Schwarz erhöht den Druck. Direkte weiße Angriffsversuche würden scheitern: 19.Sd5?? Txc2+ 20.Kb1 Db5! 21.b3 Dxe2 22.Sxf6+ exf6 23.Dxh7+ Kf8 24.Dh8+ Ke7; beziehungsweise 19.g5? Sh5 20.Sf4? Txc3! 21.bxc3 Dxc3 22.Th2 De3+ 23.Kb1 Dxf4. 19.Td3! Diesen subtilen Zug hatte Karpow in der gemeinsamen Heimanalyse mit seinem Trainer Furman gefunden. Weiß überdeckt noch einmal c3 und bereitet die Idee 20.g5 Sh5 21.Sf4 vor. Zugleich wird Schwarz zu einem scheinbar naheliegenden, jedoch verhängnisvollen Verteidigungszug


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verleitet. 19…T4c5? Na klar, Kortschnoi will 20.g5 verhindern, er übersieht jedoch die wahre Absicht seines Gegners. Notwendig war 19… Dd8 mit der Verteidigungsidee …Df8. 20.g5! Txg5 21.Td5! Txd5 22.Sxd5 Te8 Natürlich nicht 22…Sxd5 23.Dxh7+ Kf8 24.Dh8 matt. Oberflächlich betrachtet, scheint bei Schwarz nach 22…Te8 alles im Lot; falls 23.Sxf6+? exf6, könnte der König nach e7 flüchten. In Wirklichkeit ist der weiße Angriff unwiderstehlich. 23.Sef4 Lc6 24.e5! 8 7 6 5 4 3 2 1

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Ein herrlicher Zug, der die schwarze Dame als Verteidigerin von der fünften Reihe abklemmt, was nach 24…dxe5 25.Sxf6+ exf6 26.Sh5! gxh5 27.Tg1+ deutlich würde. 24…Lxd5 Noch leichter gewänne Weiß nach 24…Sxd5 25.Dxh7+ oder 24…Dxa2 25.Sxf6+ exf6 26.exf6 Da1+ 27.Kd2 Da5+ 28.c3. 25.exf6 exf6 26.Dxh7+ Aber bloß nicht 26.Sh5?? Te1+. 26…Kf8 27.Dh8+ Nun offenbart sich eine zweite Pointe von 24.e5!, die e-Linie ist geöffnet: 27…Ke7 28.Sxd5+ Dxd5 29.Te1+. 1:0. Karpow gewann insgesamt drei Partien, Kortschnoi gegen Ende des Wettkampfes zwei, 19 endeten nach erbitterten Kämpfen im Moskauer Tschaikowski-Saal remis. Somit hatte Karpow 12,5:11,5 gewonnen und sich im Alter von 23 Jahren als Herausforderer von Bobby Fischer qualifiziert. Die Hoffnungen des sowjetischen Schachs ruhten nun auf den schmalen Schultern eines dünnes Mannes, der „innerlich ein Tiger“ war, wie es Spasski ausdrückte. Doch Fischer wollte nicht spielen, so dass die Frage, ob Karpow auch den Amerikaner bezwungen hätte, für immer unbeantwortet bleibt.

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Anatoli Karpow (*1951)

Kalter Krieg in Baguio City Drei Jahre später musste Karpow in der Bergstadt Baguio City auf den Philippinen seinen Titel verteidigen. Es ging wieder gegen Viktor Kortschnoi, der zwei Jahre zuvor von einem Turnier in den Niederlanden nicht in die Sowjetunion zurückgekehrt war und sich mittlerweile in der Schweiz niedergelassen hatte. Auch politisch ein brisantes Duell: Karpow, der Günstling des Staatschefs Leonid Breschnew, gegen Kortschnoi, den Sowjetflüchtling. Gespielt wurde über sechs Gewinnpartien, der Sieger sollte fast eine halbe Million US-Dollar erhalten. Seit Bobby Fischer waren solche Summen auch im Schach möglich. Der erwartete Kalte Krieg auf den schwarzen und weißen Feldern war schon vor dem ersten Zug im Gange. Kortschnoi prangerte an, dass seinem Sohn und seiner Ehefrau weiterhin die Ausreise aus der UdSSR verweigert würde. Manche seiner Klagen erschienen vollauf berechtigt. Am 18. Juli 1978 begann die erste Partie. Kortschnoi, damals staatenlos, hätte gern unter Schweizer Flagge gespielt. Das stieß aber auf Widerstand. Schließlich stand gar kein Fähnchen auf dem Spieltisch. Nach ein paar Tagen verlangte Kortschnoi, dass Karpow während der Partien keine Joghurts mehr gereicht bekomme, wie zu Beginn des Wettkampfes geschehen. Karpow könnte, so Kortschnoi, etwa bei der Wahl der Geschmacksrichtung verschlüsselte Informationen von seinen Sekundanten erhalten. Anderntags machte der Herausforderer von einer Spiegelbrille Gebrauch, weil ihn ein Parapsychologe namens Dr. Wladimir Suchar, der im Dienste Karpows in der ersten Zuschauerreihe Platz genommen hatte, mit angeblich hypnotisierenden Absichten unentwegt anglotzte. Außerdem behauptete Kortschnoi, er werde am Spieltisch auf der Bühne einer negativen Strahlung ausgesetzt. Auf manchen Pressekonferenzen lästerte Kortschnoi über seinen Gegner, einmal auch über dessen Namen (Karpow bedeutet übersetzt Karpfen): „Er spielt cool wie ein Fisch.“ Vor der achten Partie – die ersten sieben endeten alle remis – ein weiterer Eklat: Karpow, der das Verhalten seines Gegners als unhöflich bezeichnete, verweigerte Kortschnoi den üblichen Handschlag, woraufhin dieser in Rage geriet und anschließend sang- und klanglos verlor. Der Herausforderer nannte den Vorfall im Nachhinein den „Kulminationspunkt des Matchs“. Hier die Schlussphase der Partie, die Karpow mit strenger Hand beendete:


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Karpow – Kortschnoi 8. WM-Partie, Baguio City 1978 (Stellung nach dem 25. Zug von Schwarz)

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26.Td7! Tb8 Sofort matt wäre es natürlich nach 26…Lxd7 27.Dxf7+! Txf7 28.Txf7. Ebenso hoffnungslos war 26…Te7 27.Txe7 Kxe7 28.Df6+ Kf8 29.Dd8 oder 28…Ke8 29.Dxg7. 27.Sxf7 Lxd7 Falls 27…Lg4, so 28.Df4. 28.Sd8+ 1:0 Kortschnoi gab auf, wegen 28…Ke7 29.Df8 matt; beziehungsweise 28…Lf5 29.Dxf5+ Ke8 30.Df8+ usw.

Sieger mit 50 Kilogramm Im Gegensatz zu Kortschnoi konnte sich Karpow in der Vorbereitung und während des Wettkampfes auf ein großes Team von Mitarbeitern und Weltklassespielern stützen. Für Karpows im Frühjahr 1978 verstorbenen Trainer Furman kam unter anderem Exweltmeister Michail Tal als Sekundant nach Baguio City. Mag sein, dass sich die Vorteile in Sachen Teamkompetenz auch ein wenig in den Zahlen ausdrückten: Nach 17 Partien ging Karpow – die Remisen nicht mitgezählt – mit 4:1 Siegen in Führung, nach 27 Partien sogar mit 5:2. Ein Sieg fehlte ihm noch. Doch plötzlich schien der Weltmeister, der während des anstrengenden Duells immer mehr Gewicht verlor und kaum mehr als 50 Kilogramm wog, am Ende seiner Kräfte. Kortschnoi gewann die 28., 29. und 31. Partie. Damit stand es 5:5. Die Weltöffentlichkeit blickte gespannt auf die Philippinen. Karpow nahm eine Auszeit. In der 32. Partie versuchte ihn der Herausforderer, mit den schwarzen Steinen spielend, mit der Pirc-Verteidigung zu überraschen. Auf diese Eröffnung war Karpow jedoch gut vorbereitet. Er kam frühzeitig in Vorteil und zwang Kortschnoi nach 41 Zügen zur Aufgabe. 6:5 für Karpow.

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Anatoli Karpow (*1951)

Titel verteidigt. Zu Hause wurde er begeistert empfangen. Breschnew zeichnete ihn – nicht zum letzten Mal – mit einem Orden aus. Für Karpow war 1978 ein Erfolgsjahr: Vor dem Wettkampf mit Kortschnoi hatte er das Turnier in Bugojno gewonnen, an der Universität in Leningrad erhielt er sein Diplom als Wirtschaftswissenschaftler, und er wurde in der UdSSR zum Sportler des Jahres gewählt. Im darauffolgenden Jahr heiratete Karpow zum ersten Mal (sein Sohn aus dieser Ehe heißt ebenfalls Anatoli). Das nächste WM-Duell gegen Kortschnoi, 1981 im italienischen Meran, bereitete Karpow weniger Mühe. Er gewann mit 6:2 Punkten (bei zehn Remisen). Karpows größtes Versäumnis Im Jahr 1984 begann eine neue „K.u.K.-Epoche“. Der junge Garry Kasparow hatte sich als Herausforderer qualifiziert. Die Schachwelt traute ihm noch mehr zu. Doch Karpow erteilte ihm zunächst eine Lektion. Nach acht Partien führte Karpow schon mit 3:0. In der neunten musste Kasparow in einem Endspiel mit dem Thema „Guter Springer gegen schlechter Läufer“ ums Remis kämpfen: Karpow – Kasparow 9. WM-Partie, Moskau 1984 (Stellung nach dem 46. Zug von Schwarz)

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Kasparow hatte soeben auf h4 einen weißen Bauern geschlagen. Tatsächlich wäre die Stellung nach 47.gxh4? verriegelt und deswegen haltbar für Schwarz, obwohl er die schwächere Leichtfigur besitzt. Karpow hatte aber eine brillante Antwort vorbereitet. 47.Sg2! Anstatt mit dem g-Bauern wiederzuschlagen, opfert Weiß vorübergehend einen Bauern, um mit König und Springer über den Königsflügel eindringen


12. Weltmeister 1975–1985

zu können. 47…hxg3+ 48.Kxg3 Ke6 49.Sf4+ Kf5 50.Sxh5 Nun droht Sg7e8-c7, so dass der schwarze König wieder zurückgehen muss. 50…Ke6 51.Sf4+ Kd6 52.Kg4 Lc2 53.Kh5 Ld1 54.Kg6 Ke7 Aussichtslos wäre auch 54…Lxf3 55.Kxf6, hier eine denkbare Variante: 55…Lg4 56.Sd3 Lf3 57.Sc5 Lg2 58.Sxa6 Lf3 59.Sc5 Lg2 60.Se6 Lf3 61.Sg7 Lg2 62.Sf5+ Kd7 63.Ke5 Kc6 64.Se7+ nebst 65.Sxd5. 55.Sxd5+ Ke6 56.Sc7+ Kd7 57.Sxa6 Lxf3 58.Kxf6 Kd6 59.Kf5 Kd5 60.Kf4 Lh1 61.Ke3 Kc4 62.Sc5 Lc6 63.Sd3 Lg2 64.Se5+ Kc3 65.Sg6 Kc4 66.Se7 Lb7 67.Sf5 Lg2 68.Sd6+ Kb3 69.Sxb5 Ka4 70.Sd6 1:0.

Das war das 4:0. Karpow gelang in der 27. Partie sogar das 5:0. Ein Sieg noch, um den mit vielen Vorschusslorbeeren angetretenen Kasparow zu deklassieren. Nach seiner ersten Niederlage in der 32. Partie führte Karpow immer noch 5:1, doch der verflixte sechste Sieg wollte ihm einfach nicht gelingen. Dies sei das größte Versäumnis seiner Karriere gewesen, sagte Karpow rückblickend. In der 41. Partie hatte er noch eine letzte konkrete Gewinnchance bekommen – aber nicht genutzt. Nach Kasparows Doppelschlag in der 47. und 48. Partie wurde der WM-Kampf beim Stand von 5:3 für Karpow vom damaligen Fide-Präsidenten, Florencio Campomanes, abgebrochen, aus bis heute nicht ganz geklärten Gründen (siehe Kasparow-Porträt). Nur noch Zweitbester Im Jahr 1985 verlor Karpow nach einer 11:13-Niederlage gegen Kasparow den WM-Titel. Auch in den folgenden Jahren sollte er sich jeweils „nur“ als der zweitbeste Spieler der Welt erweisen. Genauer: Bei drei neuerlichen Anläufen Karpows (1986, 1987 und 1990) verteidigte Kasparow seinen WM-Titel. Im Kandidatenzyklus 1991/92 unterlag Karpow, um die Hüften inzwischen etwas fülliger geworden, überraschend dem Briten Nigel Short mit 4:6 Punkten. Kurioserweise stiegen durch diese Niederlage seine Chancen auf den WM-Titel der Fide beträchtlich. Denn nachdem Kasparow und Short 1993 die Fide verlassen und einen eigenen Verband gegründet hatten, wurden die von Short zuvor besiegten Kandidaten, Karpow und der Holländer Jan Timman, vom Weltschachbund für das „Fide-Finale“ gesetzt. Karpow schlug Timman mit 12,5:8,5 Punkten und durfte sich erneut Fide-Weltmeister nennen. In der Weltrangliste blieb er hinter Kasparow auf Rang zwei und zeigte besonders in Linares 1994, wo er mit 2,5 Punkten Vorsprung vor Kasparow gewann, dass nach wie

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Anatoli Karpow (*1951)

Karpow am Spitzenbrett des SV Hockenheim im Jahr 2014

vor mit ihm zu rechnen war. Karpow verteidigte 1996 seinen Fide-Titel gegen den Amerikaner Gata Kamsky mit 10,5:7,5 Punkten. Zwar hatte der Titel des offiziellen Weltmeisters nach der von Kasparow und Short hervorgerufenen Spaltung an Bedeutung verloren, doch Karpow nutzte ihn und bewies Verhandlungsgeschick: Im Januar 1998 bestand im WM-Duell zwischen Karpow, der nur noch Sechster der Weltrangliste war, und Viswanathan Anand keine wirkliche Chan-


12. Weltmeister 1975–1985

cengleichheit. Karpow war nicht nur für das Finale im schweizerischen Lausanne gesetzt, ohne auch nur eine Partie gespielt zu haben – ihm war auch bereits eine Millionenbörse sicher. Anand dagegen musste sich in den drei Wochen vor dem Finale durch einen nervenaufreibenden K.-o.-Wettbewerb im niederländischen Groningen quälen. Trotzdem gelang dem müden Inder in der sechsten und letzten regulären Partie der 3:3-Ausgleich. Doch in den anschließenden zwei Schnellpartien ließen ihn Kraft und Nerven endgültig im Stich: Karpow gewann zwei Tiebreak-Schnellpartien und wurde auf schmeichelhafte Weise erster Sieger bei einer K.-o.-Weltmeisterschaft der Fide. Bei der zweiten K.-o.-Weltmeisterschaft, im Sommer 1999 in Las Vegas, sollten Karpow – in der Weltrangliste mittlerweile auf Rang zehn abgerutscht – keine Privilegien mehr zugestanden werden. Karpow, dessen zweite Ehefrau Natalja ein Kind erwartete, nahm nicht teil, woraufhin ihn der Weltschachbund als Weltmeister absetzte. Eine scheinbar runde Geschichte: Karpow hatte den Fide-Titel 1975 kampflos gewonnen und ihn 1999 kampflos verloren. In Wirklichkeit war seine Ära als Weltmeister im klassischen Schach bereits 1985 beendet. Das Thema Fide sollte Karpow auch nach seiner Profizeit noch begleiten: Im Jahr 2010 kandidierte er bei der Wahl zum Fide-Präsidenten. Er unterlag aber dem umstrittenen Amtsinhaber Kirsan Iljumschinow. Welch nachhaltigen Eindruck die Ära des Weltmeisters Karpow in der Schachwelt hinterlassen hat, zeigen zum Beispiel zwei ungewöhnliche Ehrerweisungen: Schon zu Lebzeiten sind die bekannten, alljährlichen Turniere in Cap d’Agde/Frankreich und in Piokowski/Russland nach Karpow benannt worden. Auch einige Schachschulen an verschiedenen Orten der Welt tragen seinen Namen, in Deutschland die Karpow-Schachakademie in Hockenheim. Manchmal schaut Karpow dort persönlich vorbei. Und für den Bundesligisten SV Hockenheim hat er sich noch jenseits seines 60. Lebensjahres gelegentlich ans Spitzenbrett gesetzt. Karpow betonte aber, dass er nur noch zu seinem Vergnügen Schach spiele; als Abgeordneter des russischen Parlaments komme er nur selten dazu, sich mit Schach zu beschäftigen. Karpow war im Jahr 2011 für die Partei Einiges Russland in die Duma gewählt worden.

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Capablanca, Fischer oder Carlsen – jeder Schachweltmeister hat das Spiel auf seine Weise bereichert und den Stil von Generationen beeinflusst. In diesem Buch sind sie alle porträtiert: Wunderkinder und Wissenschaftler, Künstlertypen und Exzentriker. Schritt für Schritt folgen wir den Ausnahmedenkern auf ihren ungewöhnlichen Lebenswegen. Kommentierte Partiebeispiele und brillante Kombinationen erinnern an bedeutende Momente ihrer Karrieren. Zudem gibt es zahlreiche kuriose Randgeschichten und einen spannenden Exkurs zum Frauenschach.

ISBN 978-3-7307-0287-1 VERLAG DIE WERKSTATT


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