Leseprobe - Gerd Schönfelder

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SIEGER

Das Leben des Gerd Schönfelder

Na ja, sagen sie, das Unglück hat Sie ja echt hart getroffen. Da fahren Sie zur Arbeit, und am Abend erwischt Sie der Zug. Eine Kleinigkeit anders an diesem Tag – und Ihr Arm wäre noch dran und Ihr Leben mit Sicherheit völlig anders verlaufen! Da muss man doch mit dem Leben hadern, sagen die Leute. Dann denke ich an mein Leben und die Menschen um mich herum. Dann denke ich an den Märzschnee im Gesicht. Und ich kenne die Antwort: Das hat alles seinen Sinn.

ISBN 978-3-7307-0286-4 VERLAG DIE WERKSTATT

VERLAG DIE WERKSTATT

Besser ausgedrückt: Passt schon.“ VERLAG DIE WERKSTATT

Der Extremsportler wurde mehrfach mit Preisen des Verbands Deutscher Sportjournalisten ausgezeichnet, schrieb ein Standardwerk über Adidas, verfasste eine autorisierte Biografie über den Boxer Henry Maske und die literarische Reportage 50 Tage lebenslänglich. Sie landete ebenso in den Bestsellerlisten wie Der Triumph von Rio 2014 und FC Bayern München: Triple 2013, beide im Verlag Die Werkstatt erschienen.

Weil er als 19-Jähriger noch einen Zug erwischen wollte, verlor er seinen rechten Arm und vier Finger der linken Hand. Doch Gerd Schönfelder haderte nicht. Er wurde der erfolgreichste deutsche Behindertensportler überhaupt. Als Skirennfahrer holte er 16-mal Gold bei den Paralympics, 14-mal wurde er Weltmeister. Dieses Buch erzählt seine bewegende Geschichte: von dem schwierigen Weg zurück ins Leben bis hin zu seinen großen Erfolgen.

„Manchmal fragen mich Leute, denen ich zum ersten Mal etwas erzähle, ob ich nicht fürchterlich verzweifelt bin. Warum?, sage ich.

Detlef Vetten

© Barbara Volkmer

Detlef Vetten, Jahrgang 1956, ist ein erfahrener Journalist und Autor. Nach Stationen bei der Münchner Abendzeitung, dem Stern und Sports führte er u. a. die Lokalredaktion der AZ und war Chefreporter der Nachrichtenagentur dapd.

Detlef Vetten

SIEGER

Das Leben des Gerd Schönfelder

Gerd Schönfelder


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-7307-0291-8 Copyright © 2016 Verlag Die Werkstatt GmbH Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen www.werkstatt-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Coverabbildung: Zurich Gruppe Deutschland / Claudius Holzmann Umschlagrückseite: Imago Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH Druck und Bindung: CPI ISBN 978-3-7307-0286-4


INHALT

PROLOG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 FINALE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 SCHICKSAL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 TROTZDEM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 DA GEHT WAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 FINGERÜBUNGEN .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 BEHINDERT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 DAVOR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 SPORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 VON ALBERTVILLE BIS VANCOUVER .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 ES KOMMT NOCH BESSER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 HEUTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 ÜBERGLÜCK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 ZAHLEN UND FAKTEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189


BEHINDERT


D

er Alltag nimmt Gerd Schönfelder in Beschlag. Es mag seltsam klingen: So langsam darf er seine Ungeduld wieder­ entdecken. Beim Skifahren ist er gewesen. Von Tag zu Tag kam er mit weniger Schmerzen vom Berg zurück. Immer öfter ist er einen Schwung gefahren, den er sich einspeichern konnte – denn er hat gewusst, dass das die Technik ist, die er erlernen muss. Als sie nach dem Urlaub die Alpen verließen, war sich Gerd Schönfelder sicher: Er würde wieder Skifahren können, dass es eine Lust wäre. Es ist abzusehen, dass er wieder in die Stammelf von Kulmain zurückkehren wird. Nicht über Nacht – aber im Training macht er Fortschritte zum Wundern. Die Ärzte staunen ohnehin über den jungen Mann, der alle Zeitpläne über den Haufen wirft, weil er seinen Körper in einem unerwarteten Tempo zu immer neuen Leistungen zwingt. Mit Gerd Schönfelder arbeiten sie gern zusammen: die Ärzte, die fasziniert zusehen, wie er unter ihren Händen gesundet. Die Therapeuten, für die er der menschgewordene Erfolg ihrer Bemühungen ist. Die Versicherer, weil sie registrieren, wie gut das Geld bei Gerd Schönfelder angelegt ist. Der Mann ist ein Modellpatient. Er – der Optimist, das Arbeitstier, der Pragmatiker – reißt sie alle mit. Und sie tun alles für noch mehr Erfolgserlebnisse. Der Mann mit dem unbändigen Willen hat den »Vorwärtsgang« eingeschaltet. Ihn treibt es ins Morgen – was geschehen ist, ist geschehen. Hadern hilft nicht. Nur machen bringt ihn weiter. Er darf natürlich ungeduldig sein. Das fordert und fördert. Gleichzeitig muss er sich immer bewusst sein, dass er Zeit und eine besondere Form der Gelassenheit braucht. Schönfelder wird zu einem Stoiker, ohne dass er groß darüber nachdenken muss. 88


Gut, dass ihm da der Vater die Gene mitgegeben hat. Der hat die Ruhe weg. »Es wird schon werden«, sagt er und lässt sich nicht beirren. »Das kriegen wir schon hin. Wir wissen nicht, wie, aber irgendwie kriegen wir das schon hin. Es hilft nix, wenn du dich narrisch machst.« Schönfelder ist sich selbst der beste Lehrmeister. Die kleinen Schritte sind es, die ihn weiterbringen. Das hat angefangen mit dem Loch im Gips für die Gabel. Plötzlich konnte er wieder selbstständig essen. Das war ein Meilenstein. »Es war seltsam. Ich wusste sehr genau, dass ich bei vielem ganz von vorn anfangen musste. Ich wusste ja, was alles nicht mehr in Ordnung war. Musste mich ja nur vor den Spiegel stellen. Ich brauchte ja bloß zum Fenster hinauszusehen, wenn schönes Wetter war. Da sind sie dann am Wochenende mit ihren Maschinen ins Fichtelgebirge gedonnert, und ich war nicht dabei. Das hat vor allem wehgetan. Aber es hat auch meinen Stolz verletzt. Ich wollte nicht behindert sein. Nicht so, wie ich das bisher gekannt hatte. Ich wollte nicht, dass die Leute hinter meinem Rücken tuscheln, da kommt der arme Gerd. Behindert! Schon allein dieses Wort: BEHINDERT. Gleichbedeutend mit ›schwach‹ war das für mich. So habe ich mich nicht gesehen.«

Zum Lehrgang der Nationalmannschaft Der Skiurlaub in der Schweiz ist schon ein paar Wochen her, als Barbara Zwick bei Gerd Schönfelder vorbeischaut: Sie habe jetzt die Adresse und Telefonnummer dieses Physiotherapeuten in der Hand. Gerd wisse schon, der, der die Behinderten bei der Ski-WM betreut habe. Gerd hat es nicht vergessen. Außerdem habe sie eine VHS-Kassette mitgebracht. Die solle er sich mal ansehen. 89


Skifahrer mit Behinderung werfen sich ins Getümmel. Sie haben nur noch ein Bein oder gar keines mehr. Manche können nur noch wenig oder nichts sehen. Es gibt auch Athleten, denen eine Hand fehlt, vielleicht sogar ein Arm. Die Läufe sind gesteckt wie bei den Nichtbehinderten auch. Die Abfahrtspisten sehen rasant aus. Die Besten unter den Athleten fahren wie die Teufel. Das ist mit Sicherheit kein »Kindergeburtstag«, wenn man da vorne dabei sein will. Aber, denkt Gerd, unrealistisch ist der Gedanke auch nicht, dass er mitmischt. Er ruft beim Physio der Nationalmannschaft an. Lutz Scheuerer. Praktiziert in Regensburg, hat sich auf dem Gebiet der Ostheopathie spezialisiert. Zwei Jahre lang hat Scheuerer, ein gemütlich wirkender freundlicher Oberpfälzer, die Fechtnationalmannschaft Florett der Herren betreut, außerdem die Leichtathleten bei den Paralympics 1988 in Seoul. Jetzt kümmert er sich um die Ski-Nationalmannschaft der Behinderten. Schönfelder und der Mann am anderen Ende der Leitung sprechen von Anfang an die gleiche Sprache. Sie kommen schnell auf den Punkt, halten sich nicht mit Small Talk auf. Sie mögen es gradlinig. »Schönfelder.« »Servus, hier ist der Lutz.« »Ja, ich bin der Gerd. Die Barbara hat mir deine Nummer …« »Weiß schon, du bist der Skifahrer. Dich interessiert unsere Mannschaft.« »Das kann ich nicht sagen. Ich wollte mich erst einmal informieren.« »Schon klar.« Sie reden übers Skifahren im Besonderen und den Sport im Allgemeinen. Gerd erzählt, er habe sich das Video angesehen, das sei ja alles neu für ihn. Aber grundsätzlich könne er sich das schon vorstellen. »Verstehe. Weißt was, ich spreche mit dem Teamchef – danach melde ich mich wieder.« Nach ein paar Wochen ruft Scheuerer tatsächlich zurück. 90


»Wir haben geredet, der Teamchef und ich. In ein paar Wochen haben wir einen Lehrgang in Balderschwang im Allgäu. Wennst magst, kommst einfach zur Sichtung.« »Sichtung! Aha.« »Das ist für alle ein guter Anfang. Da erkennt man schnell, ob es passt oder nicht.« »Na ja, wennst meinst.« »So machen wir das. Weißt was, das Beste ist, du kommst zu mir nach Regensburg, und ich nehme dich mit.« »Okay, dann machen wir das so.« Im eigenen Auto nach Regensburg fahren. Einen neuen linken Finger haben, der funktioniert. Skier und Wintersachen im Gepäck. Die selbst zusammengestellte Musik ins Kassettendeck einlegen. Lautstärke bis zum Anschlag aufdrehen. Kleine Straßen. Autobahn. Dezembersonne. Queen. Grönemeyer. Westernhagen. Madonna. Kein Beifahrer, also kann Gerd mitgröhlen. Was Neues fängt an, er spürt’s. Dieser Lutz ist auf Anhieb sympathisch. Und er fährt auch noch das gleiche Auto wie Gerd, der sich gerade einen Corrado mit Viergang-Automatik zugelegt hat. In Rot. Schönfelders Corrado ist auberginefarben. Das sind Zufälle, die er mag. »Da war der Lutz mir gleich mal sympathisch.« Es ist ein guter Einfall vom Lutz gewesen, diese gemeinsame Fahrt nach Balderschwang. Während sie von der Oberpfalz nach Oberbayern fahren – nach Stunden sehen sie zum ersten Mal die Berge als klitzekleinen Scherenschnitt am Autobahnhorizont –, redet vor allem Lutz, und Gerd hört zu. Das sind Geschichten aus einer fremden Welt – und zugleich sind es Erzählungen, mit denen der junge Sportler sehr viel anfangen kann. Sie handeln von Wettkämpfen und Training, von der Sommervorbereitung und dem Winterstress. Von den Sorgen ums beste Material und den Aufgaben des Physios, der die Athleten auf den Punkt fit macht. Scheuerer erzählt, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen mehr als in Ordnung sind. Man habe einen Spirit in der Truppe, wie man ihn sich nur wünschen kann. Man lache viel – 91


aber wenn es hart auf hart kommt, gebe es kein Pardon. Dann bringe jeder das Optimum, man sei schließlich keine Gurkentruppe. Sicher, da gebe es auch ein paar, die vor allem ihr eigenes Ding machen. Aber die bekomme man letztlich auch in den Griff. »Ein tolles Team sind wir«, sagt Lutz, und Gerd Schönfelder wird es sehr angenehm, als er das hört. Scheuerer nimmt seinem Mitfahrer die gröbste Unsicherheit, als er ihm erklärt, wie so ein Sichtungslehrgang abläuft. Zwei Mann auf einem Zimmer. Nach dem Frühstück gehe es auf den Berg. Am späteren Nachmittag, nach dem Training auf der Piste, eventuell noch eine Einheit in der Halle – Kraft, Motorik, Spritzigkeit, was auch immer –, danach Abendessen, vielleicht eine Massage oder Theorie. Viel Leerlauf gibt es nicht. Vielleicht ein Bier vor dem Schlafengehen, das ist es dann auch. Im Schnee wird alles gestoppt und festgehalten, am Ende der Tage gibt es ein paar »Rennen«, dann weiß jeder, wo er steht. Hört sich gut an. Gerd Schönfelder mag sehr, was der Lutz da erzählt. Er sieht den Fahrer von der Seite an. Das ist ein aufstrebender Könner, hat die Barbara erzählt. Verdient wohl schon ganz gut und wird seinen Weg machen. Hat schon ein C-Netz-Telefon – so einen Kasten, mit dem man Krieg spielen kann. Ein sauschwerer Aktenkoffer. Damit telefoniert er in der Weltgeschichte rum – dabei kostet das alles ein Heidengeld. Eine Minute für zwei Mark fuffzich, da spinnst du doch. Irgendwann nach Nürnberg schließen sie sich mit einem Kollegen von Lutz zusammen. Der fährt einen Audi Urquattro, Rallye-Ausführung, und hat auch so einen Aktenkoffer dabei. Sie fahren also im Verbund in Richtung Süden und telefonieren von einer Karre zur anderen bei Tempo 180 übers C-Netz den Akku leer. Nix Wichtiges. Blablabla. Man hat so ein Teil, jetzt muss man es auch betreiben. Zwei Wahnsinnige auf der Überholspur. Das imponiert Gerd schon etwas. Er sei einer mit heilenden Händen, der sich gerade 92


im Körper von Höchstleistern blind zurechtfinde, sagt Gerd später über den Therapeuten. Ein bisschen verrückt sei er, wie er sich so für den Sport und seine Sportler begeistert. Toll verrückt, so gefallen dem Gerd die Menschen

»Leck mich am Arsch! Lauter Kaputte!« Sie erreichen das Hotel in Balderschwang. Schönes Haus. Viel Holz. Sehr nette Menschen an der Rezeption. Schönfelder füllt den Meldezettel aus und dreht sich um. Er blickt in Richtung Bar. Da sitzen sie in der Halle, die Sportler. Sie warten aufs Abendessen. 25, 30 Menschen, alle an diesem Nachmittag angereist. Sie kennen sich und haben einander viel zu erzählen. Sie hocken und stehen da und machen einen Riesenlärm. Lachen und gackern und schreien und umarmen sich. Und jeder hat was! Besser gesagt: Jeder hat was nicht. Es fehlen Arme und Beine. Die Menschen sitzen in Rollstühlen. Sie sehen nichts. Für Schönfelder fühlt sich die Szene 26 Jahre später noch ganz frisch an: »Leck mich am Arsch! Lauter Kaputte! Ach du Scheiße! Conterganer. Ich wusste doch gar nicht, wie man so einem die Hand gibt. Ich habe ja nicht gewusst, wie so was geht. Dass das bei jedem anders ist. Der eine hat einen langen Arm, der andere einen kurzen, der eine hat einen Finger. Ich habe ja nichts gewusst: Dass du einfach hinlangst, oder du haust ihm einfach auf die Schulter, wie auch immer. Ich wusste nicht, dass das überhaupt kein Problem ist. Oberschenkelamputierte waren auch da, vier Stück. Ja, wie sollten die denn, bitte schön, Ski fahren? Doppelunterschenkel, diagonal, Lähmungen, Doppeloberschenkel – weiß der Kuckuck, was es alles gab. Lauter Kaputte halt. Ich war überfordert.« 93


Nico Moll, ein »Conterganer«, sieht den Neuen. Servus, sagt er – und dann, ohne Überleitung: »Fährst du mit einem Stock oder ohne?« Gerd Schönfelder aus Kulmain ist baff. Alles hätte er erwartet, aber nicht so eine Frage. Äh … Ehrlich gesagt hat sich Gerd darüber noch keine Gedanken gemacht. Aber jetzt, so aus dem Bauch heraus, will er vor allem möglichst wenig von dem verlieren, was ihm noch übriggeblieben ist. Also wird er es wohl zuerst mal mit einem Stock probieren. Ach ja? Nico Moll scheint mit der Antwort zufrieden zu sein. Erst später wird dem Gerd klar, wie die Frage gemeint war. Nico will wissen, ob ihm da im Team ein neuer Konkurrent heranwächst. Denn falls Schönfelder ohne Stock an den Start ginge, wäre er in derselben Klasse. Wenn er aber einen Stock benutzt, muss man sich um ihn keine Gedanken machen. Scheuerer stellt Schönfelder dem ebenfalls neuen Trainer Werner Haberstock vor. Der meint, er solle seine Sachen aufs Zimmer bringen und sich einrichten. Bald sei Abendessen. Ernst Fendt, der Mannschaftskapitän, werde ihn begleiten. Gerd folgt Ernst Fendt, einem Routinier im Team. Ein Arm fehlt dem Mann. Ja und? »Du bist mit dem Manni auf dem Zimmer«, sagt er. »Der ist schon oben.« Schönfelder klopft und tritt ein. Da liegt der Manni auf dem Bett und guckt an die Decke. Ein bisschen älter ist er, knapp über 30. »Servus, ich bin der Manni.« »Habe die Ehre – ich bin der Gerd.« »Was hast denn du gemacht? Wie kommt das?« Manni blickt auf Gerds rechte Seite. Schönfelder erzählt seine Geschichte. Das hat er mittlerweile schon Hunderte Male gemacht: fremden Leuten von seinem Unfall und den Folgen berichtet. Meistens haben sie es nicht 94


geschafft, ihre Betroffenheit zu kaschieren. Dieser Manni ist anders. Er hört interessiert zu, nickt ein paar Mal, hat keinen Kommentar, sagt nichts. Gerds Geschichte ist zu Ende. Gebongt und abgespeichert. Gerd beginnt seine Sachen in den Schrank zu räumen. Er dreht sich zu Manni um und nimmt seinen Mut zusammen. »Und du?« Manni zieht die Bettdecke vom Körper. Beide Unterschenkel sind weg. Unterhalb der Knie ist nur noch Luft. Alles schon seit Langem vernarbt. Die Oberschenkel sind austrainiert. Der ganze Typ ist ziemlich sportlich. Manni kommentiert seine beidseitige Behinderung: »Amputiert? Ich auch. Zug? Ich auch. Aber bei mir war es Absicht.« »Was für ein Schock! Da war ich mit einem Psycho auf dem Zimmer. Da bin ich mit einem zusammen, der sich absichtlich vor den Zug geschmissen hat. Das war ja – das hätte ich mir im Traum nicht ausdenken können. Er hat erzählt, wie es passiert war. Die Freundin hatte mit ihm Schluss gemacht, der Arbeitgeber hatte gekündigt. Er war mit der Welt am Ende. Keine Zukunft, nur noch Verzweiflung. Ich konnte das nicht nachvollziehen; habe die Geschichte gehört und war sprachlos. Wie ferngesteuert ist der Manni gewesen. Ist zum Bahnhof – und wie der Zug gekommen ist, ist er gehüpft. Hat auf den Gleisen gelegen und gemerkt, dass beide Beine ab waren. Und dann hat er nicht sterben wollen. Komisch.«

Der Schlaf in dieser Nacht ist schlecht. Gerd weiß nicht, wie das sein wird mit dem Skifahren. Er horcht in die Dunkelheit, da ist Mannis tiefer Atem. Der pennt, als ob alles paletti wäre. Gerd hat irgendwie das Gefühl, mit einem Psychopathen auf dem Zimmer zu liegen. 95


Schönfelder gerät ins Sinnieren – das mag er nicht sehr. Er hat nichts von der Grübelei, er will die Dinge anpacken, erledigen. Was hilft es, wenn er sich Gedanken über das Unglück eines Menschen macht, den er gerade kennengelernt hat? Aber sie sind da, die Gedanken. Sie trudeln durch seinen Kopf, während er in den Morgen döst.

Eine neue Welt Am nächsten Tag scheint die Sonne, es geht auf die Piste. Gerd lernt Alexander Spitz kennen. Der lacht übers ganze markante Gesicht, als er hört, dass der Neue im Grunde genommen in Balderschwang gelandet ist, weil er einen Bericht über den Spitz gelesen hat. Cool. Die Truppe lässt es krachen. Wie die Irren brettern sie durch den hart gewalzten Frühwinterschnee. Schönfelder ist trotzdem nicht sehr nervös. Fährt zuerst hinterher, dann gibt er Gas. Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Die Trainer machen sich Notizen. Der Bursch hat Potenzial. Gerade mal ein Jahr ist es her, dass ihm ein Zug einen Arm weggequetscht hat – aber er bewegt sich schon wieder wie einer, aus dem man was machen kann. Er ist gerade mal 20 – das macht einen Unterschied zu vielen Kollegen, die ihren Unfall erst später im Leben hatten. Der Schönfelder ist in den besten Jahren – den kann man aufbauen wie jeden anderen Leistungssportler auch, der noch eine ganze Karriere vor sich hat. Außerdem hat er Schneid. Das süddeutsche Wort für Mut verwenden sie gern in Balderschwang. »Schneid« ist in diesem Team aber nicht nur das Synonym für Courage auf der Piste, es ist die respektvolle Übersetzung von »Lebenswille«. Nach einem Tag ist Gerd kein Neuling mehr. Der muss in die Mannschaft. Zumal er ein perfekter Teamplayer zu sein scheint. Auch mit Manni versteht er sich immer besser. Der hat gerade eine gute Phase und ist der Gaudi-Bevollmächtigte in der Mannschaft. Unendlich gut tut ihm der Lehrgang. Er ist raus 96


aus seinem Alltag, die Trainingsroutine gibt ihm eine Struktur. Einmal sagt er abends zu Gerd, dass er eigentlich gar nicht mehr heim wolle. Da hole ihn alles wieder ein, und seine Seele vergifte sich. Genug der Tristesse. Vom zweiten Tag an ist Gerd Schönfelder in der Mache der Trainer. Sie schulen ihn um zum Siegfahrer unter seinesgleichen. Den Oberkörper soll er stabilisieren. Die Beine übernehmen den Großteil der Arbeit. Kontrolle und Mut zum Risiko – das muss zusammenkommen. Schluss mit dem Hasardieren. Hirn einschalten vor der Fahrt. Jetzt muss auch die Sache mit dem Stock geklärt werden. Anfangs ist er links mit Stock unterwegs. Aber den kann er nicht so führen, wie er sich das wünscht. Die Trainer nehmen Schönfelder den Stock weg, filmen die Fahrt. Sie zeigen dem Athleten das Video – und schnell wird klar, dass in der freihändigen Fortbewegung die Zukunft liegt. Schönfelder ist ein feiner Motoriker, der wird sich eine Fahrweise erarbeiten, die zu ihm passt. So fliegt auch der zweite Stock auf den Trödelhaufen. »Einen wahnsinnigen Ehrgeiz habe ich gehabt. Ich wollte von Anfang an zu den Schnellen gehören. Es hat nicht gezählt, dass meine Skier im Vergleich zu der Ausrüstung der Nationalfahrer echt ein Glump waren. Zwei Paar Touristen-Rennski (2,07 Meter für Slalom, 2,10 Meter für den Riesenslalom) habe ich gehabt – da haben die anderen nur gelacht. Das Lachen haben sie schnell aufgehört, weil ich nicht langsamer war als sie. Irgendwann sind die Leute gekommen und haben gesagt, ich soll mir keine Gedanken machen. ›So, wie du fährst, kriegst du auch bald richtige Rennskier. Da brauchst dann vielleicht auch nichts mehr zahlen.‹« 97


Das sind wundervolle Aussichten. Trainer Haberstock setzt noch einen drauf. Er sieht sich die Fahrten des Gerd Schönfelder einige Tage lang an. Eines Morgens erscheint er mit einem Paar nagelneuer Skischuhe. Seine Kontakte hat er angegraben und die besten Vierschnaller besorgt, die es auf dem Markt gibt. »Brauchst mir nicht mehr mit deinem Heckeinsteiger kommen«, raunzt er. »Nimmst den Vierschnaller und wirst sehen, was das für einen Unterschied macht.« Gerd Schönfelder murmelt sein Dankeschön und nimmt sich vor, mit diesen Schuhen nie zu verlieren. Schwarze Teile von Raichle sind’s, mit bunten Schnallen. Die hat der Markus Wasmeier auch – und das ist das Übervorbild für Gerd Schönfelder. »Mit den Contergan-Leuten war ich beim Rennen gleichauf – aber die Einstockfahrer waren noch schneller. Doch die waren erheblich weniger beeinträchtigt als ich – denn sie hatten den Stock zum Anschieben und Halten der Balance. Der Werner Haberstock hat mich am Schluss des Lehrgangs zur Seite genommen und gesagt, dass das alles sehr gut gewesen sei. Ich musste auch keine Kosten übernehmen. Und das Wichtigste: Der Trainer hat gemeint, dass ich bei den nächsten Trainingslagern wieder dabei bin. Ich war noch kein Kadermitglied. Aber ich war dabei. Heute weiß ich, was mir noch gutgetan hat: Ich habe gesehen, dass es die Menschen noch schlimmer erwischen kann. Du kannst hadern und hadern. Aber du musst irgendwann an den Punkt kommen, dass du eine Art Frieden machst. Bis dahin ist so viel Unsinn durch meinen Kopf gegangen. Ich bin manchmal daran verzweifelt, dass es bei dem Unfall beide Hände erwischt hat. Warum konnte nicht wenigstens die Linke verschont bleiben? Wenn ich die in Hersbruck vom Zug weggezogen hätte, dann wäre sie noch dran. Was für ein Schmarrn. Ich habe erkannt, dass ich es drehen und wenden konnte, wie ich wollte – das ganze Theoretisieren brachte mir nichts. Und in Balderschwang habe ich eben gesehen, dass ich gar nicht 98


das größte Unglück erlebt hatte. Da brauchte ich mir nur die Contergan-Leute anzusehen. Die hatten wirklich ein Schicksal. Oder die Rollstuhlfahrer. Konnten nicht mal mehr laufen. Schauen komplett aus. Sind aber zur Hälfte ›tot‹. Die ihrerseits haben mich angesehen und sich gedacht, was ich für ein armer Hanswurst mit meinen zwei jämmerlichen Fingern bin. Dazu kam: Für mich war dieses Skiteam die neue Welt. Davor habe ich mich ja nicht aus dem Gäu getraut. Mein kleines Kulmain war ja immer das Zentrum für mich gewesen. Das hat mir viel bedeutet. Das Vertraute. Der Sport mit den Kameraden. Du kennst jeden, und jeder kennt dich. Alles, was ein bisschen weiter entfernt war, hat mich nicht sonderlich interessiert. Na klar, wir sind in den Urlaub gefahren und haben uns dort wohlgefühlt. Aber letztendlich waren wir dann froh, wenn es wieder heim ging. Oder die Trips zum Skifahren. Das war alles schön und gut in der Schweiz, in Italien oder in Österreich. Wir haben es uns schön gemacht – haben ja auch gewusst, dass am Ende der Zeit die Rückfahrt nach Kulmain steht. Das, was da draußen ist, hat mir eher Angst gemacht. Es gibt ja Menschen, die wollen raus aus dem Nest. Die können es gar nicht abwarten, bis sie flügge sind. Hauptsache weg! So war ich nicht. Ich habe mich hier wohlgefühlt, und ich wollte es nicht anders. Außerdem habe ich mir nicht zugetraut, es auch an einem anderen Ort zu schaffen. Was dieses ›Es‹ auch sein mag. Bei uns haben wir noch eine ›kleine heile Welt‹. Wenig Arbeitslose. Die Leute haben, was sie brauchen. Bayreuth ist nicht weit, die Allianz Arena in München auch nicht. Die Kinder sind behütet. Es gibt die Vereine – Sportverein, Pfadfinder – und die Feste und den Zusammenhalt im Dorf … Kleine heile Welt.«

Die heile Welt des Gerd Schönfelder war an jenem Septembernachmittag implodiert, als er beschloss, auf Teufel komm raus 99


noch den Zug nach Hause zu erwischen. Als er sich an der Waggonklinke verhedderte, mitgeschleift wurde, unter den Zug kam, einen Arm, eine Hand und fast das Leben verlor. Nichts war nach diesen Augenblicken mehr heil, nie würde es ganz vernarben. Gerd Schönfelder war gezwungen, sein Leben neu zur Welt zu bringen. Er tat das mit ungeheurer Willenskraft. Er überstand alle Operationen, machte sich alltagstauglich. Gerd landete bei einem Skilehrgang in Balderschwang. Dort wollte er vorerst nur eines: schneller sein als die anderen. Das gelang. Und nun realisiert Gerd Schönfelder: Die Welt ist so viel größer als die Gemarkung Kulmain. Und sie steht ihm offen. Der Mann, der schon am Ende schien, bevor alles anfing, startet durch. In seine Wunderwelt.

100


DAVOR


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ISBN 978-3-7307-0286-4 VERLAG DIE WERKSTATT

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Weil er als 19-Jähriger noch einen Zug erwischen wollte, verlor er seinen rechten Arm und vier Finger der linken Hand. Doch Gerd Schönfelder haderte nicht. Er wurde der erfolgreichste deutsche Behindertensportler überhaupt. Als Skirennfahrer holte er 16-mal Gold bei den Paralympics, 14-mal wurde er Weltmeister. Dieses Buch erzählt seine bewegende Geschichte: von dem schwierigen Weg zurück ins Leben bis hin zu seinen großen Erfolgen.

„Manchmal fragen mich Leute, denen ich zum ersten Mal etwas erzähle, ob ich nicht fürchterlich verzweifelt bin. Warum?, sage ich.

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Detlef Vetten, Jahrgang 1956, ist ein erfahrener Journalist und Autor. Nach Stationen bei der Münchner Abendzeitung, dem Stern und Sports führte er u. a. die Lokalredaktion der AZ und war Chefreporter der Nachrichtenagentur dapd.

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